KEVIN HEARNE

GEHETZT

DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 2

Aus dem Englischen von
Alexander Wagner

Klett-Cotta

Impressum

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Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Iron Druid Chronicles 2. Hexed«

im Verlag Ballantine Books, New York

© 2011 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2014/2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg;

unter Verwendung einer Illustration des Originalverlags von © Gene Mollica

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98365-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10661-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für meinen Vater,

der dieses Buch niemals gedruckt sah,

der jedoch in dem Wissen von uns ging,

dass sich für seinen Sohn ein Traum erfüllt hat.

1

Du brauchst nur einen Gott zu erschlagen, und schon wollen plötzlich alle möglichen Leute mit dir reden. Paranormale Versicherungsvertreter mit speziellen »Gottesschlächter«-Lebensversicherungen. Scharlatane mit Rüstungen, die hundertprozentigen Schutz gegen Götter bieten sollen, und mit Mietangeboten für außerweltliche Geheimverstecke. Vor allem aber andere Götter, die dir erstens zu deiner Tat gratulieren, dich zweitens davor warnen, je solche Scherze mit ihnen zu versuchen, und dir zu guter Letzt nahelegen, doch einen ihrer Rivalen zu erschlagen – nur so zum Spaß, versteht sich.

Kaum hatte es sich in den diversen Götterwelten herumgesprochen, dass ich nicht nur einen, sondern gleich zwei der TUATHA DÉ DANANN ausgeschaltet hatte – und den mächtigeren der beiden sogar in die christliche Hölle geschickt hatte –, da erhielt ich Besuche von zahlreichen Potentaten, Herolden und Botschaftern der meisten Glaubenssysteme dieser Erde. Alle wollten, dass ich sie in Ruhe ließ, mich stattdessen aber mit jemand anderem anlegte. Und wenn ich diese sie seit Ewigkeiten plagende Pestbeule erst entfernt hätte, würde mir eine Belohnung winken, die meine kühnsten Träume übersteige, Blablabla, Rhabarber, Rhabarber.

Die ganze Geschichte mit den Belohnungen war natürlich ein Riesenmumpitz, um es mal so zu formulieren. BRIGHID, die keltische Gottheit der Dichtkunst, des Feuers und der Schmiede, hatte mir beispielsweise eine Belohnung dafür versprochen, dass ich AENGHUS ÓG unschädlich machte. Aber seit ihn vor drei Wochen der Tod mit in die Hölle genommen hatte, hatte ich noch kein einziges Wort von ihr gehört. Alle anderen Götter der Welt meldeten sich bei mir, aber nicht meine eigenen. Es herrschte das sprichwörtliche Schweigen im Walde.

Die Japaner wollten, dass ich den Chinesen eins auswischte, und umgekehrt. Die alten russischen Gottheiten schlugen vor, ich solle es den Ungarn heimzahlen. Die Griechen forderten in einem bizarren Anfall von Selbstverleugnung und blinder Eifersucht, dass ich ihre römischen Nachahmer vom Sockel stieß. Und am allermerkwürdigsten waren diese Kerle von den Osterinseln, für die ich mich mit irgendwelchen verrotteten Totempfählen in der Gegend von Seattle herumschlagen sollte. Aber alle – zumindest meinem persönlichen Gefühl nach waren es alle – wollten, dass ich, sobald es meine Zeit zuließ, THOR erschlug. Vermutlich hatten sie die Nase gründlich voll von seinen Späßen.

Am lautesten forderte Letzteres mein eigener Anwalt, Leif Helgarson. Er war ein alter isländischer Vampir, der wohl in längst vergangenen Tagen THOR verehrt hatte. Doch aus Gründen, die er mir gegenüber nie erwähnt hatte, hegte er inzwischen einen abgrundtiefen Hass gegen ihn. Leif kümmert sich um meine Rechtsangelegenheiten, trainiert regelmäßig mit mir, um meinen Schwertarm in Form zu halten, und bekommt dafür gelegentlich einen vollen Becher von meinem Blut als Bezahlung.

Ich traf ihn in der Nacht nach Samhain überraschend auf meiner Veranda an. Es war ein kühler Abend in Tempe, und ich war bester Laune, weil es viele Dinge gab, für die ich dankbar sein konnte. Während am Abend zuvor die amerikanischen Kinder das beliebte Halloween-Ritual Süßes oder Saures vollzogen hatten, hatte ich bei meinen eigenen privaten Zeremonien der MORRIGAN und BRIGHID viel Aufmerksamkeit gewidmet. Außerdem hatte ich dabei die angenehme Gesellschaft einer Druidennovizin genossen, deren Ausbildung mir oblag. Granuaile war rechtzeitig zu Samhain aus North Carolina zurückgekehrt, und obwohl wir beide nicht im eigentlichen Sinn einen Druidenzirkel bildeten, hatte ich die heilige Nacht schon seit vielen hundert Jahren nicht mehr so genossen. Ich war der letzte echte Druide auf der Welt, und allein die Vorstellung, nach langen Zeiten als Einzelkämpfer endlich wieder einen Zirkel gründen zu können, erfüllte mich mit Hoffnung. Daher fiel meine Antwort auf Leifs eher formelle Begrüßung, mit der er mich bei meiner Rückkehr von der Arbeit von meiner Veranda aus willkommen hieß, vielleicht etwas zu überschwenglich aus.

»Leif, du grusliger alter Bastard, wie zur Hölle geht’s dir?« Ich grinste breit, während ich mein Mountainbike scharf abbremste und zum Stehen brachte. Er hob die Augenbrauen, musterte mich herablassend über seine lange nordische Nase hinweg, und mir wurde bewusst, dass er eine derart nonchalante Ansprache wohl nicht gewohnt war.

»Ich bin kein Bastard«, erwiderte er trocken. »Gruselig, das sei dir zugestanden. Und während ich mich durchaus wohl befinde« – einer seiner Mundwinkel hob sich minimal –, »so muss ich doch bekennen, dass du mich an Frohsinn bei weitem überbietest.«

»Frohsinn?« Nun hob ich die Augenbrauen. Leif hatte mich früher darum gebeten, ihn auf gewisse Verhaltensweisen aufmerksam zu machen, die sein wahres Alter verrieten.

Doch ganz offenkundig wollte er im Augenblick nicht korrigiert werden. Um seiner Gereiztheit Ausdruck zu verleihen, atmete er geräuschvoll aus. Eine recht amüsante Geste, wie ich fand, da Vampire bekanntlich gar nicht atmen müssen. »Schön«, sagte er. »Dann also doch nicht so frohgemut.«

»Keiner gebraucht mehr solche Worte, Leif, außer uns alten Knackern.« Ich lehnte mein Bike gegen die Veranda, sprang die drei Stufen nach oben und setzte mich neben ihn. »Du solltest wirklich mehr Zeit darauf verwenden, zu lernen, wie du dich besser einfügen kannst. Mach ein persönliches Projekt daraus. Die populäre Kultur wandelt sich heutzutage viel schneller. Das ist nicht mehr wie im Mittelalter, wo die Kirche und die Aristokratie noch dafür gesorgt haben, dass alles hübsch beim Alten bleibt.«

»Nun, dann lehre mich etwas, du Verbalakrobat auf dem Hochseil des Zeitgeists. Wie hätte ich deiner Meinung nach antworten sollen?«

»Zuerst vergiss das vorangestellte ›nun‹. Das verwendet auch niemand mehr. Und heute sagt man so was wie: ›Mir geht’s allererste Sahne!‹«

Leif runzelte die Stirn. »Aber das ist grammatikalisch inkorrekt.«

»Die Menschen legen heutzutage keinen Wert mehr auf Korrektheit. Du könntest ihnen erklären, dass sie beispielsweise ein Adjektiv anstelle eines Adverbs verwenden, und sie würden dich anstarren, als wärst du eine Kröte.«

»Ihr Bildungssystem hat schwere Rückschläge erlitten, wie mir scheint.«

»Wem sagst du das. Also, du hättest weiter sagen können: ›Schön für dich, dass du gut drauf bist, Atticus, aber ich für meinen Teil chille lieber.‹«

»Ich chille? Das bedeutet wohl, es geht mir ausgezeichnet … oder allererste Sahne, wie du sagst?«

»Korrekt.«

»Aber das ist doch völliger Unfug!«, protestierte Leif.

»Es ist moderne Umgangssprache.« Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist natürlich dir überlassen, aber wenn du weiter die Ausdrucksweise des 19. Jahrhunderts verwendest, werden dich die Menschen bald für einen gruseligen Bastard halten.«

»Dafür halten sie mich ohnehin.«

»Du meinst, weil du nur nachts herauskommst und ihr Blut trinkst?«, sagte ich mit leiser, unschuldiger Stimme.

»Genau«, antwortete Leif, ohne auf meine kleine Stichelei einzugehen.

»Nein, Leif.« Ich schüttelte den Kopf. »Das finden sie ja erst viel später heraus, wenn überhaupt. Die Menschen gruselt es wegen deiner Ausdrucksweise und deinem Verhalten. Sie merken, dass du nicht dazugehörst. Glaub mir, es liegt nicht an deiner milchweißen Haut. Hier draußen im Valley of the Sun fürchten sich viele Menschen vor Hautkrebs. Aber sobald du den Mund aufmachst, kriegen sie es mit der Angst zu tun. Dann merken sie, wie alt du bist.«

»Aber ich bin alt, Atticus!«

»Und ich habe noch mindestens tausend Jahre mehr auf dem Buckel, hast du das vergessen?«

Er seufzte, der uralte, müde Vampir, der nicht atmen musste. »Nein, das habe ich nicht vergessen.«

»Schön. Beschwer dich also nicht bei mir über das Alter. Ich häng mit diesen Collegekids ab, die keine Ahnung haben, dass ich keiner von ihnen bin. Die glauben, mein Geld stammt von einer Erbschaft oder aus einem Treuhandfonds, und sie gehen gern mit mir einen trinken.«

»Ich finde diese College-Kinder entzückend. Ich würde auch gerne mit ihnen einen trinken gehen.«

»Nein, Leif, du willst von ihnen trinken, und das spüren sie instinktiv, weil du diese raubtierhafte Aura hast.«

Der Ausdruck eines von seiner Gattin gerüffelten Ehemanns verschwand aus seinem Gesicht und er blickte mich scharf an. »Du hast aber immer behauptet, sie könnten meine Aura gar nicht wahrnehmen, so wie du es vermagst.«

»Nein, sie können sie auch nicht bewusst wahrnehmen. Aber sie spüren deine Andersartigkeit; vor allem aufgrund deiner Reaktionen und deines Verhaltens, die nicht deinem äußeren Alter entsprechen.«

»Wie alt sehe ich denn aus?«

»Äh …« Ich musterte ihn eingehend und suchte nach Fältchen. »Du siehst aus wie Ende dreißig.«

»So alt? Ich wurde mit Ende zwanzig verwandelt.«

»Die Zeiten waren härter damals.« Erneut zuckte ich mit den Achseln.

»Vermutlich hast du recht. Übrigens bin ich gekommen, um mit dir über die alten Zeiten zu reden. Vorausgesetzt, du könntest dich für die Dauer einer Stunde freimachen.«

»Richtig«, erwiderte ich und verdrehte die Augen. »Lass mich nur rasch mein Stundenglas und meinen verdammten Gehrock holen. Hör dir doch mal selbst zu, Leif! Willst du dich jetzt einfügen oder nicht? ›Die Dauer einer Stunde‹. Wer sagt denn heute noch so einen Mist?«

»Was ist falsch daran?«

»Niemand redet so steif und förmlich! Du könntest einfach sagen, ›wenn du Zeit hast‹, Punkt. Noch besser wäre allerdings ›wenn du grad nichts Besseres vorhast‹.«

»Aber an ›die Dauer einer Stunde‹ gefällt mir das frei schwingende jambische Metrum …«

»Götter der Unterwelt, komponierst du deine Sätze wie Blankverse? Kein Wunder, dass du dich keine halbe Stunde mit einer Collegestudentin unterhalten kannst! Die plaudern normalerweise mit ihren coolen Mitstudenten, nicht mit shakespeareschen Scholaren!«

›Atticus? Bist du zu Hause?‹ Das war mein irischer Wolfshund Oberon, der durch unsere besondere magische Verbindung direkt zu meinem Bewusstsein sprechen konnte. Vermutlich stand er auf der anderen Seite der Tür und hörte uns reden. Ich bat Leif, einen Moment zu warten, während ich mich an meinen Hund wandte.

Ja, Oberon, ich bin zu Hause. Leif ist hier draußen auf der Veranda und verhält sich seinem Alter entsprechend.

›Ich weiß, ich hab ihn schon gerochen. Er hat eine Duftnote nach Eau de Tod oder so was Ähnliches an sich. Aber ich hab nicht gebellt, wie du mir befohlen hast.‹

Du bist ein braver Hund. Willst du zu uns herauskommen?

›Klar!‹

Aber ich muss dich warnen, möglicherweise wird es langweilig. Er will über irgendetwas länger mit mir sprechen, und er wirkt heute besonders grimmig und nordisch. Es könnte also ein wenig ausufernd werden.

›Das ist in Ordnung. Du kannst mir ja die ganze Zeit über den Bauch kraulen. Ich verspreche auch, ganz leise zu sein.‹

Danke, Kumpel. Sobald er verschwunden ist, gehen wir eine Runde laufen, versprochen.

Ich öffnete die Eingangstür, und Oberon kam freudig herausgesprungen, wobei er, ohne es zu bemerken, mit dem Schwanz kräftige Schläge gegen Leifs Oberarm austeilte.

›Lass uns runter zum Town Lake gehen, wenn sich der tote Kerl verabschiedet hat. Und danach ins Rúla Búla.‹ Das war unser bevorzugter Irish Pub, in dem ich kürzlich Lokalverbot erhalten hatte.

Der Besitzer des Rúla Búla ist immer noch wütend auf mich, weil ich ihm Granuaile abspenstig gemacht habe. Sie war seine beste Barkellnerin.

›Immer noch? Aber das ist doch schon Ewigkeiten her.‹

Das war erst vor drei Wochen, erinnerte ich ihn. Hunde haben kein allzu gutes Zeitgefühl. Ich lasse dich auf dem Golfplatz frei laufen, und du darfst alle Kaninchen behalten, die du fängst. Leg dich auf den Rücken, damit ich dir den Bauch kraulen kann. Ich muss jetzt mit Leif sprechen.

Oberon gehorchte prompt, und die Dielen der Veranda erzitterten, als er sich zwischen Leifs Sessel und meinem auf den Rücken warf.

›Das ist das Größte! Es gibt nichts Besseres als Bauchkraulen. Außer vielleicht französische Pudeldamen. Erinnerst du dich an Fifi? Tolle Zeiten, echt tolle Zeiten.‹

»In Ordnung, Leif, mein Hund ist versorgt«, sagte ich, während ich Oberon die Rippen kraulte. »Worüber wolltest du mit mir reden?«

»Das ist einigermaßen einfach«, sagte er, »aber wie alle einfachen Dinge zugleich außerordentlich kompliziert.«

»Warte. Deine Adverbien sind zu gedrechselt. Benutze wirklich und sehr für alles«, riet ich ihm.

»Wenn du einverstanden bist, würde ich es vorziehen, das nicht zu tun. Da es unnötig ist, vor dir meine wahre Natur zu verbergen, dürfte ich mich da wohl nach Belieben äußern?«

»Natürlich, nur zu«, erwiderte ich und verkniff mir die Bemerkung, dass er sich ruhig etwas knapper fassen könnte. »Tut mir leid, Leif. Ich versuche nur zu helfen.«

»Ja, und ich weiß das zu schätzen. Aber das hier wird ohnehin schwierig genug, auch ohne dass du meine Worte zusätzlich durch ein Sieb der Ungebildetheit presst.« Unnötigerweise holte er tief Luft und schloss beim Ausatmen die Augen. Er sah aus, als versuche er sich zu zentrieren und einen Chakra-Punkt zu finden. »Es gibt viele Gründe, warum ich deiner Hilfe bedarf, und ebenso viele Gründe, warum du mir Beistand leisten solltest. Aber das kann einen Augenblick warten. Hier zunächst die Kurzversion.« Er öffnete die Augen und wandte sich mir zu. »Ich will, dass du mir hilfst, THOR zu töten.«

›Ha! Sag ihm, er soll mal wieder auf den Teppich kommen!‹, bemerkte Oberon. Er schnaubte, wie immer, wenn er etwas besonders komisch fand. Glücklicherweise bekam Leif nicht mit, dass mein Hund über ihn lachte.

»Hmm«, machte ich. »THOR löst offenkundig allgemein Mordgelüste aus. Du bist nicht der Erste, der mit diesem Vorschlag zu mir kommt.«

Leif griff meine letzte Bemerkung auf. »Und das ist nur einer der vielen Gründe, warum du einwilligen solltest. Du hättest reichlich Verbündete, die dir jede gewünschte Unterstützung gewähren, und im Falle eines Erfolgs eine große Schar Bewunderer.«

»Und eine große Schar von Trauernden an meinem Grab, falls ich scheitern sollte? Wenn THOR überall so sehr gehasst wird, warum hat sich bisher niemand an diese Tat gewagt?«

»Wegen Ragnarök«, erwiderte Leif, der diese Frage offensichtlich erwartet hatte. »Wegen der Prophezeiung haben alle Angst vor ihm, und das hat ihn über die Maßen arrogant werden lassen. Ihrer Argumentation zufolge lebt er bis zum Ende der Welt und deswegen scheinen alle Anschläge gegen ihn aussichtslos. Aber das ist Humbug.«

Ich lächelte. »Hast du gerade gesagt, Ragnarök sei Humbug?« Oberon schnaubte erneut.

Leif ignorierte mich und fuhr fort: »Nicht alle prophezeiten Apokalypsen können eintreten, so wie auch nur eine Schöpfungsgeschichte die echte sein kann, wenn überhaupt. Wir dürfen uns nicht von irgendeiner alten Sage einschränken lassen, die sich die gefrorenen Gehirne meiner Urväter zurechtgesponnen haben. Wir können sie hier und jetzt ändern.«

»Hör zu, Leif, du kannst sicherlich einen ganzen Roman an guten Gründen vorbringen, warum ich dies hier tun sollte, doch keiner davon wird mich wirklich überzeugen. Es ist einfach nicht meine Aufgabe. AENGHUS ÓG und BRES haben den Streit mit mir gesucht, und ich habe ihn lediglich beendet. Es hätte aber auch ganz anders ausgehen können. Du warst nicht dabei. Fast wäre ich dabei draufgegangen. Vermutlich ist dir das hier schon aufgefallen?« Ich deutete auf mein verstümmeltes rechtes Ohr. Ein Dämon, der aussah wie das Iron-Maiden-Maskottchen, hatte es mir abgekaut, und bisher hatte ich lediglich eine blumenkohlartige Gewebemasse regenerieren können.

»Natürlich ist es mir aufgefallen«, erwiderte Leif.

»Ich kann froh sein, dass sich der Schaden noch in Grenzen hält. Aber auch wenn ich für das Erschlagen von AENGHUS keinen sonderlich hohen Preis gezahlt habe, so habe ich doch in der Folge diverse unerfreuliche Besuche von anderen Göttern erhalten. Und dabei kann ich von Glück sagen, dass ich immer noch ein kleiner Fisch bin. Jetzt stell dir vor, wie die anderen Götter reagieren, wenn ich jemand wirklich Bedeutenden wie THOR erschlage? Sie würden gemeinschaftlich über mich herfallen, einfach nur, um die drohende Gefahr zu beseitigen. Außerdem halte ich es für schlichtweg unmöglich, ihn zu töten.«

»Oh, es ist durchaus möglich.« Leif hob einen Finger und wackelte damit vor meiner Nase herum. »Die nordischen Götter sind wie deine TUATHA DÉ DANANN. Sie besitzen ewige Jugend, aber sie können getötet werden.«

»Ursprünglich ja«, stimmte ich zu. »Ich hab diesen alten Kram gelesen, und ich weiß, du hast es auf die Version 1.0 von THOR abgesehen. Aber inzwischen gibt es da draußen mehrere Ausgaben von THOR; ebenso wie es viele verschiedene COYOTE-Gottheiten gibt und diverse Versionen von JESUS, BUDDHA und Elvis. Vielleicht könnten wir in Asgard einfallen und THOR 1.0 töten, aber selbst wenn es uns anschließend gelingt, der geballten Schlagkraft der übrigen nordischen Götter zu entgehen, bekämen wir es bei unserer Rückkehr nach Midgard womöglich mit der Comicausgabe von THOR zu tun, die uns aufmüpfiges Fußvolk wie Läuse zerquetschen würde. Hast du darüber schon mal nachgedacht?«

Leif blickte verdutzt. »Es gibt ein Comicheft über THOR

»Ja, ist dir das etwa entgangen? Außerdem gibt es einen Film über ihn, der auf dem Comic basiert. Hier in den Staaten ist THOR fast so etwas wie ein Held, und nicht der Blödmann, der er in Wahrheit ist. Er wird dich ignorieren, solange du dich unauffällig verhältst, aber ein Überfall auf Asgard dürfte vermutlich rasch seine Aufmerksamkeit wecken.«

»Hm. Und wenn es mir gelingt, eine Koalition aus Wesen zusammenzustellen, die sich an dem Überfall auf Asgard beteiligen und uns anschließend nach Midgard zurückbegleiten? Könnte ich bei einem derartigen Szenario auf deine Unterstützung zählen?«

Langsam schüttelte ich den Kopf. »Nein, Leif, tut mir leid. Ich bin unter anderem deshalb noch am Leben, weil ich mich nie mit einem Donnergott angelegt habe. Das ist eine gute Überlebensstrategie, und dabei bleibe ich. Aber solltest du tatsächlich etwas Derartiges wagen, dann rate ich dir, halte dich von LOKI fern. Er wird sich als dein Verbündeter ausgeben, aber bei der nächstbesten Gelegenheit bei ODIN alles ausplaudern. Und ehe du dich versiehst, ist das gesamte Pantheon mit angespitzten Holzpflöcken hinter dir her.«

»Was ich an dem Punkt einer weiteren Koexistenz mit ihm bei weitem vorziehen würde. Ich will Rache.«

»Rache wofür genau?« Normalerweise interessiere ich mich nicht für Vampirpsychologie, weil sie äußerst durchschaubar ist: Alles dreht sich immer nur um Macht und Territorium. Allerdings mögen sie es, wenn man ihnen Fragen stellt, denn dann können sie einen ignorieren und durch ihr Schweigen ungemein mysteriös wirken.

Leif kam nie dazu, mir zu antworten, auch wenn er kurz dazu anzusetzen schien. Aber gerade als sich sein Mund zum Sprechen öffnete, fiel sein Blick auf den unteren Teil meiner Kehle, wo mein Eisenamulett hing, und genau in dem Moment fühlte ich, wie sich die Stelle zwischen meinen Schlüsselbeinen zu erhitzen begann – ja geradezu brannte.

»Äh«, sagte Leif in einem seiner wohl unartikuliertesten Momente, »warum leuchtet dein Amulett?«

Glühende Hitze stieg in mir empor wie die Quecksilbersäule eines Thermometers an einem Augustmorgen. Schweiß drang aus den Poren meiner Kopfhaut, und ein Übelkeit erregendes Zischen deutete darauf hin, dass ein Teil von mir brutzelte wie Speck. Instinktiv wollte ich meine Halskette herunterreißen und auf den Rasen schleudern. Aber ich unterdrückte den Impuls, denn das glimmende Stück Eisen – die Antithese zur Magie – war das Einzige, was in diesem Moment mein Leben zu schützen vermochte.

»Ich werde magisch angegriffen!«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während ich die Armlehnen mit weiß hervortretenden Knöcheln umklammert hielt und mich auf das Ausschalten des Schmerzes konzentrierte. Ich versuchte damit nicht nur meine schreienden Nerven zu beruhigen: Wenn ich mich vom Schmerz überwältigen ließ, war das mein sicheres Ende. Schmerz ist der rascheste Weg, das Reptiliengehirn zu stimulieren, und befindet sich das erst einmal in Aufruhr, schaltet es so gut wie alle höheren Hirnfunktionen aus. Man ist unfähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen und jenseits eines primitiven Flucht-oder-Angriff-Reflexes zu reagieren. Ich wäre also nicht mehr in der Lage gewesen, zusammenhängend zu kommunizieren und Leif die Situation zu erklären, falls ihm der springende Punkt bisher entgangen sein sollte: »Jemand versucht mich zu töten!«

2

Leifs Vampirzähne sprangen hervor und er katapultierte sich von seinem Stuhl in meinen Vorgarten, um die Dunkelheit mit all seinen Sinnen nach Angreifern abzusuchen. Auch Oberon rappelte sich auf, knurrte mit aller ihm zu Gebote stehenden Bedrohlichkeit die Finsternis an und was sich darin verbergen mochte.

Ich wusste bereits, dass sie nichts finden würden. Jemand bewirkte dies aus großer Entfernung.

»Hexen!«, spie ich aus, während das Amulett weiter meine Brust verbrannte. Die Wirkung des Fluchs ließ bereits nach, und das rote Glühen verschwand. Doch immer noch stieg mir der Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Die Bemühungen, den Schmerz auszuschalten und meine versehrte Haut zu regenerieren, verbrauchten rasch meine Reserven, daher hievte ich mich hoch und wankte vorsichtig die Stufen hinunter auf den Rasen, wo ich meine Sandalen abstreifte und frische Energie aus der Erde tankte. Ich beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie, damit sich das Amulett von meiner Haut lösen und frei in der Luft baumeln konnte. Doch es blieb, wo es war – an meinem Fleisch festgebacken. Gar nicht gut.

»Ich würde dir beipflichten, dass du das Opfer von Hexerei geworden bist, dennoch vermag ich hier außer den üblichen Anwohnern niemanden zu entdecken«, verkündete Leif, der weiter nach Gefahren Ausschau hielt. »Wie dem auch sei, da du dieses Thema nun schon einmal dezent aufs Tapet gebracht hast …«

»Hab ich das wirklich?«, fragte ich mit gepresster Stimme. »Das Thema Hexen dezent aufs Tapet gebracht? Denn für mein Gefühl hab ich etwas völlig anderes getan, nämlich verhindert, dass ich bei lebendigem Leib von Hexen gegrillt werde.«

»Ich bitte um Verzeihung. Ich war auf der Suche nach einer geschickten Überleitung, doch offenkundig ist mir das gründlich misslungen, eine passende Wendung zu finden. Also, der berufliche Grund meines Besuchs heute Abend ist folgender: Ich wollte dir mitteilen, dass Malina Sokolowski deine letzten Bedingungen ohne Einwände und Änderungswünsche akzeptiert. Sie ist bereit, den Nichtangriffspakt zu unterzeichnen, sobald du es bist.«

»Na prima.« Ich krümmte mich vor Schmerzen, als ich an der Silberkette meines Amuletts zog, es von meiner Brust zupfte und sich etwas schwarzverbrannte Haut mit ablöste. »Aber das hier straft ihren Nichtangriffspakt ja wohl ganz offensichtlich Lügen, oder?«

»Nein.« Leif schüttelte den Kopf. »Kurz vor Abschluss eines Friedensabkommens mit dir würde sie niemals etwas Derartiges wagen.«

»Vielleicht ist es aber auch genau der richtige Zeitpunkt für einen Anschlag auf mich. Wir haben noch nichts unterzeichnet, daher steht sie ganz oben auf meiner Liste möglicher Verdächtiger.« Malina war die frischgebackene Anführerin eines Zirkels polnischer Hexen, die sich die Schwestern der drei Auroras nannten. Sie beanspruchten das gesamte East Valley – die hiesige Bezeichnung für die Städte Tempe, Mesa, Scottsdale, Chandler und Gilbert – als ihr Territorium, und das schon seit den Achtzigern, also lange bevor ich aufgetaucht war. Seit ich mich in den späten Neunzigern in der Gegend niedergelassen hatte, hatten sie mich im Wesentlichen ignoriert. Schließlich war ich allein, verhielt mich nicht feindselig und stellte auch keine besonderen Kräfte zur Schau, von meinen Kenntnissen heilender Kräuter einmal abgesehen. Wir begnügten uns damit, zu leben und den anderen leben zu lassen, bis eines Tages unsere Interessen auseinandergingen: Sie waren daran interessiert, einem Gott zu helfen, der mich töten wollte (im Austausch gegen eine freie Passage durch TÍR NA NÓG, wie ich ursprünglich glaubte, doch wie sich später herausstellte für ein Grundstück in MAG MELL). Und ich war daran interessiert, am Leben zu bleiben. An dem Punkt mussten die Hexen dann feststellen, dass sie mich bisher maßlos unterschätzt hatten. Ursprünglich waren es dreizehn Hexen gewesen, doch bei dem Versuch, mich zu töten, hatten sechs von ihnen ihr Leben gelassen. Daher war ich trotz Malinas fortwährendem Gesülze über Friedenstauben und Olivenzweige immer noch überzeugt, dass sie jede Gelegenheit beim Schopf ergreifen würden, um ihre Schwestern zu rächen.

»Ich hoffe, du wirst mir jetzt nicht vorschlagen, dass ich ihr einen Besuch abstatte«, sagte Leif mit spitzer Stimme.

»Nein, nein, ich schaue selbst bei ihr vorbei.«

»Das erleichtert mich über die Maßen. Übrigens interessiert sich dein neugieriger Nachbar für uns.«

»Du meinst Mr. Semerdjian?«

»Genau der.«

Ich blickte zur gegenüberliegenden Straßenseite hinüber, wobei ich den Kopf nur minimal drehte. Die Lamellen einer Jalousie im Haus gegenüber waren an einer Stelle etwas weiter gespreizt. In dem dunklen Spalt dazwischen lauerten ohne Zweifel die noch dunkleren Augen meines unfreundlichen Nachbarn.

»Kannst du irgendetwas Ungewöhnliches an ihm wittern?«, fragte ich Leif.

»Ungewöhnlich in welcher Hinsicht?«

»Hat er eventuell einen Anflug von Feengeruch an sich? Oder einen Hauch von Dämonenausdünstung?«

Leif lachte trocken und schüttelte den Kopf. »Die Menschheit wird wohl nie die Abgründe deiner Paranoia ausloten können.«

»Das hoffe ich stark, andernfalls erwischen sie mich vielleicht irgendwann unvorbereitet. Also, wie riecht er?«

Leif rümpfte angewidert die Nase. »Wie ein Chili Dog mit Senf und billigem Bier. In seinem Blut zirkuliert jede Menge Fett und Alkohol.«

›Wow. Ich hätte nie gedacht, dass er so lecker riecht‹, bemerkte Oberon.

»Die Witterung von Blut erinnert mich daran, dass ich heute Nacht noch trinken muss«, sagte Leif. »Da meine Pflicht getan ist, überlasse ich dich nun deiner Heilung und deiner persönlichen Hexenjagd. Ehe ich gehe, nur noch eines: Wirst du zumindest erwägen, dich unserer Allianz gegen THOR anzuschließen? Bedenke die möglichen Vorzüge. Tu mir den Gefallen.«

»Einverstanden, ich tu dir den Gefallen«, sagte ich. »Ich werde darüber nachdenken. Aber ehrlich gesagt möchte ich dir keine allzu großen Hoffnungen machen, Leif. Ich träumte nie von dieser Ehre, THORs Mörder zu sein.«

Der eisige Blick von Vampiren ist weitaus eisiger als der eisige Blick von Menschen. Und wenn der eisig blickende Vampir auch noch aus Island kommt, dann kriegst du es gewissermaßen mit dem Archetypus dieser sprachlichen Wendung zu tun, und du solltest nicht überrascht sein, wenn deine Körperkerntemperatur schlagartig um einige Grad sinkt. Leif starrte mich mehrere Sekunden lang auf diese Art an, dann sagte er ruhig: »Machst du dich etwa über mich lustig? Denn wenn du Shakespeare zitierst, dann häufig, um jemanden zu verspotten oder seine Torheit bloßzustellen.«

›Whoa, jetzt hat er dich ertappt, Atticus‹, bemerkte Oberon.

»Nein, Leif, ich stehe nur gerade etwas unter Stress.« Ich deutete auf mein schwitzendes Gesicht und auf das von meinem Hals baumelnde, immer noch dampfende Amulett.

»Ich denke, du lügst.«

»Komm schon, Leif …«

»Verzeih mir, aber unsere Zusammenarbeit hat mir gewisse Einblicke in deine Art des Denkens gewährt. Du hast gerade Julia zitiert. