cover

Irène Némirovsky

Die Hunde

und die Wölfe

Roman

Aus dem Französischen

von Eva Moldenhauer

Knaus

1

Die ukrainische Stadt, Heimat der Familie Sinner, bestand in den Augen der dort wohnenden Juden aus drei unterschiedlichen Gebieten, wie man auf den alten Gemälden sehen kann: unten die Verdammten, zwischen der Finsternis und den Flammen der Hölle; in der Mitte des Bildes die Sterblichen, von einem ruhigen, blassen Licht erhellt; und oben der Wohnsitz der Erwählten.

In der Unterstadt, am Fluß, lebte das Gesindel, die Juden, mit denen man nicht verkehrte, die kleinen Handwerker, die Mieter schäbiger kleiner Läden, die Landstreicher, eine Horde von Kindern, die sich im Schlamm wälzten, nur jiddisch sprachen, zerlumpte Hemden sowie riesige Mützen auf langen schwarzen Locken und schmächtigen Hälsen trugen. Sehr weit von ihnen entfernt, hoch oben auf den mit Linden bestandenen Hügeln, fand man zwischen den Häusern der hohen russischen Beamten und denen der polnischen Gutsherren einige schöne Herrenhäuser, die reichen Israeliten gehörten. Sie hatten dieses Viertel wegen der reinen Luft gewählt, die man dort atmete, vor allem aber weil in Rußland zu Anfang des Jahrhunderts, unter der Herrschaft von Nikolaus II., die Juden nur in bestimmten Stadtteilen, in bestimmten Distrikten, in bestimmten Straßen und manchmal sogar nur auf einer Seite einer Straße geduldet wurden, während ihnen die andere Seite untersagt war. Dennoch existierten die Verbote nur für die Armen: Noch nie hatte man gehört, daß nicht Schmiergeld auch die strengsten Verbote bezwungen hätte. Die Juden setzten ihre Ehre darein, ihnen zu trotzen, nicht aus eitlem Widerspruchsgeist oder aus Stolz, sondern um den anderen Juden zu zeigen, daß man etwas Besseres war als sie, daß man mehr Geld verdient, seine Rüben oder seinen Käse günstiger verkauft hatte. Es war eine bequeme Art und Weise, die Größe seines Vermögens publik zu machen. Einer war im Ghetto geboren worden. Mit zwanzig Jahren hatte er ein wenig Geld; im gesellschaftlichen Leben stieg er eine Sprosse höher: Er zog um und ließ sich weitab vom Fluß nieder, in der Nähe des Markts, an der Grenze der Unterstadt; bei seiner Heirat würde er bereits auf der (verbotenen) Seite mit den geraden Hausnummern wohnen; später würde er noch höher steigen und sich in dem Viertel ansiedeln, wo dem Gesetz nach kein Jude das Recht hatte, geboren zu werden, zu leben, zu sterben. Er wurde geachtet; für die Seinen war er sowohl ein Gegenstand des Neids als auch ein Bild der Hoffnung: Es war also möglich, solche Höhen zu erklimmen. Der Hunger bedeutete nichts; die Kälte, der Schmutz bedeuteten nichts angesichts solcher Beispiele; und aus der Unterstadt sahen so manche Blicke hinauf zu den kühlen Hügeln der Reichen.

Zwischen diesen extremen Gebieten lag eine gemäßigte Zone, eine fade Region, die weder großen Reichtum noch Elend hervorbrachte und in der ohne allzu viele Zusammenstöße die russischen, polnischen und jüdischen Bürger zusammenlebten.

Freilich war die mittlere Stadt selbst in kleine Clans unterteilt, die einander beneideten und verachteten. Den höchsten Rang nahmen die Ärzte, die Advokaten, die Gutsverwalter ein, und das gemeine Volk bestand aus Krämern, Schneidern, Apothekern usw.

Eine Gesellschaftsklasse indes fungierte als Bindeglied zwischen den verschiedenen Vierteln und verdiente ihr Brot mühsam damit, daß sie von einem Haus zum andern, von der Unterstadt in die Oberstadt lief. Adas Vater, Israel Sinner, gehörte zu jener Zunft der «Makler», der Zwischenhändler. Ihr Beruf war es, auf fremde Rechnung zu kaufen und zu verkaufen, Rüben, Zucker, Weizen, Landwirtschaftsmaschinen, alles, womit die Ukraine Handel trieb; doch konnten sie ihrer Warenliste noch Seide und Tee hinzufügen, Rahat Lokum und Kohle, Wolga-Kaviar und Früchte aus Asien, je nach den Bedürfnissen der Kundschaft. Sie bettelten, sie flehten, sie machten die Waren des Konkurrenten schlecht; sie jammerten; sie schworen Meineide und boten alle Mittel ihrer Phantasie und ihrer subtilen Dialektik auf, um den Auftrag zu erhalten. Man erkannte sie an ihrer schnellen Redeweise, ihrer Gestikulation, an ihrer Eile zu einer Zeit und in einem Land, wo niemand sich beeilte, an ihrer Unterwürfigkeit, ihrer Beharrlichkeit, an noch vielen anderen Eigenheiten ihres Standes.

