Deutsche Außenpolitik
von der Wiedervereinigung bis
zur Gegenwart
C.H.Beck
Deutschlands Rolle in Europa und der Welt hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges dramatisch gewandelt. Zahlreiche Umwälzungen und Gefahren zwingen die Bundesrepublik seither, ihre traditionelle Zurückhaltung aufzugeben und mehr Führung zu übernehmen. Stephan Bierling, Professor für Internationale Politik an der Universität Regensburg, schildert und analysiert die Herausforderungen, mit denen die deutsche Außenpolitik in den letzten 25 Jahren umzugehen hatte: die Militäreinsätze auf dem Balkan und in Afghanistan, die Stabilisierung der östlichen Nachbarstaaten, das zunehmend schwieriger werdende Verhältnis zu den USA und vor allem die europäische Integration, die durch die Euro-Krise gefährdet ist. Sein Buch ist eine unverzichtbare Einführung für jeden, der sich mit den Grundlagen der deutschen Außenpolitik in der Gegenwart vertraut machen will.
Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg und ist einer der angesehensten deutschen Experten für Außenpolitik. 2013 wurde er deutschlandweit zum «Professor des Jahres» gewählt. Bei C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: Geschichte des Irakkriegs (2010) und in der Reihe «Wissen» der Band Nelson Mandela (2012).
Unverzichtbare Nation oder Hegemon?
1. Das Vermächtnis der Bonner Republik
2. Aufbruch in eine neue Welt: die Kanzlerschaft Helmut Kohls (1990–1998)
2.1. Vom Importeur zum Exporteur von Sicherheit
Von Kambodscha nach Bosnien: die Bundeswehr out of area
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994
Haltung von Parteien und Öffentlichkeit
Die internationale Einbettung der deutschen Sicherheitspolitik
2.2 Von Maastricht nach Amsterdam: Schritte zur ökonomischen und politischen Union
Mittel zum Zweck: die Wirtschafts- und Währungsunion
Endspiel auf dem Weg zum Euro
Europapolitische Ernüchterung
2.3 Den Osten stabilisieren
Die Beziehungen zur Sowjetunion und Russland
Geschichte als Last und Chance: die Nachbarn Polen und Tschechien
Die Osterweiterung der EU
2.4 Deutschland und die Welt
Die USA: Ablehnung der Führungspartnerschaft
Der Nahe, Mittlere und Ferne Osten
Afrika und Lateinamerika
Globale Probleme
2.5 Fazit: Selbsteinbindung als strategische Entscheidung
3. Das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation: die Kanzlerschaft Gerhard Schröders (1998–2005)
3.1 Zwischen Krieg und Frieden: Kosovo, Afghanistan, Irak
Der Nato-Krieg gegen Serbien 1999
Impulse für eine europäische Sicherheitspolitik
Die Terroranschläge von 9/11 und der Afghanistan-Einsatz
Deutschland sagt Nein: der Irak-Krieg
3.2 Die EU: reformieren, vertiefen, erweitern
Wirtschafts- und Finanzpolitik: Agenda 2000 und Stabilitätspakt
Reform der Institutionen: Nizza und Verfassungsvertrag
Die Erweiterung der Union
Der EU-Beitritt der Türkei
3.3 Der Rest der Welt: Wirtschaft, Wirtschaft über alles
Russland: von der Sauna-Diplomatie zur Männerfreundschaft
China: Aufstieg zur ökonomischen Weltmacht
Am Rande der Welt: Mittlerer Osten, Asien, Lateinamerika, Afrika
3.4 Internationale Chancen und Lasten
Mitsprache und Prestige: die Kampagne um einen Uno-Sicherheitsratssitz
Schatten der Vergangenheit
3.5 Fazit: Von der Bonner zur Berliner Republik
4. Führungsdilemmata: die Kanzlerschaft Angela Merkels (2005–14)
4.1 Zurück in die Zukunft: Out-of-area-Einsätze der Bundeswehr
Afghanistan: von der Stabilisierungsmission zur Aufstandsbekämpfung
Ungeliebte Auslandsmissionen: von Kongo bis Mali
Deutschlands Rolle in Nato und GSVP
4.2 Die EU in der Krise
Europa am Abgrund: die Euro-Staatsschuldenkrise
Die deutsche Sonderstellung in Europa
Showdown in Brüssel: die Euro-Zone vor dem Kollaps
Vom temporären zum dauerhaften Rettungsschirm
Sommer 2011: Euro-Überlebenskampf, zweiter Akt
«In Europa wird deutsch gesprochen»
Koalitionsbildung gegen Deutschland
Draghis Wunderworte und Merkels Stabilitätsunion
Euro-Krise ohne Ende?
Die Krisenpolitik der Regierung Merkel: eine erste Bilanz
4.3 Deutschlands Sonderbeziehungen
Die USA: der entfremdete Partner
Russland: der schwierige Partner
Polen: der unbequeme Partner
China: der finanzstarke Partner
Israel: der besondere Partner
4.4 Globale Herausforderungen: nukleare Proliferation und Klimaschutz
4.5 Die Ukraine-Krise
4.6 Fazit: Dominanz der Innenpolitik
5. Die widerwillige Vormacht: zwischen internationalen Anforderungen und innenpolitischen Zwängen
Anmerkungen
Bibliographie
Bildnachweis
Personenregister
Für meine Mutter Hilde Bierling und
im Gedenken an meinen Vater Werner Bierling
Die Worte Radosław Sikorskis am 28. November 2011 kamen unerwartet: «Ich fürchte deutsche Macht weniger, als ich deutsche Untätigkeit zu fürchten beginne. Sie sind Europas unverzichtbare Nation geworden. Sie dürfen nicht versagen zu führen.»[1] Unerwartet kamen diese Worte vor allem, weil Sikorski Außenminister Polens war, eines Landes, das in der Geschichte immer wieder, zuletzt im Zweiten Weltkrieg, Opfer brutaler deutscher Machtpolitik gewesen war. Zugleich verunglimpften radikale Demonstranten in Griechenland Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Postern, die sie mit aufgemalten Nazi-Insignien darstellten. Und die italienische Zeitung il Giornale schürte auf ihrer Titelseite am 3. August 2012 sogar Ängste vor einem «Quarto Reich».
