Gerhard Roth/Nicole Strüber
Wie das
Gehirn
die Seele
macht
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Ulf Müller, Köln
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96251-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10750-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
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Vorwort zur Neuauflage 2018
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1
Die Suche nach dem Sitz der Seele
1.1 Die antike und mittelalterliche Seelenlehre
1.2 Die neuzeitliche Suche nach dem »Sitz der Seele«
1.3 Experimentelle Hirnforschung und Seele-Geist
1.4 Wo stehen wir heute?
Kapitel 2
Gehirn und limbisches System
2.1 Allgemeiner Aufbau des Gehirns
2.2 Bau und Funktion des limbischen Systems als Sitz des Psychischen
2.3 Was lernen wir daraus?
Kapitel 3
Die Sprache der Seele: Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone
3.1 Dopamin
3.2 Serotonin
3.3 Noradrenalin
3.4 Acetylcholin
3.5 Endogene Opioide
3.6 Oxytocin
3.7 Vasopressin
3.8 Cortisol
3.9 Zusammenfassung: Sechs psychoneuronale Grundsysteme
Kapitel 4
Die Entwicklung des Gehirns und der kindlichen Psyche
4.1 Die Entwicklung des Gehirns
4.2 Die Entwicklung der kindlichen Psyche
4.3 Was lernen wir daraus?
Kapitel 5
Persönlichkeit und ihre neurobiologischen Grundlagen
5.1 Die gängigen psychologischen Bestimmungen der Persönlichkeit
5.2 Die neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeit
5.3 Was sagt uns das alles?
Kapitel 6
Das Bewusstsein, das Vorbewusste und das Unbewusste
6.1 Die Erscheinungsformen des Unbewussten
6.2 Die Erscheinungsformen des Bewusstseins und des Vorbewussten
6.3 Die Funktionen des Bewusstseins
6.4 Die neurobiologischen Grundlagen des Bewusstseins
6.5 Wie verhalten sich nun Geist-Bewusstsein und Gehirn zueinander?
6.6 Was sagt uns das alles?
Kapitel 7
Psychische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen
7.1 Depressionen
7.2 Angststörungen
7.3 Posttraumatische Belastungsstörung
7.4 Zwangsstörung
7.5 Borderline-Persönlichkeitsstörung
7.6 Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Psychopathie
7.7 Psychische Erkrankungen und das Gehirn: Was sagt uns das?
Kapitel 8
Psychotherapien und ihre Wirkungen
8.1 Psychotherapie-Formen
8.2 Ergebnisse der Psychotherapie-Wirksamkeitsforschung
8.3 Was sagt uns das alles?
Kapitel 9
Die Wirkungsweise von Psychotherapie aus Sicht der Neurowissenschaften
9.1 Welche Methoden besitzt die Neurobiologie, um die Wirksamkeit von Psychotherapien zu überprüfen?
9.2 Neurowissenschaftliche Beurteilung der Therapiewirkungsforschung
9.3 Grundzüge einer »Allgemeinen Psychotherapie auf neurowissenschaftlicher Grundlage«
9.4 Was bedeuten diese Erkenntnisse für eine »Neuropsychotherapie«?
Kapitel 10
Zusammenfassung
10.1 Eine naturalistische Sicht der Seele
10.2 Seele und Persönlichkeit
10.3 Neurobiologische Grundlagen psychischer Störungen
10.4 Konsequenzen für die Psychotherapie
10.5 Die partielle Autonomie des Psychischen
Literatur
Einleitung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8:
Kapitel 9
Kapitel 10
Register
Im Andenken an Manfred Cierpka in Dankbarkeit
Das vorliegende Buch hat seit seinem Erscheinen vor rund dreieinhalb Jahren eine große und überwiegend sehr positive Aufmerksamkeit erfahren. Das war nicht unbedingt zu erwarten, geht es doch in dem Buch um Dinge, die gleich mehrere Disziplinen in ihren Kernbereichen betreffen, wie die Psychologie, die Neurobiologie und die Psychiatrie und insbesondere auch die Psychotherapie in Theorie und Praxis. Letztere beleuchten wir aus neurobiologischer Sicht und hinterfragen kritisch bisherige Annahmen über Wirkmechanismen. Neben zahlreichen eingeladenen Vorträgen spielten dabei Vorlesungen, Seminare und Diskussionsrunden im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen eine bereichernde Rolle. Wir legen nun mit dem Erscheinen der Taschenbuchausgabe eine grundlegend überarbeitete und in Teilen erweiterte Fassung vor. Die Überarbeitung betrifft neben stilistischen Verbesserungen und sachlichen Korrekturen auch die Einarbeitung der Fachliteratur, die seither erschienen ist. Insbesondere haben wir versucht, am Ende des Buches unseren Lesern eine plausible Antwort auf die uns häufig gestellte Frage zu geben, was denn all das für die Praxis der Psychotherapie bedeutet. Dies mündet in einem Modell für eine neurowissenschaftlich fundierte und schulenübergreifende Psychotherapie, wie sie bereits Klaus Grawe in seinem Spätwerk »Neuropsychotherapie« von 2004 angestrebt hatte. Über die Personen hinaus, denen wir bereits im Vorwort zur 1. Auflage gedankt haben, möchten wir herzlich Prof. Ulrich Egle und Dipl. Psych. Georg Hoffmann danken. Diese Ausgabe unseres Buches ist unserem verstorbenen Freund und Kollegen Prof. Manfred Cierpka in Dankbarkeit gewidmet.
Bremen, Lilienthal und Brancoli/Lucca, Februar 2018.