Ada, noch fast ein Baby, begleitete ihren Vater manchmal auf seinen Touren, einen mageren kleinen Mann mit traurigen Augen, der sie liebte und Trost darin fand, sie an der Hand zu halten. Für sie verlangsamte er seinen Schritt; fürsorglich beugte er sich zu ihr; er rückte ihr den dicken grauen Wollschal zurecht, den sie über ihrem alten Mantel und über der braunen Samtmütze mit Ohrenschützern trug; er hielt ihr seine Hand vor den Mund, wenn der Winterwind blies: an den Straßenecken schien die rauhe Bise den Passanten aufzulauern und sie mit fröhlichem Ingrimm zu ohrfeigen.

«Gib acht. Ist dir auch nicht kalt?» fragte der Vater.

Und er empfahl ihr, durch den Schal zu atmen, damit die eisige Luft sich erwärme, wenn sie durch die Wolle dränge, aber das ging nicht: Ihr war, als müßte sie ersticken; sobald er sich abwandte, vergrößerte sie ein wenig mit den Fingerspitzen ein kleines Loch im Stoff, und sie versuchte, mit der Zungenspitze die Schneeflocken aufzufangen. Sie war derart eingemummt, daß man von ihr nur eine kleine eckige Masse auf mageren Beinen sah und, aus der Nähe, zwischen der dunklen Mütze und dem grauen Schal zwei große schwarze Augen, die durch dunkle Ringe noch größer wirkten und deren Blick scheu und wachsam war wie der eines kleinen wilden Tiers.

Sie war gerade fünf Jahre alt geworden und fing an, ihre Umgebung zu sehen; bisher war sie in einer Welt umhergeirrt, die zu ihrer schmächtigen Person in einem solchen Mißverhältnis stand, daß ihr kaum bewußt war, daß sie existierte: sie wurde von ihr erdrückt. Vermutlich scherte sie sich ebensowenig darum wie ein im Gras hockendes Insekt. Nun aber war sie größer geworden und begann das Leben kennenzulernen: Jene regungslosen Riesen auf den Türschwellen, an deren Schnurrbärten Eiszapfen hingen und die einen nach Alkohol stinkenden Atem vor sich herbliesen (seltsamerweise verwandelte er sich in einen Dampfstrahl, dann in kleine Schneenadeln), jene Riesen waren gewöhnliche Männer, Dworniks, die Hausmeister. Sie machte sich auch mit Wesen vertraut, deren Köpfe sich in den Wolken zu verlieren schienen und die glänzende Säbel hinter sich herschleppten. Man nannte sie Offiziere. Sie waren erschreckend, da sich ihr Vater, wenn er sie erblickte, noch kleiner zu machen und an die Mauern zu pressen schien; dennoch glaubte sie, daß sie der menschlichen Gemeinschaft angehörten. Seit einiger Zeit wagte sie es, sie anzuschauen; einige von ihnen, deren grauer Mantel rot gefüttert war (man sah den scharlachroten Stoff, Kennzeichen ihres Generalranges, wenn sie den Schlitten bestiegen), hatten einen langen weißen Bart wie ihr Großvater.

Auf dem Platz hielt sie einige Augenblicke inne, um die Pferde zu bewundern, die im Winter mit grünen oder roten, mit Troddeln verzierten Netzen bedeckt waren, damit der Schnee, den sie mit ihren Hufen aufscharrten, nicht auf ihre Körper spritzte. Hier war das Stadtzentrum; es gab schöne Hotels, Läden, Restaurants, Lichter, Lärm; doch gleich danach drang man von neuem in abschüssige, zum Fluß hinunterführende kleine Gassen ein, die schlecht gepflastert und nur schwach von Laternen beleuchtet waren, und machte schließlich vor der Wohnung eines möglichen Kunden halt.

In einem verrauchten, niedrigen, halbdunklen Zimmer schrien fünf oder sechs Männer wie Federvieh, das geschlachtet wird. Ihre Gesichter waren rot; die Adern schwollen auf ihrer Stirn. Sie hoben die Arme hoch und deuteten zum Himmel oder schlugen sich auf die Brust. Sie sagten:

«Möge Gott mich auf der Stelle erschlagen, wenn ich lüge!»

Manchmal deuteten sie auf Ada:

«Beim Haupt dieses unschuldigen Kindes versichere ich dem Herrn, daß die Seide einwandfrei war, als ich sie gekauft habe! … Bin ich, ein unglücklicher Jude, der eine Familie zu ernähren hat, denn schuld daran, wenn unterwegs die Mäuse einen Teil angefressen haben?»

Sie wurden böse; sie gingen fort; sie schlugen die Türen zu; sie blieben auf der Schwelle stehen; sie kamen zurück. Mit gespielter Gleichgültigkeit tranken die Käufer Tee aus großen Gläsern in silbernen Haltern; die Zwischenhändler (es stellten sich immer fünf oder sechs gleichzeitig ein, sobald sie ein Geschäft witterten) beschuldigten sich gegenseitig der Gaunerei, des Diebstahls, des Betrugs, der schlimmsten Verbrechen; sie schienen bereit zu sein, sich gegenseitig aufzufressen. Dann beruhigte sich alles: das Geschäft war abgeschlossen.

Adas Vater nahm sie bei der Hand, und sie gingen hinaus. Auf der Straße stieß er einen langen, tiefen Seufzer aus, der in einem Kopfschütteln und einer dumpfen, schmerzlichen Klage endete: «O mein Gott, mein Herr und Gott!», entweder weil das Geschäft nicht zustande gekommen war und alle Anstrengungen, all die mit Palaver und Gerenne verbrachten Wochen sich als vergeblich erwiesen hatten oder weil er seine Konkurrenten ausgestochen hatte. Dennoch mußte man seufzen, dennoch jammern: Gott war unerschütterlich und anwesend, dem Menschen auflauernd wie eine Spinne im Netz, bereit, ihn zu züchtigen, wenn er sich allzu stolz auf sein Glück zeigte. Gott war immer da, eifernd und eifersüchtig; man mußte ihn fürchten und durfte ihn, während man ihm für seine Güte dankte, nicht glauben lassen, er habe alle Wünsche seines Geschöpfes erfüllt, damit er nicht müde werde, es auch weiterhin zu beschützen.

Dann betraten sie ein anderes Haus und wieder ein anderes. Manchmal stiegen sie bis zu den Wohnsitzen der Reichen hinauf. Dann wartete Ada im Vestibül, von der Pracht der Möbel, der Zahl der Dienstboten und der Dicke der Teppiche so beeindruckt, daß sie nicht wagte, sich zu rühren. Sie blieb auf der Kante ihres Stuhls sitzen, riß die Augen auf und hielt sogar den Atem an; bisweilen kniff sie sich in die Wangen, um nicht einzuschlafen. Schließlich kehrten sie mit der Straßenbahn nach Hause zurück, sich schweigend an den Händen haltend.

2

Simon Arkadjewitsch», sagte Adas Vater, «ich bin wie jener Jude, der sich bei einem Zaddik, einem heiligen Mann, beklagte und ihn in seiner Armut um Rat fragte …»

Israel Sinner mimte das Gespräch zwischen dem Armen und dem Heiligen:

«‹Heiliger Mann, ich bin elend, ich habe sechs Kinder zu ernähren, ein zänkisches Weib, eine gesunde, kraftstrotzende Schwiegermutter mit großem Appetit … Was tun? Hilf mir!› Und der heilige Mann antwortete ihm:

‹Nimm zwölf Ziegen zu dir.› – ‹Was soll ich mit denen denn anfangen? Schon jetzt sind wir zusammengepfercht wie Heringe in einem Faß; wir schlafen alle auf einem elenden Strohsack. Wir ersticken. Was soll ich da mit deinen Ziegen?› – ‹Hör zu, du Kleingläubiger. Nimm die Ziegen in dein Haus, und du wirst den Herrn lobpreisen.› Nach einem Jahr kam der Arme wieder: ‹Na, bist du jetzt glücklicher?› – ‹Glücklicher? Mein Leben ist die Hölle! Ich bringe mich um, wenn ich diese verfluchten Ziegen behalten muß!› – ‹Nun, jetzt kannst du dich von ihnen befreien, und du wirst das Glück genießen, das du vorher nicht erkannt hast. Ohne ihre Hörnerstöße und ihren Gestank wird dir deine Hütte wie ein Palast vorkommen. Alles auf der Welt ist nur eine Sache des Vergleichs.› Und auch ich, Simon Arkadjewitsch, habe gegen die Vorsehung gemurrt. Ich mußte meinen Schwiegervater beherbergen und meine Tochter ernähren. Ich arbeitete hart und ernährte sie schlecht, doch es ist das natürliche Los des Menschen, daß er viel Schweiß vergießen muß, um ein bißchen Brot zu verdienen. Ich hatte unrecht, mich zu beklagen. Denn gerade eben erfahre ich vom Tod meines Bruders, und meine Schwägerin, seine Witwe, wird mit ihren beiden Kindern zu mir ins Haus kommen. Also drei Münder mehr zu stopfen. Arbeite, plage dich, du elender Mensch, du armer Jude: ausruhen kannst du dich unter der Erde …«

Auf diese Weise erfuhr Ada von der Existenz und der Ankunft ihrer Cousins. Sie versuchte, sich ihre Gesichter vorzustellen. Das war ein Spiel, das sie stundenlang beschäftigte, sie hörte und sah nicht mehr, was um sie herum vorging, und dann schien sie wie aus einem Traum zu erwachen. Sie hörte ihren Vater zu Simon Arkadjewitsch sagen:

«Man hat mich auf eine Ladung Rosinen aus Smyrna aufmerksam gemacht. Sind Sie daran interessiert?»

«Lassen Sie mich doch in Ruhe! Was soll ich mit Ihren Rosinen anfangen?»

«Regen Sie sich nicht auf, regen Sie sich nicht auf … Ich kann Ihnen billigen Kattun aus Nischni besorgen …»

«Zum Teufel mit Ihrem Kattun!»

«Was würden Sie zu einem Posten Pariser Damenhüte sagen, die nur ein klein wenig beschädigt sind infolge eines Eisenbahnunfalls? Er befindet sich bei der Gepäckaufbewahrung an der Grenze, und man kann ihn zum halben Preis bekommen.»

«Hm … und zu welchem Preis?»

Als sie auf der Straße waren, fragte Ada:

«Werden sie bei uns wohnen, die Tante und die Cousins?»

«Ja.»

Sie gingen einen großen menschenleeren Boulevard entlang. Einige neue Avenuen zogen sich nach einem ehrgeizigen Plan durch die Stadt: Sie waren so breit, daß eine ganze Schwadron zwischen der doppelten Reihe von Lindenbäumen exerzieren könnte, aber nur der Wind durchbrauste sie von einem Ende zum andern, wobei er mit einem schrillen, fröhlichen Pfeifen den Staub vor sich hertrieb. Es war ein Sommerabend unter einem klaren, roten Himmel.

