WALLANDERS WELT

Mit einem Vorwort
von Henning Mankell

Aus dem Schwedischen übersetzt
und für die deutsche Ausgabe bearbeitet
von Annika Ernst

Wie es anfing, wie es endete und was dazwischen geschah

Vorwort von Henning Mankell

In einem Karton ganz unten im Keller liegen ein paar staubige Tagebücher. Sie reichen zeitlich weit zurück. Seit 1965 ungefähr habe ich Tagebuch geschrieben, mit unregelmäßiger Regelmäßigkeit, könnte man sagen. In ihnen gibt es alles, von aphoristischen Versuchen bis zu reinen Notizen über Dinge, die ich möglichst am darauffolgenden Tag nicht vergessen haben wollte. Die Tagebücher sind voller Lücken, manchmal monatelang. Doch bisweilen habe ich jeden Tag geschrieben.

So auch im Frühjahr 1990. Ich war von einem längeren Aufenthalt in Afrika zurückgekehrt, wo ich damals halbjahresweise wohnte. Zu Hause stellte ich schnell fest, dass sich rassistische Tendenzen in Schweden erschreckend verbreitet hatten, während ich fort war. Unser Land ist niemals ganz frei von diesem gesellschaftlichen Übel gewesen. Aber jetzt sah ich, dass es dramatische Ausmaße angenommen hatte. Einige Monate später beschloss ich, über Rassismus zu schreiben. Eigentlich hatte ich andere Pläne gehabt, aber dies schien mir wichtig.

Viel wichtiger.

Als ich darüber nachdachte, welche Art von Geschichte es werden sollte, kam ich schnell zu dem Schluss, dass ein Kriminalroman das Natürlichste wäre. Ganz einfach deshalb, weil in meiner Auffassung rassistische Handlungen kriminell sind. Die logische Folge war, dass ich einen Ermittler brauchte, einen Kriminalexperten, einen Polizisten.

An einem Tag im Mai 1990 schreibe ich in mein Tagebuch – kaum lesbar für jemand anderen als mich selbst: »Der wärmste Tag in diesem Frühling. Bin über die Felder gegangen. Viel Vogelgesang. Mir wurde klar: Dem Polizisten, den ich beschreiben will, muss bewusst sein, wie schwer es ist, ein guter Polizist zu sein. Verbrechen verändern sich in dem Maße, wie eine Gesellschaft sich verändert. Wenn er seine Arbeit gut machen soll, muss er wissen, was in der Gesellschaft passiert, in der er lebt.«

Ich wohnte damals in Skåne, mitten im sogenannten »Wallanderland«, auf einem Hof am Rande des Dorfes Trunnerup. Vom Hofplatz aus konnte ich das Meer und viele Kirchtürme sehen. Als ich von meinem Spaziergang zurückkam, holte ich das Telefonbuch heraus. Zuerst fand ich den Vornamen Kurt. Er war kurz und angenehm normal. Dazu würde ein längerer Nachname passen. Ich suchte lange und landete bei Wallander. Auch das klang weder zu gewöhnlich noch zu ungewöhnlich.

So sollte er also heißen, mein Polizist. Kurt Wallander. Und ich gab ihm das gleiche Geburtsjahr, das ich habe, 1948. (Auch wenn Pedanten meinen, dass dies nicht in allen Büchern so ist. Sicherlich nicht, möchte ich sagen. Aber was stimmt schon im Leben?)

Alles, was man schreibt, reiht sich in eine Tradition ein. Autoren, die glauben, außerhalb jeder literarischen Tradition zu stehen, lügen. Man wird nicht aus dem Nichts heraus Künstler.

Als ich überlegte, wie ich Mörder ohne Gesicht schreiben sollte, merkte ich, dass die beste und elementarste »Kriminalgeschichte«, die ich mir vorstellen konnte, das klassische griechische Drama ist. Diese Tradition ist mehr als zweitausend Jahre alt. Ein Stück wie Medea, das von einer Frau handelt, die ihre Kinder tötet, weil sie eifersüchtig auf ihren Mann ist, zeigt den Menschen im Spiegel des Verbrechens. Es verdeutlicht die Gegensätze und Widersprüche, die es zwischen uns und in uns gibt. Zwischen Individuen und Gesellschaft, zwischen Traum und Wirklichkeit. Manchmal schlagen diese Spannungen in Gewalt um, zum Beispiel als Rassenkämpfe. Und dieser Spiegel des Verbrechens geht zurück bis zu den griechischen Autoren. Sie inspirieren uns noch heute. Der einzige Unterschied zwischen damals und heute ist, dass es damals noch kaum ein Polizeiwesen gab. Konflikte wurden auf andere Weise gelöst. Oft waren es die Götter, die über die Schicksale der Menschen bestimmten. Aber das ist eigentlich der einzige grundlegende Unterschied.

Der große dänisch-norwegische Autor Aksel Sandemose hat einmal sinngemäß gesagt: »Das Einzige, worüber es sich lohnt zu schreiben, sind Liebe und Mord.« Vielleicht hat er Recht. Hätte er noch Geld hinzugefügt, dann hätte er eine Dreieinigkeit geschaffen, die auf die eine oder andere Weise in jedem Stück Literatur enthalten ist, heute wie damals und vermutlich auch in Zukunft.

Ich habe den Roman ohne jeden Gedanken daran geschrieben, dass es mehrere Wallander-Bücher werden könnten. Aber nachdem der Roman herausgekommen war und zudem einen Preis bekommen hatte, begriff ich, dass ich möglicherweise ein Instrument gefunden hatte, auf dem sich weiter spielen ließe. Es kam zu einem weiteren Buch, Hunde von Riga, das davon erzählt, was nach dem Fall der Berliner Mauer in Europa geschah. Ich flog nach Riga und dachte danach immer wieder, ich müsste eigentlich auch ein Buch über diese Wochen schreiben, die ich in Lettland verbracht hatte. Es war eine merkwürdige Zeit. Die Spannungen zwischen Russen und Letten waren noch nicht explodiert. Aber als ich mit einem lettischen Polizisten sprechen wollte, musste dies heimlich in einer spärlich beleuchteten Kneipe geschehen. Viel von der Atmosphäre bekam ich zwangsläufig mit, weil es so schwierig war, sich in einem Land zu bewegen, in dem diese politischen Spannungen schwelten.

Doch auch nach dem zweiten Buch war ich noch nicht davon überzeugt, dass es eine Fortsetzung der Serie über Kurt Wallander geben würde. Aber am 9. Januar 1993 setzte ich mich in meiner kleinen Wohnung in Maputo hin, um mein drittes Buch zu schreiben. Es sollte Die weiße Löwin heißen und von der Situation in Südafrika handeln. Nelson Mandela war einige Jahre zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden. Doch noch immer herrschte große Angst davor, dass ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte, der das Land ins Chaos stürzen würde. Man brauchte nicht lange nachzudenken, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Ermordung Mandelas das Schlimmste wäre, was jetzt hätte passieren können. Dann wäre ein Blutbad durch nichts mehr zu verhindern gewesen.

Kurz bevor ich mich daransetzte, das Buch zu schreiben, wurde ich sehr krank. Ich hatte mich schon länger kränkelnd durch Maputo geschleppt, müde, bleich und schlaflos. Hatte ich vielleicht Malaria? Aber bei den Tests wurden keine Parasiten in meinem Blut gefunden. Da traf ich eines Tages einen Freund, der mich ansah und sagte: »Du bist ja ganz gelb im Gesicht!«

Ich erinnere mich nicht, wie ich ins Krankenhaus in Johannesburg gekommen bin. Dort wurde eine aggressive Gelbsucht festgestellt, die ich allzu lang verschleppt hatte.

Ich lag im Krankenhaus und dachte mir nachts die Geschichte aus. Als ich gesund war und nach Maputo zurückfahren konnte, hatte ich sie so weit fertig. Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb ich die letzte Seite zuerst. Dort wollte ich hin!