Die eingehende Beschäftigung mit der Thematik dieses Buches begann 1997 mit der Gründung des Hanse-Wissenschaftskollegs, einer Einrichtung der Bundesländer Niedersachsen und Bremen in der zwischen Oldenburg und Bremen gelegenen Stadt Delmenhorst. Es ging damals darum, die wissenschaftliche interdisziplinäre Tätigkeit des Hanse-Kollegs längerfristig zu planen, und bei der Suche nach einem großen Rahmenthema entschieden wir uns für »Determinanten menschlichen Verhaltens«, die wir in den Bereichen der Neuro- und Kognitionswissenschaften, der Philosophie, der Sozialwissenschaften und der Anthropologie in Einzelprojekten behandeln wollten. Was uns und dem damaligen, leider viel zu früh verstorbenen Mitarbeiter Uwe Opolka dabei sehr am Herzen lag, war das Thema »Seele und Gehirn«. Wir wollten Neurobiologen, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Philosophen zusammenbringen und zu gemeinsamen transdisziplinären Diskursen und Projekten anregen.
Schnell waren »Gründungsväter« für das Projekt »Seele und Gehirn« gefunden, vor allen anderen der Heidelberger Psychiater und Psychotherapeut Manfred Cierpka, hinzu kamen als weitere Kollegen Horst Kächele aus Ulm, Peter Buchheim aus München, Ulrich Sachsse aus Göttingen, Thomas Münte, seinerzeit aus Magdeburg, und Eckart Altenmüller aus Hannover, mit denen wir über zehn Jahre hinweg viele kleinere und größere Tagungen am Hanse-Kolleg und in Heidelberg, Ulm und München durchführten. Später kam eine ganze Reihe jüngerer Kolleginnen und Kollegen hinzu wie Anna Buchheim (heute Innsbruck), Svenja Taubner (heute Heidelberg), Daniel Wiswede (heute Lübeck), Daniel Strüber (heute Oldenburg), Cord Benecke (heute Kassel), John Dylan Haynes (heute Berlin) und Henrik Kessler (heute Bonn).
Wir merkten aber bald, dass über diesen engen Kreis hinaus die Bereitschaft zu einem intensiven Gespräch zwischen den Neuro- und Kognitionswissenschaftlern einerseits und den Psychiatern und Psychotherapeuten andererseits bei den von uns angesprochenen Personen anfangs nicht sehr groß war. Viele naturwissenschaftlich orientierte Psychiater, Neurologen und Neurobiologen sahen skeptisch bis geringschätzig auf die Psychotherapeuten und ihr »unwissenschaftliches Tun« herab, während für diese wiederum die Neurobiologen und die ihnen nahestehenden Psychologen nichts als hartgesottene Reduktionisten waren, mit denen zu sprechen sich nicht lohnte. Es brauchte unsererseits viel Überredungskunst, bis es zu ersten größeren Zusammenkünften und zu einem gegenseitigen Verstehen kam.
Ein besonderes Ereignis war die Einladung an G. R., als erster Neurobiologe auf den angesehenen Lindauer Psychotherapiewochen einen Vortrag zu halten, der dann den Titel trug: »Wie das Gehirn die Seele macht«. Dieser Titel stammte von Manfred Cierpka, und wir haben ihn auch für das vorliegende Buch gewählt. Der Vortrag stieß zu unser aller Erstaunen auf große Resonanz, was zur Folge hatte, dass ähnliche Auftritte in Lindau von nun an ungefähr alle zwei Jahre stattfanden und das Interesse der Psychotherapeuten, mehrheitlich Psychoanalytiker und Tiefenpsychologen, an der Hirnforschung stetig wuchs.
Am Hanse-Wissenschaftskolleg gelang es uns, den berühmtesten lebenden Neurobiologen, Eric (1)Kandel, im Rahmen eines »Kurz-Fellowships« nach Delmenhorst und Bremen zu holen. Kandel forderte uns und unsere Kolleginnen und Kollegen aus Neurobiologie, Psychiatrie und Psychotherapie nachdrücklich zur Zusammenarbeit auf. Dies war dann auch der Auslöser für die erste Wirksamkeitsstudie zur (1)psychodynamischen Therapie an depressiven Patienten, die mithilfe bildgebender Verfahren durchgeführt wurde. Bekannt geworden ist sie unter dem Namen »(1)Hanse-Neuro-Psychoanalyse-Studie (HNPS)«, weil sie institutionell vom Hanse-Wissenschaftskolleg getragen wurde.
Die Zusammenarbeit im Kontext vieler Tagungen in Delmenhorst, Heidelberg, Lindau und an zahlreichen anderen Orten sowie im Rahmen der HNPS und sich anschließender Projekte entwickelte sich zu einem langsamen, aber doch deutlichen Erfolg. Dies heißt aber keineswegs, dass sich der »Traum« von Sigmund Freud, Eric (2)Kandel und dem leider früh verstorbenen Klaus (1)Grawe, eine neurobiologische Fundierung der Psychiatrie und Psychotherapie zu erreichen, von selbst verwirklichen würde. Denn während die (1)kognitive Verhaltenstherapie schon seit Langem die Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern sucht, öffnet man sich dem in der psychoanalytischen Therapie nur zögerlich. Hier ist der Widerstand von ausschließlich geisteswissenschaftlich orientierten Psychoanalytikern bzw. Psychodynamikern noch immer groß. Selbst ein so bedeutendes Buch wie die Neuropsychotherapie von Klaus (2)Grawe wird von manchen Psychoanalytikern auch zehn Jahre nach seinem Erscheinen geradezu verteufelt. »Wenn ich als Psychoanalytiker noch etwas dazulernen will, greife ich lieber zu einem Buch von Habermas, als dass ich in ein neurobiologisches Lehrbuch hineinschaue!«, hieß es auf einer Tagung zu Fragen der Kinder- und Jugendpsychotherapie.
Einer solchen Abwehrhaltung, die vielerlei Gründe hat, steht die Tatsache gegenüber, dass seit dem Erscheinen des genannten Buchs von Grawe die Erforschung der neurobiologischen Grundlagen des Seelisch-Geistigen abermals große Fortschritte gemacht hat. Das betrifft alle Aspekte dieser Thematik, angefangen von der Entwicklung der Persönlichkeit und dem Entstehen von Geist und Bewusstsein über die Ursachen psychischer Erkrankungen bis hin zu Fragen der Wirkungsweise von Psychotherapien aus neurobiologischer Sicht. Diese Erkenntnisfortschritte in verständlicher Weise darzulegen ist das Hauptziel des vorliegenden Buches.