«Eine Frau wird im Haus sein», sagte der Vater endlich, wobei er Ada traurig ansah, «um für dich zu sorgen …»

«Ich will nicht, daß man für mich sorgt.»

Er schüttelte den Kopf:

«Um die Magd am Stehlen zu hindern, und damit du nicht den ganzen Tag mit mir herumziehst …»

«Es macht dir also keinen Spaß?» fragte Ada mit zitternder Stimme.

Sanft legte er ihr die Hand aufs Haar:

«Es macht mir Spaß, aber ich muß ganz langsam gehen, um deine kleinen Beine nicht zu ermüden, und wir Kommissionäre verdienen unser Brot mit Laufen. Je schneller wir laufen, desto schneller gelangen wir zu den Reichen. Andere verdienen mehr Geld als ich, weil sie schneller laufen als ich: sie können ihre Kleinen zu Hause lassen, im Warmen.»

Er dachte:

‹Mit einer Frau …›

Aber von den Toten durfte man nicht sprechen, aus abergläubischer Furcht, Krankheit und Unglück auf sich aufmerksam zu machen (ständig lagen die Dämonen auf der Lauer) und um das Kind nicht zu betrüben. Das Kind hätte noch Zeit genug zu lernen, wie schwer das Leben ist, wie unsicher, stets bereit, uns die kostbarste Habe zu rauben … Und außerdem ist die Vergangenheit die Vergangenheit. Wenn man an sie denkt, verliert man die Kraft, die man zum Leben braucht. Und so mußte Ada heranwachsen, ohne den Namen ihrer toten Mutter richtig zu kennen, ohne je zu ihrem Grab gegangen zu sein, ohne je ein Wort über sie, über ihr kurzes Leben gehört zu haben. Es gab eine verblaßte Photographie im Haus, das Foto eines ganz jungen Mädchens in Schuluniform mit langem schwarzen Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Halb im Schatten eines Vorhangs verborgen, schien das Bild die Lebenden mit einem vorwurfsvollen Blick anzuschauen: ‹Auch ich war so wie ihr›, schienen ihre Augen zu sagen, ‹warum habt ihr Angst vor mir?› Aber so sanft, so schüchtern sie auch sein mochte, sie jagte Angst ein, sie, die in einem Reich wohnte, wo es weder Nahrung noch Schlaf, weder Furcht noch herbe Streitereien gab, also nichts von dem, was das Los der Menschen auf Erden war.

Adas Vater fürchtete sich vor der Ankunft seiner Schwägerin und deren Kinder, aber das Haus war wirklich zu vernachlässigt, zu schmutzig, und es bedurfte einer Frau, die sich um die Kleine kümmerte. Was ihn anging, so fand er sich damit ab, immer nur ein ungebildeter armer Mann zu sein, auch wenn er zur Zeit seiner Heirat ganz andere Träume gehabt hatte … Aber im Grunde war man selbst, waren die eigenen Wünsche unwichtig. Man arbeitet, man lebt, man hofft für seine Kinder. Sind sie nicht das eigene Fleisch und Blut? Ada soll an irdischen Gütern gesegneter sein als er, dann wäre er zufrieden. Er stellte sie sich gut gekleidet vor mit einem schönen bestickten Kleid, einer Schleife im Haar wie die Kinder der Reichen. Woher sollte er denn wissen, wie man ein Kind anzieht? Sie sah altmodisch und kränklich aus in ihren zu weiten und zu langen Kleidern, die er ihr der Qualität des Stoffs halber kaufte, und die Zusammenstellung der Farben war mitunter nicht eben glücklich … Er warf einen Blick auf das Schottenkleid, das sie mit einem von der Köchin Nastassja genähten schwarzen Samtjäckchen trug. Ebensowenig mochte er die Frisur seiner Tochter, diese dichten Ponyfransen auf der Stirn, die bis zu den Augenbrauen reichten, und diese im Nacken unregelmäßig geschnittenen schwarzen Locken. Was für ein dünnes Hälschen … Er nahm es zwischen die Finger und preßte es sanft, und ihm wurde schwer ums Herz vor Zärtlichkeit. Doch weil er Jude war, genügte es ihm nicht, seine kleine Tochter im Traum gut genährt, gut umsorgt und später gut verheiratet zu sehen. Gern hätte er auch irgendein Talent, irgendeine außergewöhnliche Begabung in ihr entdeckt. Könnte sie später nicht eine Musikerin oder eine große Schauspielerin werden? Zwangsläufig waren seine Wünsche begrenzt und bescheiden, da er ja nur ein Mädchen hatte. Ach, welch vergeblicher Wunsch, welch enttäuschte Hoffnung! … Ein Sohn! Ein männliches Wesen! … Gott hatte es nicht gewollt! Aber er tröstete sich mit dem Gedanken an den einen oder anderen seiner Freunde, deren Söhne durchaus nicht ihre alten Tage erfreuten, sondern im Gegenteil ihr Kummer, ihre Schande und die sichtbare Strafe des Ewigen waren: sie befaßten sich mit Politik; sie waren von der Regierung ins Gefängnis geworfen oder in die Verbannung geschickt worden; andere irrten in der Ferne, in fremden Städten umher. Nicht, daß er sich geweigert hätte, Ada später zum Studium in die Schweiz, nach Deutschland oder Frankreich zu schicken … Aber man mußte arbeiten, unermüdlich Geld scheffeln; er schlug in seinem schmierigen kleinen Heft nach, in das er die Art der anzubietenden Waren eintrug, und beschleunigte den Schritt.

3

Am Abend saßen alle in dem engen Eßzimmer dicht beieinander auf dem Ledersofa und tranken Tee; ein Glas nach dem anderen von dem starken, kochend heißen Tee mit einer Zitronenscheibe, während sie gleichzeitig in ein Stück Zucker bissen, bis Ada auf ihrem Stuhl einschlief. Die Küchentür stand immer offen, so daß der Rauch des Herds hereindrang. Nastassja hantierte mit dem Geschirr, stocherte im Ofen, wobei sie manchmal sang oder mit weinseliger Stimme vor sich hin grummelte. Barfuß, ein Taschentuch auf dem Kopf, fett, schwer und träge, verströmte sie den Geruch von Alkohol; sie litt an chronischen Zahnschmerzen, und ihr breites rotes Gesicht war von einem alten verblichenen Tuch umrahmt. Dennoch war sie die Messalina des Viertels, und fast jede Nacht sah man in der Küche vor dem schmutzigen, zerrissenen Vorhang, der ihr Bett verbarg, die Stiefel eines Soldaten der benachbarten Kaserne stehen.

Adas Großvater mütterlicherseits wohnte bei seinem Schwiegersohn. Er war ein schöner Greis, dessen Gesicht ein weißer Bart zierte; er hatte eine lange spitze Nase und eine hohe fliehende Stirn. Sein Leben war seltsam gewesen: Als ganz junger Mann war er aus seinem Ghetto entwischt und durch Rußland und Europa gereist. Doch ihn trieb nicht die Gier nach Gold, sondern der Wissensdurst. Er war ebenso arm zurückgekehrt, wie er weggegangen war, jedoch mit einem Koffer voller Bücher. Sein Vater war tot: er hatte eine Mutter zu ernähren und eine zu verheiratende Schwester. Nie hatte er jemand von seinem Vagabundenleben erzählt, auch nicht von seinen Erfahrungen und Träumen. Er hatte das Geschäft seines Vaters übernommen, der Juwelier gewesen war; er verkaufte bescheidene Silberwaren und jene mit Uralsteinen geschmückten Ringe und Broschen, wie die Neuvermählten in der Unterstadt sie kauften. Doch nachdem er den ganzen Tag hinter dem Ladentisch verbracht hatte, sperrte er, sobald es Abend wurde, seine Tür mit dem Vorhängeschloß und der Kette ab und öffnete den mit Büchern gefüllten Koffer; er nahm einen Stapel Papier, eine alte kratzende Feder und schrieb ein Werk, dessen Ende Ada nie zu Gesicht bekommen sollte und von dem sie lediglich den für sie unverständlichen Titel kannte: «Charakter und Ehrenrettung des Shylock».

Der Laden nahm das Erdgeschoß des Hauses ein, in dem die Sinners lebten. Nach dem abendlichen Tee stieg der Großvater, sein Manuskript unter dem Arm, Tintenfaß und Feder in der Hand, in den Laden hinunter. Auf dem Tisch blakte eine Petroleumlampe; der mit Holzscheiten gefüllte Ofen bullerte und verbreitete seine Wärme und sein rotes Licht. Ada, deren Vater wieder in die Stadt gegangen war, überließ Nastassja den Umarmungen ihres Soldaten und stieg, sich die schläfrigen Augen reibend, zu ihrem Großvater hinunter. Leise schob sie sich auf einen Stuhl an der Wand. Ihr Großvater las oder schrieb. Durch den Türspalt drang ein wenig kalte Luft und ließ die Spitze seines langen Bartes flattern. Diese Winterabende und ihr melancholischer Frieden waren die behaglichsten Augenblicke in Adas Leben. Und die wären mit der Ankunft von Tante Rhaissa und ihren Kindern jetzt verloren.

Tante Rhaissa war eine magere, lebhafte, schroffe Frau mit spitzem Kinn und spitzer Nase, scharfer Zunge, glänzenden Augen, so stechend wie Nadelspitzen; sie war recht stolz auf ihre schmale Taille, die sie außerdem noch mit den hohen Korsetts von damals und einem engen Schnallengürtel einschnürte. Sie war rothaarig, und der Gegensatz zwischen ihrem flammenden Haar und ihrem welken kleinen Gesicht war befremdlich und unangenehm; sie frisierte sich wie die Sängerin Yvette Guilbert mit tausend roten Löckchen auf der Stirn und an den Schläfen. Sie hielt sich ungemein gerade, den dünnen Oberkörper in ihrem Bemühen um Geradheit ein wenig nach hinten biegend, kniff die schmalen Lippen zusammen, während ihre Augen unter den halbgesenkten Lidern durchdringende, schreckliche Blicke schleuderten, denen nichts entging. Wenn sie guter Laune war, blähte sie auf ganz eigenartige Weise den Hals und zuckte leicht mit den Achseln, was an ein langes, feines Insekt erinnerte, das seine Deckflügel bewegt. Mit ihrer Schmalheit, ihrer Lebhaftigkeit und ihrer munteren Bosheit glich sie einer Wespe.

