Wie viel Gefühl verträgt eine Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt? Nicht viel, könnte man meinen und etwa auf die Gefahren verweisen, die mit der politischen Instrumentalisierung von Ängsten und Ressentiments verbunden sind. Emotionen, so eine weitverbreitete Ansicht, setzen das Denken außer Kraft und sind daher im politischen Kontext generell schädlich.
Dem widerspricht Martha C. Nussbaum in ihrem neuen Buch. Um der Gerechtigkeit politisch zur Geltung zu verhelfen, so ihre These, bedarf es nicht nur eines klaren Verstandes, sondern auch einer positiv-emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger an diese gemeinsame Sache. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von Hingabe. Nussbaum nennt es Liebe. Persönlichkeiten wie Lincoln, Gandhi und Martin Luther King haben davon ebenso gewußt wie die Vordenker einer »Zivilreligion«, Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel oder Rabindranath Tagore.
In beeindruckender Weise erforscht Nussbaum diese Art Liebe und damit verwandte politische Gefühle. Sie zeigt, welche Ausdrucksformen – auch in der Musik oder der Dichtung – sie annehmen können und wie sie sich kultivieren lassen. Dabei erweist sie sich einmal mehr als eine der vielseitigsten Denkerinnen unserer Zeit: als bedeutende Theoretikerin der Emotionen, als herausragende politische Philosophin und nicht zuletzt als große Kennerin und Interpretin der Künste.
Martha C. Nussbaum ist Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden und zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit dem Prinz-von-Asturien-Preis in der Kategorie Sozialwissenschaften.
Zuletzt erschienen: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, es 1739, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, 2010 und stw 2105
Politische Emotionen
Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist
Aus dem Amerikanischen
von Ilse Utz
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2013 bei The Bellknap Press of Harvard University Press unter dem Titel: Political Emotions. Why Love Matters for Justice
© 2013 by Martha Nussbaum
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014
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Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfoto: Getty Images
eISBN 978-3-518-73742-2
www.suhrkamp.de
In Erinnerung an Terence Moore
1953-2004
1. Ein Problem in der Geschichte des Liberalismus
I. Geschichte
2. Gleichheit und Liebe: Rousseau, Herder, Mozart
3. Religionen der Menschlichkeit I: Auguste Comte, John Stuart Mill
4. Religionen der Menschlichkeit II: Rabindranath Tagore
II. Ziele, Mittel, Probleme
Einleitung zu Teil II
5. Eine Gesellschaft mit hohen Zielen: Gleichheit, Inklusion, Verteilung
6. Mitgefühl: Bei Menschen und bei Tieren
7. »Das radikale Böse«: Hilflosigkeit, Narzißmus, Beschmutzung
III. Öffentliche Emotionen
Einleitung zu Teil III
8. Patriotismus lehren: Liebe und kritische Freiheit
9. Tragische und komische Feste: Mitgefühl wecken, Ekel überwinden
10. Die Feinde des Mitgefühls: Angst, Neid und Scham
11. Wie Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist
Anhang: Theorie der Emotionen, Emotionen in der Musik: Upheavals of Thought
8Danksagung
Literatur
Namensregister
9Diesen Tag der Qualen,
der Launen und der Tollheit
kann nur die Liebe enden
in Zufriedenheit und Freude.
Wolfgang Amadeus Mozart
und Lorenzo da Ponte,
Die Hochzeit des Figaro (1786)
Seht, Leib und Seele – dieses Land,
Mein eigenes Manhattan mit Türmen, schaumfunkelnden raschen
Gezeiten und Schiffen,
Das vielgestaltige weite Land, der Süden und der Norden im Licht,
Die Ufer des Ohio und der blitzende Missouri,
Und immer die ausgedehnten Prärien, mit Gras und Korn bedeckt.
Seht, die vortrefflichste Sonne, still und stolz, der purpurviolette Morgen
Mit lindesten Brisen, das sanfte mildgeborene unermeßliche Licht,
Das Wunder, das ausstrahlend alles badet, der erfüllte Mittag,
Der anbrechende Abend, köstlich, die willkommene Nacht und die Sterne,
Über meiner Stadt scheinen sie alle, umhüllen Mensch und Land.
Walt Whitman, Als jüngst der Flieder blühte im Garten vorm Haus
My Bengal of Gold,
I love you.
Forever your skies,
Your air, set my heart in tune
As if it were a flute.
Rabindranath Tagore, Amar Shonar Bangla, heute die Nationalhymne von Bangladesh
In allen Gesellschaften spielen Emotionen eine große Rolle. Liberale Demokratien bilden da keine Ausnahme. Beschriebe man einen Tag oder eine Woche im Leben einer relativ stabilen Demokratie, stieße man auf viele Emotionen – Wut, Angst, Mitgefühl, Abscheu, Neid, Schuldgefühle, Trauer sowie viele Formen von Liebe. Manche dieser Emotionen haben wenig mit politischen Prinzipien oder der öffentlichen Kultur zu tun, doch bei einigen ist es anders: Sie gelten der Nation, den Zielen der Nation, ihren Institutionen, ihrer Führungselite, ihrer Geographie und den eigenen Mitbürgern, mit denen man sich in einem gemeinsamen öffentlichen Raum 12bewegt. Wie die vorangestellten beiden Texte zeigen, haben Emotionen, die die geographischen Merkmale eines Landes zum Gegenstand haben, häufig die Funktion, die Hauptanliegen dieses Landes zu befördern – Inklusion, Gleichheit, Milderung von Not und Elend, das Ende der Sklaverei. Whitmans Text ist Teil eines Gedichts, das den Tod Abraham Lincolns beklagt und die Mischung aus Vaterlandsliebe, Stolz und tiefer Trauer zum Ausdruck bringt, die der Sprecher über den Zustand seines Landes empfindet. »Amar Shonar Bangla« drückt Tagores großartigen Humanismus und sein Streben nach einer allumfassenden »Religion der Menschlichkeit« aus, die alle Kasten und Religionen seiner Gesellschaft verbindet. Als Nationalhymne eines armen Landes beschreibt das Lied sowohl Stolz und Liebe zur Schönheit des Landes als auch (in den folgenden Versen) Besorgnis über die noch zu leistende Arbeit.
Derartige öffentlich wirksame und häufig intensive Emotionen haben weitreichende Folgen für das Erreichen der Ziele, die sich ein Land gesteckt hat. Sie können der Verfolgung dieser Ziele eine neue Dynamik und Tiefe verleihen, können sie aber auch behindern, indem sie Spaltungen und Hierarchien, Gleichgültigkeit oder Borniertheit schaffen oder verstärken.