Am 10. April desselben Jahres, als ich das Manuskript bereits an meinen Verleger geschickt hatte, bestätigte sich auf schreckliche Weise, dass ich richtiggelegen hatte. Ein fanatischer Apartheidsanhänger erschoss am Karfreitag Chris Hani, den Sprecher der kommunistischen Partei Südafrikas und zweiten Mann des African National Congress. Ein Bürgerkrieg brach dank Nelson Mandelas kluger Politik nicht aus. Aber ich frage mich noch heute, was geschehen wäre, wenn nicht Chris Hani, sondern Mandela das Opfer gewesen wäre.

Über die Wallander-Romane wird manchmal gesagt, dass sie Ereignissen vorgegriffen haben, die später tatsächlich eingetreten sind. Ich glaube, das stimmt. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nicht unmöglich ist, in gewisser Weise die Zukunft zu erahnen. Dass wir es in Schweden und Westeuropa mit einer neuen Form der Kriminalität zu tun bekommen würden, wenn die Sowjetunion zusammenbrach und die Ostblockstaaten geöffnet würden, schien mir selbstverständlich. Und so kam es auch. Dem Roman Der Mann, der lächelte liegt der schlimmste Raub zugrunde, den man begehen oder der an einem begangen werden kann, und das heißt eben nicht, dass jemandem sein Besitz gestohlen wird. Hier wird ein Teil eines Menschen gestohlen, ein Organ, das dann zu Transplantationszwecken weiterverkauft wird. Als ich anfing dieses Buch zu schreiben, wusste ich, dass ein solcher Handel zunehmen würde. Heutzutage ist es eine gut laufende Industrie, die stetig wächst.

Natürlich habe ich mich gefragt, warum Wallander in so vielen verschiedenen Ländern und Kulturen so beliebt geworden ist. Was führte eigentlich dazu, dass er zum Freund so vieler Menschen wurde? Eine eindeutige Antwort gibt es wohl nicht. Aber vielleicht gibt es Teilerklärungen. Hier eine, die mir am wahrscheinlichsten scheint:

Vom ersten Augenblick an, schon während jenes Frühlingsspaziergangs über die Felder, war mir klar, dass ich einen Menschen schaffen musste, der so war wie ich und wie der unbekannte Leser. Ein Mensch, der sich ständig veränderte, sowohl mental als auch physisch. Genauso wie ich mich stetig änderte und entwickelte.

Dies führte bald zu dem, was ich etwas ironisch das »Diabetessyndrom« nenne. Nach dem dritten Roman fragte ich Victoria, eine befreundete Ärztin, die die Bücher gelesen hatte: »Welche Volkskrankheit würdest du diesem Mann geben?« Ohne zu zögern, antwortete sie: »Diabetes.«

So bekam Wallander Diabetes, als ich das nächste Mal über ihn schrieb. Und das machte ihn noch beliebter.

Niemand kann sich vorstellen, dass James Bond auf der Jagd nach einem Schurken plötzlich stehen bleibt, um sich Insulin zu spritzen. Aber Wallander kann das tun, und deshalb ist er ein Mensch wie jeder andere auch; einer, der von Krankheiten, Schwächen und Problemen heimgesucht wird. Er hätte Rheuma oder Gicht bekommen können, Herzrhythmusstörungen oder gefährlich hohen Blutdruck. Aber es wurde Diabetes, und daran leidet er bis zum Schluss, auch wenn er die Krankheit unter Kontrolle hat.

Natürlich gibt es noch andere Gründe dafür, dass Wallander so viele Leser hat. Aber ich glaube, das Ausschlaggebende ist seine Wandelbarkeit. Es ist eigentlich ganz einfach: Ich kann nur Bücher schreiben, die ich auch selbst lesen möchte. Und eine Geschichte, in der ich entweder schon nach der ersten Seite alles über die wichtigste Person weiß oder merke, dass mit ihm oder ihr auf den nächsten tausend Seiten nichts passieren wird, könnte ich nicht lesen.

In der Welt der Kunst kann man sich Freunde machen. Sherlock Holmes bekommt noch immer Briefe in die Baker Street in London. Ich selbst bekomme Briefe, E-Mails und Anrufe aus vielen Ländern. Ich werde auf der Straße angesprochen, in Göteborg wie auch in Hamburg. Es sind freundliche Fragen, und ich antworte, so gut ich kann.