In ihrer Jugend waren Tante Rhaissa die Herzen zugeflogen; zumindest gab sie es leise seufzend zu verstehen. Sie war eine ehrgeizige Person; sie hatte den Besitzer einer Druckerei geheiratet und fühlte sich, seit sie Witwe war, auf einen niedrigeren gesellschaftlichen Rang herabgesunken: Sie, die Intellektuelle gekannt hatte, sagte sie mit einem verächtlichen, hochmütigen Lächeln, das über ihre Lippen huschte, war nur noch eine arme Verwandte! Sie war aus Barmherzigkeit aufgenommen worden! Und sie wohnte – der Gipfel der Erniedrigung – im jüdischen Viertel über einem armseligen Laden!

«Aber du, Isa», sagte sie zu ihrem Schwager, «bist du es nicht deinem Namen schuldig, deine Kinder an einem weniger schmutzigen, weniger verrufenen Ort zu erziehen? Du scheinst es vergessen zu haben, aber so lange ich lebe, werde ich mich daran erinnern, daß der Name meines armen Mannes und folglich auch der deine Sinner lautet.»

Ada hörte ihr zu, auf ihrem gewohnten Platz auf dem alten Sofa zwischen ihrer Cousine Lilla und ihrem Cousin Ben sitzend. Es war wohl kurz nach Tante Rhaissas Ankunft und eines von Adas ersten Erinnerungen. Man trank den abendlichen Tee. Ihr Großvater, ihr Vater und Tante Rhaissa saßen auf Rohrstühlen mit schwarzer Rückenlehne, die man – warum, hatte sie nie erfahren – «Wiener Stühle» nannte, obwohl sie beim Trödler auf dem Marktplatz gekauft worden waren, während die Kinder auf dem braunen Lederkanapee saßen. Das Haus war Ada immer düster und unwirtlich vorgekommen, was es in Wirklichkeit auch war … Es war ein altes Gebäude; seine vier Zimmer waren von schwach beleuchteten schmalen Fluren und tiefen Wandschränken umgeben, und die Räume lagen nicht auf gleicher Höhe, so daß man, um durch die Wohnung zu gehen, wacklige Stufen hinauf- und hinuntersteigen und eiskalte, mit Ziegelsteinen gepflasterte Verschläge passieren mußte, die keinem bestimmten Zweck dienten und in die, sobald es Abend wurde, durch eine Luke der fahle, zitternde Schein einer Laterne im Hof drang. Ada hatte oft Angst in diesem Haus, aber das Sofa war ein Zufluchtsort: dort spielte sie; dort wartete sie auf die Rückkehr ihres Vaters; dort schlief sie am Abend ein, während um sie herum geredet wurde, ohne daß man daran dachte, sie ins Bett zu schicken. Sie versteckte hinter den Kissen alte Bilder, zerbrochenes Spielzeug – ihr liebstes – und Buntstifte. Das Sofa war abgewetzt; das zerkratzte Leder hing stellenweise in Fetzen herab; die Sprungfedern quietschten. Aber sie liebte es. Jetzt würde Ben darauf schlafen; sie fühlte sich beraubt und enteignet.

Sie hielt ihre volle Tasse Tee mit beiden Händen und blies so beflissen darauf, daß ihr kleines Gesicht in dem großen Gefäß zu verschwinden schien, und man sah nur noch die dicken Ponyfransen ihres braunen Haars.

Ihre Tante schaute sie an und sagte, da sie freundlich sein wollte:

«Komm her, Adotschka. Ich werde dir die Haare mit einer hübschen Schleife zusammenbinden, mein Liebes.»

Gehorsam stand Ada auf, aber sie mußte erst Platz finden in dem schmalen Gang, der noch frei war zwischen den Beinen der Anwesenden und dem Tisch, um den sie langsam herumging. Als sie bei ihrer Tante angelangt war, hatte diese sie vergessen. Ada schob sich auf die Knie ihres Vaters und hörte den Erwachsenen zu, wobei sie versuchte, ihren Finger in die Rauchkringel zu stecken, die aus der Zigarette ihres Vaters herauskamen; sie bildeten bläuliche kleine Dunstringe, die verschwanden, sobald sie die Hand vorstreckte.

«Wir sind Sinners», sagte Tante Rhaissa stolz. «Wer in dieser Stadt ist der reichste Mann? Der alte Salomon Sinner. Und in Europa?»

Sie wandte sich Adas Großvater zu:

«Und Sie, Jesekiel Lwowitsch, der Sie viel gereist sind, haben Sie die Paläste der Familie in London und in Wien gesehen?»

Adas Vater sagte mit einem verwirrten kleinen Lachen:

«So nah verwandt sind wir gar nicht.»

«Wirklich? Nicht so nah? Und warum nicht, wenn ich bitten darf? War deine eigene Großmutter nicht die Cousine des alten Sinner? Beide liefen barfuß im Schlamm herum. Dann hat sie deinen Großvater geheiratet, der in Berditschew ein Geschäft für Kleider und alte Möbel hatte.»

«Die nennt man Trödler», sagte Ben plötzlich.

«Sei still», sagte die Mutter streng, «du weißt nicht, was du sagst! Trödler tragen alte Kleider auf dem Rücken und gehen damit in den Höfen von Tür zu Tür. Aber dein Großvater hatte einen Laden und einen Gehilfen. In guten Jahren sogar zwei. Während dieser Zeit hat Salomon Sinner gearbeitet, ist reich geworden, und seine Söhne hatten Erfolg und sind noch reicher geworden, so daß ihr Vermögen heute wohl dem der Rothschilds gleichkommt.»

