Vor einem Jahr wurde Olivia von Sassen unter mysteriösen Umständen von Berlin nach Mannheim versetzt. Seither ermittelte sie in zwei Fällen an der Seite des waschechten Mannheimers Moritz Martin. Doch nun holt sie ihre Vergangenheit ein. Die Umstände, weshalb sie Berlin verlassen musste, werden für die junge Kommissarin zu einer tödlichen Bedrohung.
Als eine Leiche im Luisenpark gefunden wurde, ahnt Olivia noch nicht, dass dies ihr persönlichster Fall werden wird, in dem sie selbst in die Schusslinie gerät. Darüber hinaus wirft ein obskures Pentagramm am Tatort Fragen auf. Hat es das Mannheimer Team dieses Mal mit einem Ritual-mord zu tun? Schnell gerät Olivia selbst ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Sie alleine kennt die wahre Identität des Toten und darf darüber zu niemandem ein Wort verlieren. Die Schlinge zieht sich um sie zu, bis sie direkt mit ihrer Berliner Vergangenheit konfrontiert wird. Wie damals stellt sich für sie die Frage nach Leben und Tod.
Alexander Emmerich, Jahrgang 1974, arbeitet seit 2007 als Autor für Sachbücher, Drehbücher und Hörbücher. 2011 wurde er mit dem Ohrkanus-Hörbuchpreis ausgezeichnet. Mit „Mauerfall“ setzt er die Krimi-Reihe um Olivia von Sassen fort.
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und Sachverhalten sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-7650-2113-8
Dieser Titel ist auch als Printversion erschienen: ISBN 978-3-7650-8802-5
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Sie ist so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst.
Die Rache.
Obwohl sie gesellschaftlich verpönt ist, sitzt sie tief in jedem Einzelnen von uns. Es ist beinahe so, als gehöre Rache zu unserem genetischen Code. Nicht zuletzt schlägt sie sich auch in unseren Redewendungen und Sprichwörtern nieder und belegt damit ihre Allgegenwärtigkeit. So sprechen wir davon, dass Rache die Seele befreie. Wenn es darum geht, wie man sich am besten rächt, kann man sich an die Redewendung halten, dass Rache am besten kalt serviert wird. Und schließlich personifiziert man Rache beinahe, indem man davon spricht, dass Rache süß und gefährlich sei.
Sie wird bisweilen als die erste und roheste Offenbarung des Rechtsgefühls bezeichnet. Andere würden sagen, dass es für sie Rache ist, wenn man es jemand anderem so richtig heimzahlt.
Wir üben Vergeltung für eine massive seelische Verletzung, wenn wir uns rächen. Doch Rache geht noch viel weiter als Vergeltung. Wenn wir uns betrogen, zunächst ohnmächtig und später gekränkt fühlen, dann entwickeln sich Gedanken an eine Revanche. Ein Racheplan wird geschmiedet.
Jeder Rache geht ein Verlust voraus. Die Ehre, das Selbstwertgefühl, die große Liebe – alles kann unwiederbringlich ruiniert werden und das Verlangen entfachen sich Befriedigung zu verschaffen.
Sind wir angegriffen, wurden erniedrigt oder ausgenutzt, dann wollen wir mit einem Akt der Rache für Gerechtigkeit sorgen. Der Drang, Gerechtigkeit wieder herzustellen, bestimmt unser Handeln und setzt sich tief in unserer Seele fest. Fortan und immer wieder. Vergeltung spielt eine wichtige Rolle für die seelische Gesundheit. Kränkungen und Verluste lassen sich besser verarbeiten, wenn man sich rächt. Wer den Wunsch nach Vergeltung immer wieder unterdrückt, wird letztlich krank vor Schmerz.
Rachegelüste sind keine Seltenheit, und Rache ist nicht nur Bestandteil einiger Kulturen. Rache ist der Ausdruck einer grundlegenden menschlichen Notwendigkeit, erlittenes Unrecht durch eigenes Handeln auszugleichen. Das Opfer rächt sich, indem es selbst zum Täter wird. Die Grenzen verschwimmen. Der Akt der Vergeltung schafft Genugtuung.
