»Doch grollend ertrug’s der grimme Unhold,
der ferne hauste in finstrer Höhle.«
Seamus Heaney, Beowulf
Übersetzung: Sabine Elbers
Die deutsche Ausgabe von HOHLE ERDE: KNOCHENFEDER wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.
Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Sabine Elbers; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;
Lektorat: Wibke Sawatzki und Gisela Schell; Satz: Rowan Rüster, Amigo Grafik;
Umschlagillustration: Peter Bergting; Illustrationen Innenteil: Peter Bergting und Andrew Pinder; Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: HOLLOW EARTH: BONE QUILL
German translation copyright © 2014 by Amigo Grafik GbR.
Original English language edition copyright
© John Barrowman and Carole E. Barrowman 2013
First published in 2013 by Buster Books,
an imprint of Michael O’Mara Books Limited.
Printausgabe: ISBN 978-3-86425-309-6 · Digitale Ausgabe: ISBN 978-3-86425-486-4
Oktober 2014
WWW.CROSS-CULT.DE
WAS BISHER GESCHAH
TEIL 1
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
TEIL 2
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
TEIL DREI
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
SECHSUNDVIERZIG
SIEBENUNDVIERZIG
ACHTUNDVIERZIG
NEUNUNDVIERZIG
FÜNFZIG
EINUNDFÜNFZIG
ZWEIUNDFÜNFZIG
DREIUNDFÜNFZIG
NEUNUNDFÜNFZIG
FÜNFUNDFÜNFZIG
SECHSUNDFÜNFZIG
SIEBENUNDFÜNFZIG
ACHTUNDFÜNFZIG
NEUNUNDFÜNFZIG
SECHZIG
EINUNDSECHZIG
ZWEIUNDSECHZIG
DREIUNDSECHZIG
VIERUNDSECHZIG
TEIL 4
FÜNFUNDSECHZIG
SECHSUNDSECHZIG
SIEBENUNDSECHZIG
ACHTUNDSECHZIG
NEUNUNDSECHZIG
SIEBZIG
EINUNDSIEBZIG
DANKSAGUNGEN
GLOSSAR
Die Abtei
Animare
Bannen
Gesellschaft der Hohlen Erde
Hohle Erde
Orden von Era Mina
Wächter
Wächterkonzil
In Liebe
für
Bud und Lois
und
Gavin
Gegenwart
Die Geschehnisse der letzten Monate haben das Leben der Zwillinge Matt und Emily Calder nachhaltig verändert. Nachdem sie mit ihrer Mutter aus London geflohen waren, um bei ihrem Großvater Renard auf der schottischen Insel Auchinmurn Schutz zu suchen, erfuhren sie, dass ihre Mutter Sandie ein Animare und ihr Vater Malcolm ein Wächter ist. Für die Zwillinge bedeutet dies, dass sie eine explosive Mischung aus beiden Talenten in sich tragen. Da Malcolm mehr und mehr besessen davon war, die Monster aus der Hohlen Erde zu befreien, wurde er, als die Zwillinge noch klein waren, in ein Bild gebannt. Allerdings haben einige Verbrecher bereits versucht, ihn mithilfe der Kräfte der Zwillinge zu befreien. Dank der Hilfe eines Perytons – einer magischen Kreatur, die mit der Geschichte von Auchinmurn fest verbunden ist – gelang es, ihren Plan zu vereiteln. Doch nun ist die Mutter der Zwillinge verschwunden …
Mittelalter
Der fünfzehnjährige Novize Solon half dem alten Mönch und Animare Bruder Renard dabei, den magischen weißen Peryton aus den geheiligten Höhlenmalereien auf der kleinen Insel Era Mina zu befreien. Ihr Ziel war es, das Kloster auf Auchinmurn zu beschützen und Rurik den Roten zu besiegen – einen Anführer der Wikinger, der auf der Suche nach einem geheiligten Relikt war, das, wie er behauptete, seinem Volk gestohlen worden war. Doch die Animation des Perytons forderte seinen Preis, und Bruder Renards Vorstellungskraft hat einen gravierenden Schaden davongetragen. Und nun, während die Steinmetze einen Turm errichten, in dem Bruder Renard sicher weiterleben kann, werden Forderungen nach einer Rebellion unter den Mönchen laut …
Die Abtei
Insel Auchinmurn
Westküste Schottlands
Vor zehn Jahren
Der Kampf um die Kontrolle über die Fantasie der Calder-Zwillinge begann am Nachmittag ihres dritten Geburtstags. Sandie genoss gerade das letzte Stück von Jeannies zweistöckiger Schokoladentorte, als Malcolm in die Küche raste.