Doch hier merkte sie an der ungläubigen Miene, mit der man ihr zuhörte, daß sie zu weit gegangen war.

«Sie haben ein paar Millionen weniger als die Rothschilds, zwei oder drei, ich weiß nicht mehr, aber sie sind über die Maßen reich, und wir sind verwandt. Das darf man nicht vergessen. Wenn du unternehmender wärst, mein armer Isa, und wenn du diese Miene eines geprügelten Hundes ablegen würdest, die du den Worten deines Bruders zufolge seit deiner Geburt schon immer gehabt hast, dann könntest du in dieser Stadt jemand sein. Geld ist Geld, aber Geburt ist Geburt.»

«Geld …», sagte der Vater sanft.

Er seufzte, er lächelte schwach. Alle schwiegen. Er goß ein wenig Tee in seine Untertasse und trank ihn nickend. Geld tat allen gut, aber für den Juden war es ebenso notwendig wie Wasser, wie Luft. Wie ohne Geld leben? Wie die Schmiergelder bezahlen? Wie die Kinder zur Schule schicken, wenn der Prozentsatz der Zulassungen überschritten war? Wie die Genehmigung erhalten, hierhin oder dorthin zu gehen, dies oder das zu verkaufen? Wie dem Militärdienst entkommen? O mein Gott, wie ohne Geld leben?

Der Großvater bewegte leicht die Lippen und suchte in seinem Gedächtnis nach dem Zitat eines Psalms, das er für Kapitel XII, Absatz 7, seines Werks benötigte und das sich ihm entzog. Das Gerede der Familie war für ihn, als existierte es nicht. Die Außenwelt war nur für gewöhnliche Menschen von Bedeutung, die es nicht verstanden, sich in die uneigennützigen Meditationen und die reinen Spekulationen des Geistes zu versenken.

Tante Rhaissa betrachtete mit unverhohlenem Widerwillen dieses armselige, unordentliche Zimmer voller Rauch, den der Luftzug aus der Küche hereindrückte. Die dunkelgrüne, mit silbernen Palmen verzierte Tapete war schmutzig und zerrissen. Der einzige Plüschsessel war abgewetzt und wackelte. Man hörte die unmenschlichen Schreie eines Betrunkenen, den die Gendarmen am Flußufer verprügelten. Sie setzte jetzt keine Hoffnungen mehr in ihre eigenen Kräfte, um ihr Vermögen zu vergrößern. Früher hatte sie ihr Möglichstes getan. Als junges Mädchen hatte sie sich nicht mit den guten Diensten des Heiratsvermittlers begnügt; sie war selber auf die Suche nach einem Ehemann unter den Studenten der Stadt gegangen, die aufgrund ihrer Intelligenz, ihrer Ernsthaftigkeit eine gute Stellung zu erreichen versprachen; mehrmals hatte sie die Jagd wiederholt, ohne müde zu werden … bis endlich einer von ihnen in die Falle gegangen war – und welche Mühen hatte sie auf sich genommen! Wie viele seidene Unterröcke geduldig gesäumt, wie viele alte Hüte umgemodelt, auf ihrem Zimmer in der Stille der Nacht! Wie viele lange Spaziergänge auf der Hauptstraße ihrer Geburtsstadt, wo in der Dämmerung die heiratsfähigen jungen Mädchen und die jungen Männer umherstolzierten! Wie viele verstohlene Blicke, wie viele stumm hinuntergeschluckte Beleidigungen, wie viele Listen, wie viele lange, geduldige Überlegungen, um den Erwählten schließlich schöneren und reicheren Freundinnen auszuspannen! Welch grausamer und stiller langer Krieg! Was aber konnte sie heute tun, eine arme wehrlose Witwe? Sie war alt, und der nach so vielen Kämpfen, so vielen Intrigen eroberte Ehemann – ein guter Ehemann, die erste Druckerei der Stadt – war plötzlich gestorben und hatte ihr zwei Kinder hinterlassen, die hübsche zwölfjährige Lilla und diesen Taugenichts Ben! Lilla war ihre einzige Hoffnung.

Lilla, brünett, mit hellem Teint, einem zarten und ernsten hübschen Gesicht, das Haar im Nacken mit einer flachen großen Schleife aus schwarzem Satin zusammengebunden, im Schulmädchenkleid, und Ben, mit langen schwarzen Locken, einem dünnen, durchsichtigen Hals, saßen kerzengerade nebeneinander und sahen mit neugierigen, erschrockenen Blicken um sich. Im übrigen wirkte Ben weniger furchtsam als spöttisch. Er war sechs Jahre alt und klein für sein Alter, doch ließen ihn ein sarkastischer, scharfsinniger, bitterer Ausdruck, falls solche Gefühle bei einem so kleinen Wesen überhaupt möglich waren, älter erscheinen. Mitunter erinnerte er an einen kränkelnden, listigen Affen. Nie blieb sein Gesicht ruhig; ständig zuckte es. Er sprach wenig, aber seine Blicke, sein Lächeln waren beredt; seine Hände und seine Lippen waren ständig in Bewegung. Nacheinander imitierte er seine Mutter, seinen Onkel, den Großvater, nicht nur aus Spottlust, sondern aus unbewußter Anpassung. Alles begeisterte ihn; er hob den Deckel der Zuckerdose an, um eine Fliege zu betrachten, die darin gefangen war; er kniff die Augen zusammen, schnitt eine schreckliche Grimasse, beugte sich vor, um die Bewegung ihrer kleinen Beine besser sehen zu können, fing sie in seiner Hand und ließ sie in Adas Tasse fallen. Er brachte die Uhr seines Onkels an sich, öffnete sie mit seinen flinken Fingern und setzte die Zeiger in Bewegung. Hin und wieder glitt er von seinem Platz; er näherte sich dem Fenster, preßte sein blasses und spitzes kleines Gesicht an die Scheiben, aber sie waren vereist; lebhaft drehte er den Kopf nach rechts und links, und sein Atem bildete in den Eisblumen einen feuchten, dunklen Kreis, so daß er die Straße sehen konnte, wo alle Läden erloschen waren und keine Menschenseele vorbeikam; er kehrte zu Lilla zurück.

An der verräucherten alten Decke hielt Ada im Dunkeln unter den Flecken Ausschau nach einem schmalen weißen Gesicht, das nur für sie zu sehen war und das sie wahrnahm, wenn sie sich in einem bestimmten Winkel neigte; und das Gesicht beugte sich zu ihr herab und gab ihr ein geheimnisvolles Zeichen. Ada lächelte, lehnte sich an die Schulter ihres Vaters; sie schloß die Augen und schlief ein.

4

Ada war sieben Jahre alt; allmählich hatte sie sich daran gewöhnt, mit ihrer Tante und ihren Cousins zu leben. Lilla und Ben ließen sie in Ruhe. Ihre Tante kümmerte sich um sie nur in Gegenwart des Vaters, der sie nun, da über ihr Geschick unbesorgt, nie mehr mitnahm. Sie lebte daher viel einsamer als in der Vergangenheit und spielte schweigend auf dem alten Sofa oder im Hof. Sonntags ging Lilla mit ihrer kleinen Cousine aus; es war bequem, bei den Stelldicheins, die die Gymnasiasten der Stadt ihr gaben, auf dieses kleine Mädchen zählen zu können, das gehorsam vorneweg ging, nie petzte und bei der Rückkehr jede gewünschte Lüge erzählte.

Die Halbwüchsigen trafen sich im Winter in den Konditoreien (sie waren in dem Alter, in dem die Liebe den Appetit anregt); dort verzehrten sie eine erschreckende Menge mit Creme gefüllter und mit rosa Zuckerguß überzogener kleiner Herzen, von denen man Ada großzügig einen Teil anbot; man mußte aufpassen, beim Essen keine Krümel in die Falten des Mantels fallen zu lassen, da das den scharfen Augen der Mutter nicht entginge. Diese sagte nämlich mit einem sarkastischen Hohnlächeln, wenn sie von Lilla sprach:

«Meine Tochter wird mich nicht hintergehen. Ein Zigeuner läßt sich nicht bestehlen.»

Diese Redensart bedeutete, daß keiner gerissener sein kann als derjenige, der selber die schlimmsten Betrügereien begangen hat. Zwar schien Tante Rhaissa zu wissen, wovon sie sprach, doch nie bemerkte sie bei Lillas Rückkehr ihre roten Wangen, die Ringe unter ihren Augen und ihr wirres Haar. Im Sommer trafen sich die Jugendlichen in den öffentlichen Anlagen und Gärten der Stadt. Staubige Sommer, in denen rings um den Musikpavillon die Mädchen Arm in Arm spazierengingen, flache Strohhüte auf dem Kopf, die Schürze über der keimenden Brust gespannt, mit über den Hüften sich bauschendem Kleid, und die Knaben in hellen Kitteln, den mit dem kaiserlichen Adler geprägten Gürtel um die Taille geschlungen und das Käppi mit siegesgewisser Miene in den Nacken geschoben. Zärtliche Blicke und Liebesbriefe wurden gewechselt. Die Blechinstrumente der Militärkapelle schmetterten im rosigen Abend. Die Schulaufseher gingen hin und her und belauerten das Liebestreiben: die Sitten waren streng. Aber man entwischte den Aufsehern; man traf sich hinter den Gittern, wenn die Nacht hereinbrach. Langsam ging man den langen, menschenleeren Boulevard hinunter, wo allein, sein Glöckchen schwingend, der Eisverkäufer vorbeikam. Ada nahm von ihrer Cousine eine kleine Tüte Schokoladeneis in Empfang und lief dem Paar voraus, spähte in die verdächtigen Schatten der Häuser und pfiff, sobald sie einen Passanten erblickte, während das Eis im warmen Abend langsam schmolz.

An einem Frühlingstag waren Lilla und ihr Verehrer, mit Ada im Schlepptau, im Botanischen Garten spazierengegangen. Es war ein ziemlich verwahrloster Ort. In den Eisenkäfigen lebten ein paar schläfrige Tiere; ein von Ungeziefer zerfressener Kaukasus-Adler, Wölfe, ein vor Durst hechelnder Bär. Einer der Käfige war leer: seine Insassen, Füchse, hatten angeblich vor ein paar Jahren Gänge in den Boden gegraben und waren entflohen. Zurück blieben lediglich Eisenstäbe, ein großer rostiger Riegel und das Schild: «Füchse», das im Wind schaukelte. Aber Ada hoffte immer, daß eines der Füchslein zurückkehren werde. Sie preßte ihr Gesicht an das Gitter und rief vergeblich:

«Kommt her, zeigt euch, ich sag auch niemand, daß ihr da seid!»