Mitunter gibt es die Auffassung, nur faschistische oder aggressive Gesellschaften seien von starken Gefühlen beherrscht und nur solche Gesellschaften hätten es nötig, sich auf die Förderung und Pflege von Gefühlen zu konzentrieren. Derartige Ansichten sind so falsch wie gefährlich. Sie sind falsch, weil alle Gesellschaften über die langfristige Stabilität ihrer politischen Kultur und die Sicherheit der ihnen teuren Werte in Krisenzeiten nachdenken müssen. Alle Gesellschaften müssen folglich über Mitgefühl bei Verlusten, Zorn über Ungerechtigkeit, die Eindämmung von Neid und Scham zugunsten eines umfassenden Mitgefühls nachdenken. Überläßt man die Prägung von Gefühlen antiliberalen Kräften, erlangen diese 13einen gewaltigen Vorsprung bei der Gewinnung der Herzen der Menschen, und dann besteht die Gefahr, daß Menschen liberale Werte für lasch und langweilig halten. Ein Grund, weshalb Abraham Lincoln, Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru für ihre liberalen Gesellschaften so große politische Führungspersönlichkeiten waren, ist der, daß sie die Notwendigkeit erkannten, die Herzen der Bürger anzusprechen und starke Gefühle für die gemeinsamen Aufgaben zu wecken. Alle politischen Prinzipien, gute wie schlechte, bedürfen der emotionalen Unterfütterung, damit sie langfristig Bestand haben, und alle gut funktionierenden Gesellschaften müssen Schutzmauern gegen Spaltungen und Hierarchien errichten, indem sie Emotionen wie Mitgefühl und Zuneigung fördern und pflegen.
In einer liberalen Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle strebt, steht die politische Förderung von Emotionen vor zwei Aufgaben. Die eine besteht darin, ein starkes Engagement für die guten Projekte zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die Anstrengungen und Opfer erfordern – wie etwa soziale Umverteilung, die vollständige Inklusion von vormals ausgeschlossenen oder marginalisierten Gruppen, Umweltschutz, Entwicklungshilfe und nationale Verteidigung. Die meisten Menschen beschränken ihr Mitgefühl auf einen kleinen Kreis. Sie lassen sich schnell für narzißtische Projekte gewinnen und vergessen die Bedürfnisse von Menschen, die außerhalb ihres engen Umfelds leben. Gefühle, die sich auf die Nation und ihre Ziele richten, können sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, Menschen einen weiteren Denkhorizont zu vermitteln und sie dazu zu bringen, sich für das Gemeinwohl einzusetzen.
Die andere Aufgabe, die sich für die Förderung und Pflege öffentlich wirksamer Emotionen stellt, besteht darin, die Kräfte in Schach zu halten, die in allen Gesellschaften und letztlich auch in uns allen lauern: die Neigung, das fragile Ich durch die Herabsetzung und Diffamierung anderer zu 14schützen. (Diese Neigung bezeichne ich mit Kant als das »radikale Böse«, wenngleich ich darunter etwas anderes verstehe als Kant). Abscheu, Neid sowie das Bedürfnis, andere zu erniedrigen – all diese Gefühlsregungen sind in allen Gesellschaften und höchstwahrscheinlich auch in jedem Menschen vorhanden. Läßt man ihnen freien Lauf, können sie großen Schaden anrichten. Besonders groß ist dieser Schaden, wenn sie maßgeblichen Einfluß auf den Gesetzgebungsprozeß und die Gestaltung der Gesellschaft haben (wenn beispielsweise der Abscheu, den Menschen vor einer Gruppe anderer Menschen empfinden, als triftiger Grund gilt, jene Menschen zu diskriminieren). Auch wenn eine Gesellschaft nicht in diese Falle getappt ist, lauern diese Kräfte in der Gesellschaft und müssen entschieden zurückgedrängt werden, und zwar durch eine Erziehung, die die Fähigkeit fördert, einer anderen Person das vollwertige und gleichberechtigte Menschsein zuzuerkennen – vielleicht eine der schwierigsten und fragilsten Errungenschaften der Menschheit. Ein wichtiger Teil dieser Erziehung wird durch die politische Kultur geleistet, die das Land und seine Menschen auf eine spezifische Weise repräsentiert. Sie kann Menschen einschließen oder ausschließen, Hierarchien zementieren oder abbauen – so wie Lincoln es in seiner Gettysburg Address in bewegender Form tut, indem er die kühne These verkündet, die Vereinigten Staaten seien stets der Gleichheit der Rassen verpflichtet gewesen.
Große demokratische Führungspersönlichkeiten haben zu vielen Zeiten und an vielen Orten begriffen, daß es wichtig ist, erwünschte Emotionen zu pflegen (und jene zurückzudrängen, die die Gesellschaft daran hindern, ihre Ziele zu erreichen). Die liberale politische Philosophie hat zu diesem Thema jedoch wenig gesagt. John Locke, der für religiöse Toleranz eintrat, erkannte in der weitverbreiteten Feindseligkeit zwischen den Mitgliedern verschiedener Religionen im England seiner Zeit ein Problem; er forderte die Menschen auf, eine Haltung der »Barmherzigkeit, Güte und Freigebigkeit« 15einzunehmen, und ermahnte die Kirchen: »Wer das Lehramt auf sich nimmt, der ist auch verpflichtet, seinen Hörern die Pflichten der Friedfertigkeit und des guten Willens gegen alle Menschen, die im Irrtum befindlichen so gut als die rechtgläubigen, einzuschärfen.«[1] Locke unternahm allerdings nicht den Versuch, den psychologischen Wurzeln von Intoleranz weiter nachzugehen. Somit trug er wenig dazu bei, das Wesen verwerflicher Einstellungen zu erkennen und Wege zu ihrer Bekämpfung aufzuzeigen. Auch empfahl er keinerlei Maßnahmen von seiten des Staates und der Gesellschaft zur Beeinflussung psychologischer Einstellungen. Die Pflege guter Einstellungen bleibt den einzelnen Individuen und den Kirchen überlassen. Da verwerfliche Einstellungen gerade in den Kirchen verbreitet waren, ist Lockes eigenes Projekt in einem unsicheren Zustand verblieben. Seiner Ansicht nach sollte der liberale Staat sich auf den Schutz der Eigentumsrechte und anderer politischer Güter beschränken, wenn und falls diese Angriffen ausgesetzt sind. Folgt man seiner Argumentation, die religiöse Toleranz aus gleichen natürlichen Rechten ableitet, erfolgt diese Intervention einen Schritt zu spät.
Das Fehlen von Aussagen zur psychologischen Verfaßtheit einer guten Gesellschaft bei Locke kennzeichnet die gesamte spätere westliche Tradition der liberalen politischen Philosophie – was zweifellos teilweise daran liegt, daß liberale politische Philosophen der Auffassung waren, die Verordnung einer bestimmten Gefühlskultur könne leicht zu Einschränkungen der Redefreiheit und zu anderen Maßnahmen führen, die mit liberalen Vorstellungen von Freiheit und Selbstbestimmung nicht vereinbar wären. Diese Auffassung vertrat explizit Immanuel Kant. Kant befaßte sich intensiver mit der menschlichen Psyche als Locke. In seinem Werk Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft[2] legt er dar, daß ein schäd16liches gesellschaftliches Verhalten nicht nur aus den gesellschaftlichen Umständen resultiert: Es hat seine Wurzeln auch in der menschlichen Natur, in der es die Neigung gibt, andere Menschen zu mißbrauchen (sie nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck zu benutzen). Diese Neigung nannte er das »radikale Böse«. Diese schlechte Neigung führt dazu, daß Menschen, sobald sie Umgang mit anderen haben, zu ihnen in Konkurrenz treten und von Neid beherrscht werden. Kant war der Auffassung, die Individuen hätten die ethische Pflicht, »ein Glied eines ethischen gemeinen Wesens« zu werden, das ihre guten Neigungen (die Neigung, andere Menschen gut zu behandeln) stärkt, so daß diese Neigungen eine größere Chance haben, die Oberhand über die schlechten zu gewinnen. Er glaubte, eine »wahre Kirche« könne eine Stütze für die Sittlichkeit der Gesellschaft darstellen, und er sagte sogar, alle Menschen hätten daher die ethische Pflicht, sich einer Kirche anzuschließen. Gleichwohl gelangte Kant zu dem Schluß, daß dem liberalen Staat in seinem Kampf gegen das radikale Böse enge Grenzen gesetzt seien. Wie Locke scheint auch er anzunehmen, daß die Hauptaufgabe des Staates im gesetzlichen Schutz der Rechte aller Bürger besteht. Wo es um psychologische Maßnahmen zur Sicherung seiner Stabilität und Stärke geht, sind einem solchen Staat die Hände gebunden, da er sich der Rede- und Vereinigungsfreiheit verpflichtet fühlt. Die Regierung könne allenfalls, so Kant, jenen Gelehrten finanziell unter die Arme greifen, die an der »Vernunftreligion« arbeiten, für die Kant plädierte – eine Religion, die die Gleichheit der Menschen lehrt und Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz fordert.
Kant stützte sich auf und wandte sich zugleich gegen seinen großen Vorläufer Jean-Jacques Rousseau, der die Haupt17quelle für Kants Auffassung vom radikalen Bösen darstellt.[3] In seinem Werk Der Gesellschaftsvertrag[4] legte Rousseau dar, daß eine gute Gesellschaft, um stabil zu bleiben und Projekte durchzuführen, die Opfer verlangen (wie die Verteidigung des Vaterlands), eine »Zivilreligion« brauche, die aus einer »solidarischen Grundgesinnung [besteht], die teilen muß, wer ein guter Bürger und ein treuer Untertan sein will«. Auf der Grundlage dieses öffentlichen Credos – eines moralischen, mit patriotischen Überzeugungen und Empfindungen unterfütterten Deismus – schafft der Staat Zeremonien und Rituale, die starke Bindungen an das Gemeinwesen und Pflichten gegenüber anderen Bürgern sowie gegenüber dem Land als Ganzem erzeugen. Rousseau glaubte, die »Zivilreligion« könne in der Gesellschaft, die ihm vorschwebt, sowohl das Problem der Stabilität als auch das der altruistischen Motivation lösen.
Sie wird dieses Ziel seiner Ansicht nach jedoch nur erreichen, wenn sie über Zwangsmittel verfügt, die entscheidende Freiheiten wie Redefreiheit und Religionsfreiheit außer Kraft setzen können. Der Staat sollte nicht nur Verhaltensweisen bestrafen, die anderen Menschen Schaden zufügen, sondern auch abweichende Überzeugungen und Äußerungen, wobei die eingesetzten Mittel Verbannung und sogar die Todesstrafe einschließen können. Für Kant war dieser Preis zu hoch: Kein guter Staat sollte einen derartigen Zwang ausüben und Kernbereiche menschlicher Autonomie ausschalten. Die Überzeugung (die er mit Rousseau zu teilen scheint), daß eine »Zivilreligion« nur dann wirksam sein kann, wenn sie mit Zwang durchgesetzt wird, stellt er nicht in Frage.
Hier liegt die Herausforderung, der sich dieses Buch stellt: Wie kann eine gut funktionierende Gesellschaft für Stabilität 18und Motivation mehr tun als Locke und Kant, ohne so illiberal und diktatorisch zu werden wie bei Rousseau? Die Herausforderung wiegt noch schwerer, wenn man hinzufügt, daß meine Konzeption der guten Gesellschaft eine Variante des »politischen Liberalismus« ist; ihr zufolge sollten politische Prinzipien nicht auf einer umfassenden Theorie über Sinn und Bedeutung des religiösen oder säkularen Lebens basieren, und der Gedanke, daß alle Menschen den gleichen Respekt verdienen, impliziert, daß der Staat es tunlichst vermeiden sollte, eine bestimmte religiöse oder umfassende ethische Auffassung zu unterstützen.[5] Solch eine liberale Sichtweise lehnt nicht nur diktatorisch durchgesetzte Maßnahmen ab, sondern sorgt auch dafür, daß nicht zu viel dezidierte Parteinahme beziehungsweise die falsche Parteinahme stattfindet, indem zwei Gruppen von Bürgern geschaffen werden: diejenigen, die dazugehören, und diejenigen, die ausgegrenzt werden, also Bürger zweiter Klasse sind. Da Emotionen meiner Auffassung nach nicht nur Affekte sind, sondern Einschätzungen und Bewertungen beinhalten, sollte sichergestellt werden, daß die erwünschten Emotionen nicht an eine spezifische umfassende Konzeption gebunden sind, die im Gegensatz zu anderen steht.
Die Lösung dieses Problems liegt für mich darin, Wege zu finden, durch die Emotionen die Grundprinzipien der politischen Kultur einer Gesellschaft stützen können, die sich hohe Ziele setzt und dennoch unvollkommen ist. Ich stelle mir einen Lebensbereich vor, zu dem die Bürger übereinstimmende Ansichten haben, wenn sie sich das Grundprinzip der gleichen Achtung vor allen Menschen zu eigen gemacht haben: Diesen Bereich hat Rawls den »übergreifenden Konsens« genannt.[6] So wäre zu beanstanden, wenn eine Regierung starke Gefühle für die religiösen Feiertage einer bestimmten 19Gruppe mobilisierte; doch es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Geburtstag von Martin Luther King gefeiert wird, handelt es sich doch um einen zutiefst emotionalen Feiertag, der die Prinzipien der Gleichheit von Menschen aller Hautfarben bekräftigt, denen sich unser Land verschrieben hat, und um das erneute Bekenntnis des Landes zu diesem Ziel. Diese Denkweise sollte sich über das Spektrum der »Fähigkeiten« erstrecken, die den Kern der politischen Konzeption ausmachen: Wie kann eine öffentliche Gefühlskultur die Bindung an all diese Normen stärken? Ins Negative gewendet: Eine gute Gesellschaft kann verhindern, daß Gefühle des Abscheus gegenüber bestimmten Gruppen von Mitbürgern entstehen, da diese Form der Ablehnung und die damit verbundene Bildung von Hierarchien gemeinsame Prinzipien wie die Achtung vor der Menschenwürde aller untergraben. Eine Gesellschaft kann Mißbilligung und Zorn über die Verletzung der grundlegenden politischen Rechte von Menschen erzeugen. Die Forderung, die Menschen sollten sich an gute politische Prinzipien gebunden fühlen, sollte eigentlich keine Einwände hervorrufen; jede Gesellschaft mit einer tragfähigen Vorstellung von Gerechtigkeit hält ihre Bürger an, diese Vorstellung zu bejahen. Der Antirassismus nimmt in öffentlichen Schulen nicht den gleichen Raum ein wie Rassismus. Die Neutralität, die ein liberaler Staat in bezug auf religiöse Angelegenheiten und eine umfassende Gesellschaftskonzeption übt – und üben sollte –, erstreckt sich nicht auf die Kernelemente seines Konzepts von Gerechtigkeit (wie etwa die Gleichwertigkeit aller Bürger, die Bedeutung bestimmter Grundrechte und die Verwerflichkeit verschiedener Formen von Diskriminierung und Hierarchie). Man kann sagen, daß ein liberaler Staat die Bürger, die unterschiedliche Auffassungen von Sinn und Bedeutung des Lebens haben, auffordert, in einem gemeinsamen öffentlichen Raum, dem Raum von Grundprinzipien und von in der Verfassung festgeschriebenen Idealen, zu einem Konsens zu finden. Wenn diese Prinzipien wirksam sein sollen, 20muß der Staat dazu beitragen, daß die Menschen sich an diese Ideale gebunden fühlen und für sie eintreten.
Soll diese Bindung mit liberaler Freiheit vereinbar sein, wird es von entscheidender Bedeutung sein, eine belastbare kritische politische Kultur zu schaffen, um die Rede- und Vereinigungsfreiheit zu schützen. Sowohl die Prinzipien als auch die durch sie hervorgerufenen Emotionen müssen ständig überprüft und der Kritik unterzogen werden, und abweichende Meinungen spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, den wahrhaft liberalen Charakter der Konzeption zu bewahren und sie den Bürgern zu vermitteln. Auch Rebellisches und Humorvolles muß seinen Platz haben: Spott über übersteigerte patriotische Gefühle sorgt am besten dafür, daß diese ihre Bodenhaftung nicht verlieren und sich von den Bedürfnissen unterschiedlicher Frauen und Männer nicht abkoppeln. Dabei werden Spannungen nicht ausbleiben: Nicht jeder Spott über Ideale ist mit Achtung vor der Gleichwertigkeit aller Bürger verbunden. (Man stelle sich zum Beispiel rassistische Witze über Martin Luther King vor.) Aber der Raum für Widerspruchsgeist und Dissens sollte so groß sein, wie es mit der gesellschaftlichen Ordnung und mit Stabilität vereinbar ist – und dieser Raum wird ein wichtiger Gegenstand dieses Buches sein.
Eine Möglichkeit, die der Staat hat, um mehreren dieser Anliegen gleichzeitig gerecht zu werden, besteht darin, Künstlern einen großen Freiraum zu gewähren, in dem sie ihre eigenen unterschiedlichen Vorstellungen von zentralen politischen Werten präsentieren können. Whitman und Tagore sind als freie Dichter viel wertvoller denn als Marionetten einer politischen Elite in sowjetischer Manier. Selbstredend kann es nicht ausbleiben, daß die Regierung einem künstlerischen Werk den Vorzug vor einem anderen gibt. So hat sie beispielsweise Maya Lins Entwurf für das Vietnam War Memorial mit seiner gewundenen schwarzen Mauer voller Namen, die auf die Gleichwertigkeit zahlloser unbekannter Kriegstoter verweist, den 21Vorzug vor hurrapatriotischen Entwürfen gegeben; sie hat den Beiträgen von Frank Gehry, Anish Kapoor und Jaume Plensa für den Millennium Park in Chicago den Vorzug vor anderen eingereichten Entwürfen gegeben. Während der großen Weltwirtschaftskrise, auf die wir noch eingehen werden, ließ Franklin Delano Roosevelt Künstler für die Regierung arbeiten und gewährte ihnen einen beträchtlichen Freiraum – wählte allerdings auch die Fotos über Armut, die dem amerikanischen Publikum präsentiert wurden, sorgfältig aus. Zwischen Auswahl und künstlerischer Freiheit besteht ein echtes Spannungsverhältnis, aber es gibt gute Möglichkeiten, damit umzugehen.
Die Frage der emotionalen Unterstützung einer guten politischen Kultur wurde von liberalen Denkern nicht völlig ausgeblendet. John Stuart Mill (1806-1873), für den die Kultivierung von Gefühlen ein wichtiges Thema war, stellte sich eine »Religion der Menschlichkeit« vor, die anstelle der bestehenden religiösen Lehren vermittelt werden sollte; sie sollte die Grundlage für Gesinnungen bilden, die persönliche Opfer und einen umfassenden Altruismus beinhalten.[7] Auch Rabindranath Tagore (1861-1941), der indische Dichter, Pädagoge und Philosoph, stellte sich eine »Religion des Menschen« vor, die Menschen anregen sollte, für alle Erdenbewohner eine Verbesserung der Lebensbedingungen anzustreben. Beide betrachteten ihre jeweilige »Religion« als Theorie und Praxis, die in einem Bildungssystem sowie in Kunstwerken ihren Niederschlag finden konnten. Tagore widmete einen Großteil seines Lebens der Gründung einer Schule und einer Universität, die auf seinen Prinzipien basierten, und er komponierte etwa zweitausend Lieder, die noch heute im öffentlichen Raum Emotionen auslösen. (Er ist der einzige Dichter/Komponist, der Lieder schrieb, die zu den Nationalhymnen von zwei Ländern wurden: Indien und Bangladesh.) Die Ähnlichkeit zwischen den Ideen von Mills und Tagore ist nicht überraschend, waren 22beide doch stark von dem französischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857) beeinflußt, dessen Ideen über eine »Religion der Menschlichkeit«, die öffentliche Rituale und emotional aufgeladene Symbole beinhalten sollte, im 19. und früheren 20. Jahrhundert einen gewaltigen Einfluß ausübten. Sowohl Mill als auch Tagore nehmen Anstoß daran, daß Comte eine rigide Durchsetzung seines Projekts vorschwebte, und beide betonten die Bedeutung von Freiheit und Individualität.
Das Thema politisch wirksamer Emotionen wurde auf faszinierende Weise im größten politisch-philosophischen Werk des 20. Jahrhunderts behandelt, nämlich in Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) von John Rawls.[8] Rawls’ wohlgeordnete Gesellschaft verlangt ihren Bürgern viel ab, da die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen nur dann geduldet wird, wenn sie auch die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessert. Das Eintreten für gleiche Freiheitsrechte für alle, das bei den von Rawls entwickelten Prinzipien an erster Stelle steht, wird von den Menschen in unterschiedlicher Weise geschätzt. Obwohl Rawls eine Gesellschaft entwirft, die am Nullpunkt beginnt und nicht die Hierarchien und Ausgrenzungen aufweist, die es in früheren geschichtlichen Phasen gab, stellt er hohe Ansprüche an die Menschen. Er weiß, daß er darüber nachdenken muß, wie eine solche Gesellschaft Bürger heranbilden kann, die ihre Institutionen langfristig unterstützen und Stabilität sicherstellen. Zudem muß Stabilität »aus den richtigen Gründen«[9] gesichert werden – mit anderen Worten, nicht durch bloße Gewohnheit oder widerwillige Akzeptanz, sondern durch ein aufrichtiges Bekenntnis zu den Prinzipien und Institutionen der Gesellschaft. Da der Nachweis, daß eine gerechte Gesellschaft stabil sein kann, ein notwendiges Element ihrer Rechtfertigung ist, ist die Frage der Emotionen ein wesentlicher Bestandteil der Argumente, mit denen die Gerechtigkeitsgrundsätze begründet werden.
23Rawls stellt sich vor, wie Gefühle, die zunächst in der Familie entstehen, sich zu Gefühlen entwickeln können, die auf die Prinzipien der gerechten Gesellschaft gerichtet sind. Seine bestechende und kenntnisreiche Darstellung, die in dieser Hinsicht ihrer Zeit voraus ist, arbeitet mit einer ausgefeilten Konzeption von Gefühlen; sie ist meiner Konzeption nicht unähnlich, der zufolge Gefühle kognitive Bewertungen enthalten.[10] Später revidierte Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit in wichtigen Punkten, da sie seiner Auffassung nach zu eng mit seiner (kantianisch geprägten) umfassenden ethischen Theorie verbunden waren. In seinem Werk Politischer Liberalismus scheint er nicht mehr hinter allen Details jener Arbeit zu stehen. Er betont jedoch, daß er Raum läßt für eine notwendige Darstellung einer »vernünftigen Moralpsychologie«.[11] Das vorliegende Buch möchte diesen Raum ausfüllen, wobei meine Darstellung einer guten Gesellschaft sich von der Rawlsschen zwar in philosophischen Details, aber nicht in ihrer grundlegenden Ausrichtung unterscheidet – wenngleich sie den Schwerpunkt auf Gesellschaften legt, die nach Gerechtigkeit streben, und nicht auf bereits verwirklichte wohlgeordnete Gesellschaften. Dieser Unterschied wirkt sich insofern auf den Inhalt meiner normativen Thesen aus, als ich mich mit den Problemen von Exklusion und Stigmatisierung auseinanderzusetzen habe, die in einer wohlgeordneten Gesellschaft als gelöst gelten können. Gleichwohl werde ich aufzeigen, daß die Neigung zu Stigmatisierung und Ausgrenzung anderer in der menschlichen Natur angelegt und nicht das Resultat einer geschichtlichen Fehlentwicklung ist. Rawls hat zu dieser Frage keine Stellung bezogen, jedoch gesagt, seine Darstellung sei sowohl mit dieser pessimistischen als auch mit einer optimi24stischen Sichtweise vereinbar. Bei allem Unterschied besteht ein enger Zusammenhang zwischen meinem Projekt und dem von Rawls, da es sich bei ihm um eine Gesellschaft von menschlichen Wesen und nicht von Engeln handelt, und er weiß sehr gut, daß Menschen nicht automatisch nach dem Gemeinwohl streben. Obwohl in seiner wohlgeordneten Gesellschaft die Probleme von Ausgrenzung und Hierarchie gelöst wurden, wurden sie von Menschen gelöst, die genau die Neigungen in sich tragen, welche die genannten Probleme erzeugen. Auch hier erfordert Stabilität die Auseinandersetzung mit der komplexen Struktur der realen menschlichen Psyche.
Rawls’ Ausführungen zeugen von einem eindrucksvollen Verständnis für Emotionen und deren Wirkungsmacht. Seine Forderung, Emotionen sollten die Prinzipien und Institutionen der Gesellschaft stützen, und zwar nicht nur als nützlichen Modus vivendi, sondern in Form eines engagierten Eintretens für die grundlegenden Vorstellungen von Gerechtigkeit, ist eine vernünftige Forderung. Eine Gesellschaft, die nur durch die Zustimmung zu einem für nützlich erachteten vorübergehenden Kompromiß zusammengehalten wird, wird ihre Stabilität nicht lange bewahren können. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die Emotionen, die Rawls vor Augen hat, auf Prinzipien und nicht auf partikulare Merkmale gerichtet sind: Wenn die Gesellschaft aus den richtigen Gründen stabil sein soll, dann benötigen ihre Grundprinzipien eine engagierte Zustimmung. Man kann jedoch durchaus annehmen, daß die moralischen Empfindungen, die Rawls meint, nicht nur rational begründet sein können – nicht lediglich eine Zustimmung zu abstrakten Prinzipien darstellen können –, wenn sie die Aufgabe erfüllen sollen, die er ihnen zuweist. In seinem kurzen schematischen Abriß sagt Rawls nicht (leugnet allerdings auch nicht), daß indirekte Appelle an Gefühle durch Symbole, Erinnerungen, Dichtung, Erzählungen und Musik im Zusammenspiel mit der Bejahung gerechter Institutionen eine starke motivierende Rolle spielen müssen. Durch 25sie wird das Denken und Fühlen der Menschen auf die Prinzipien gelenkt, und in sie sind diese Prinzipien oftmals eingebettet. Dem könnte Rawls meiner Ansicht nach beipflichten, und ich werde zu zeigen versuchen, daß eine solche Rolle des Partikularen voll und ganz mit der prinzipiellen Zustimmung vereinbar ist, die er für erstrebenswert hält. Reale Menschen hegen mitunter positive Gefühle für gerechte Prinzipien, auch wenn diese in eine abstrakte Form gekleidet sind. Der menschliche Geist ist jedoch eigenwillig und bevorzugt das Partikulare; er ist zu einer starken Bindung fähig, wenn hehre Prinzipien mit bestimmten Wahrnehmungen, Erinnerungen und Symbolen verknüpft sind, die tief in der Persönlichkeit und in der Art und Weise verankert sind, in der Menschen ihre eigene Geschichte sehen. Damit könnte man allerdings leicht auf ein falsches Gleis geraten und Stabilität aus den falschen Gründen erreichen (beispielsweise, um die Überlegenheit einer spezifischen historischen oder sprachlichen Tradition sicherzustellen). Sind die Quellen der Erinnerung jedoch fest an politische Ideale gebunden, sind derartige Probleme überwindbar, und Symbole können eine motivierende Kraft entfalten, die bloße Abstraktionen nicht haben können. Dies würde selbst in der wohlgeordneten Gesellschaft gelten, da ihre Bürger immer noch Menschen mit einem begrenzten Vorstellungsvermögen sind; aber in unvollkommenen, nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaften sind spezifische Narrative und Symbole noch dringender erforderlich.
Dieser Gedanke, auf den ich noch häufig zurückkommen werde, läßt sich auch anders formulieren: Alle wichtigen Gefühle sind »eudämonistisch«, was bedeutet, daß sie die Welt vom Standpunkt des einzelnen Individuums aus bewerten, wobei dieser Standpunkt die Vorstellung des Individuums von einem lebenswerten Leben widerspiegelt.[12] Wir sorgen uns um Menschen, an denen uns etwas liegt, nicht jedoch um völ26lig Fremde. Wir ängstigen uns vor Schäden, die uns und unsere Lieben bedrohen, und nicht vor Erdbeben auf dem Mars. Eudämonismus ist nicht gleichbedeutend mit Egoismus: Wir können durchaus der Ansicht sein, daß andere Menschen einen intrinsischen Wert besitzen. Aber diejenigen, die tiefe Gefühle in uns wachrufen, sind jene, mit denen wir durch unsere Vorstellung von einem wertvollen Leben verbunden sind – dies werde ich von jetzt an »Betroffenheitsradius« nennen. Sollen fremde Menschen und abstrakte Prinzipien uns anrühren, müssen diese Gefühle dafür sorgen, daß sie in unseren »Betroffenheitsradius« einbezogen werden, muß »unser« Leben diese Menschen und Ereignisse als Teile von »uns« und unserer eigenen gedeihlichen Entwicklung einschließen. Dafür sind Symbole und Dichtung von entscheidender Bedeutung.
Betrachten wir die beiden Texte, die ich diesem Kapitel vorangestellt habe. Whitman hat sich vorgestellt, wie Lincolns Sarg durch das von ihm geliebte Land getragen wird. Jetzt fragt er, was er seinem toten Präsidenten geben kann, welche Bilder »sollen es sein, die ich an die Wände hänge, um das Totenhaus dessen zu schmücken, den ich liebe?«. Die Antwort lautet: Wortbilder von der Schönheit Amerikas. Die vorangestellte Strophe ist eines jener Bilder. Es beschreibt die Schönheit Manhattans und dann der anderen Regionen Amerikas – die Schönheit der Landschaft und die Schönheit menschlichen Tuns. Bilder von natürlicher Schönheit sind immer herzzerreißend, weil sie mit Sterblichkeit und dem Vergehen der Zeit verknüpft sind. Hier gehen sie noch mehr zu Herzen, weil Whitman sich das Trauerritual um Lincoln vorstellt und weil die Bilder mit allem verbunden sind, wofür Lincoln stand: ein Land, in dem sich jeder frei betätigen kann und alle Amerikaner unter der Sonne gleich sind. Diese Gedanken verdichten sich zu einer nahezu unerträglichen Liebe und Trauer. (Aus irgendeinem Grund ist die Zeile »Seht, die vortrefflichste Sonne still und stolz« für mich die schmerzlichste 27der englischsprachigen Dichtung, und jedesmal, wenn ich sie lese, muß ich weinen – das Nebeneinander der majestätischen Sonne, der Ewigkeit und des Strahlens und des Bildes von Lincoln, der unbeweglich in einer kleinen schwarzen Kiste liegt.)
Whitman möchte ein öffentliches Trauerritual darstellen, das eine erneute Besinnung auf die noch nicht vollendete Aufgabe zum Ausdruck bringen soll: die Verwirklichung der besten Ideale Amerikas; eine »öffentliche Dichtung« soll Freiheit und Gleichheit mit Leben und Inhalt erfüllen. Hier wird der Leser aufgefordert, sich einen bestimmten Menschen vorzustellen, der den schwierigen Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit symbolisiert – »die weite sanfte Seele, die fort ist«; das Gedicht verbindet diese moralisch-symbolhafte Person auf geschickte Weise mit den geschätzten und bewunderten Merkmalen des Landes und den unterschiedlichen Menschen, die es bewohnen. Das Gedicht weckt Empfindungen, die die schwierige Suche nach Gerechtigkeit tragen und inspirieren. Es würde nicht eine so starke Wirkung erzielen, wenn es nicht Bilder entwerfen würde, die etwas Geheimnisvolles haben und den Menschen tief berühren, da sie Gedanken über Sterblichkeit und Sehnsucht, Verlust und große Schönheit evozieren. Lassen sich die Leser emotional auf Whitmans Gedicht ein, ergeht an sie die Aufforderung, aus vollem Herzen nach dem Amerika zu streben, das es noch nicht gibt, das jedoch Wirklichkeit werden könnte.