»Ich habe ihn gefunden!«, sagte er und wedelte fieberhaft mit einem in rotes Leder gebundenen Tagebuch vor Sandies Nase. »Den Beweis dafür, dass die Hohle Erde real ist!«
Sandies Gabel fiel klappernd auf den Teller. »Was?«
»Es steht alles in diesem Tagebuch! ›Der Schlüssel darf nicht gefunden werden‹ – aber der interessante Teil kommt erst noch. Hör dir das an.« Malcolm blätterte auf eine andere Seite. »›Nach allem, was ich mit angesehen habe, nach den ganzen Schrecken, die sich mir in der Hohlen Erde offenbarten, weiß ich nun eines: Die Mächte darin sind zu schrecklich, um von Menschenhand kontrolliert werden zu können.‹ All diese Monate, in denen ich nach Hinweisen gesucht habe, und nun das!« Er begann, vor der Terrassentür auf- und abzugehen. »Mit Matts und Ems Hilfe werde ich …« Er hielt inne, drehte sich zu Sandie um und lächelte sie an. »Werden wir die Hohle Erde kontrollieren, und dann wird alles uns gehören.«
»Du bist vollkommen verrückt, Malcolm«, entfuhr es Sandie, und ein Gefühl der Furcht kroch ihren Rücken hinauf. »Ich will doch gar nicht alles haben.«
Ein Teil von Malcolm war schon immer wild und ungezähmt gewesen – so sehr auf seine eigene Besessenheit konzentriert, dass er die Gefühle und Meinungen anderer ignorierte. Sandie hatte gehofft, im Laufe ihrer Ehe würde er sich beruhigen, doch seit der Geburt der Zwillinge zerfraß diese Besessenheit von der Hohlen Erde den Malcolm, in den sie sich einst verliebt hatte.
»Es ist mir egal, womit du deine Kräfte oder dein Leben vergeudest, aber du wirst ganz sicher nicht die Zwillinge benutzen, um diesen Wahnsinn weiterzuführen!« Ihr Puls raste. »Sie sind zu jung, praktisch noch Babys. Über ihre Kräfte kannst du nicht einfach verfügen.«
Als Malcolm sie bei den Schultern ergriff, zuckte Sandie zusammen. »Ich werde mich weder von dir noch von sonst jemandem aufhalten lassen«, sagte er mit kalter Stimme. »Es ist meine Bestimmung, über die Hohle Erde zu herrschen.«
Am nächsten Morgen freute sich Sandie über ein ruhiges Frühstück mit Renard, während Malcolm draußen mit den Zwillingen spielte. Doch als sie aus dem Fenster zu der großen Glasinstallation auf dem Grundstück der Abtei hinaussah, fiel ihr etwas Seltsames auf.
Die Installation war quasi ein großes Mobile aus Spiegeln, das in der westlichen Ecke des Grundstücks an den Bäumen hing. Sie schimmerten und drehten sich in den unsteten Winden, die an der Küste der Insel entlangwehten. Matt und Em tummelten sich unterhalb der Installation mit ihrem Dad auf einer Decke und malten. Doch was von den Spiegeln reflektiert wurde, war nicht etwa die gemütliche Szenerie, die sie vor sich sah. Stattdessen reflektierte jedes Stückchen Spiegelglas ein Gewirr aus Grün-, Braun- und Gelbtönen eines mysteriösen Höhleneingangs.
Als der Wind das Mobile erfasste, drehten sich die Spiegel, und Sandie erkannte das verräterische Glühen einer Animation. Eine plötzliche Erkenntnis durchfuhr sie.
Sie erkannte das Bild.
Auf einmal schossen Lichtstrahlen aus der Höhlenöffnung. Die Spiegel vervielfältigten diesen Effekt, sodass ein Gitternetz aus Licht entstand, das die Zwillinge und Malcolm einschloss.
»Renard!«, schrie Sandie. »Du musst ihn aufhalten!«
Renard Calder tauchte an der Seite seiner Schwiegertochter auf. Schockiert starrte er auf die Geschehnisse auf dem Rasen.
»Mein Gott, was tut er denn da?«
»Ich glaube, er benutzt die Spiegel, um die Kräfte der Zwillinge zu verstärken.« Sandie versuchte nicht einmal, die Panik in der Stimme zu verbergen. »Malcolm hat Fox’ Bild des Eingangs zur Hohlen Erde bei sich, und die Zwillinge animieren es!«
»Unmöglich!«, keuchte Renard. »Das Bild liegt in der verschlossenen Geheimkammer.«
»Wann haben Schlösser – oder auch nur du selbst – deinen Sohn jemals von etwas abhalten können?«
Dicht gefolgt von Renard rannte sie durch die Terrassentüren und über den Rasen auf die Bäume zu. Sie waren hell erleuchtet, so, als ob Kerzen auf ihren Ästen brannten.
»Aufhören!«, schrie Sandie in Richtung des Lichtgitters, das ihre Kinder umschloss. Sie steckte einen Finger in die Lichtstrahlen, schrie schmerzerfüllt auf und zog ihn augenblicklich wieder zurück, als ein elektrischer Schlag ihren Arm hinaufschoss und in ihrem Kopf Millionen roter Punkte explodierten. Sie suchte verzweifelt nach einem Weg durch das Gitter, um die Zwillinge zu erreichen. »Mattie, Emmie! Kommt her zu Mami!« Einmal rief sie, zweimal, jedes Mal lauter und mit mehr Nachdruck.
Die Zwillinge rührten sich nicht vom Fleck, schauten nicht auf, hörten nicht auf zu malen. Malcolm kniete neben ihnen, seine Hände ruhten auf ihren Schultern, sein Kopf war nahe an ihren Ohren, und er flüsterte ihnen etwas zu.
Renard presste sich zwei Finger an den Nasenrücken. »Er inspiriert die beiden. Ich kann es fühlen.«
»Wie kann er nur?« Sandie rannte vollkommen außer sich hin und her, betrachtete den Käfig aus Lichtstrahlen von allen Seiten und suchte nach einem Weg hindurch. »Das widerspricht allem, wofür wir stehen. Allem!«
Matts und Ems winzige Finger huschten über ihren gemeinsamen Zeichenblock. Das goldgerahmte Bild vom Höhleneingang stand vor ihnen, direkt neben einem weiteren Bild von Fox, das einen schuppigen, haarlosen Dämon zeigte. Malcolms Fingerknöchel wurden weiß, seine Finger bohrten sich den Zwillingen in die Schultern und hielten sie an Ort und Stelle.