Deutschlands Rolle in Europa ist im Zuge der Euro-Schuldenkrise umstritten wie zu keinem anderen Zeitpunkt seit 1949. Hoffen auf deutsche Führung und Bangen vor deutscher Hegemonie gehen Hand in Hand. Die Krise verlangt der Bundesrepublik das ab, was sie seit ihrer Gründung unter allen Umständen vermeiden wollte: führen zu müssen, ohne sich auf eine Koalition von Staaten stützen zu können. Ihre schiere ökonomische Stärke hat sie in der Währungs- und Wirtschaftspolitik gegen ihren Willen und ohne ihr Betreiben zum Schlüsselland in Europa gemacht. Als stärkste Volkswirtschaft im Euro-Raum und in der EU, als drittgrößte Exportnation, viertgrößte Ökonomie und elftgrößte Militärmacht der Welt kommt Deutschland eine Verantwortung zu, die sich von der kleinerer Länder dramatisch unterscheidet. Im Zentrum dieses Buchs steht deshalb die Frage des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom, die er kurz nach dem Fall der Berliner Mauer stellte: Ob Deutschland wisse, «was es sein will, wenn es groß ist?»[2]
Bis 1990 hegte der Kalte Krieg die Bundesrepublik ein, in Zeiten der Blockkonfrontation waren die Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten für, aber auch die Anforderungen an Mittelmächte geringer. Meist kümmerten sich die USA um die Sicherheit innerhalb und außerhalb Europas. Sie gaben auch in Wirtschafts- und Handelsfragen lange Zeit den Ton an. Bonn war dies nur recht, selten entwickelte es eigene außenpolitische Initiativen, und die bezogen sich ausschließlich auf das Verhältnis zum anderen Deutschland und auf die europäische Integration. Unter dem Schutzschirm der USA konnte sich die Bundesrepublik zur Zivilmacht par excellence entwickeln, die sich nur im multilateralen Verbund engagierte, die internationale Politik verrechtlichen und außen- und sicherheitspolitische Kompetenzen an die EU übertragen wollte, an Militäraktionen nicht mitwirkte und sich auf Wohlstandsmehrung und Handel konzentrierte.
Mit dem Ende der Sowjetunion änderte sich die internationale Bedrohungslage fundamental. Die USA beachteten Europa und Deutschland weniger, und Deutschland war weniger von amerikanischen Sicherheitsgarantien abhängig. Auf dieser Tatsache gründet auch der Ansatz dieses Buchs, die Geschichte der Außenpolitik der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung zu analysieren – und nicht, wie im Vorgängerwerk, seit der Staatsgründung.[3] Für viele jüngere politikinteressierte Leser liegt der Kalte Krieg heute so weit zurück wie der Peloponnesische zwischen Athen und Sparta. Und das nicht zu Unrecht – die internationalen Gefahren und Herausforderungen für das heutige Deutschland entwickelten sich fast alle in der neuen Welt der Post-Bipolarität: Im zerfallenden Jugoslawien kam es zu Bürgerkriegen und «ethnischen Säuberungen»; Dschihadisten ermordeten deutsche Staatsbürger und planten schreckliche Anschläge von der Bundesrepublik aus; kollabierende Staaten wie Afghanistan, Somalia und Jemen boten und bieten islamischen Terroristen Operationsbasen; Nationen in der ehemaligen Dritten Welt streben nach Massenvernichtungswaffen und Langstreckenraketen; Piraten bedrohen existentielle Seehandelswege; arabische Staaten an der europäischen Peripherie rebellieren gegen ihre Diktatoren, Libyen und Syrien stürzten sogar in Bürgerkriege; die Klimaerwärmung schreitet fast ungebremst fort; der Euro schweißt die Kern-EU nicht wie beabsichtigt zusammen, sondern droht sie vielmehr zu zerreißen; Russland destabilisiert Nachbarländer und annektiert ihr Territorium. Gleichzeitig verschieben sich die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gewichte seit 1990 rapide. China stieg zur größten Exportnation und zweitgrößten Wirtschaftsmacht auf, Asien kehrt auf den zentralen Platz zurück, den es in der Geschichte bis zur Industriellen Revolution eingenommen hatte, die USA orientieren sich auf den pazifischen Raum um. All dies stellt Deutschland und Europa vor gigantische außenpolitische Herausforderungen.
Wie die Bundesrepublik mit diesen Herausforderungen seit 1990 umging, ist das Thema dieses Buchs. Es will die Problembereiche deutscher Außenpolitik herausarbeiten, Entwicklungslinien aufzeigen, Handlungen und Entscheidungen erklären. Dabei wird deutlich, dass die Impulse für die deutsche Außenpolitik aus unterschiedlichen Richtungen kommen: Von den Partnern, die erwarten, dass die Bundesrepublik die ihrer Größe entsprechenden internationalen Lasten schultert, etwa in der Euro-Schuldenkrise, auf dem Balkan, in Afghanistan oder gegenüber Russland; von den Bürgern, die primär an ihrem wirtschaftlichen Wohlergehen interessiert sind und Militäraktionen und teure Rettungsaktionen für EU-Schuldenstaaten ablehnen; von den Visionen und Kalkülen von Politikern wie Helmut Kohl bei der Einführung des Euro; von den ökonomischen Realitäten, die zum Beispiel eine Modernisierung der Bundeswehr erschweren oder hochfliegende Ideen wie die Europäische Währungsunion konterkarieren; und nicht zuletzt von den Machtveränderungen im internationalen System, die die Handlungsspielräume teils erweitern, teils begrenzen.