Ein weiterer entscheidender Schritt für das Zustandekommen unseres Buches war unsere umfassende und integrative Aufarbeitung psychologischer und neurobiologischer Befunde, die die Rolle frühkindlichen Stresserlebens beim Entstehen psychischer Störungen beleuchten. In dieser Aufarbeitung, die wir im Rahmen einer Projektarbeit durchführten, wurde uns bewusst, welche Bedeutung insbesondere die frühen Erfahrungen innerhalb kritischer sensibler Perioden(1), aber auch die genetisch-epigenetische Ausstattung des Menschen für seine spätere Persönlichkeit und die Entwicklung psychischer Erkrankungen haben. Es wurde deutlich, dass es während der Entwicklung vor allem die komplizierte Neurochemie ist, die sich in ihrer Funktionsweise den jeweiligen Lebensumständen anpasst: Bei Vorliegen ungünstiger genetisch-epigenetischer Prädispositionen, kombiniert mit negativen oder gar traumatischen Erfahrungen, erfährt sie langfristige Veränderungen und begünstigt so die Entstehung von psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen.
Grundlage unserer Überlegungen ist eine »naturalistische« Sicht des Seelischen, der zufolge sich Psyche und Geist in das Naturgeschehen einfügen und dieses nicht transzendieren. Daher rührt die strenge empirische Ausrichtung unserer Argumente. Gleichzeitig versuchen wir, die Fallstricke eines unfruchtbaren neurobiologischen (1)Reduktionismus zu vermeiden. Inwieweit uns dies gelungen ist, hat der Leser zu entscheiden.
Wir danken einer Reihe von Personen, die uns bei der Abfassung dieses Buches geholfen haben. Vor allem danken wir unseren Ehepartnern Prof. Ursula Dicke (Universität Bremen) und Prof. Daniel Strüber (Universität Oldenburg) für den ständigen fachlichen Rat und im Falle von Prof. Dicke für die wertvolle Hilfe bei der Anfertigung von Abbildungen. Weiterhin gilt für die kritische Lektüre einzelner Teile des Buches sowie die fachliche Beratung unser Dank (in alphabetischer Reihenfolge) Prof. Cord Benecke (Kassel), Mark Borner (Berlin), Prof. Georg Bruns (Bremen), Prof. Manfred Cierpka (Heidelberg), Annette Goldschmitt-Helfrich, Werner Helfrich (beide Bremen), Prof. Otto Kernberg (New York), Prof. Manfred Pauen (Berlin) und Dr. Iris Reiner (Mainz).
Bremen, Lilienthal und Brancoli/Lucca,
Mai 2014.
Seit Menschen damit begonnen haben, über sich und ihre Existenz nachzudenken, war ihnen das eigene Fühlen, Denken und Handeln rätselhaft. Die Welt um sie herum war zwar auch voller geheimnisvoller Vorgänge, doch bald lernten sie, durch Naturbeobachtungen und damit verbundene mythisch-religiöse Vorstellungen Ordnung in diese Welt zu bringen. Die religiösen Anschauungen über die Natur und den Gang der Dinge wurden jedoch mehr und mehr durch wissenschaftliche Erklärungen ersetzt, auch wenn viele diese »Entzauberung der Welt« bedauerten und manche sie bekämpften. Heute scheint innerhalb der »harten« Naturwissenschaften fast nur noch im Bereich der Quantenphysik und der Kosmologie einiges vollkommen unerklärlich zu sein. Innerhalb der Biowissenschaften sind die Vorgänge, die einen Organismus am Leben erhalten, und ebenso diejenigen der Vererbung weitgehend aufgeklärt oder lassen eine solche Aufklärung in naher Zukunft vermuten. Dies gilt auch für die Prozesse, die im Gehirn auf der Ebene einzelner Nervenzellen und ihrer Bestandteile und innerhalb kleinerer Zellverbände ablaufen. Kaum ein Naturwissenschaftler vermutet hier noch geheimnisvolle Kräfte, die die Grenzen des Naturgeschehens überschreiten. Vielmehr herrscht die Vorstellung von der »Einheit der Natur« vor, die besagt, dass dieselben Prinzipien, die für die unbelebte Natur gelten, auch in der belebten Natur wirksam sind. Das war bis ins späte 19. Jahrhundert nicht selbstverständlich, denn bis dahin nahm man an, Lebewesen würden von ganz anderen Kräften und Prinzipien bestimmt als die unbelebte Natur, z.B. von einer mystischen Lebenskraft (vis vitalis). Man glaubte, es gebe in den Lebewesen eine spezifische »organische« Chemie, die sich von der »anorganischen« Chemie der unbelebten Materie grundsätzlich unterscheide. Der Nachweis durch Friedrich Wöhler im Jahre 1828, dass die »anorganische« und die »organische Chemie« denselben Gesetzen unterliegen, war ein großer Wendepunkt der Wissenschaftsgeschichte, auch wenn diese Tatsache nur sehr langsam akzeptiert wurde und es bis heute vitalistische Konzepte gibt.
Einen solchen Erkenntnisfortschritt hat es hinsichtlich solcher Fragen wie »Was sind Geist und Bewusstsein?«, »Woher kommen meine Gefühle und meine Gedanken?« oder »Warum handle ich in dieser Weise und nicht anders?« – also hinsichtlich dessen, was man in einem umfassenderen Sinn als das »Seelische« des Menschen versteht – augenscheinlich nicht gegeben. Auch wenn sich seit Langem die Philosophen, später auch die Psychologen und noch später die Neurobiologen mit Antworten auf diese Fragen abmühen, so herrscht auch unter ihnen bislang keinerlei Konsens vergleichbar dem unter Physikern, Chemikern und Biologen. Erstaunlich viele Philosophen und sonstige Geisteswissenschaftler, aber auch viele Psychiater und Psychotherapeuten sind heute noch der festen Überzeugung, dass bei seelisch-geistigen Zuständen Prinzipien wirken, die die Grenzen des Naturgeschehens und einer naturalistischen Erklärung überschreiten. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht Bücher und Artikel erscheinen, in denen Geisteswissenschaftler vehement gegen die »reduktionistischen Anmaßungen« und »naturalistischen Grenzüberschreitungen« der Hirnforschung zu Felde ziehen und die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes herausstreichen.
Eine solche Haltung ist durchaus verständlich. In unserem täglichen Empfinden und Erleben sind Bewusstsein, Denken und Fühlen etwas ganz anderes als die materielle Welt um uns herum. Geist und Gefühle kann man – so scheint es – grundsätzlich nicht messen und wiegen; sie haben offenbar gar keine Ausdehnung und kein Gewicht, keinen definitiven Ort, und ihre zeitlichen Eigenschaften sind verwirrend. Eine strikte Kausalität zwischen Gedanken oder Gefühlen in der Weise, dass ein bestimmter Gedanke einen anderen erzwingt, ein bestimmtes Gefühl gesetzmäßig ein nächstes nach sich zieht, scheint es nicht zu geben. Dies alles drängt uns ein (1)dualistisches Weltbild auf, in dem Geist und Seele und das Naturgeschehen zwei unterschiedliche »Wesenheiten« sind und von wesensverschiedenen Prinzipien beherrscht werden.
Gleichzeitig – und das ist das Dilemma – gibt es gute Gründe, an einem solchen dualistischen Weltbild zu zweifeln, so plausibel es auf den ersten Blick erscheint. Nur zu gut kennen wir die enge Beziehung zwischen Psyche und Körper: Große Freude ebenso wie große (1)Furcht lassen unseren Körper erbeben, uns schlottern die Knie, zittern die Hände vor Angst, bei großem Stress wälzen wir uns nachts im Bett herum, der Gedanke an die nahende Prüfung führt zu Schweißausbrüchen und so weiter. Gefühle können unseren Körper ergreifen. Wie aber kann es geschehen, dass Psyche und Geist als immaterielle Wesenszustände auf Gehirn und Körper einwirken, ohne dabei die Naturgesetze zu verletzen? Die umgekehrte Wirkungsrichtung scheint genauso rätselhaft zu sein: Auf welche Weise führt eine Verletzung zu einer Schmerzempfindung, also etwas rein Seelischem? Wie können chemische Substanzen wie Schmerzmittel oder (1)Antidepressiva auf unsere Psyche schmerz- und angstlindernd wirken, wo doch die Psyche gar keine »Andockstellen« für diese Stoffe hat? Seit René (1)Descartes hat kein Dualist diese Fragen plausibel beantworten können.
Sie stellen sich umso dringlicher, je weiter die Neurowissenschaften in enger Zusammenarbeit mit Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie darin voranschreiten, diejenigen Hirnprozesse zu identifizieren, die mit den geistig-psychischen Vorgängen verbunden sind. Noch vor 14 Jahren, als das »Manifest der Hirnforscher« geschrieben wurde, konnte man sich als Geisteswissenschaftler damit beruhigen, dass die bunten Hirnbilder eigentlich gar nichts Wichtiges beinhalten, denn sie zeigen auf den ersten Blick nichts weiter als die Tatsache, dass geistig-psychische Prozesse und neuronale Vorgänge irgendwie parallel verlaufen. Mit der klassisch-geisteswissenschaftlichen Maxime »Verstehen statt Erklären« und »Gründe statt Ursachen« kamen Psychiater und Psychotherapeuten über lange Zeit gut zurecht. Wenn man schon nicht an zwei wesensmäßig unterschiedliche Welten glaubte, so doch zumindest an zwei komplementäre Erklärungswelten, die sich letztlich gar nicht ins Gehege kamen.
Eine beträchtliche Zahl der heutigen Philosophen, Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten vertritt entsprechend einen (1)psychophysischen Parallelismus. Dieser akzeptiert natürlich einen gewissen Zusammenhang zwischen Geist-Psyche und Gehirn, hält ihn aber für irrelevant. Ein solcher Parallelismus wird allerdings umso rätselhafter, je enger sich die Beziehung zwischen dem Psychischen und dem Neuronalen erweist. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die mit bewusstem Erleben verknüpften neuronalen Prozesse vom Stoffwechsel her sehr »teuer« sind. Warum wird ein solcher Parallelaufwand betrieben, wenn er ohne funktionale Bedeutung ist?
Ganz unplausibel wird ein (2)psychophysischer Parallelismus spätestens mit dem experimentellen Nachweis, dass dem bewussten Erleben von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen unbewusste neuronale Prozesse in einem gut messbaren Rahmen von einigen Hundert Millisekunden zeitlich vorhergehen. Das bedeutet, dass bewusstes Erleben stets einen unbewussten neuronalen »Vorlauf« hat, und dass bestimmte unbewusste neuronale Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit überhaupt etwas bewusst wird. Gleichzeitig heißt dies, dass es sehr viele neuronale Prozesse gibt, die niemals oder zumindest nicht unter den gegebenen Bedingungen bewusst werden, umgekehrt aber keine bewussten Prozesse, denen nicht unbewusste neuronale Prozesse vorhergehen würden.
Diese Erkenntnis hat natürlich eine große Bedeutung für das Verständnis der »Natur« von Geist, Seele und Bewusstsein, denn es bindet die Existenz dieser Zustände unlösbar an die Existenz des Gehirns. Darüber hinaus erhebt sich die dringliche Frage nach den spezifischen neuronalen Bedingungen für das Entstehen und die Art geistig-psychischen Erlebens. Diese Frage steht im Mittelpunkt unseres Buches, wenn es um die Entwicklung von Psyche und Gehirn geht, um die Grundlagen von Persönlichkeit, um das Entstehen psychischer Erkrankungen und die Wirkungsweisen von Psychotherapie. Es stellt sich die Frage, wie weit die Aufklärung der neuronalen Grundlagen denn gekommen ist.
Hier wird der Hirnforschung immer wieder vorgeworfen, dass sie über reine Korrelationen hinaus nichts vorzuweisen habe. Dieser Vorwurf ist sicherlich zum Teil berechtigt. So liefert die Feststellung, dass die Amygdala bei Furchtzuständen eine erhöhte Aktivität aufweist, erst einmal keine Erkenntnisse über die kausalen Zusammenhänge zwischen beiden Ereignissen. Für einen (1)interaktiven Dualisten, für den das Gehirn ein Instrument in den Händen des Geistes ist, heißt dies nichts anderes, als dass der Empfindungszustand der (2)Furcht bzw. (1)Angst die Amygdala aktiviert und diese dann den Körper in Bewegung setzt, z.B. um zu fliehen. Natürlich kann man sofort fragen, warum eigentlich der Geist dafür die Amygdala oder überhaupt das Gehirn benötigt. Dem könnte der interaktive Dualist mit dem Argument begegnen, dass ein Pianist eben einen Flügel braucht, um Musik zu produzieren. Allerdings dürfte es dann keine unbewusste (1)Furchtkonditionierung geben, bei der die (1)Amygdala nachweislich aktiviert wird, ohne dass der Betroffene dies erlebt, denn das hieße, dass sich die Tasten des Flügels ohne den Pianisten bewegen können. Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt.
Läuft dies nicht doch auf einen »platten« (2)Reduktionismus hinaus, für den etwa psychische Erkrankungen wie Depressionen nichts anderes sind als Fehlverdrahtungen in der Amygdala oder Unterfunktionen im Serotoninhaushalt? Solche Aussagen sind in der Tat unter Neuropharmakologen und naturwissenschaftlich orientierten Psychiatern keineswegs selten anzutreffen und dienen dann der geisteswissenschaftlichen Gegenseite als Schreckensbild eines neurobiologischen Reduktionismus. Zwar werden die meisten Neurobiologen zugeben, dass sie psychische Erkrankungen noch nicht in allen ihren Details neurobiologisch erklären können. Aber was ist in vielleicht 20 Jahren? Können wir dann das diagnostische Gespräch des Therapeuten nicht doch durch eine gründliche Untersuchung des Patientengehirns ersetzen?
Immerhin kann die moderne Medizin in anderen Bereichen nicht auf technische Diagnoseverfahren verzichten, und viele Ärzte beschränken sich zunehmend darauf, weil es für sie billiger und weniger risikoreich ist. Aber was ist dann mit der Psychotherapie? Könnte sie durch neurobiologische oder neuropharmakologische Verfahren ersetzt werden? In der Tat erwecken viele neuropharmakologisch orientierten Psychiater und erst recht die dahinterstehende Pharmaindustrie genau diese Hoffnung: Wenn denn Depression nichts anderes ist als eine Fehlfunktion des Serotoninsystems, dann muss man diesen Defekt eben durch Medikamente, z.B. die bekannten (1)selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) beheben. Natürlich kann man argumentieren, dass die genaue langfristige Wirkung der SSRI nicht bekannt ist, dass diese Medikamente keineswegs bei allen Depressiven gleichermaßen wirken und bei manchen Patienten überhaupt nicht, und dass in der Regel die Wirkung mit der Zeit nachlässt – wie bei vielen anderen Psychopharmaka auch. Ein kritischer Experte wird zudem darauf hinweisen, dass die Wirkung sowohl der Neuro- und Psychopharmaka als auch der Psychotherapien verschiedenster Richtung signifikant von einem ganz unspezifisch wirkenden Faktor, nämlich der »therapeutischen Allianz«, dem Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut bestimmt wird, und dass daher auch viele angeblich spezifische Wirkungen psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung vornehmlich auf diesen Effekt zurückzuführen sind. Was könnte besser die Unzulänglichkeit eines reduktionistischen Ansatzes in Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie demonstrieren?
Die große Herausforderung besteht also darin, die neurobiologischen Grundlagen des »Seelischen« zu bestimmen und dabei die Fallstricke eines (3)Reduktionismus ebenso wie die eines (2)Dualismus zu vermeiden. Dies wird uns gelingen, wenn wir zeigen können, in welcher Weise im Gehirn Gene und Umwelt miteinander interagieren, vor allem wie vorgeburtliche und nachgeburtliche Erfahrungen auf die Genexpression einwirken, die ihrerseits die synaptische Verschaltung steuert. Eine zentrale Rolle wird dabei entsprechend die Darstellung der »neuronalen Sprache der Seele«, nämlich der (1)Neuromodulatoren, (1)Neuropeptide und (1)Neurohormone spielen, welche die Kommunikation zwischen Zellen, Zellverbänden und ganzen Hirnregionen zugleich bestimmen und widerspiegeln.
Auf der Ebene der synaptischen Kommunikation spielt sich nämlich das Gehirngeschehen ab, das für das Psychische entscheidend ist. Es geht dabei um das Ausmaß von Produktion und Freisetzung der neuroaktiven Substanzen und um ihre Wirkung auf bestimmte Rezeptoren. Entsprechend ist dies die Ebene, auf der sich psychische Erkrankungen »materiell« manifestieren, nämlich durch Veränderungen in der Produktion und Freisetzung der Substanzen, in der Anzahl, Verteilung und Empfindlichkeit der Rezeptoren und in der Interaktion zwischen diesen Systemen. In den vergangenen Jahren hat sich ein wahrer »Quantensprung« ergeben, indem es gelang, die Wirkung psychischer Traumatisierung, etwa infolge von (1)Vernachlässigung, (1)Misshandlung oder (2)Missbrauch in früher Kindheit, auf der Ebene neurochemischer Veränderungen und der damit verbundenen Gehirnmechanismen nachzuweisen und so die Einsicht in die neuronalen Korrelate psychischer Erkrankungen zu vertiefen. Es wurde deutlich, dass die individuelle Ausprägung der neurochemischen Systeme die Empfindlichkeit gegenüber den Auswirkungen früher Erfahrungen vorgeben und so die Psyche schützen oder gefährden können. Die Erfahrungen können ihrerseits in einem (1)epigenetischen Prozess auf die Gene zurückwirken und deren Umsetzung in Proteine, d.h. in Komponenten der neurochemischen Systeme beeinflussen. Damit ist zumindest im Prinzip hinsichtlich des Psychischen das uralte »Gen-Umwelt«-Problem gelöst. Es bestätigt sich die Anschauung, dass psychische Gesundheit ebenso wie psychische Erkrankungen durch spezifische (1)Gen-Umwelt-Interaktionen bestimmt werden.
Daraus leitet sich die Erwartung ab, dass ein positiver Effekt von Psychotherapien, sei er spezifisch oder unspezifisch, auf der synaptisch-neurochemischen Ebene nachweisbar sein muss. Der all diesen Vorstellungen zugrundeliegende Gedanke lautet: Wenn psychische Erkrankungen einhergehen mit Fehlfunktionen bei der Kommunikation zwischen Neuronen, sich also auf der synaptisch-neurochemischen Ebene abspielen, und sie damit das Ergebnis »falschen Lernens« sind, dann muss eine erfolgreiche Psychotherapie als Veränderung auf eben dieser Ebene sichtbar werden.
Damit ist natürlich nicht auch schon geklärt, wodurch diese Veränderungen genau hervorgerufen werden. Hierzu gibt es bei den unterschiedlichen Psychotherapierichtungen spezifische Wirkmodelle wie etwa die »(1)kognitive Umstrukturierung« in der (2)kognitiven Verhaltenstherapie oder das »(1)Bewusstmachen des Unbewussten« in der (1)Psychoanalyse. Während sich die Psychoanalyse nach dem Scheitern Sigmund Freuds als Hirnforscher von neurobiologisch orientierten Wirkungsmodellen weitgehend fernhielt oder sie gar radikal ablehnte, entwickelte die (3)kognitive Verhaltenstherapie relativ früh Vorstellungen über die eigene neurobiologische Wirksamkeit. Damit hat sie in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken können, im Vergleich zur Psychoanalyse die einzige wissenschaftlich begründete Therapieform zu sein. Das zögerliche Verhalten vieler Psychoanalytiker gegenüber einer wissenschaftlichen Überprüfung ihrer Aussagen hat der Psychoanalyse schwer geschadet. Aber auch angesichts der zunehmenden und berechtigten Forderung des Gesundheitssystems nach einer »evidenzbasierten Medizin« kann eine solche Haltung immer weniger glaubhaft vertreten werden, selbst wenn es richtig ist, dass sehr sorgfältig über geeignete Standards nachgedacht und geforscht werden muss, mit denen sich die Wirksamkeit von Psychotherapien überprüfen lässt.
Die Wirkmodelle der verschiedenen Psychotherapien bieten aber nicht nur eigene Konzepte ihrer Wirkung an, sie sollen außerdem die tatsächliche oder vermeintliche Überlegenheit der jeweiligen Richtung erklären. Im Rahmen unseres Buches werden wir deshalb die jeweils unterstellten Wirkmodelle kritisch auf ihre neurobiologische Plausibilität hin untersuchen. Besonders interessant wird es natürlich, wenn uns diese Plausibilität gering erscheint, die verschiedenen Therapien aber dennoch zumindest bei einigen Patienten wirksam sind. Lässt sich diese Wirkung dann auf andere Weise erklären? Dies führt zu der in der Psychotherapieforschung bereits intensiv diskutierten Frage, ob nicht allen Psychotherapien, wie oben erwähnt, ein ganz unspezifischer »gemeinsamer Faktor«, nämlich das »Arbeitsbündnis« oder die »(1)therapeutische Allianz« zugrunde liegt. Es ist dann zu fragen, ob die Wirkung dieses Faktors, den man lange geringschätzig als »Placeboeffekt« abgetan hat, auch neurobiologisch erklärbar ist.
Einer der ganz wenigen, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Vision einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie festhielten, war der Neurobiologe Eric (3)Kandel (geb. 1929), der – sozusagen in Gegenrichtung zu Freud – im Rahmen seines Medizinstudiums mit der Psychiatrie und Psychoanalyse begann und bei der molekular-zellulären Neurobiologie von Gedächtnisprozessen endete, für deren Erforschung er im Jahre 2000 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin erhielt. Bereits 1979 entwickelte er in dem Aufsatz »Psychotherapie und die einzelne Synapse« die visionäre Vorstellung, dass Psychotherapie notwendigerweise auf der synaptischen Ebene ansetze und deshalb aufgrund synaptischer Veränderungen wirksam sein müsse. Rund 20 Jahre später, in den zwei Aufsätzen »Ein neuer theoretischer Rahmen für die Psychiatrie« und »Biologie und die Zukunft der Psychoanalyse« konkretisierte er diese Anschauung weiter.
Im ersteren der beiden letztgenannten Aufsätze heißt es kurz und knapp: »Alle geistigen Funktionen spiegeln Gehirnfunktionen wider« (S. 83), und ebendort führt (4)Kandel aus:
»Insofern Psychotherapie und Beratung wirksam ist und zu langfristigen Veränderungen im Verhalten führt, gründet diese Wirksamkeit vermutlich im Lernen, indem Veränderungen in der Genexpression erzeugt werden, die die Stärke der synaptischen Verbindungen verändern, und indem strukturelle Veränderungen stattfinden, die das anatomische Muster der Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn ändern« (wieder abgedruckt in Kandel 2008).
Allerdings dauerte es noch über zehn Jahre, bis derartige Ideen unter deutschsprachigen Psychoanalytikern überhaupt ernsthaft diskutiert wurden und man damit begann, neuro-psychiatrische Forschung auf der Grundlage funktioneller Bildgebung zu betreiben.
Das im Jahre 2004 erschienene Buch Neuropsychotherapie des leider 2005 viel zu früh verstorbenen Psychologen und Psychotherapeuten Klaus (3)Grawe hat seinerzeit viel Aufsehen erregt, beruhte aber trotz vieler beeindruckender Einsichten auf einer immer noch unzureichenden Grundlage neurobiologischer Erkenntnisse.
Mit unserem Buch setzen wir die Bemühungen Klaus Grawes fort, ein neurobiologisches Verständnis des Seelisch-Psychischen, der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit als Träger dieses Seelischen, der Entstehung psychischer Erkrankungen und der Wirksamkeit von Psychotherapie zu erreichen. Ebenso werden wir seine Vorstellungen von einer schulenübergreifenden »allgemeinen Psychotherapie« aufnehmen und weiterentwickeln.
Zu Beginn des Buches verfolgen wir in einem kurzen historischen Abriss die lange Suche nach dem »Sitz der Seele« und fragen uns in einer ersten Annäherung, ob und in welcher Hinsicht diese Suche heute zu einem Ende gekommen ist. Wir tun dies in der Überzeugung, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung um eine »Neuropsychiatrie« bzw. »Neuropsychotherapie« nicht verstanden werden kann, wenn wir nicht auch deren Vorgeschichte kennen.
Es folgt im Kapitel 2 ein Überblick über den Aufbau des menschlichen Gehirns und dann eine genauere Darstellung des limbischen Systems als dem eigentlichen »Sitz« von Psyche und Persönlichkeit einschließlich unseres »(1)Vier-Ebenen-Modells«. In Kapitel 3 geht es um die Darstellung der »neuronalen Sprache der Seele«, also um die Wirkungsweise von (1)Neurotransmittern, (2)Neuromodulatoren, (2)Neuropeptiden und (2)Neurohormonen. Ohne eine Kenntnis von der Wirkungsweise dieser neuroaktiven Substanzen kann man sich nicht sinnvoll mit der Entstehung psychischer Erkrankungen und ihrer möglichen Therapie beschäftigen.
In Kapitel 4 behandeln wir die Individualentwicklung des menschlichen Gehirns und die darauf aufbauende Entwicklung der kindlichen Psyche. Hierbei geht es vor allem um die Ausformung des Bindungssystems und die Bedeutung der Bindungserfahrung für die weitere psychische Entwicklung. Im 5. Kapitel stellen wir ein neurobiologisch fundiertes Konzept der Persönlichkeit einschließlich des von uns entwickelten Modells der sechs psycho-neuronalen Grundsysteme vor.
In Kapitel 6 bemühen wir uns um eine genauere Definition der Begriffe des (1)Unbewussten, Vorbewussten und Intuitiven sowie des Bewussten, die für die Psychotherapie zentral sind. In diesem Zusammenhang entwerfen wir eine neurobiologisch begründete Theorie von Geist und Bewusstsein, die mit der Grundvorstellung der »Einheit der Natur« verträglich ist und dabei zugleich die jeweiligen Fallstricke eines (3)Dualismus und ebenso die eines (4)Reduktionismus vermeidet.
Mit psychischen Erkrankungen, ihren neurobiologischen Grundlagen und insbesondere mit der Frage nach der dabei ablaufenden (2)Gen-Umwelt-Interaktion befassen wir uns in Kapitel 7. Dabei konzentrieren wir uns auf diejenigen Erkrankungen, die aus neurobiologischer Sicht am besten (wenngleich noch immer unzulänglich) untersucht sind, nämlich (1)Depressionen, Angststörungen, die (1)posttraumatische Belastungsstörung, die (1)Zwangsstörung und Persönlichkeitsstörungen einschließlich der (1)Borderline-Störung(1) und der antisozialen Verhaltensstörung. Im 8. Kapitel geht es vornehmlich um die Darstellung der am weitesten verbreiteten Psychotherapierichtungen, nämlich der (1)Verhaltenstherapie bzw. (4)kognitiven Verhaltenstherapie und der (2)Psychoanalyse bzw. psychodynamischen Konzepte. Die Konzentration auf diese Therapierichtungen ergibt sich sowohl aus Platzgründen als auch aus der Tatsache, dass nur hierzu ernstzunehmende neurowissenschaftliche Daten vorliegen.
Im 9. Kapitel werden wir die Wirkmodelle der genannten Psychotherapierichtungen auf ihre psychologische wie neurobiologische Fundierung und Plausibilität hin überprüfen. Sollten wir dabei auf Mängel stoßen, werden wir uns fragen, wie aus neurobiologischer Sicht plausiblere und allgemeinere Wirkmodelle der Psychotherapie aussehen könnten. Eine Frage wird dabei sein, warum Psychotherapien häufig keine nachhaltige Wirkung haben, obgleich sie einer reinen Pharmakotherapie langfristig überlegen zu sein scheinen. Auch wird zu untersuchen sein, warum die Wirkung in vielen Fällen in zwei Phasen aufritt, nämlich einer kurzfristigen, aber nicht nachhaltigen Besserung der Symptomatik und subjektiven Befindlichkeit, und einer zweiten, längeren Phase voller mühsamer Fortschritte – falls es überhaupt zu einer Langzeittherapie kommt. Wir werden dann auch die Grundzüge einer »allgemeinen Psychotherapie« im Sinne Grawes umreißen und ein neues Psychotherapie-Wirkmodell präsentieren. Im abschließenden 10. Kapitel werden wir das Gesagte noch einmal modellhaft zusammenfassen.
Kapitel 1
Der Begriff der »Seele« ist einer der kompliziertesten Begriffe der Ideengeschichte. In allen Religionen, Weltanschauungen und Kulturen der Welt ist er in unterschiedlichsten Ausprägungen und Bedeutungen anzutreffen.