»Was wird mit ihnen geschehen, wenn er sie inspiriert?«, fragte Sandie schluchzend.
»Ich weiß es nicht.« Renards Gesicht war kreidebleich.
»Malcolm! Hör auf!« Sandie kauerte an den Bäumen und versuchte, Matts oder Ems Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Malcolms Einfluss zu durchbrechen. »Bitte! Sie sind noch zu jung. Du wirst sie verletzen!«
Die Zwillinge malten weiter und waren sich der Gefahr, in der sie schwebten, offensichtlich nicht bewusst.
Langsam hob Malcolm den Kopf. Mit blitzenden Augen sah er zu Sandie hinüber. Sein sonst so gut aussehendes Gesicht wirkte entstellt, seine Haut war blass. Er nahm die Hand von Ems Schulter und legte sich einen Finger an die Lippen.
Die nächsten Sekunden vergingen für Sandie so langsam, dass es kaum zu ertragen war. Matt und Em legten ihre Pinsel hin und fassten sich an den Händen. Sie standen auf und beobachteten aufgeregt, wie sich das Bild, das sie abgemalt hatten, wie ein 3D-Film um sie herum aufbaute und sie in breite Pinselstriche aus Grün, Braun und Gelb einhüllte. Zunächst kicherten die Zwillinge wegen der farbigen Linien um sie herum. Doch schon bald darauf klammerten sie sich aneinander, und das Vergnügen in ihren Gesichtern schlug in Sekundenschnelle in Angst um.
»Daddy! Ich will das nicht«, schluchzte Em.
»Mach, dass es aufhört!« Auch Matt begann zu weinen.
Dann wurden die Zwillinge von den umherwirbelnden Farben verschluckt. Sandie schrie auf und stürzte auf das Gitter zu. Auf den Spiegelscherben, die sich im Wind bewegten, waren die Abbilder von Matt und Em sichtbar, die in der Öffnung der animierten Höhle erschienen.
»Geht rein! Der Schlüssel ist in der Höhle. Bringt ihn mir!« Malcolm scheuchte sie mit einer Handbewegung hinein.
»Nein!«, schrie Sandie.
Hilflos musste sie zusehen, wie die Zwillinge, einander fest bei den Händen haltend, in der Höhle verschwanden. Malcolms Augen blitzten siegessicher auf. Sandie brach auf dem Gras zusammen. Renard war vor Schreck erstarrt.
Nach fünf quälend langen Minuten kletterten die Zwillinge mit leeren Händen aus der Höhle heraus. Beide weinten.
Malcolm heulte frustriert auf und zerriss das Bild. Das Gitter über der Decke löste sich auf, und die Zwillinge stolperten zwischen den zurückweichenden Lichtstrahlen aufs Gras.
Hektisch hob Sandie ihre Kinder hoch, wickelte sie in die Decke und sprach beruhigend auf sie ein. Blut tropfte Matt aus der Nase. Ems Augen waren gerötet und wirkten abwesend. Keiner von beiden sagte etwas. Sie schienen in einer Art Trance zu sein.
»Morgen früh wird es ihnen wieder gut gehen«, sagte Malcolm und wuschelte Matt durchs Haar. »Aber enttäuschend war es schon. Ich war mir sicher, dass er den Schlüssel in diesem Bild versteckt hat. Vielleicht ist es in dem anderen.«
Renard schloss Sandie und die Zwillinge in die Arme, um sie zu trösten.
Malcolm fing an zu lachen. »Am Ende wirst du die Dinge genauso sehen wie ich, Sandie. Unsere Kinder werden Erstaunliches leisten können, wenn sie ihre Kräfte erst vollständig entwickelt haben. Gemeinsam werden wir die Hohle Erde finden!«
Renard betrachtete die Miene seines Sohnes, dann die immer noch ausdruckslosen Gesichter seiner Enkelkinder. »Solange ich lebe, wirst du diese Kinder nie wieder inspirieren oder verletzen, Malcolm.«
»Du bist ein alter Mann, Dad.« Malcolm grinste. »Da muss ich wahrscheinlich nicht lange warten.«
Renard ließ die Hände sinken und sandte eine Energiewelle in Richtung seines Sohnes aus, die ihn von den Füßen fegte. Malcolm krachte auf den Boden, wobei er sich am Kopf verletzte. Er stieß ein animalisches Brüllen aus, als Renard in seine Gedanken eindrang. Vor Schmerz riss der ältere Mann die Augen weit auf – und Malcolm schlug zu.
Renard wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um den Arm seines Sohnes abzufangen, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen und auf die Knie zu zwingen. Mit einem Knurren schlug Malcolm seine Zähne in Renards Unterarm, bis es blutete. Der Schmerz unterbrach Renards Konzentration und ermöglichte es Malcolm, sich aus dem Griff seines Vaters zu befreien.
»Sie sind meine Kinder!«, schrie Malcolm. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, das aus der Wunde an seinem Kopf tropfte. »Ich werde über ihr Schicksal bestimmen. Nicht du, und nicht sie!«
»Nein, das wirst du nicht!«, sagte Renard und traf Malcolm hart an der Brust, sodass dieser mit solcher Wucht gegen einen Baum prallte, dass er mit geschlossenen Augen liegen blieb.
Die Zwillinge waren so erschöpft, dass sie, eingekuschelt in die Arme ihrer Mutter, eingeschlafen waren. Renard stürzte sich auf den Zeichenblock. Er hielt seinen verletzten Arm über eine leere Seite und ließ Blut darauf tropfen.
»Was tust du da?«, fragte Sandie.
»Wir müssen ihn bannen. Sofort«, erklärte Renard, schob dem bewusstlosen Malcolm die Haare aus der Stirn und ließ das Blut aus dessen Kopfwunde ebenfalls auf das Papier tropfen, wo es sich mit seinem eigenen vermischte.
Sandie legte die schlafenden Zwillinge vorsichtig auf den Boden, kniete sich vor Renard hin und nahm seine Hand in ihre. »Wir können doch nicht … Die Konsequenzen, wenn das jemand herausfindet … Sie wären unvorstellbar.«
Renard hob den Blick und sah Sandie in die Augen. Sie konnte deutlich sehen, wie beschämt und traurig er über das war, was er nun tun musste. Der Anblick raubte ihr den Atem.
»Wir müssen … wir müssen …« Renard suchte verzweifelt nach Worten. »Als ich versuchte, in Malcolms Kopf einzudringen, um ihn zu beruhigen, sah ich schreckliche Dinge. Dämonische Wesen kletterten aus den Tiefen der Erde, eine Armee aus verrottenden Leichen taumelte hinter ihnen her. Ich sah Monster, die über dem Meer miteinander kämpften, der Flügelschlag ihrer riesigen Schwingen wühlte das Wasser auf …« Er hielt inne und reichte Sandie das Blatt. »Und ich sah Matt und Em in ihrem eigenen Blut liegen. Mein Sohn ist ein Monster. Er muss aufgehalten werden. Tu es, bevor er aufwacht!«
Malcolm stöhnte, und seine Augenlider flatterten. Sandie starrte auf das andere Bild von Fox, das Malcolm auf der Decke hatte liegen lassen. Das Monster, zu dem Malcolm geworden war, verdiente es, in einem Bild eines schrecklichen geschuppten Dämons gebunden zu werden. Sie hob einen der Pinsel der Zwillinge auf, reinigte ihn mit zitternden Fingern, tauchte ihn in das Blut auf dem Papier und begann, den hautlosen Dämon abzumalen.
Renard legte seine Hand auf ihre Schulter und schloss die Augen. Der Wind frischte auf, die Luft roch nach Seegras und einem Anflug von Holzteer. Der Pinsel fühlte sich heiß an. Auf Sandies Haut bildeten sich Blasen, während sie die Umrisse des Dämons mit Malcolms und Renards Blut zeichnete. Sie ließ den Pinsel im Herzen der Seite ruhen, und Renards Kraft floss durch ihre Animation hindurch.
Die Bäume raschelten, die Wellen schwappten an den Strand. Eine geisterhafte Silhouette drang aus dem Papier heraus. Sie schwebte über Malcolms Kopf, streckte Tentakel nach ihm aus, umfing ihn und hüllte ihn in Dunkelheit. Malcolm verblasste langsam, sein Wesen wurde in die Animation hineingezogen und darin gebunden.
Das Kloster Era Mina
Auchinmurn
Mittelalter
Solon eilte die gewundene Treppe aus dem Turm des Abts hinunter und hinaus in den Innenhof des Klosters. Er zögerte für einen Moment. Dieser geheiligte Ort war nur wenige Tage zuvor noch ein Ort des Todes und der Zerstörung gewesen. Die vom Blut rot gefärbten Kiesel waren zwar gesäubert worden, doch der Geruch nach Tod hing noch immer über dem Innenhof wie Aas. Hin und wieder drang das Stöhnen der Verletzten aus der Krankenstube von Bruder Cornelius.
Solon hielt sich unter dem Wehrgang, eilte mit schnellen Schritten zum Eingang der Kapelle hinüber und schlüpfte hinein. Sein Blick huschte über die drei Reihen leerer Kirchenbänke, die vor dem schlichten halbmondförmigen Holzaltar standen. Erleichtert atmete er tief aus und gönnte sich einen Moment der Erholung von seinen nagenden Ängsten. Er wusste nicht, warum er so viel Angst hatte, so außer Fassung war – doch so war es nun mal. Obwohl er Rurik den Roten und seine brutalen Gefolgsmänner verjagt hatte, spürte Solon, dass ihn einige der Mönche beobachteten; dass die Wikinger das Gleichgewicht im Orden durcheinandergebracht hatten. Am meisten beunruhigte Solon der tief in seinem Innern verwurzelte Gedanke, dass die Insel an diesem Tag verwundet worden war und dass man irgendwie von ihm erwartete, sie zu heilen.
Auf dem Altar ruhten drei Holzsärge, in denen die Gebeine jener Mönche lagen, die während des Wikingerangriffs getötet worden waren. Man hatte ihre Körper einbalsamiert, mit Streifen aus Sackleinen umwickelt und die Streifen wiederum mit Bienenwachs versiegelt. Nur ihre Gesichter waren zu sehen, bleich und wächsern; ihre geschlossenen Augen lagen bereits tief in den Höhlen. Eine Reihe von Kerzen brannte zu ihren Füßen. Schon bald würden sie ihren Vorgängern in die Katakomben des Klosters folgen.