Die akademische Disziplin Internationale Politik diskutiert seit 1990, welche Theorie die deutsche Außenpolitik am besten erklärt, indem sie einem dieser Impulse entscheidenden Einfluss zumisst. Konstruktivisten argumentieren, der Zweite Weltkrieg und die Erfahrungen der Nachkriegszeit hätten die politische Kultur der Bundesrepublik zutiefst geprägt. Die neue Identität, die nach John Duffield auf Multilateralismus und Antimilitarismus fußt, bestimme auch in der neuen Ära ihr außenpolitisches Verhalten.[4] Dieser Schule nahe steht Hanns Maulls These, Deutschland sei Prototyp einer normen- und ideengeleiteten «Zivilmacht».[5] Andrei Markovits und Simon Reich argumentieren, das «kollektive Gedächtnis» habe eine «Weltanschauung» und eine innenpolitische Kultur in Deutschland geschaffen, die traditionelle Hegemonialpolitik verhindere.[6] Neorealisten halten dagegen, dass die Bundesrepublik sich nach der Wiedervereinigung den klassischen Mechanismen der Machtpolitik nicht entziehen könne. Arnulf Baring betrachtet Deutschland als «Regionalmacht», Gregor Schöllgen als «Macht in der Mitte Europas», Hans-Peter Schwarz sogar als «Zentralmacht Europas», die «zur Großmacht verdammt» sei und ihre nationalen Interessen zunehmend eigenständiger wahrnehmen werde. Man muss «sich eben dessen bewußt bleiben», so Schwarz, «daß das Land, ob es dies wünscht oder nicht, in Westeuropa und Mitteleuropa als stärkste Macht wirkt und wohl oder übel auch seinem Gewicht entsprechend zu agieren verurteilt ist».[7] Werner Link argumentiert ganz auf dieser Linie, die Konfiguration der Machtverteilung im internationalen System und die Gleichgewichtspolitik dominieren sowohl die Beziehungen zwischen den EU-Staaten als auch der EU-Staaten gegenüber den USA.[8]
Liberale suchen und finden die Antriebskräfte für das außenpolitische Handeln Deutschlands in den Präferenzen innenpolitischer Akteure. Diese bedienen sich des Staats als Transmissionsriemen, um ihre Ziele außenpolitisch durchzusetzen. Dieter Senghaas und Michael Staak sehen die Bundesrepublik in der Tradition von Richard Rosecrance als international verflochtenen «Handelsstaat», dessen primäres Ziel Wohlfahrtsoptimierung und dessen präferierte Instrumente Multilateralismus und Integration sind.[9] Institutionalisten schließlich behaupten, die Einbindung Deutschlands in internationale Institutionen wie die EU, die Nato, die Uno, den Atomwaffensperrvertrag oder das Kyoto-Protokoll bestimme ihr außenpolitisches Verhalten. Peter Katzenstein etwa schreibt: «Die Institutionalisierung von Macht … ist der unterscheidungskräftigste Aspekt des Verhältnisses zwischen Europa und Deutschland». Durch die Einbindung in die EU sei die Bundesrepublik eine «gezähmte Macht» geworden.[10] Jeffrey Anderson spricht gar von Deutschlands «reflexhafter Unterstützung für einen übertriebenen Multilateralismus».[11]
Die Debatten zwischen diesen Schulen haben das vorliegende Buch bereichert. Trotzdem will es den Theoriediskurs nicht weitertreiben, indem es Hypothesen aus dem einen oder anderen Ansatz systematisch testet. Vielmehr geht es dem Buch darum, den Lesern die Entwicklungen so zu schildern und das Material so aufzubereiten, dass sie sich ihr eigenes Urteil bilden können. Wahrscheinlich ist der Zeitraum seit der Wiedervereinigung, zweieinhalb Jahrzehnte, auch einfach zu knapp, um Definitives über die Erklärungskraft der unterschiedlichen Schulen zu sagen. Wenn Theorien zur Sprache kommen in diesem Buch, dann selten in Form der genannten Meta-Ansätze, sondern meist in Form von Theorien mittlerer Reichweite, etwa als Robert Putnams Zwei-Ebenen-Spiel oder Robert Mundells Theorie optimaler Währungsräume. Bei alledem bleibt Macht, wirtschaftliche wie militärische, ein wichtiges Prisma, durch das Deutschland im Ausland wahrgenommen wird. Auch wenn die Bundesrepublik dies nicht anstrebt, wird sie ihre Macht nutzen müssen, um Europa und die Welt in eine Richtung hin zu entwickeln, die ihr vorschwebt: friedlich, frei, stabil, gerecht, wohlhabend. Das Buch ist in die drei Kanzlerschaften Helmut Kohls, Gerhard Schröders und Angela Merkels gegliedert. Weltpolitische Zäsuren wie die Balkan-Kriege, die Terroranschläge von 9/11 oder der Ausbruch der Finanz-, Wirtschafts- und Euroschuldenkrise halten sich zwar nicht an Wahltermine und Regierungswechsel. Aber es ist für die Advokaten einer strukturalistischen Politikanalyse doch erstaunlich, wie sehr sich die jeweiligen Kanzler zu den entscheidenden Akteuren entwickelt und wie sehr sie gerade der Europapolitik, dem zentralen außenpolitischen Handlungsbereich der Bundesrepublik, ihren Stempel aufgedrückt haben.
Wie immer konnte ich beim Schreiben auf die Hilfe meines Teams der Professur für Internationale Politik an der Uni Regensburg zählen. Robert Lohmann M.A., Andrea Rotter M.A., Fellanza Podrimja B.A., Benedikt Rippert, Max Höcherl, Susanne Prechtl B.A. und Anna Müller B.A. standen mir bei Literaturrecherche und -beschaffung zur Seite, Anna Müller erstellte die Bibliographie und vereinheitlichte die Fußnoten, Susanne Prechtl kümmerte sich um das Register. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag C.H.Beck, seinem Cheflektor Dr. Detlef Felken und seinen Mitarbeiterinnen Bettina Corßen-Melzer und Janna Rösch sowie mit Nastasja Dresler war auch im fünften Projekt innerhalb von zwölf Jahren professionell, effizient und stimulierend. Prof. em. Dr. Dieter Grosser, mein geschätzter Lehrer und Freund, und – wie immer – Viola Schenz M.A. unterzogen sich der Mühe, das Manuskript zu kommentieren und das Buch zu einem besseren zu machen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.
Regensburg, im Sommer 2014
Von ihrer Gründung 1949 bis zur Wiedervereinigung 1990 verfolgte die Bundesrepublik Deutschland zwei zentrale außenpolitische Ziele. Zum einen benötigte sie angesichts ihrer prekären geopolitischen Lage an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts eine möglichst wasserdichte Sicherheitsgarantie. Zum anderen musste sie insbesondere den westeuropäischen Nachbarn die historisch begründete Angst vor der eigenen Größe und hegemonialen Absichten nehmen, um Vertrauen und Gestaltungsmöglichkeiten zurückzugewinnen. Beide Ziele erreichte die Bundesrepublik durch die Integration in internationale Organisationen. Die Mitgliedschaft in der Nato gewährleistete sowohl Sicherheit für Deutschland als auch Sicherheit vor Deutschland, was der Politikwissenschaftler Wolfram Hanrieder treffend als «Doppeleindämmung» bezeichnete.[1] Die europäische Einigung garantierte durch Verträge, regelmäßige Konsultationen und Kompetenzübertragung an supranationale Organe Transparenz und Berechenbarkeit der westdeutschen Politik. Ihre Mitgliedschaft in Nato und Europäischer Gemeinschaft (EG) sicherte der Bundesrepublik gleichzeitig dauerhafte Mitsprache in den zwei wichtigsten westlichen Institutionen. Darüber hinaus beförderte sie Bonns Anstrengungen, nach dem moralischen und machtpolitischen Desaster von Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg ein gleichberechtigter und respektierter Partner in Europa und der Welt zu werden.