Tagores Gedicht (das wir leider nur in einer Übersetzung lesen können)[13] hatte ursprünglich zwar keinen Bezug zu Bangladesh, aber viele seiner Gedanken haben eine implizite politische Bedeutung. Wie wir von ihm selbst wissen, entstand sein Gedicht »Jana Gana Mana«, das später zur Nationalhymne Indiens wurde, aus dem Wunsch, den britischen 28Monarchen bei dessen Besuch in Indien nicht zu ehren. Tagore, der gebeten wurde, einen Beitrag zur Verherrlichung des Empire zu leisten, schrieb dieses Lied, mit dem er deutlich machen wollte, daß alle Inder einer höheren Macht, nämlich dem Sittengesetz, Gehorsam schulden. In diesem Sinne ist es ein stark kantianisch geprägter Text, der eng mit seiner »Religion des Menschen« verbunden ist. »Amar Shonar Bangla« (1906) ist zwar indirekter, aber ebenfalls politisch ausgerichtet. Eng mit Whitmans Dichtung verwandt, drückt dieses Gedicht eine ekstatische und geradezu sinnliche Freude über die landschaftliche Schönheit Bengalens aus. Der Sprecher stellt sich sein Land als eine verführerische Geliebte vor, verlockend und faszinierend. Das Lied wurde durch die Musik eines Baul-Sängers inspiriert, der zu einer Gemeinschaft von fahrenden Sängern (Vaishnava-Hindus und Sufi-Muslimen)[14] gehörte, die für ihre ekstatische und gefühlsbetonte Auffassung von Religion, ihre poetische Verklärung der sexuellen Liebe und ihre unkonventionellen Sexualpraktiken bekannt sind. Wie Kapitel 4 zeigen wird, stellte Tagore die Baul in den Mittelpunkt seiner »Religion des Menschen«. Die Musik von »Amar Shonar Bangla«, die Assoziierung der Worte und der Musik mit den Baul, sowie die Worte selbst stellen den Sprecher – einen repräsentativen Bewohner Bengalens – als eine Person dar, deren Sexualität nicht aggressiv, sondern spielerisch und freudvoll ist; es ist die Form von Sexualität, die in vielen klassischen Werken der indischen bildenden Künste in der Gestalt des Krischna sowie in Jayadevas großem erotischen Gedicht Gitagovinda (12. Jahrhundert) beschrieben wird. (Indem Tagore dem repräsentativen Bewohner Bengalens eine androgyne Gestalt gibt, zielt er auch auf die Stärkung der gesellschaftlichen und politischen Stellung der Frauen ab. Sein lebenslanges Engagement in dieser Frage wird ausführ29licher in Kapitel 4 beschrieben.) Tagore schwebt eine Form von Sexualität vor, die er an anderer Stelle dem britischen Imperialismus und dem aggressiven indischen Nationalismus, der diesen nachäfft, entgegensetzt.
Was hat all dies zu bedeuten? Das Gedicht wurde 1906 geschrieben, kurz nach der Entscheidung der Briten, Bengalen aus verwaltungstechnischen Gründen zu teilen. Diese Teilung, die in etwa der späteren Teilung zwischen dem Staat Westbengalen und Bangladesh (dem ehemaligen Ostpakistan) entsprach, hatte zum Ziel, Hindus und Muslime zu trennen, und brachte die übliche britische Politik des »Teilens und Herrschens« zum Ausdruck, wobei ein unterworfenes Volk durch Spaltung geschwächt wurde. Tagore fordert seine Leser auf, sich die Schönheit des ungeteilten Bengalens vorzustellen – geographisch nicht geteilt und nicht von religiöser Feindseligkeit zerrissen –, es zu lieben und tief betrübt zu sein, wenn es ihm schlechtgeht. Er entfacht bei seinen Lesern einen Widerstandsgeist, der sich gegen das Empire richtet. Dabei handelt es sich allerdings um einen mitfühlenden und unmartialischen Nationalismus, der nichts mit dem gewalttätigen Nationalismus zu tun hat, den Tagore in seinen Schriften den europäischen Traditionen anlastet, und auch nichts mit dem Hindu-Nationalismus, den er zeit seines Lebens kritisierte.[15] Mit seinem Rückgriff auf die synkretistische Baul-Tradition betont er ein gutes Einvernehmen zwischen den Religionsgruppen, das niemanden ausschließt. Das Lied will den Geist pflegen, der diesen neuen indischen Nationalismus tragen könnte – einen Geist der Liebe, der Nicht-Ausgrenzung, der Fairneß und der menschlichen Selbstvervollkommnung.
Die Musik, die Tagore zu »Amar Shonar Bangla« schrieb, ist dementsprechend sinnlich, ein langsamer, gemessener, erotischer Tanz. Auf YouTube gibt es mehrere gute Versionen, die wunderschöne Landschaftsbilder mit Bildern von Frauen und 30Männern verbinden, welche auf verführerische Weise tanzen – und damit zeigen, wie die Bürger des Landes den Geist des Stückes verstehen. Tagore und Whitman sind geistesverwandt, wenngleich Tagores Beitrag multidimensional ist, da er nicht nur den Nobel-Preis für Literatur gewonnen hat, sondern auch ein Komponist und Choreograph von Weltgeltung war.
Was hat es zu bedeuten, wenn ein Lied wie »Amar Shonar Bangla« zur Nationalhymne eines Landes wird? Das heutige Bangladesh beklagt eine Geschichte des Imperialismus, die Pakistan von Indien und »Ostpakistan« von Bengalen abspaltete, mit dem es kulturell eng verbunden ist. Aber es besingt auch die Unabhängigkeit einer jungen bengalischen Nation, einer pluralistischen Demokratie. Das Lied fordert alle Bürger auf, einen mitfühlenden Geist der Liebe und Sorge um das Schicksal dieses Landes und seines Volkes zu entwickeln und dabei Güte, Spiel und Staunen nicht zu vernachlässigen.
Wie Whitmans Gedicht ist auch das von Tagore von einer spezifischen Kultur geprägt und verwendet Bilder, die tiefe bengalische Wurzeln haben. Diese Besonderheit macht einen Teil ihres Erfolgs aus. Es ist sinnlos anzunehmen, die starke Motivation, die von Kunst, Musik und Rhetorik ausgehen kann, sei in allen Ländern die gleiche, also eine Art Esperanto des Herzens. Klugerweise versuchen sich beide Dichter daran nicht. Tagores Lieder werden einen Amerikaner nicht anrühren – zumindest so lange nicht, bis er sich jahrelang in die indische und speziell bengalische Kultur vertieft hat. Und selbst dann können die Baul-Tradition und ihre Musik befremdlich und unzugänglich wirken. Whitmans Dichtung ist zwar etwas leichter zugänglich, aber ihre Erinnerungen und Bilder sprechen in erster Linie Amerikaner an, die mit der Atmosphäre dieses Landes vertraut sind und den Bürgerkrieg als ein bedeutendes nationales Ereignis betrachten. Die Werke beider Dichter verweisen darauf, daß jede erfolgreiche Formung politisch erwünschter Emotionen sich auf Geschichte 31und Geographie des fraglichen Landes stützen muß. Martin Luther King war zwar stark von Gandhi beeinflußt, wußte aber, daß Gandhis Ideen einer vollständigen kulturellen Umformung bedurften, um Amerikaner anzusprechen.