Rache ist wie ein Ventil, das den Überdruck des angestauten Ärgers ablässt.
So sehr Rache als Motiv in der Menschheitsgeschichte seit Anbeginn existiert, so sehr ist sie heute gesellschaftlich geächtet. Wir haben Achtung vor dem Gesetz, das Rache verbietet. Es definiert Rache als Mordmerkmal in Form eines niederen Beweggrundes. Wer aus Rache tötet, gilt als Mörder, nicht als Totschläger. Weil man sich für zivilisiert hält, belässt man es bei wilden Fantasien über Rache als Ausgleich für die erlittene Schmach. Reichen diese Fantasien nicht aus, schreitet mancher zur Tat.
Haben Kränkungen den Kern des Selbstwertgefühls empfindlich getroffen, entsteht der unbändige Wunsch, dem anderen zu schaden. Aus Verletzung wird Zorn, aus Zorn Berechnung und aus Berechnung Rache.
Eigenhändig die Rachegelüste auszuleben und den anderen zu strafen, hinterlässt eine Befriedigung. Die Bibel beschreibt ein tiefes, menschliches Bedürfnis, wenn es im Alten Testament im Buch Exodus heißt: »So sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.«
Gemeinhin wird dieser Ausspruch mit der Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« übersetzt. Das Teilzitat wird meist als Anweisung für das Opfer oder seine Vertreter aufgefasst, dem Täter Gleiches mit Gleichem »heimzuzahlen«. In archaischen Zeiten sollte diese Gesetzesregelung vor allem die Blutrache, die Vendetta, eindämmen. Doch noch heute existiert die Blutrache. Dabei soll ein Verbrechen mit dem Tod des Täters gesühnt werden. Koste es, was es wolle.
***
Gerade ging die Sonne unter. Jetzt, im Frühjahr, spürte man dies schlagartig. Solange die Sonne auf einen hernieder schien, reichte ihre Kraft bereits aus, um zu wärmen. Sobald sie aber weg war, wurde es kalt.
So erging es auch dem dunkel gekleideten Mann, der seit einer Stunde hinter einem Gebüsch im Luisenpark auf der Lauer lag. Er war umgeben von grünen Sträuchern, die bereits grüne Blätter trugen, von weißen, roten und blauen Blüten und von Büschen, die sich noch tief im Winterschlaf befanden. Hier und da war eine erste Knospe zu erkennen. Aber erst in wenigen Wochen würden die Pflanzen des Parks voll erblühen.
Der Mann hatte eine Weile gebraucht, um eine geeignete Stelle für sich zu finden. Nun verharrte er in seiner Position und wünschte sich, zwanzig Jahre jünger zu sein. Früher war er einmal sportlich, kräftig und durchtrainiert gewesen. Das konnte man seinem Körper und seiner Haltung noch immer ansehen. Aber er war nicht mehr der Jüngste. Das spürte er jeden Tag. Vor allem die gebückte Haltung machte ihm zu schaffen. Doch er ertrug diesen Zustand mit eiserner Disziplin, so wie er es vor vielen Jahren gelernt hatte.
Der Mann hatte unbedingt vor seinem Opfer am vereinbarten Treffpunkt sein wollen, denn für ihn ging es um Leben oder Tod. Er war fest entschlossen und würde mit allen Mitteln sein Geheimnis schützen. Und er musste davon ausgehen, dass auch das Opfer früher kommen oder Verstärkung mitbringen würde. Allein deshalb war es notwendig, hinter dem Gebüsch zu kauern und der Dinge zu harren.
Dort, im Stillen hinter dem Rhododendron, wunderte er sich über die Begebenheiten der letzten Tage. Vor zwei Tagen hatte er noch ein anderes Opfer im Visier. Alles war nach Plan verlaufen. Nach einer akribischen Recherche, die ihn mehrere Monate in Beschlag nahm. Nun hatte eine kleine Begegnung alles verändert. Das Schicksal hatte die Karten neu gemischt. Wählerisch konnte er nicht sein. Er musste handeln. Das hatte er immer getan. Und es hatte ihm immer einen entscheidenden Vorteil beschert.
Einen Moment lang schweiften seine Gedanken ab, als er so hinter dem Gebüsch kauerte. Er dachte an das andere Opfer, das er sich gleich danach vornehmen würde.
»Eins nach dem anderen. So wie früher, in der guten, alten Zeit«, dachte er bei sich.
Der Gedanke an die Vergangenheit beruhigte ihn. Damals bestimmten solche Situationen seinen Alltag. Er konnte das. Er hatte es schon hundertmal getan. Es gab nur einen Unterschied zu damals: Heute legte keiner schützend seine Hand über ihn. Heute musste er genau deshalb vorsichtig sein.
Es dämmerte bereits. Die Sonne war nicht mehr zu sehen und bereits hinter der Pflanzenwelt und der Kulisse Mannheims verschwunden. Ohne das wärmende Licht und im Schatten der Büsche wurde es dem Mann kalt. Eine kühle Feuchte durchzog seinen Körper bis auf die Knochen. Es fröstelte ihn, und er merkte, wie seine Hände steif wurden. Schließlich war es erst Anfang April und der Sommer noch weit entfernt.
Lange Zeit hatte er in Deckung verharrt, ohne dass etwas geschehen war. Vor fünf Minuten konnte er endlich sein Opfer am Treffpunkt erkennen. Es hätte gereicht, eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit da zu sein. Aber sein Ausbilder hatte ihm damals eingebläut, dass auch die Opfer früher kommen könnten. Deshalb sollte man seine Arbeit immer zeitig beginnen und sich in Geduld üben.
Von seiner Position aus konnte er das Opfer durch den Rhododendron hindurch beobachten. Es stand wartend am verabredeten Treffpunkt und blickte umher. Was es mit ihm vorhatte, wusste er nicht. Er fürchtete jedoch das Schlimmste. Und genau deshalb musste er handeln. Ihm blieb keine andere Wahl. Diese Situation durfte er nicht auf die leichte Schulter nehmen.
»Unterschätze niemals deine Opfer«, hatte sein Ausbilder damals auch noch gesagt, »niemals!«
Er blickte noch einmal nach oben in den Himmel. Das Tageslicht war verschwunden und das Firmament färbte sich dunkel. Nun war der Moment gekommen. Er musste vorsichtig sein.
Seine Aufregung äußerte sich vor allem darin, dass er zu schwitzen begann. Das war auch früher schon so gewesen, wenn er sich in ähnlichen Situationen befand. Und heute war es wieder so. Abgesehen davon war er ruhig und besonnen. Weder zitterte er, noch beschleunigte sich sein Atem.
Erneut wischte er sich den Schweiß von der Stirn, holte tief Luft und umklammerte sein Messer. Das Opfer wartete in drei Metern Entfernung. Es ging den kleinen Weg am Gebirgsbach auf und ab. Als es ihm den Rücken zudrehte, fühlte er den Moment gekommen.
Langsam und geräuschlos erhob er sich im Schutz des Gebüschs. Als er stand, trat er hinter dem Strauch hervor und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Dann näherte er sich seinem Opfer, das ihn noch nicht bemerkt hatte. Aus der Entfernung von mehreren Metern roch er dessen Parfüm. Seit Stunden hatte er sich gefragt, was das Opfer von ihm wollte, und welches Spiel es mit ihm spielte. Wenn es glaubte, dass er einfach an der Nase herumzuführen sei, hatte es sich verschätzt! Es beleidigte ihn, wenn er nicht ernst genommen wurde. Einzig deshalb war er auf den Vorschlag seines Opfers eingegangen. Nun war er nur noch wenige Augenblicke von der Erfüllung seiner todbringenden Mission entfernt.
Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Genau in diesem Augenblick stand das Opfer nur noch zwei Meter von ihm entfernt, hatte ihm den Rücken zugewandt und starrte in die Richtung, aus der es ihn vermutete.
Plötzlich erschrak er. Das Opfer hatte eine Zigarette von sich geschnippt. Die Glut flog durch die Luft und tänzelte über den Boden.
Für einen Sekundenbruchteil hielt er den Atem an. Hatte er sich verraten? War er im Licht des Monds entdeckt worden? Er bekam Angst. Seine Gelassenheit und Ruhe wich. Diesmal war es anders als früher. Sein Herz pochte, und es fiel ihm merklich schwer, ein Keuchen zu unterdrücken. Er kniff die Augen zusammen und machte die letzten Schritte auf sein Opfer zu. Es rührte sich nicht. Weiterhin hatte es ihm den Rücken zugewandt.
Jetzt musste alles schnell gehen, wenn er erfolgreich sein wollte. Zwei rasche Schritte. Dann holte er mit dem Messer aus und ...
***
Die junge Frau umklammerte ihr Smartphone. Sie würde das Gespräch damit aufnehmen, um Beweise zu haben. Endlich würde sie nach all den Jahren die Wahrheit erfahren. Und diese Wahrheit wollte sie besitzen. Sie sollte zu ihrer Wahrheit werden. Das würde ihr Genugtuung verschaffen. War doch ihre Lebensgeschichte unweigerlich mit dieser Wahrheit verbunden.
Jahrelang hatte sie ihn gesucht und sich diesen Moment vorgestellt. Nun war er gekommen und sie war vorbereitet. Ihr Herz raste wie wild. Sie war hoch konzentriert und freute sich über die kalte Luft der herannahenden Nacht, die ihre Sinne zusätzlich schärfte, obwohl sie fröstelte. Die Kälte verursachte ihr an jeder Stelle ihres schlanken Körpers eine Gänsehaut. Sie schüttelte sich kurz.
Ein kalter Schauer aus angespannter Erwartung und Vorfreude lief ihr über den Rücken. Sie bewunderte ihren eigenen Mut, wusste jedoch auch, dass sie in Gefahr war. Das Risiko, das sie gerade einging, war hoch, sehr hoch. Der Nutzen jedoch unbezahlbar. Ihr ganzes Leben hatte sie diesem Moment gewidmet.
Die junge Frau war mit dem Fahrrad aus der Stadt gekommen, aus dem Quadrat, in dem sie wohnte. Ihr Rad hatte sie außerhalb des Parks abgestellt. Dann hatte sie am Eingang bezahlt und sich als erstes auf die Liegewiese gesetzt, um noch einmal tief durchzuatmen.
Als sie sich innerlich gesammelt hatte und ihr Schweiß getrocknet war, lief sie langsam und behutsam zum besagten Treffpunkt am Feldweg nahe dem Gebirgsbach. Dort stand sie nun seit fünf Minuten, ging auf und ab und wartete auf ihn.
Sie nahm einen letzten Zug an ihrer Zigarette und schnippte diese dann von sich. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete noch einmal tief durch. Eine Windböe durchzog ihre blonden, langen Haare. Wieder bekam sie Gänsehaut und stellte sich vor, wie sie wohl gerade aussah, mit wehendem Haar, mitten in der Nacht im Park und mit beiden Händen ihr Smartphone umkrallend. Schon als Kind hatte sie nichts sehnlicher herbeigewünscht als diesen Moment.
Die Stadt Mannheim war gut zu ihr gewesen. Hier hatte sie eine neue Heimat gefunden, Freunde und eine Anstellung. Und hier war er ihr zufällig über den Weg gelaufen. Nach all den Jahren, in denen sie ihn gesucht hatte, war sie überrascht und dennoch erfreut, dass es endlich so weit war. Selbstgefällig lächelte sie. Dann schaute sie auf die Uhr. Er müsste allmählich auftauchen.
Sie richtete ihren Blick in die Ferne und konzentrierte sich, ob sie in der Dunkelheit etwas erkennen konnte. Als sie nichts sah, wurde sie allmählich unruhig. Er musste aus dieser Richtung kommen. Vorsichtig wollte sie sich umdrehen, doch dazu hatte sie keine Gelegenheit mehr.
Plötzlich spürte sie den Atem eines Mannes. Ihre Hände umklammerten ihr Smartphone, der Mann umklammerte sein Messer.
Mario Kretschmer hatte sich diesen Donnerstag freigenommen. Er wollte sich von seiner Arbeit als Softwareentwickler erholen und die ersten Vorboten des Sommers spüren. Deshalb hatte er sich entschlossen, die Arbeit am Computer beiseite zu legen und gemeinsam mit seiner Frau Simone und seinem Sohn Max den Tag im Luisenpark zu verbringen. So wie er es vor Jahren als Kind mit seinen Eltern getan hatte. Sie waren unter den ersten Gästen, die früh am Vormittag in den Park strömten.
Mit dem Luisenpark verband Mario Kretschmer viele schöne Erinnerungen aus seiner eigenen Kindheit. Auf der großen Wiese hatte er früher mit seinen Brüdern und Eltern häufig gegrillt, an Kindergeburtstagen hatten sie am Wasserspielplatz nahe des Fernmeldeturms gespielt und geplanscht und zum Abschluss eines jeden Besuchs war er mit der Gondoletta, einer Reihe an Gleitbooten, die durch ein Unterwasserseil über den Kutzerweiher gezogen wurden, gefahren.
Er erinnerte sich, wie schön es hier immer als Kind für ihn gewesen war. Aber da es für den Wasserspielplatz noch zu frisch war und dieser zudem am anderen Ende des Parks lag, hatte er sich dafür entschieden, seinem Sohn zunächst das Pflanzenschauhaus mit dem Schmetterlingshaus zu zeigen. Das kannte der Kleine noch nicht.
Sie betraten das Schmetterlingshaus durch einen netzartigen Vorhang, der die Insekten davon abhielt, ins Freie zu gelangen. Spätestens jetzt fühlte sich Mario, als sei er wirklich in den Tiefen des Amazonasdschungels angekommen. In den Räumen wuchsen kleinere, exotische Pflanzen, die die Szenerie in ein sattes Grün tauchten. Dieses Grün lieferte die Grundlage für ein buntes Farbenspiel. Auf den ersten Blick nahm er nur den einen oder anderen Farbtupfer wahr. Zitronengelb. Himmelblau. Dann schärfte er seinen Blick und konnte große und kleine Schmetterlinge in den unterschiedlichsten Farben erkennen. Einige von ihnen waren so groß wie seine Handflächen. So Große hatte er noch nie gesehen. Fasziniert blieb er stehen und schaute sich um. Das Schmetterlingshaus hatte es in seiner Jugend noch nicht gegeben.
Auch seinem Sohn Max gefiel die Atmosphäre. Er liebte Schmetterlinge. Das hatte er immer wieder betont, seit er im letzten Jahr in den Kindergarten gekommen war und dort einiges über Schmetterlinge gelernt hatte. Eifrig teilte der Kleine sein Wissen seinen Eltern mit. Dann verschwand er und rannte den bunten Insekten nach.
»Du kennst dich aber gut aus!«, lachte Simone und fuhr dem Kleinen durch die verwuschelten Haare, als er wieder zu seinen Eltern zurückgekehrt war.
Max nickte stolz.
Aber es hielt ihn nicht lange bei seinen Eltern. Fröhlich sprang der Kleine davon, einem Zitronenfalter hinterher.
Nachdem sie durch das Haus der Schmetterlinge gelaufen waren, schmiedete Mario Kretschmer neue Pläne.
»Lass uns schauen, ob wir im Teehaus ein Eis kriegen«, schlug Mario vor, »das gefällt dir bestimmt, Max.«
Max nickte und seine Mutter stimmte dem Plan zu.
Sie ließen den Kleinen noch ein wenig die Schmetterlinge bewundern, bis sie mit ihm zum Teehaus aufbrachen, das sie nach einem kleinen Spaziergang erreichten. Das Teehaus war erst vor ein paar Jahren errichtet worden, sodass Mario auch hieran keine Kindheitserinnerungen hatte. Er war beeindruckt von der Größe des Baus und der ganzen Anlage, die sich nun Chinesischer Garten nannte.
Eis wurde im Teehaus jedoch nicht verkauft, weshalb Max seinen Vater enttäuscht anschaute.
»Macht nichts, Max, wir fahren jetzt mit der Gondoletta! Und irgendwo finden wir bestimmt ein Eis.«
Die Miene des Kindes erhellte sich.
»Wir fahren mit der Gondoletta!«
Jubelnd sprang Max um seinen Vater herum.
Die drei gingen zu einer der beiden Anlegestationen direkt am Kutzerweiher. Schon von Weitem konnten sie die gelben Dächer der ansonsten weiß gestrichenen Gondolettas erkennen.
Mario kaufte drei Tickets für eine Rundfahrt. Der Andrang war nicht sonderlich groß, vor ihnen wartete lediglich eine fünfköpfige Familie mit Kinderwagen. Sie passten zusammen in eine Gondel, sodass die kleine Familie allein in der Folgenden Platz nehmen konnte.
Vom Wasser aus hatten sie einen herrlichen Blick auf den Park. Da es in den letzten Tagen geregnet hatte, waren die Bäume und Pflanzen bereits in ein sattes Grün getaucht. Die Natur zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Vögel zwitscherten, der Duft vieler Pflanzen zog über den See und die Karpfen im Wasser schnappten mit ihren riesigen Mäulern nach allem, was sie für Futter hielten.
Die kleine Familie wurde an geschwungenen Parkwegen, kleinen Brücken und frisch blühenden Pflanzengruppen vorbeigezogen. Am Ufer waren andere Familien mit Kindern zu erkennen, die entweder die Pflanzenwelt des Luisenparks bestaunten oder sich in Richtung der großen Liegewiese bewegten, um dort zu grillen.
Als sie an der Seebühne vorbeigezogen worden waren, steuerten die Gondeln direkt auf eine Insel zu. Links von der Insel wurden diejenigen Gondeln entlang gezogen, die zur Anlegestelle zurückkehrten, rechts wurde es eng zwischen Ufer und Insel. Genau dorthin führte der Weg der kleinen Familie.
Je enger die Stelle wurde, umso dichter schauten die Karpfen hungrig aus dem Wasser. Ihre riesigen Münder klafften auf und verfehlten bei Max nicht ihre Wirkung. Schnell kramte er in seinem Rucksack nach einer Scheibe Brot, die er dann in kleine Stückchen riss und den Fischen zuwarf. Immer dichter drängten sich die Karpfen zusammen und kämpften um die Brotkrumen. Fast konnte Max kein Wasser mehr erkennen, so dicht hatten sich die Fische zusammengedrängt.
Plötzlich sah er etwas, was er zunächst nicht genau erkennen konnte. Es war fleischfarben und ähnelte irgendwie den Mündern der Karpfen. Doch es bewegte sich nicht. Es klaffte nicht auf und wieder zu und es wollte kein Brot von ihm.
Erschrocken sprang sein Vater auf, schrie irgendetwas in Richtung seiner Frau und drückte dem kleinen die Hand vors Gesicht. Max wehrte sich mit Händen und Füßen und trat um sich, weil er nicht wusste, wie ihm geschah.
»Pst, Max, ganz ruhig«, redete sein Vater auf ihn ein. Doch an dessen zittriger Stimme konnte der Junge erkennen, dass sein Vater selbst alles andere als ruhig war.
Schließlich packte Simone den Jungen und zog ihn zu sich. Sie achtete dabei darauf, dass der Kleine nicht aufs Wasser schauen konnte.
Was Max nicht sah, seinen Vater aber entsetzte, war der Arm eines toten Menschen im Wasser.
***
RUMPS!
Die rostige Hallentür einer Lagerhalle im Mannheimer Hafen fuhr mit einem lauten Krachen herunter und schloss sich scheppernd hinter Kriminalhauptkommissarin Olivia von Sassen. Sie befand sich gemeinsam mit ihrem neuen Kollegen Tom Schiller auf einem Undercover-Einsatz. Ihr Ziel war es, einen Drogendealer zu überführen, der in einen Frankfurter Mordfall verwickelt war. Hierzu sollte sie dem Dealer eine größere Menge Drogen abkaufen. Tom war schon länger in die Szene infiltriert und sollte den Dealer nach Abschluss des Handels verhaften.
Abgesehen von den beiden Mordfällen im letzten Jahr war die Unterstützung der Frankfurter Kollegen die bislang aufregendste Aufgabe, die Olivia in Mannheim erfüllen musste. Vor etwas weniger als einem Jahr war sie hierher versetzt worden und geriet gleich an ihrem ersten Tag in einen Mordfall. Von Null auf Hundert hatte es für sie geheißen, als sie gemeinsam mit ihrem alten Kollegen Moritz Martin den Fall in drei Tagen gelöst hatte. Ähnlich schnell konnte sie gemeinsam mit ihm einen Doppelmord an der Mannheimer Uni im letzten Herbst auflösen. Nun war sie im Undercover-Einsatz, und solche Einsätze folgten anderen Spielregeln als die normale Ermittlungstätigkeit.
Als sie mitten in der alten Lagerhalle stand, sportlich, mit ihrem dunkelblauen Kapuzenpulli und einem Dutt, zu dem sie ihre Locken mit einem Gummi zusammengebunden hatte, fühlte sie sich einsam. Den ganzen Morgen hatte sie unter einer gesunden Anspannung gestanden – und jetzt, nahe am Ziel, wurde sie nervös. Das hatte sie um jeden Preis vermeiden wollen. Aber trotz all ihrer Erfahrung mahnte sie ihr Unterbewusstsein zur Vorsicht.
Vor dem Betreten der Halle war sie auf Waffen kontrolliert worden und musste ihre Pistole abgeben. Auch wenn sie das zuvor gewusst hatte, fühlte sie sich ohne Waffe in dieser Situation wehrlos. Nun stand sie schweigend und still da, versuchte ihre Nervosität zu verbergen und wartete auf Tom und den Dealer.
Vielleicht, so erklärte sie es sich, war zuviel Zeit seit ihren Ermittlungen im Mordfall an der Universität vergangen, sodass sie jetzt zu nervös war. Seither entsprach ihr Dienst nämlich ganz dem einer Beamtin. Und das bedeutete, jeden Tag am Schreibtisch zu sitzen, Indizien zu sammeln, zu archivieren und zu nummerieren. Sie war eine Beamtin. Und die letzten Wochen hatten sich auch genauso angefühlt.
Ihre nähere Vergangenheit war nicht sonderlich aufregend verlaufen. Olivia nahm dies im Grunde dankend an und bewältigte den Dienst nach Vorschrift mit Leichtigkeit. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben war die Einführung eines neuen Kollegen, eben jenes Kollegen, mit dem sie gerade im Einsatz war. Ihn hatte sie zur Seite gestellt bekommen, seit ihr eigentlicher Partner Moritz Martin wegen eines schweren Autounfalls zunächst pausieren musste. Olivias neuer Partner, Tom Schiller, war Ende zwanzig und hatte gerade seine Ausbildung zum Kriminalkommissar beendet. In vielen Punkten war er unerfahren, impulsiv und vorschnell. Sie hatte beinahe den Eindruck, dass sie ihn mehr in Geduld und Bescheidenheit unterrichten musste, denn in den alltäglichen Polizeidienst einzuführen. Und er war ehrgeizig.
Ihre Gedanken kreisten noch ein paar Augenblicke weiter um Tom, bis dieser schließlich in Begleitung von zwei Männern und dem gesuchten Dealer die Lagerhalle betrat. Der Dealer nickte einem seiner Männer zu. Dieser trat an Olivia heran.
»Zeig mir das Geld!«, befahl er ihr.
Mit schweißkalten Fingern schwang Olivia ihr Köfferchen auf eine Ablage. Sie war aufgeregt, wollte aber auf jeden Fall vermeiden, dass die anderen dies wahrnahmen. Deshalb versuchte sie besonders elegant den Koffer zu öffnen, so als würde sie jeden Tag mit Drogen dealen.
Eines der Schlösser klemmte und Olivia hatte tatsächlich Mühe, den Koffer aufzubekommen. Sie wurde noch angespannter. Ihre Zehen verkrampften sich und sie begann, Schweißperlen auf ihrer Stirn zu spüren.
»Kleine, du solltest dir mal ein neues Köfferchen gönnen«, kommentierte der Mann ihr gegenüber.
Olivia sah nun ihre Chance gekommen, ihre Unsicherheit zu überspielen und Stärke zu demonstrieren. Sie ließ vom Koffer ab, lief um die Ablage herum und baute sich vor dem Mann auf.
»Pass auf, sonst musst du dir ein neues Mundwerk gönnen. So lose, wie deines ist!«
Sie starrte ihm eine Weile in die Augen. Der Mann wollte sich nicht von Olivia beeindrucken lassen. Jedoch war er so ungeduldig darauf, das Geld zu sehen, dass er ihrem Blick nicht lange standhalten konnte.
Er lachte laut und sah sich dabei um, ob sein Chef und die anderen auch lachten.
Niemand lachte.
Auch er verstummte.
»Zeig mir, was du im Köfferchen hast!«
Olivia ging zurück zur Ablage und drückte nun das Schloss auf. Es sprang zur Seite, sie konnte den Koffer nun öffnen und das vorgesehene Geld präsentieren.
»Bitteschön!«
Der Mann kontrollierte das Geld. Olivia trat zur Seite und blickte nun dem Dealer in die Augen, der noch immer von seinem zweiten Bodyguard und Tom umringt war.
»Nun möchte ich sehen, was ich dafür bekomme«, richtete sie ihr Begehren an den Dealer.
Er sagte wieder nichts, sondern schnippte nur mit dem Finger, woraufhin der zweite Mann einen Rucksack hervorzog, den Reißverschluss öffnete und Olivia andeutete, einen Blick hineinzuwerfen.
Olivia riss dem Mann den Rucksack aus der Hand und zog ihn an sich heran. Sie öffnete einen der Beutel und probierte vorsichtig den Stoff.
»Okay«, nickte sie.
Der Dealer, Tom und der Bodyguard zeigten keine Rührung. Olivia wunderte sich zunächst, doch roch sie den Braten zu spät.
Der zweite Bodyguard, der den Koffer mit dem Geld an sich genommen hatte, trat schnell von hinten an sie heran, packte sie und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Olivia versuchte sich noch zu wehren, doch war sie von dem plötzlichen Angriff völlig überrascht. Sie trat mit dem rechten Fuß nach hinten und erwischte das Knie des Bodyguards. Für einen Moment taumelte er. Doch Olivia konnte sich nicht losreißen. Der andere Bodyguard kam nun auf sie zu und zog einen Revolver.
Olivia zuckte zusammen, als sie hörte, wie er seine Waffe entsicherte. Sie wehrte sich nicht weiter, sondern schaute stattdessen trotzig in Richtung Dealer.
»Was soll das?«
»Frau von Sassen. Wir wissen, wer Sie sind«, begann der Dealer. »Oder halten Sie uns für dermaßen blind?«