Die beiden bedeutendsten Partner bei der Verwirklichung dieser außenpolitischen Ziele der Bundesrepublik waren die USA und Frankreich. Allein die USA verfügten über die Fähigkeiten und den Willen, für die Sicherheit Westdeutschlands zu sorgen. Natürlich gaben sie ihre Sicherheitsgarantie nicht selbstlos. Seit ihrem Eintritt in die Weltpolitik galt in den Vereinigten Staaten der Grundsatz, Europa nicht unter die Dominanz einer ihnen feindlich gesinnten Nation fallen zu lassen. Vor allem deshalb hatten sich die USA dem Kaiser im Ersten und Hitler im Zweiten Weltkrieg entgegengestellt. Im Kalten Krieg brauchten sie das zentral gelegene und an Ressourcen und Menschen reiche Westdeutschland als Bollwerk gegen die expansive Sowjetunion. Ohne die sich verschärfende Blockkonfrontation, insbesondere nach der Berliner Blockade 1948 und der Invasion Nordkoreas in Südkorea 1950, wäre die Bundesrepublik im Westen nie so schnell als Partner akzeptiert worden. Schon 1951, sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, revidierten die Westalliierten das Besatzungsstatut und übertrugen Bonn außenpolitische Kompetenzen. 1955 erhielt die Bundesrepublik im Deutschlandvertrag von den drei Westmächten die Autonomie über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten zurück. Lediglich die Rechte über Deutschland als Ganzes und Berlin verblieben, wie im Potsdamer Abkommen von 1945 festgelegt, bei den Siegermächten – der Sowjetunion, den USA, Großbritannien und Frankreich. Dieser rasche Rückgewinn von Souveränität war ein Erfolg der Strategie von Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949–1963/CDU), durch einseitige Vorleistungen und die Hinnahme diskriminierender Regeln das Vertrauen der Besatzungsmächte zu gewinnen und sich als verlässlicher Partner zu etablieren. Dabei spielten die Vereinigten Staaten die entscheidende Rolle. Sie waren, wie Josef Joffe treffend feststellte, sowohl der «Beschützer» (protector) Westdeutschlands und Westeuropas vor der Sowjetunion als auch der «Friedensstifter» (pacifier) in der Alten Welt, weil sie allen anderen die Angst vor Deutschland nahmen.[2]
Für die USA war die Westintegration der Bundesrepublik Teil ihrer Globalstrategie der Eindämmung (containment) der Sowjetunion. Für die Bundesrepublik stand die Existenz auf dem Spiel. Angesichts dieser Tatsache und des enormen Machtunterschieds ist es bemerkenswert, wie sehr die USA das bundesdeutsche Sicherheitsbedürfnis berücksichtigten. Nicht nur schreckten sie mit ihren Nuklearwaffen Moskau vor militärischer und politischer Erpressungspolitik gegenüber Westdeutschland ab, sondern sie stationierten dort auch hunderttausende Soldaten, was Washington im Falle eines Angriffs aus dem Osten automatisch zur Kriegspartei an der Seite der Bundesrepublik gemacht hätte. Zwar gab es während des Kalten Kriegs regelmäßig Konflikte zwischen den USA und der Bundesrepublik: in den 1960er Jahren über die Folgen des amerikanischen Strategiewandels von der «massiven Vergeltung» (massive retaliation), die auf den raschen Einsatz von US-Atomwaffen bei einem sowjetischen Angriff auf Europa setzte, hin zur «flexiblen Antwort» (flexible response) mit ihrer abgestuften Eskalation; in den 1970er Jahren über die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten; in den 1980er Jahren über die Implikationen der amerikanischen Pläne für ein weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem (Strategic Defense Initiative/SDI); die ganze Zeit über die faire Teilung der Verteidigungslasten im Bündnis (burden sharing). Aber der durch die sowjetische Bedrohung erzwungene strategische Konsens erwies sich stets als stark genug, um Kompromisse herbeizuführen. Selbst wenn kein Zweifel darüber bestand, wer im Bündnis den Kurs bestimmte, kamen die USA der Bundesrepublik in konkreten sicherheitspolitischen Fragen oft entgegen. So gaben sie Ende der 1970er Jahre dem Drängen von Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974–1982/SPD) nach, die auf Westeuropa gerichteten sowjetischen SS-20-Nuklearraketen nicht hinzunehmen. Die Raketen schufen nämlich eine ungleiche Sicherheitslage zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa. Im Doppelbeschluss entschied die Nato daraufhin, amerikanische Mittelstreckenraketen in Westeuropa aufzustellen, falls Verhandlungen mit der Sowjetunion über einen Abzug ihrer Waffensysteme scheiterten. Als die Mehrheit der SPD Schmidt die Gefolgschaft verweigerte und seinen Sturz 1982 damit unausweichlich machte, führte sein Nachfolger Helmut Kohl (1982–1998/CDU) die enge Zusammenarbeit mit den USA in dieser Frage fort. Dieser Schulterschluss demonstrierte Moskau die Aussichtslosigkeit seiner Versuche, einen Keil zwischen die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten zu treiben.
Waren die USA der überlebensnotwendige Sicherheitsgarant der Bundesrepublik, war Frankreich der wichtigste Partner bei der europäischen Einigung. Ohne die Kooperation mit Paris konnte Westdeutschland das riesige Misstrauen nicht abbauen, mit dem ihm die meisten europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg begegneten. Adenauer begrüßte deshalb den französischen Vorstoß von 1950, mit den Benelux-Staaten und Italien einen gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl – in dieser Zeit die rüstungsrelevanten Sektoren schlechthin – zu bilden. Die dauerhafte Verflechtung der deutschen Montanindustrie mit der französischen entschärfte die Sicherheitsbefürchtungen des westlichen Nachbarn und legte den Grundstein für die europäische Integration. Selbst wenn die militärische Integration durch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte, schritt der wirtschaftliche und politische Einigungsprozess voran. Für diese Frühphase der europäischen Integration kann die Rolle der USA nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie trieben an und vermittelten, sie schmiedeten Kompromisse, sie setzten widerstrebende Regierungen unter Druck und wurden dadurch zum «Geburtshelfer Europas» (Beate Neuss).[3] Obwohl die USA ahnten, dass in einem geeinten Westeuropa ein wirtschaftlicher Konkurrent heranwuchs, akzeptierten sie dies, weil sie einen starken Partner gegenüber der Sowjetunion wollten. Auch dank amerikanischer Unterstützung war die Bundesrepublik schon wenige Jahre nach ihrer Gründung in Europa ein akzeptierter Partner. Dabei galt: Funktionierte die Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Kanzler und dem französischen Ministerpräsidenten beziehungsweise ab 1959 dem Präsidenten, kam die europäische Integration voran. Adenauer und Guy Mollet (1956–1957), Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing (1974–1981), Kohl und François Mitterrand (1981–1995) verliehen dem Einigungsprozess wesentliche Impulse. Die Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) 1957, das Europäische Währungssystem (EWS) 1979 und die Einheitliche Europäische Akte (EEA) 1985 zur Vollendung des Binnenmarktes wurden von den jeweiligen deutsch-französischen Duos vorangetrieben. Allerdings gelang es nicht, die Außen- und Sicherheitspolitik zu vergemeinschaften. Weder Frankreich noch Großbritannien waren bereit, in diesem Bereich nationale Souveränitätsrechte abzugeben.