Beide Dichter sind auch in kultureller Hinsicht radikal, da sie die Menschen auffordern, sich von liebgewonnenen Denkweisen über das soziale Gefüge (das religiöse, kastenmäßige und geschlechtsbedingte Hierarchien enthält) zu verabschieden. Sie fesseln ihr Zielpublikum durch ihre Vertrautheit mit Kultur und Geschichte: Es ist in der Tat bemerkenswert, daß so radikale Persönlichkeiten wie Whitman und Tagore sich einer so breiten Anerkennung und Wertschätzung erfreuen. Sie konfrontieren ihre jeweilige Kultur mit der Forderung, ihre besten Kräfte zu entfalten und sich stetig zu vervollkommnen. Somit kann ein in spezifischen Traditionen verankertes politisches Engagement vorwärtsweisend und sogar radikal sein. Whitman schreibt: »Ich bin einer, der Männer, Frauen und Nationen voller Spott zwingt, der ruft: Springt von euren Sitzen und kämpft um euer Leben!«[16]
Beide Dichter machen durch ihre Akzentsetzungen deutlich, daß die Probleme ihrer bedrängten Länder in einem Geist von Liebe und Verständnis angegangen werden müssen, durch Arbeiten, die tief in jene Schichten der Menschen eindringen, in denen diese mit ihrer Sterblichkeit und Endlichkeit konfrontiert werden. Darum wird sich dieses Buch im wesentlichen drehen. Welche Art oder welche Arten von Liebe durch welche Medien und Institutionen vermittelt werden – die Untersuchung dieser Frage wird uns lange beschäftigen, und ihr Ausgang ist offen. Die Untersuchung wird sich mit Gefühlen wie Mitgefühl, Trauer, Angst, Wut, Hoffnung sowie mit der Zurückdrängung von Abscheu und verwerflichem Verhalten befassen. Dem beigemischt ist eine Prise Humor, die ihren Spaß an menschlichen Kaprizen hat. Meh32rere miteinander verbundene, aber unterschiedliche Formen von Liebe und Zuwendung, die unterschiedlichen Anlässen und Problemen entsprechen, kommen dabei zum Tragen. Lincolns »Gettysburg Address« war ihrem feierlichen Anlaß angemessen, und ein Lied von Tagore hätte nicht das zu vermitteln vermocht, was Lincolns Rhetorik vermittelt. In der »Gettysburg Address« steht die Liebe zum eigenen Land im Mittelpunkt, und ich werde zeigen, daß alle entscheidenden Emotionen, die eine gute Gesellschaft tragen und zusammenhalten, ihre Wurzeln in der Liebe haben oder eine Form von Zuwendung sind – worunter ich eine starke innere Verbundenheit mit Dingen verstehe, die unser Wille nicht lenken und kontrollieren kann. Meine Beispiele machen bereits deutlich, worauf ich hinauswill: Werden die auf Prinzipien basierenden Emotionen, die Rawls vor Augen hat, nicht von dieser Liebe ergänzt und durchdrungen, bleiben sie zu kraftlos und verharren zu sehr an der Oberfläche der menschlichen Psyche, um das zu leisten, was ihm vorschwebt. Das erfordert einen Zugang zu dem eigenwilligen, spannungsgeladenen und in gewisser Weise sinnlichen Verhältnis, das wir alle in unterschiedlichen (sowohl komischen als auch tragischen) Formen zum Sinn unseres Lebens haben. Ich werde darlegen, daß Liebe die Achtung vor den Menschen mit Leben erfüllt und sie zu mehr als einer bloßen Hülse macht. Wird Liebe selbst in Rawls’ wohlgeordneter Gesellschaft gebraucht – wovon ich überzeugt bin –, dann wird sie um so dringender in realen, unvollkommenen Gesellschaften benötigt, die nach Gerechtigkeit streben.
Für die Behandlung dieses Themas habe ich einen guten Zeitpunkt gewählt, da die Kognitionspsychologen in den letzten Jahrzehnten ausgezeichnete Studien über bestimmte Emotionen vorgelegt haben, die, ergänzt durch die Arbeit von Primatologen, Anthropologen, Neurowissenschaftlern und Psychoanalytikern, viele empirische Daten liefern, welche für ein normatives philosophisches Projekt wie dieses sehr nütz33lich sind. Zwar beantworten derlei empirische Befunde nicht unsere normativen Fragen, lassen uns aber besser verstehen, was unmöglich und was möglich ist, welche menschlichen Neigungen schädlich oder hilfreich sein können – kurzum, mit welchem Material wir arbeiten müssen und wie es sich »bearbeiten« läßt.
Ein Teil der Rechtfertigung eines normativen politischen Projekts besteht darin zu zeigen, daß es nachweislich stabil sein kann. Emotionen sind teilweise deswegen interessant, weil wir uns Fragen der Stabilität stellen. Aber dann müssen wir auch fragen, welche Formen von öffentlich wirksamen Emotionen selbst langfristig stabil sein können und unsere menschlichen Ressourcen nicht übermäßig strapazieren. Wir müssen allem nachspüren und alles aufgreifen, was uns hilft, das ungleiche und oftmals unerfreuliche Schicksal der Menschen mit Humor, Zärtlichkeit und Freude zu betrachten, anstatt mit absolutistischem Furor eine Vollkommenheit anzustreben, die ohnehin nicht erreichbar ist. Eine politische Schwierigkeit ergibt sich aus dem allgegenwärtigen Wunsch der Menschen, die Hilflosigkeit zu überwinden, die einen großen Teil des menschlichen Lebens ausmacht – sich über die Niederungen des »bloß Menschlichen« zu erheben. Viele Formen von öffentlich wirksamen Emotionen nähren Phantasien von Unverletzbarkeit, und solche Gefühle sind schädlich. Das Projekt, das ich in Angriff genommen habe, wird nur dann erfolgreich sein, wenn es Wege findet, das Menschliche liebenswert zu machen und Abscheu und Scham zu verhindern.