Am Anfang steht der animistisch-vitalistische Seelenbegriff. Hierbei geht es um die Tatsache, dass es in der Natur Lebewesen wie Pflanzen, Tiere und Menschen gibt, die sich von unbelebten Dingen wie Steinen oder Metallen grundsätzlich unterscheiden. Alle Lebewesen sind in dieser ursprünglichen Naturauffassung »beseelt«, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Pflanzen zeichnen sich durch Wachstum und Reizbarkeit aus, sie orientieren sich mit ihren oberirdischen Teilen zum Licht, mit ihren Wurzeln zur Erde hin. Tiere können sich außerdem bewegen, haben Sinnesorgane und zeigen zum Teil auch erstaunlich zweckhaftes Verhalten. Dieses Verhalten wird meist als angeboren oder instinkthaft angesehen, aber manche Tiere wie Hunde, Affen oder Rabenvögel gelten seit dem Altertum als intelligent. Der Mensch zeigt sowohl Wachstum und Reizbarkeit wie die Pflanzen und bewegt und verhält sich zweckhaft wie die Tiere, aber darüber hinaus hat er noch Verstand, den die Tiere entweder gar nicht oder nur in geringem Maße besitzen. Schließlich hat er Vernunft, also die Fähigkeit zum logischen und begrifflichen Denken, zu moralisch-sittlichem Handeln und zur Einsicht in das Walten Gottes oder der Götter in der Natur.
Die deutlichen Unterschiede zwischen der belebten und der unbelebten Natur sowie zwischen Pflanze, Tier und Mensch wurden von den antiken Philosophen, Naturforschern und Ärzten unterschiedlich erklärt. Der am weitesten verbreiteten Anschauung nach war das Universum von einer »Weltseele« oft göttlicher Natur durchdrungen, auch Pneuma oder Äther (lateinisch anima oder spiritus) und im Deutschen Odem genannt. Mit der Atemluft nahmen Tiere und Menschen diesen Odem auf und wurden dadurch belebt. Diese Annahme beruhte auf der Beobachtung, dass ein längerer Atemstillstand zum Tod führt, was aus heutiger Sicht ja nicht falsch ist, auch wenn wir mittlerweile wissen, dass beim Atmen der für den Körperstoffwechsel notwendige Sauerstoff aufgenommen wird und nicht etwa eine lebendig machende Substanz.
Vorsokratische Philosophen wie Empedokles und Heraklit haben die Seele fast durchweg als feinstofflich (»ätherisch«) oder luftähnlich angesehen. Demokrit, der Begründer der antiken Atomlehre, ging von speziellen Seelen- oder Feueratomen aus, die besonders beweglich sind, über die Atemluft aufgenommen werden und sich im Körper bzw. im Gehirn zur Seele verdichten. Sie vermitteln auch Bilder aus der Umwelt ins Gehirn, die dann die Grundlage der Wahrnehmung sind. Über die Atmung besteht ein ständiger Austausch dieser Atome mit der Umwelt. Beim Tod und Atemstillstand zerstreuen sich die Atome wieder. Eine unsterbliche Seele ist daher für Demokrit und später für den lateinischen Dichter und Philosophen Lukrez, dessen Werk De rerum natura für die frühe Neuzeit als Hauptwerk einer materialistischen Weltanschauung galt, unmöglich.
Einen Höhepunkt findet die antike Anschauung der Seele in der »Drei-Seelen-Lehre«, wie sie unter anderem die griechischen Philosophen (1)Platon (428/427–348/347 v. u. Z.) und (1)Aristoteles (384–322 v. u. Z.) vertraten. Danach gibt es als grundlegendes Lebensprinzip eine »vegetative Seele«, lateinisch anima vegetativa oder spiritus vegetativus, die zu Wachstum, Entwicklung und Erregbarkeit durch Umweltreize führt. Pflanzen haben nur diese vegetative Seele. Tiere als höherstehende Lebewesen haben eine weitere Seele, »Tierseele« oder anima animalis bzw. spiritus animalis genannt; sie ermöglicht Bewegung, adaptives Verhalten und vielleicht auch Intelligenz. Der Mensch hat gegenüber den Tieren eine »Vernunftseele«, die anima rationalis oder den spiritus rationalis, die bis in die Neuzeit und zum Teil auch noch bis heute als unstofflich und zudem unsterblich galt und gilt. Durch sie erhebt sich der Mensch über die Tiere und hat Teil an einem göttlichen Prinzip, oder sie ist selbst Gabe der Götter bzw. Gottes. Sie steht damit im klassischen dualistischen Weltbild dem Körper als einer stofflichen Substanz gegenüber, was zu den in der Einleitung erwähnten Problemen des (4)Dualismus führt.
Bereits im Altertum wurde die Seele durch diese Ausweitung vom Lebensprinzip hin zur »Vernunftseele« des Menschen auch zum Organ der Erkenntnis. Auf diese Weise verband sich die Frage nach der Herkunft und Natur der Seele auf neuartige Weise mit der Frage nach gesicherter Erkenntnis, wie sie seit (2)Platon und (2)Aristoteles im Zentrum der Philosophie steht. Für Platon konnte aus sinnlicher Erfahrung keine sichere Erkenntnis im philosophischen Sinne entstehen, da sie materieller Natur war. Sinnliche Erfahrung diente lediglich der Orientierung des Körpers an den Geschehnissen der Welt. Wahre Erkenntnis hingegen, episteme genannt, wurde durch die »Augen des Geistes« gewonnen und hatte nichts mit der materiellen Welt zu tun, sondern mit dem Erfassen der unwandelbaren, unsterblichen und vollkommenen Ideen. Bevor sich die unsterbliche Seele mit einem sterblichen Körper verband und somit irdisch wurde, existierte sie in einem Raum »auf der Rückseite des Himmels«, wie es in Platons bekanntem Dialog Phaidros heißt, in der unmittelbaren Schau der Ideen. Daran kann sich die Seele mithilfe der wahren Methode des Erkenntnisgewinns, des philosophischen Diskurses wiedererinnern.
Für Platon hat die vernunftbegabte Seele ihren Sitz im Gehirn, ihr edel-muthafter Teil sitzt in der Brust bzw. im Herzen und der triebhaft-begehrende(3)