Impressum
ISBN eBook 978-3-360-50077-9
ISBN Print 978-3-360-02184-7
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erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
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Gerhard Bundschuh
Bemerkung zum Persönlichkeitsschutz
Die hier aufgeführten und erzählerisch ausgestalteten Fälle basieren auf tatsächlich stattgehabten Gerichtsverfahren. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden die Namen aller Beteiligten sowie einige inhaltliche Details verändert.
Vorrede
Wenn Kapitalverbrechen vor Gericht verhandelt werden, kommen zahlreiche Akteure ins Spiel: mutmaßliche Täter und Opfer, Ermittler, Zeugen, Sachverständige und Gutachter, Staatsanwälte, Verteidiger und Richter. Sie alle sind Menschen. Sie haben einerseits ein Interesse an der Sache, das manchmal schwerer wiegt als die verantwortungsvolle Haltung, die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit – also nur zweifelsfrei belegbare Tatsachen – gelten zu lassen. Andererseits sind die Verantwortungsträger nicht vor Fehlern und Irrtümern gefeit.
Besonders präsent macht uns die Presse Fälle aus den USA und insbesondere aus China, wenn Todesstrafen verhängt werden – denn eine vollstreckte Todesstrafe kann nicht rückgängig gemacht werden, selbst wenn eindeutige Beweise für die Unschuld des Verurteilten auftauchen. Aber auch jahrelanger ungerechtfertigter Freiheitsentzug ist eine Last, die mit Haftentschädigungszahlungen bei weitem nicht ausgeglichen werden kann. Viele der Betroffenen sind für den Rest ihres Lebens traumatisiert und nicht in der Lage, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Nicht umsonst gilt vor Gericht der Grundsatz »in dubio pro reo« – im Zweifel für den Angeklagten –, damit solche Szenarien vermieden und Menschen nicht »im Namen des Volkes« zu Unrecht leiden müssen.
Dieser Grundsatz und die entsprechende Sorgfalt in den Ermittlungen, in der Beweiswürdigung und in der Bewertung von Zeugenaussagen sind das Leitbild, nach dem sich die meisten Richter, Staatsanwälte und Ermittler richten. Sie bemühen sich engagiert um Wahrheitsfindung, um Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Täter einer angemessenen Bestrafung zuzuführen und damit auch weitere Taten zu verhindern.
Meine berufliche Laufbahn begann nach dem Medizinstudium am Institut für Gerichtliche Medizin der renommierten Charité in Berlin. Es waren die sechziger Jahre, in denen Professor Otto Prokop als weit über die nationalen Grenzen der DDR hinaus bekannte Koryphäe das Institut leitete. Die Aufklärung von Verbrechen gegen Leib und Leben gehörten zum täglichen Geschäft – Obduktionen, Spurensuche, Rückstände und Verletzungen aller Art, die es sachlich und differenziert auszuwerten galt, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Mein beruflicher Weg führte später in die Immunologie, doch das Interesse an Kriminalfällen ließ mich nie los. Bis 1975 war ich am Institut für Gerichtliche Medizin der Charité tätig. Die detektivische Neugier, die mich als junger Mensch zu meiner Berufswahl geführt hatte, blieb ungebrochen auch nach meiner Pensionierung 1998 bestehen. Ich begann, mich intensiv mit Fehlurteilen zu beschäftigen, verfolgte die Berichterstattung und versuchte, an Akten heranzukommen, die mir in vielen Fällen – natürlich stets anonymisiert – von verschiedenen Verfahrensbeteiligten zur Verfügung gestellt wurden. Wie es zu solch teils gravierenden Justizirrtümern kommen kann, welche Faktoren eine Rolle spielen, reizte mich nicht nur aus Sicht meines eigenen Faches.
Es steht völlig außer Frage, dass die hier versammelten Fehlurteile nur ein kleiner Ausschnitt aus dem juristischen Alltag sind. Nichtsdestotrotz werfen sie ein beschämendes Licht auf die »dritte Macht im Staate«. Denn mit Falschaussagen und irreführenden Spuren allein sind sie nicht zu erklären. Für ein Fehlurteil braucht es auch den »menschlichen Faktor«: leichtgläubige Richter, selbstgefällige Staatsanwälte, die sich von einer einmal gefassten Meinung nicht mehr abbringen lassen – solche schwarzen Schafe gibt es leider. Nur so ist zum Beispiel zu erklären, warum ein Fall nicht sofort wieder aufgerollt wird, wenn nach Jahren ein vermeintliches Mordopfer geborgen wird, das keinerlei zur Urteilsbegründung passende Verletzungen aufweist (wie im zweiten Report dargestellt).
Dieses Beharren auf der einmal gefassten Überzeugung von der Schuld eines Angeklagten hat psychologisch erklärbare Ursachen, sie liegen im Charakter von uns Menschen begründet: Zum einen sind sie evolutionsbedingt angelegt, zum anderen soziologisch und umweltbezogen entstanden. Logik und bewusstes Handeln hinken dem Unbewussten in uns hinterher.