Als er gerade die schwere Eisentür hinter dem Altar aufschieben und ins Hauptgebäude des Klosters gehen wollte, hörte er laute Stimmen. Schnell duckte er sich hinter den Altar.
Tam und Rab traten durch die Tür. Sie hatten sich Tücher um Mund und Nase gebunden, um den ekelhaft süßen Geruch der Balsamierflüssigkeit etwas abzumildern. Solon kannte die beiden Einbalsamierer aus dem Dorf und wollte sich gerade zu erkennen geben, als Tam zu sprechen begann.
»Wenn du mich fragst, sollten wir uns um die Toten nicht allzu viele Gedanken machen, Rab. Nicht nach dem, was ich gehört habe.«
Rab sah mit seinem kahlen Kopf und der pockennarbigen Haut aus wie ein Troll. »Was hast du denn gehört?«
Tam senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich glaube, dass die Wikinger einen Spion zurückgelassen haben. Einige Mönche haben kurz nach dem Angriff einen Fremden über die Hügel wandern sehen.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die Leichen, dann zog er Rab zur Seite, als ob die Toten mithören könnten. »Und das ist noch nicht alles. Das Relikt, nach dem die Wikinger gesucht haben? Sie wurden verjagt, ohne es zu bekommen. Also werden sie zurückkommen und schlimmer zuschlagen als zuvor, wenn der Fremde erst einmal unsere Schwächen ausspioniert hat. Du wirst schon sehen!«
Ein Windstoß blies die Tür auf. Solon sah, wie die beiden Männer vor Angst zusammenzuckten.
»Falls sich wirklich ein Spion in unserer Mitte befindet«, sagte Rab, der sich als Erster erholte und sich die Hose über die dicke Wampe zog, »würde das zumindest die seltsamen Vorfälle seit dem Angriff erklären. Es wird Essen gestohlen, und mehr als die üblichen Mengen …«
»Aye«, unterbrach Tam, »und mein Kumpel, der die Toiletteneimer ausleert, hat in letzter Zeit öfters mal Mönche gesehen, die vergessen hatten, wo sie waren und was sie vorhatten, so, als würde ein Zauber auf ihnen liegen. Ich glaube, dass die Götter der Wikinger unsere Insel verflucht haben.« Er zog ein Beutelchen mit zerkleinerten Wurzeln und Kräutern unter seiner Tunika hervor. »Das hier wird sogar den Teufel höchstpersönlich fernhalten.«
»Aye«, sagte Rab und berührte schnell noch die Ecke des Beutelchens, bevor Tam es wieder unter seiner Tunika verstaute. »Aber sind wir jetzt nicht besser vorbereitet als beim letzten Mal? Wir haben Signalfeuer entlang der Küstenlinie errichtet, und der Abt hat seine besten Bogenschützen auf der Mauer postiert.«
Tam suchte die Kapelle mit Blicken ab. »Das wird uns auch nicht viel nutzen, wenn ein Spion unsere Verteidigungsmaßnahmen ausspioniert.«
Solon machte eine Bewegung, und seine Stiefel quietschten auf der Steinplatte hinter dem Altar. Augenblicklich griff Rab nach seinem Hammer am Gürtel, und Tam zog sein Messer aus der Scheide. Langsam schlichen sie auf die Stelle zu, an der Solon sich versteckt hielt. Tam wollte sich gerade über den Altartisch lehnen, als eine der Küchenkatzen unter einer der vorderen Kirchenbänke hervorschoss.
Beide Männer lachten und entspannten sich. Dann wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu, nagelten die Sargdeckel auf die Särge und trugen die Toten in die Krypta.
Solon atmete erleichtert aus, als die Tür hinter ihnen zufiel. Bis zum Tag des Angriffs hatte er das Kloster Era Mina als einen Ort der Zuflucht und des Schutzes empfunden. Doch nun wurde es zu einem brodelnden Kessel voller Geheimnisse und Verdächtigungen. Zu einem Kessel, der kurz vorm Überkochen war.
Die Abtei
Auchinmurn
Gegenwart
An der großen Pinnwand neben der Wohnzimmertür hing ein Foto von Matt, Em und ihrer Mutter. Es war vor etwa einem Jahr vor einem Brunnen in London aufgenommen worden, bevor sich ihr Leben verändert hatte. Sie sahen alle so glücklich aus und wussten nicht, was noch geschehen würde.
Matt starrte das Foto lange an und versuchte, das Verlangen, seine verschwundene Mutter endlich wiederzusehen, von der Wut zu trennen, die er darüber verspürte, was sie seinem Dad angetan hatte.
Er hörte die Gedanken seiner Schwester in seinem Kopf.
Mum ist in Ordnung, Matt. Wo immer sie auch ist, ich kann fühlen, dass es ihr gut geht.
Das kannst du doch gar nicht wissen, Em.
Du hast recht. Aber ich gehe fest davon aus, dass Mum aus einem bestimmten Grund weggegangen ist. Wenn wir diesen Grund herausfinden, werden wir sie auch finden. Ich bin mir absolut sicher, dass wir es schaffen.
»Ich wünschte, ich wäre irgendwo anders als hier, in diesem Raum, in der Abtei«, sagte Matt laut.