Für Bonn war die parallele Zusammenarbeit mit den USA und Frankreich nicht spannungsfrei, wiesen ihr die beiden Partner doch unterschiedliche, durchaus ambivalente Rollen zu. Die USA wollten ein starkes und einiges Europa, um die Sowjetunion einzudämmen, und beförderten deshalb den Wiederaufbau und die Integration der Bundesrepublik in die Nato und Europa. Gleichzeitig hofften sie, Bonn als engsten Verbündeten und Juniorpartner, ja Anwalt der eigenen Interessen auf dem Kontinent zu gewinnen. Frankreich wollte die Bundesrepublik als Gefahr für die eigene Sicherheit ausschalten, sie aber auch für die Idee einer eigenständigen «Dritten Macht Europa» gegenüber den USA und der Sowjetunion begeistern. Bonn versuchte, dieses Optionsdilemma zu entschärfen, indem es die Kooperation mit Frankreich in der EG vorantrieb, Washington jedoch versicherte, keinesfalls an der Schaffung einer europäischen Verteidigungsorganisation mitzuwirken, die am Planungs- und Organisationsmonopol der Nato rüttelte.
Wenn es hart auf hart kam, stand Westdeutschland an der Seite der USA. So stellte der Bundestag dem Vertrag über die deutschfranzösische Zusammenarbeit (Élysée-Vertrag) von 1963 eine Präambel voran, die versicherte, am Inhalt und Geist des Nordatlantikpakts festzuhalten, und unterlief damit Präsident Charles de Gaulles (1959–1969) Plan einer Zweiergemeinschaft mit Bonn. Der Streit in Westdeutschland zwischen «Gaullisten» und «Atlantikern» in den späten 1950er und 1960er Jahren war deshalb müßig, weil auch die Anhänger der französischen Option die elementare Abhängigkeit von der amerikanischen Sicherheitsgarantie anerkannten. Zudem rückversicherte die Nato-Mitgliedschaft die westeuropäischen Partner, dass sie weder vor einer erstarkenden Bundesrepublik noch vor einer deutsch-französischen Hegemonie Angst haben mussten. Solange die USA in Europa präsent waren, bestand also kein Anlass zur Koalitionsbildung gegen Bonn. Und solange Frankreich nicht an der Entschlossenheit der Bundesrepublik zweifelte, auf eine Einigung Europas hinzuwirken und militärisch integriert zu bleiben, bestand kein Grund, den Nachbarn zu fürchten. Eine Schlüsselrolle in den europapolitischen Konzepten der USA und Frankreichs einzunehmen und bisweilen gar zwischen den zwei wichtigsten Partnern zu vermitteln, hatte für Westdeutschland einen enormen Vorteil: Es stärkte die Verhandlungsposition gegenüber beiden und erlaubte der Bundesrepublik, die eigenen Interessen effektiver zu vertreten.
Diese Interessen waren neben Sicherheit vor der Sowjetunion und Rückgewinn von Vertrauen bei den Partnern vor allem politische und wirtschaftliche Stabilität in Westeuropa, freier Handel und das Offenhalten der Möglichkeit einer Wiedervereinigung. Die Bundesrepublik verfolgte diese Interessen mit Mitteln, die wenig mit denen des Nationalstaats des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu tun hatten. Nationale Alleingänge, militärische Macht, Drohpolitik und Dominanzstreben galten nach 1945 als diskreditiert und kontraproduktiv. Stattdessen agierte die Bundesrepublik in allen wichtigen Fragen im multilateralen Verbund, betrachtete die internationale Wirtschaftspolitik als ihr zentrales außenpolitisches Handlungsfeld, betonte Völkerrecht, Diplomatie und Menschenrechte und band sich selbst in internationale und supranationale Institutionen ein. Dies deckte sich mit den normativen Postulaten des Grundgesetzes: Wahrung des Friedens und Verbot des Angriffskriegs, Bereitschaft zu offenem, kooperativem Internationalismus sowie Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte. Außerdem verpflichtete das Grundgesetz in der Präambel alle Deutschen, auf die Herstellung der staatlichen Einheit hinzuwirken.
Die Teilung der Nation war Folge der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am Ende des Zweiten Weltkriegs, der Besetzung des Landes durch die vier Siegermächte und des Ost-West-Konflikts. Alle Akteure wussten, dass eine Wiedervereinigung ohne das Plazet der Sowjetunion unmöglich war. Adenauer gründete seine Hoffnung, trotz der Westbindung letztlich doch die staatliche Einheit Deutschlands zu erreichen, auf zwei Überlegungen. Zum einen sollte die Bundesrepublik politisch und ökonomisch so attraktiv werden, dass sie die DDR unwiderstehlich anzog («Magnettheorie»). Zum anderen hoffte der Kanzler, mit den westlichen Partnern so starken Druck auf die Sowjetunion auszuüben, dass diese ihren Herrschaftsbereich nicht festigen konnte und in Kompromisse über die Zukunft Ostdeutschlands einwilligen musste («Politik der Stärke»). Die Hallstein-Doktrin von 1955, die jede diplomatische Anerkennung der DDR durch einen Drittstaat zum unfreundlichen Akt erklärte und mit Sanktionen belegte, war Ausdruck dieser Strategie. Ihre Grundlagen brachen jedoch zusammen, als die beiden Supermächte die europäische Nachkriegsordnung festzuschreiben begannen und nach der Kubakrise von 1962 einen Entspannungskurs einschlugen. Bundeskanzler Willy Brandt (1969–1974/SPD) entkrampfte mit seiner Ostpolitik deshalb das Verhältnis zur Sowjetunion und zu anderen Ostblock-Ländern, erkannte die Existenz von «zwei Staaten in Deutschland» – so Brandt in seiner ersten Regierungserklärung – an und nahm geregelte Beziehungen zur DDR auf. Oberstes Ziel blieb dabei stets, die Lebensumstände der Ostdeutschen zu verbessern und die Kontakte zwischen den Bürgern beider deutscher Staaten zu intensivieren. Selbst als sich das Klima zwischen Washington und Moskau nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 abkühlte, versuchte die Bundesrepublik, ihr Sonderverhältnis zur DDR davon zu isolieren und politische Zugeständnisse durch finanzielles Entgegenkommen zu erreichen. So übernahm die Bundesregierung 1983 und 1984 Bankbürgschaften in Höhe von knapp zwei Milliarden D-Mark für das überschuldete Ost-Berlin, das im Gegenzug die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze abbaute und den bilateralen Reiseverkehr erleichterte. Schon früher hatte Bonn begonnen, politische Häftlinge aus DDR-Gefängnissen freizukaufen.
Voraussetzung für diese kostspieligen politischen Unterfangen war die enorme Wirtschafts- und Finanzkraft der Bundesrepublik. In den 1950er Jahren war Westdeutschland durchschnittlich mit neun Prozent, im folgenden Jahrzehnt immerhin noch mit fünf Prozent pro Jahr gewachsen. Dieses «Wirtschaftswunder» machte die Bundesrepublik Mitte der 1960er Jahre zur drittgrößten Ökonomie der Welt nach den USA und der Sowjetunion und zur zweitgrößten Exportnation nach den USA. Der Handelsbilanzüberschuss war hoch, die Haushaltsführung solide, die Inflation niedrig und die D-Mark stabil und nach dem Dollar die wichtigste Reservewährung. Diese ökonomische Leistungsfähigkeit ließ Westdeutschland zu einem gefragten Mitglied und zu einem potenten Beitragszahler in Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und – ab 1973 – den Vereinten Nationen und zu einem wichtigen Geberland von Entwicklungshilfe werden.
Es überrascht deshalb nicht, dass der außenpolitische Bereich, in dem sich Bonn am schnellsten emanzipierte und zu einem wichtigen Akteur aufstieg, die Wirtschafts- und Währungspolitik war. Obwohl die Bundesrepublik dies nicht explizit anstrebte, musste sie Führungsaufgaben übernehmen, um die für ihren ökonomischen Erfolg notwendigen Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Dazu zählte neben dem Abbau von Zöllen in der EG und im Rahmen des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) vor allem die Währungsstabilität in Westeuropa, die nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods-Systems mit seinen festen Wechselkursen zu Beginn der 1970er Jahre gefährdet war. Die Bundesrepublik setzte deshalb zusammen mit Frankreich 1979 das Europäische Währungssystem durch, in dem die Kurse der Währungen nur in engen Bandbreiten schwanken durften, und garantierte durch Devisenmarktinterventionen der Bundesbank seinen Bestand. Während anfangs nur wenige Staaten die konservative Geld- und Fiskalpolitik der Bundesrepublik unterstützten, schwenkten in den 1980er Jahren immer mehr Länder auf diese Linie ein. Damit gelang es Westdeutschland, seine Stabilitätspolitik sukzessive auf eine Kernzone auszuweiten, den so genannten D-Mark-Block mit Luxemburg, den Niederlanden, Österreich und Dänemark. Allerdings schuf diese westdeutsche Hegemonialstellung bei der Währung Ressentiments unter anderem in Frankreich und Italien, weil sie ihre Geld- und Fiskalpolitik an jener der Bundesrepublik auszurichten hatten. Damit wurde es für sie schwerer, ihre Staatsschulden über Inflation im Zaum zu halten und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Währungsabwertung zu verbessern. Stattdessen mussten sie Ausgaben reduzieren, Steuern erhöhen und ihre Wirtschaft liberalisieren – alles bei den Wählern unpopuläre Maßnahmen.
Als die Dominanz der Sowjetunion in ihrem mittel- und osteuropäischen Machtbereich Ende der 1980er Jahre ins Rutschen geriet und sich der Kalte Krieg seinem Ende zuneigte, befand sich die Bundesrepublik in guter Verfassung. Ökonomisch und finanziell stand sie glänzend da, gemeinsam mit Frankreich bildete sie das Führungspaar bei der europäischen Integration. Sie war wichtigster kontinentaleuropäischer Verbündeter der USA und tief in die westlichen Institutionen integriert. Gleichzeitig hatte Bonn auch in Mittel- und Osteuropa Misstrauen abgebaut, selbst mit der Sowjetunion und der DDR gab es Arbeitsbeziehungen. Die Bundesrepublik war eine finanziell potente Zivilmacht, die «postmodern» agierte, also traditioneller Macht- und Drohpolitik abgeschworen hatte und auf Interessenausgleich, Handel, Multilateralismus und Völkerrecht setzte. Kurzum: In den vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie sich vom Paria der Weltpolitik zum angesehenen internationalen Partner entwickelt. In ihrer Kombination ermöglichten diese Errungenschaften der Bundesrepublik, einen aktiven Kurs einzuschlagen, als sich nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 die Chance zur Wiedervereinigung ergab. Bundeskanzler Kohl bot das gesamte politische – und teilweise auch ökonomische – Kapital auf, um die internationalen Rahmenbedingungen im deutschen Interesse zu beeinflussen.
Absolut zentral war dabei das Vertrauensverhältnis zur Supermacht USA. Der amerikanische Präsident George H. W. Bush (1989–1993) wurde zum ersten und wichtigsten internationalen Fürsprecher der deutschen Einheit. In enger Abstimmung mit Kohl drängte er den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow (1985–1991), aber auch zögerliche westeuropäische Staats- und Regierungschefs wie Mitterrand und die britische Premierministerin Margret Thatcher (1979–1990), zu akzeptieren, dass die deutsche Einheit unvermeidlich war, und versicherte ihnen, dass keine Gefahr von ihr ausging. Bush stellte Bonn nur eine Bedingung: den Verbleib des vereinten Deutschland in der Nato. Denn obwohl die Allianz ihre Rolle als Verteidigungsbündnis gegen den Ostblock sukzessive einbüßte, gewährleistete sie nach wie vor die militärische Integration der Bundesrepublik. Kohl akzeptierte, mehr noch: Er begrüßte und förderte die Einbindung Deutschlands in die Nato nach Kräften, um die Ängste insbesondere Großbritanniens, Italiens und Frankreichs vor der Wiedervereinigung abzubauen. Die Zustimmung Mitterrands und anderer EG-Staats- und Regierungschefs zur deutschen Einheit erreichte Kohl, indem er versprach, den europäischen Einigungsprozess zu beschleunigen und zu vertiefen. Gemeinsam mit Mitterrand intensivierte er seit dem Frühjahr 1990 die Vorarbeiten für eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie für eine Politische Union.
Gorbatschow blieb letztlich nichts anderes übrig, als die Wiedervereinigung hinzunehmen. Nach der Maueröffnung am 9. November 1989 und den Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990, bei denen die Befürworter einer raschen Vereinigung die Mehrheit gewannen, hätte sie allein noch der Einsatz sowjetischer Truppen verhindern können. Damit wäre jedoch Gorbatschows Bemühen um eine Reform der sowjetischen Innen- und Außenpolitik, verbesserte Beziehungen zum Westen sowie um ausländische Hilfe beim Umbau der maroden sozialistischen Planwirtschaft Makulatur geworden. Kohl erleichterte ihm die Zustimmung zur Wiedervereinigung durch die Bereitschaft, den Abzug der Roten Armee aus der DDR mitzufinanzieren, Kreditbürgschaften für Moskau zu übernehmen und den sowjetischen Reformprozess national und international weiter zu unterstützen. Am 12. September 1990 unterzeichneten die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs den Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland oder kurz: Zwei-plus-Vier-Vertrag. Damit erreichte die Bundesrepublik ihre drei herausragenden Ziele: die freie Bündniswahl, den Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR und die Aufgabe der Rechte und Verantwortlichkeiten der Siegermächte für Deutschland als Ganzes und Berlin.
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik bei. Einige Wochen später erklärte die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), in der alle Länder des Westens und Ostens Mitglied waren, in ihrer Charta von Paris den Kalten Krieg für beendet. Er hatte Deutschland mehr als jedes andere Land betroffen, die Nation und ihre wichtigste Stadt geteilt. Mit seinem Ende erfüllten sich einerseits zentrale außenpolitische Ziele der Bundesrepublik: Die Bedrohung durch die Sowjetunion war vorüber, die prekäre geopolitische Lage an der Nahtstelle zwischen Nato und Warschauer Pakt überwunden, Deutschland vereinigt. Andererseits wurden mit dem Ende der Blockkonfrontation auch die Rahmenbedingungen obsolet, innerhalb derer sich die westdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik vierzig Jahre lang bewegt und bewährt hatte und erfolgreich gewesen war.
Die «Bonner Republik» beruhte auf der Westbindung durch die Sicherheitspartnerschaft mit den USA, die europäische Integration und die Aussöhnung mit Frankreich, auf einer aktiven Ost- und Deutschlandpolitik, auf Multilateralismus, Handel und friedlichem Interessenausgleich. Ohne den Kalten Krieg standen viele dieser außenpolitischen Gründungsprämissen der Bundesrepublik zur Disposition. Es ergaben sich Fragen über Fragen: Würden sich die USA nach dem Ende der sowjetischen Bedrohung weiterhin in Deutschland und Europa engagieren? Welche Rolle sollte die Nato künftig in der deutschen Sicherheitsarchitektur einnehmen? Würde die Bundesrepublik Importeur von Sicherheit bleiben oder sich auch zum Export von Sicherheit bekennen? Was sollte aus der Bundeswehr werden, die bisher rein auf die nun weitgehend obsolete Landesverteidigung ausgerichtet war? Wie konnten die ex-kommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas stabilisiert werden? Wie würde es mit der Sowjetunion weitergehen, die noch immer Hunderttausende ihrer Soldaten auf deutschem Territorium stationiert hatte? Würde die europäische Integration auch ohne die sowjetische Bedrohung fortschreiten? Wie sollte sich die Bundesrepublik, nach der Vereinigung mit Abstand bevölkerungsreichster und wirtschaftlich stärkster Staat in Europa, in der EG verhalten? Was sollte die Rolle Europas in einer Welt ohne Blockkonfrontation sein? An welchen Kriterien würde man die Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt ausrichten, jetzt, da Ost und West wieder rein geographische Begriffe geworden waren? Was waren die neuen Gefahren und Herausforderungen, die es international zu bewältigen galt – Hunger, Flüchtlingsströme, Umweltzerstörung, organisierte Kriminalität? Was erwarteten die Partner in EG und Nato von dem vereinigten Deutschland? Und: Wären die Bundesbürger angesichts der verblassenden sowjetischen Gefahr bereit, ein verändertes außen- und sicherheitspolitisches Engagement mitzutragen?
Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 sowie der Auflösung des Warschauer Pakts am 1. Juli und der Sowjetunion am 25. Dezember 1991 fand die Nachkriegsordnung Europas und der Welt ihr Ende. Damit wandelte sich die geopolitische Position Deutschlands fundamental. Nicht länger lag die Bundesrepublik an der Nahtstelle des bipolaren Konflikts, die Gefahr einer existenzbedrohenden Aggression aus dem Osten war vorerst zumindest gebannt. Erstmals in ihrer Geschichte grenzte die Nation nur mehr an befreundete Demokratien, die fast alle Mitglied in Nato und Europäischer Gemeinschaft waren oder die baldige Aufnahme in diese Institutionen anstrebten.
Wäre es allein nach der Bundesrepublik gegangen, hätte sie sich nach der Wiedervereinigung wohl darauf konzentriert, die westeuropäischen Partner durch ein Vertiefen der EG rückzuversichern, die sowjetischen Truppen zu einem möglichst raschen Abzug von deutschem Gebiet zu veranlassen und die jungen Demokratien an der Ostgrenze zu stabilisieren. Aber schnell zeigte sich, dass sich die außenpolitische Agenda der Bundesrepublik nach dem Kalten Krieg nicht mehr auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränken ließ und sie auch neue Instrumente erforderte. Noch während der Zwei-plus-Vier-Gespräche stellte der Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait im August 1990 die internationale Gemeinschaft – und damit auch Deutschland – vor die Frage, wie auf solch einen flagranten Verstoß gegen das Gewaltverbot des Völkerrechts zu reagieren sei. Von Mitte 1991 an zwangen die Balkankriege die Bundesrepublik, sich mit der Rolle des Landes und seiner Streitkräfte bei der Befriedung dieses ersten militärischen Konflikts in Europa seit 1945 zu beschäftigen. Und Ende des Jahres kollabierte die Sowjetunion mit unabsehbaren Folgen. Es herrschte, wie der französische Präsident Mitterrand besorgt feststellte, ein «Zustand der Anarchie … vor der eigenen Haustür».[1]
Diese dramatischen Ereignisse rissen die Bundesrepublik aus einer gewissen Beschaulichkeit, in der sie es sich in den Tagen der Ost-West-Konfrontation eingerichtet hatte. Natürlich war es damals um überlebenswichtige Fragen gegangen wie die Eindämmung der Sowjetunion und die nukleare Abschreckung. Aber die Gefahren waren bekannt und klar definierbar, und sie änderten sich kaum. Wenn es hart auf hart kam, standen die USA als Schutz- und Führungsmacht zur Seite. Washington kümmerte sich auch um den Rest der Welt. Letztlich hatte die Bipolarität, wie der amerikanische Zeithistoriker John Lewis Gaddis feststellte, Europa – und Westdeutschland – einen «langen Frieden» beschert.[2] In diesen Jahren erbrachte die Bundesrepublik zwar einen gewichtigen Beitrag zur Bündnisverteidigung, aber im Kern war sie, wie Westeuropa insgesamt, Importeur von Sicherheit. Nach dem Kalten Krieg sah sie sich Wünschen der USA und anderer Nato-Partner sowie der Uno ausgesetzt, ebenfalls zum Export von Sicherheit beizutragen. Darauf war Deutschland weder mental noch politisch vorbereitet. Schritt für Schritt führte deshalb der seit 1982 amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl das Land gegen massive innenpolitische Widerstände an die Übernahme größerer internationaler Verantwortung heran. Er war sich jedoch sicher, Deutschland dürfe «einen psychologischen Fehler nicht machen und zu demonstrativ an der Spitze marschieren». «Im Grunde», so Kohl weiter, «[haben] lediglich die USA keine Komplexe in Bezug auf Deutschland. Bei den anderen Partnern [ist] dies schon schwieriger.»[3]
Trotz aller Differenzen in der Sicherheitspolitik, etwa über den Nato-Doppelbeschluss oder die Strategische Verteidigungsinitiative, stimmten Union, SPD und FDP seit der Aufnahme der Bundesrepublik in die Uno 1973 bis zur Wiedervereinigung darin überein, die Bundeswehr allein zur Landesverteidigung einzusetzen. Dabei hatte Bonn in den 1960er Jahren die Frage nach Einsätzen außerhalb des Nato-Gebiets (out of area) noch positiv beantwortet. 1964 beschloss das Kabinett Ludwig Erhard (1963–1966/CDU), ein deutsches Kontingent für einen Eingreifverband der Allianz in Zypern bereit zu stellen, 1967 entschied der Bundessicherheitsrat, das Beratungs- und Aufsichtsgremium für alle verteidigungspolitischen Fragen, unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (1966–1969/CDU), sich mit Kriegsschiffen an einer multinationalen Nato-Flotte gegen die angekündigte ägyptische Seeblockade Israels zu beteiligen. Während der Amtszeit der sozial-liberalen Koalition (1969–1982) setzte sich allerdings die Ansicht fest, Landes- und Bündnisverteidigung seien deckungsgleich, und das Grundgesetz verbiete Out-of-area-Einsätze deutscher Soldaten. Das Bundesjustizministerium erstellte sogar ein entsprechendes Gutachten. Daran rüttelte auch die Regierung Kohl/Genscher in den 1980er Jahren nicht.
An Operationen der Uno hatte sich die Bundesrepublik bisher allein in Form von Pflichtbeiträgen zu Friedenseinsätzen, logistischer Unterstützung und Transportkapazitäten beteiligt. Selbst als Irak am 2. August 1990 Kuwait überfiel und der Uno-Sicherheitsrat am 29. November in Resolution 678 «alle erforderlichen Mittel» guthieß, um Saddam Hussein zu einem Rückzug aus dem besetzten Staat zu zwingen, hielt Bonn an der Maxime fest, deutsches Militär dürfe nicht an Missionen außerhalb des Nato-Gebiets teilnehmen. Das Entsenden von Bundeswehreinheiten in die Türkei begründete die Regierung als vorsorgliche Maßnahme im Rahmen der Nato mit dem Ziel, einen Angriff auf den Bündnispartner zu verhindern; sie stationierte das Kontingent jedoch weit von der Grenze zu Irak entfernt. Minensuchboote schickte Bonn erst in den Persischen Golf, als die Kämpfe zwischen der von den USA geführten Koalition aus 34 Staaten und Irak geendet hatten. Allerdings leistete die Bundesrepublik Transporthilfen und war «wichtigster strategischer Umschlagplatz»,[4] so Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1974–1992/FDP), für die westliche Material- und Truppenverlegung in die Konfliktregion. Der Wert dieser Leistungen und der direkt gezahlte deutsche Beitrag an die wichtigsten Krieg führenden Nationen USA, Großbritannien und Frankreich beliefen sich zusammen auf 17,9 Milliarden D-Mark (9,2 Mrd. Euro). Das entsprach zehn Prozent der Ausgaben der Golfkriegsallianz. In seinen Memoiren gestand Kohl ein, «dass wir uns mit einer horrenden Summe an Geld und Kriegsgerät ‹freikauften›».[5]
Für das deutsche Nein zu einer militärischen Beteiligung an der Uno-Operation gab es zwei Gründe. Zum einen Kohls und Genschers tiefe Ablehnung von Krieg als ultima ratio der Politik, zum anderen die Bundestagswahlen vom 2. Dezember 1990. Im Vorfeld wollte der Kanzler dem Spitzenkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, keine Möglichkeit geben, mit pazifistischen Parolen Stimmung gegen die Regierung zu machen. Diese Furcht war nicht unbegründet, befürworteten doch mehr als 80 Prozent der Bürger eine politische Lösung des Konflikts. In einer Regierungserklärung betonte Kohl am 14. Januar 1991 – und damit einen Tag vor Ablauf des Sicherheitsrats-Ultimatums an Saddam –, die Bundesregierung setzte sich «leidenschaftlich» dafür ein, «wenn irgendmöglich eine militärische Auseinandersetzung zu vermeiden».[6] Erst am 30. Januar 1991, als die Uno-Operation gegen Irak bereits seit zwei Wochen lief, bekannte sich der Kanzler klar zur Golfkriegsallianz und sagte die Bereitschaft der Bundesrepublik zu, künftig «selbst an konkreten Maßnahmen zur Sicherung von Frieden und Stabilität in der Welt mitzuwirken».[7] Aber da hatte sich im Ausland bereits das Bild von Deutschland als einem «Drückeberger, Opportunisten und sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer»[8] festgesetzt. So titelten die führende französische Tageszeitung Le Monde «La tentation Suisse des Allemands» und die amerikanische International Herald Tribune «German Wobbling Puts Trans-Atlantic Partnership at Risk».[9] Besonders schädlich für das Ansehen der Bundesrepublik war es, dass die Friedensbewegung und Teile der politischen Linken die Operation Desert Storm zur Befreiung Kuwaits als imperialistische Aggression der USA und «Blut-für-Öl»-Feldzug diffamierten und sich damit an der Seite Saddams fanden.
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