Würden die Verursacher solcher juristischen Fehlhandlungen für ihr Vorgehen selbst zur Rechenschaft gezogen werden, könnte die Häufung derartiger Fälle vielleicht vermindert werden. Aber davor beschützt sie die »Amtshaftung«, wie sie der Paragraf 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches festhält:
Handelt der Amtswalter hoheitlich (d. h. öffentlich-rechtlich), so trifft die Verantwortlichkeit (d. h. die Schadensersatzpflicht) gemäß Art. 34 GG grundsätzlich den Staat und zwar die juristische Person des öffentlichen Rechts, die den Amtswalter angestellt hat. Die in der Person des Amtswalters begründete Haftung wird Staatshaftung. Gegen die Person des Amtswalters selbst hat der Geschädigte keinen Ersatzanspruch.
Einerseits ist dieses Gesetz ein wichtiger Schutz für Richter und Staatsanwälte, andererseits führt der bedingungslose Schutz durch den Paragrafen vermutlich dazu, dass einige Juristen mit ihrer Verantwortung allzu leichtfertig umgehen.
Richter sind oft frei von eigener Schuld, da sie mehrheitlich nicht über die erforderlichen Spezialkenntnisse verfügen, die der Rekonstruktion eines Tatgeschehens zugrunde liegen können. Gutachter der verschiedensten Disziplinen müssen hinzugezogen und beauftragt werden, den für ein gerechtes Urteil notwendigen Sachverstand beizusteuern. Von manchen Gerichten werden bei Auftragserteilung jedoch bereits versteckte Tendenzen vorgegeben, wie das Ergebnis eines Gutachtens aussehen solle. Ein Teil der Gutachter ist gefällig und nicht objektiv, das musste ich leider auch in meiner beruflichen Laufbahn immer wieder erleben. Ein Gutachter ist heutzutage auch Geschäftsmann und daher bemüht, künftig weitere Aufträge zu erhalten. (Zu Fakten und Hintergründen vgl. B. Jordan: »Begutachtungsmedizin in Deutschland am Beispiel Bayern«, Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, voraussichtliches Erscheinen 2015.)
Entstehende Ersatzansprüche, also Entschädigungskosten für zu Unrecht verbüßte Inhaftierung, zusätzliche Wiedergutmachung für erlittene immaterielle Schäden (zum Beispiel gesundheitlicher Art oder verlorenes gesellschaftliches Ansehen bis hin zu fehlenden Einzahlungen in die Rentenkasse), hat das jeweilige Land zu zahlen, in dem das Fehlurteil erging. Die Landeskassen verzögern solche Zahlungen nicht selten. Der Geschädigte hat erneute Kosten für Anwälte aufzubringen, um sein Recht zu erstreiten.
Neben dem detektivischen Interesse ist es diese Ungerechtigkeit, die mich motiviert, mich in solche Fälle zu vertiefen. Die Justiz steht immer wieder vor schweren Entscheidungen, keine Frage. Es kann enorm frustrierend sein, wenn nach monate-, manchmal jahrelangen Ermittlungen immer noch keine klaren Beweise vorliegen. Das trägt sicher dazu bei, dass sich Ermittler zu tendenziösen Verhören hinreißen lassen (wie im ersten Report berichtet) oder Richter ihre Urteile allein auf lückenhafte Indizien stützen. Aber diese Beschwernisse dürfen keine Entschuldigung sein, wenn der Grundsatz »in dubio pro reo« missachtet wird.
Die Darstellung des abstrakten Begriffes Gerechtigkeit fand bereits in der Mythologie des Altertums ihren ersten Niederschlag. Gerechtigkeit, wenn es sie denn gäbe, könne nur »göttlich« sein; man verlieh ihr die Gestalt der »Göttin Justitia«. Die Waage, die sie hält, soll das Für und Wider ausdrücken (abwägend; »Jedem das Seine«), das Schwert verkörpert die Macht des Urteils. Die Augenbinde – ursprünglich ein Ausdruck des Spottes über die Blindheit der Justiz – wird später zum Symbol der Unparteilichkeit umgedeutet. Sie ist entscheidend für die Urteilsfindung.
Doch bei jedem vierten Urteil, so wird vermutet, hat die Göttin Justitia geirrt, sich beeinflussen lassen und unter ihrer Augenbinde ein wenig einäugig hervorgeschielt. Bundesweit fallen jährlich für rund 90 000 Tage Haftentschädigungskosten an (je Tag gegenwärtig 25 Euro). Hinzu kommen die weiteren Kosten, die durch unsachgemäße, leichtfertige, ja fahrlässige Arbeit der »Amtswalter« entstehen können. Solchen finanziellen, aber auch allen anderen entstandenen Schäden bei den Opfern von Justizirrtümern muss unbedingt entgegengewirkt werden.
Unter den hier behandelten Vorkommnissen sind einige ausgesprochen populäre Fälle. Sie aufzunehmen schien mir aufgrund ihrer Relevanz und der spannenden Prozessverläufe ratsam, auch wenn etliche Hintergründe bereits aus der Tagespresse bekannt sind. Andere Verfahren gingen fast unbemerkt an der Öffentlichkeit vorbei, obwohl sie für die Thematik nicht weniger relevant sind.
Ich habe mir die Freiheit genommen, Details zu verändern und literarisch auszugestalten. Der Charakter der geschehenen juristischen Fehlleistungen wird davon nicht beeinträchtigt.