Em arbeitete am Zeichentisch, der vor den großen Wohnzimmerfenstern stand. Sie entwarf einen Comic über ihre kürzlich erlebten Abenteuer. »Wie wärs mit Fahrradfahren?«, schlug sie vor, hob den Blick dabei jedoch nicht von ihrem Projekt. »Wir könnten im Wald Motocross fahren. Du und Zach werdet immer besser.«
»Vielleicht«, antwortete Matt, »aber die Strecke liegt hinter der Mauer.«
Er sah gereizt auf die wirbelnden weißen Nebelfahnen hinaus, die aus der hohen mittelalterlichen Mauer hinausdrangen, die das Grundstück der Abtei umschloss, und darum herumwaberten. Der Nebel war ein animiertes Kraftfeld, stark genug, um jede eindringende Animation aufzuhalten und auf ihre Bestandteile aus Licht und Farbe zu reduzieren.
Tagsüber erschien das Kraftfeld als verschiedene logische und offensichtliche Dinge, die man an einer hohen Steinmauer eines historischen keltischen Gebäudes erwarten würde. Gestern war dem Postboten der üppig wachsende Efeu aufgefallen, und er erwähnte Jeannie, der Haushälterin der Abtei, gegenüber die wunderschönen weißen Blumen, die trotz der massiven Bauweise der Mauer zwischen den Steinen wuchsen. Am Tag zuvor war eine Gruppe von Schülern, die während eines Schulausflugs auf der Insel vorbeigeradelt war, beim Anblick der festlichen Fahnen und bunten Wimpel zwischen den Steinen in Jubel ausgebrochen.
Nachts nahm der weiße Nebel, der aus der Mauer herausquoll, jedoch einen seltsamen bläulichen Ton an. Wer ihn sich näher ansah, nahm vermutlich an, dass das phosphoreszierende Glühen von Scheinwerfern herrührte, die neben den Wasserspeiern befestigt waren, die auf den Zinnen saßen und wie Höllenhunde aussahen.
Selbstverständlich diente die nebelartige Animation auch dazu, jegliche Animationen aufzuhalten, die die Zwillinge zum Leben erweckten, um mit ihrer Hilfe das Grundstück der Abtei zu verlassen. Sie waren nicht wirklich in einem Gefängnis, sondern eher in Schutzhaft, aber dieser kleine Unterschied war für Matt nicht von Bedeutung. Wie man es auch betrachtete, er war eingesperrt. Und wenn er sich eingesperrt fühlte, dann fühlte er sich machtlos. Und wenn er sich machtlos fühlte, dann wurde er streitlustig.
»Ich halte es nicht länger aus, hier drinnen eingepfercht zu sein«, sagte er und sah einen Stapel Videospiele durch, die neben dem Flachbildfernseher standen. Ein Spiel nach dem anderen legte er weg, ohne sich dabei wirklich auf die Titel zu konzentrieren.
»Oh, würdest du bitte endlich aufhören, so herumzuhampeln!«, sagte Em. Sie schattierte gerade ein Panel mit einem wunderschönen fliegenden Hirsch – einem Peryton. »Du weißt doch, dass wir nirgendwo hinkönnen.«
Sogar auf dem Papier pulsierte Ems Peryton vor Energie. Sie hatte seinen Körper in reinem Weiß gehalten und benutzte nun einen hellgrauen Zeichenkohlestift, um die riesigen Schwingen hervorzuheben.
Matt drehte den Zeichenblock zu sich herum, damit er sich die Zeichnung genauer ansehen konnte. »Hast du keine Angst, dass du ihn animieren könntest? Simon wäre wohl nicht besonders begeistert, wenn er noch ein Buntglasfenster reparieren müsste.«
Beim letzten Mal, als der Peryton auf Auchinmurn aufgetaucht war, war er durch ein riesiges Buntglasfenster in einem der umgewandelten Bogengänge des mittelalterlichen Klosters gekracht, das einst anstelle der Abtei hier gestanden hatte.
Ein genervter Ausdruck huschte über Ems Gesicht. »Anscheinend hast du in letzter Zeit im Unterricht nicht besonders gut aufgepasst. Ich allerdings schon. Wenn wir uns als Künstler weiterentwickeln wollen, müssen wir lernen, unsere Animare-Fähigkeiten beim Zeichnen zu kontrollieren, damit nicht jede unserer Zeichnungen zum Leben erwacht. Die Erste Regel, erinnerst du dich? Keine Animationen in der Öffentlichkeit.«
Sie drehte den Zeichenblock wieder zu sich herum. »Ich übe, damit ich zeichnen kann, ohne versehentlich etwas zum Leben zu erwecken. Du solltest das übrigens auch üben.«
»Brauch ich nicht«, schnauzte Matt.
Em wollte es ihm gegenüber nicht zugeben, doch ihr Bruder schätzte seine Fähigkeiten richtig ein. Matts Animare-Fähigkeiten entwickelten sich schneller als ihre, und obwohl im Gegenzug ihre Wächter-Fähigkeiten stärker waren als die von Matt, hatte sie ihre Fantasie nicht immer vollständig unter Kontrolle. Matt war dagegen viel besser dazu in der Lage, seine Kräfte an- und abzuschalten.
Irgendwann werden deine Fähigkeiten so stark sein wie seine, Em. Das weiß ich genau.
Em lächelte Zach an. Es tat gut, ihn in ihrem Kopf zu haben – meistens jedenfalls – und zu wissen, dass er spürte, wie sie sich fühlte. Besonders, wenn sie traurig war und sich stundenlang über das Schicksal ihrer Mutter sorgte.
Matt fiel ein großes Gemälde ins Auge, das auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers hing. »Lasst uns zurück nach London reisen«, sagte er und deutete auf das Bild. »Nur für ein paar Minuten. Ich vermisse die Stadt. Du nicht?«
Zach, der auf dem Sofa saß, hatte die Worte von seinen Lippen abgelesen und sprang auf. »Oh nein! Du wirst nirgendwo hingehen, und erst recht nicht in einem Bild verschwinden.«
»Zach hat recht«, stimmte ihm Em nervös zu. »Wir haben es versprochen. Kein Animieren ohne Aufsicht.«
»Ist doch wurscht«, sagte Matt und platzierte das Gemälde auf der leeren Staffelei in der Ecke. Er schlug eine leere Seite in seinem Zeichenblock auf. »Niemand wird es je erfahren.«
»Doch, ich«, gebärdete Zach und stellte sich vor die Staffelei.
»Du würdest uns echt verpfeifen?«, fragte Matt herausfordernd.
Em bereitete sich darauf vor, die Jungs zu trennen, falls sich dies zu einer Prügelei ausweiten sollte. »Ich werde dir nicht dabei helfen, in das Bild zu reisen, Matt.«
»Vermutlich brauche ich dich auch gar nicht dafür.«
»Du wirst vielleicht stärker, aber noch bist du kein Leonardo da Vinci.«
»Du kannst mich eh nicht aufhalten, wenn ich es wirklich tun will.«
»Wenn du so schlau bist«, sagte Em, die immer ärgerlicher wurde, »solltest du in der Lage sein, zu erkennen, dass ich dabei nicht mitmachen will.«
»Stimmt doch gar nicht.« Matt grinste seine Schwester an. »Ich weiß genau, dass du zurück nach London willst, auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.«
Seine grünen Augen strahlten vor Begeisterung, so sehr wie schon seit Wochen nicht mehr.
Du denkst doch nicht wirklich darüber nach, da mitzumachen, Em.
Nein, Zach … okay, vielleicht doch … Ich kann ihn nicht alleine losziehen lassen. Das ist … So was mache ich einfach nicht. Wir machen so was nicht. Wir helfen uns gegenseitig. Das haben wir schon immer getan, und jetzt, seitdem Mum weg ist, erst recht.
»Hört auf, euch in euren Köpfen über mich zu unterhalten.« Matt fuhr sich unruhig mit den Fingern durch die langen, dunklen Haare. »Ich merke doch, wenn ihr das tut. Es ist ja nicht so, als ob ich euch beide nicht kennen würde.«
Em starrte das Gemälde an, das Matt auf die Staffelei gestellt hatte. Es war eine Studie für Claude Monets Die Themse bei Westminster: ein wunderschönes, stimmungsvolles Abbild der Themse. Das fertige Gemälde hing in der National Gallery in London.
Sie musste zugeben, dass sie London vermisste.
»Em. Nein«, gebärdete Zach. Er wusste natürlich, dass er die Zwillinge nicht allein aufhalten konnte, wenn sie entschieden, zusammenzuarbeiten. Ihre kombinierten Fähigkeiten als Animare waren viel zu stark, als dass seine sich gerade erst entwickelnden Wächterfähigkeiten mit ihnen mithalten könnten. Er bezweifelte, ihnen helfen zu können, falls sie in Schwierigkeiten gerieten.
Matt nahm einen Stift und begann, das Bild abzuzeichnen. Seine geschickten Finger huschten über das Papier. Als Erstes zeichnete er die Umrisse von Westminster und die eindrucksvollen Giebel des St. Stephen’s Tower, dann den unverkennbaren Turm, der Big Ben beherbergte und im sanft leuchtenden Hintergrund des Bildes zu sehen war.
Er behielt das Bild fest in seiner Fantasie und schob die Zeichnung zu Em hinüber, die Zach einen bedauernden Blick zuwarf, bevor sie einige Stifte vom Tisch nahm und die Umrisse ausmalte.
»Also dann, Zach«, sagte Matt und blickte den hölzernen Pier an, der auf Stelzen in der Themse stand. »Wirst du uns nun verraten oder nicht?«
Zach seufzte resigniert. »Werde ich nicht. Aber nur, wenn ich mit euch in das Bild kommen kann.«
Das Kloster Era Mina
Mittelalter
Solon saß in Bruder Renards abgelegener Kammer und beobachtete den alten Mönch, der neben dem prasselnden Feuer in seinem Schaukelstuhl aus Birkenzweigen schlief. Bruder Renards Haut hatte die Farbe einer reifen Steckrübe angenommen, das Haar fiel ihm büschelweise aus, und auf Ausbrüche hektischen Arbeitseifers folgten Perioden der Erschöpfung. All diese Veränderungen betrübten Solon mehr als er in Worte fassen konnte. Seitdem der Abt die qualvolle Entscheidung getroffen hatte, Bruder Renard wegzusperren, da dessen Fantasie schweren Schaden genommen hatte, arbeiteten die ansässigen Steinmetze an einem Turm für den alten Mönch. Dieser sollte auf dem nördlichen Kap von Era Mina entstehen, wo Bruder Renard sicher vor der Welt und die Welt sicher vor ihm sein würde. Bis zur Fertigstellung des Turms war Bruder Renard hier, in der entlegensten Ecke des dunkelsten Flügels des Klosters, untergebracht und unterstand Solons Aufsicht.
Das einzige Fenster des Raums war mit Holzläden verschlossen; nur durch die kleinen Ritzen drang etwas Sonnenlicht herein. In der Feuerstelle knackte ein Holzscheit und es klang, als würde ein wütender Hund nach ihnen schnappen. Zwei hohe geschnitzte Kerzenhalter erleuchteten den winzigen Raum, das Wachs hinterließ nach Honig duftende Tropfen auf dem Kaminsims. Die Luft in der Kammer war angenehm, wenn auch etwas stickig, und der Geruch des Kerzenwachses vermischte sich mit dem des Heidekrauts aus der Bettstatt. Seit Jahrhunderten befüllten die Frauen des Dorfs das Bettzeug mit Heidekraut und Gras, da sie glaubten, dass der Geruch Albträume vertrieb. Doch um die des armen Bruders Renard abzuwehren, würde mehr als Heidekraut vonnöten sein. Wenn ein Animare die Kontrolle über seine Fantasie verlor, dann verursachte dieser Verlust viel größeren Schaden innerhalb des Verstandes als außerhalb.
Ein Klopfen an der Tür ließ Solon zusammenfahren, und er sprang auf die Füße. Es kamen nur selten Besucher vorbei. Er holte einen Messingschlüssel hervor, der an einem Stück Leder unter seiner Tunika hing, und schloss die Tür auf, um den Besucher in Augenschein zu nehmen.
»Bruder Cornelius!«
Solon mochte den Kräuterkundigen und Heiler des Klosters, ein kleiner untersetzter Mönch mit rosigen Wangen und einer breiten Hakennase. Sein Haar war traditionsgemäß zu einer Tonsur geschnitten, sodass das verbliebene rötliche Haar wie eine Krone auf seinem Kopf wirkte. Während Bruder Cornelius in seiner schwarzen Kutte in den Raum hineinwatschelte, sah er aus wie einer der Vögel, die auf den Klippen der Insel nisteten. Er hatte Solon beigebracht, welche Pflanzen die farbkräftigste Tinte ergaben, aus welchen Bäumen man das beste Harz gewinnen konnte und welche Samen sich zwar zur Tintenherstellung, aber niemals zum Verzehr eigneten.
Cornelius bemerkte offensichtlich, wie zerzaust Bruder Renard wirkte. »Ich habe eine gefährliche Aufgabe für dich, Solon«, sagte er. »Sie ist sehr riskant, doch der Abt und ich sind uns sicher, dass du mehr als geeignet dafür bist, sie zu erfüllen.«
Solon spürte die ungewohnte Stille, die von Bruder Cornelius ausging. Der Kräuterkundige war wohl erschöpft, entschied Solon und kehrte zu seinem dreibeinigen Hocker zurück. Seit dem Angriff der Wikinger auf das Kloster waren erst drei Tage vergangen, und Cornelius hatte seither mit der Versorgung der Kranken und Verletzten alle Hände voll zu tun.
Cornelius nahm auf dem breiteren der beiden Bettzeuge Platz, die auf hölzernen Lagerstätten ausgebreitet lagen. Neben ihm lag, sorgfältig am Fußende zusammengefaltet, ein bestickter Quilt.
»Hat Bruder Renard seit dem Angriff etwas gesagt?«, fragte Cornelius.
»Er spricht nur wenig, fragt nach den Verletzten und betet für die Toten. Zwar gelingt es mir, ihn mit Lesen ein wenig abzulenken, aber sein Verstand findet selbstverständlich mehr Ruhe, wenn sein Wächter, der Abt, bei ihm ist.«
»Natürlich.« Cornelius nickte.
»Wie kann ich Euch behilflich sein, Bruder?«, fragte Solon.
Der Mönch seufzte. »Wie dir vielleicht schon zu Ohren gekommen ist, erholen sich die Verletzten des Wikingerangriffs nicht so schnell oder so gut von ihren Wunden, wie ich gehofft hatte. Viele von ihnen sind Kinder, die noch um einiges jünger sind als du. In der Vergangenheit hat es Bruder Renard stets abgelehnt, dich ins Schindermoor zu schicken, um dort Pflanzen zu sammeln, doch ich muss dich darum bitten.«
Solon runzelte die Stirn. »Warum hat Bruder Renard nicht gewollt, dass ich ins Schindermoor gehe?«
»Weil sich der Grendel im Moor versteckt.«
Ob er in den alten Geschichten nun Schlammmonster, Seelenjäger oder Grendel genannt wurde, jeder Einwohner von Auchinmurn wusste von dem Ungeheuer im Schindermoor. Seitdem Solon alt genug gewesen war, um am Feuer zu sitzen und den Alten zuzuhören, hatte er Geschichten über den Grendel gehört. Dennoch bezweifelte er, dass diese Kreatur tatsächlich so grässlich und widerwärtig sein konnte, wie die Geschichtenerzähler behaupteten.
Doch bevor Solon Bruder Cornelius nach weiteren Einzelheiten fragen konnte, wachte Bruder Renard auf. Er hob langsam den Kopf und begrüßte seinen Besucher mit einem Nicken. Ein Büschel Haare schwebte auf den Holzboden hinab wie ein fusseliges Insekt.
»Cornelius, mein lieber Freund.«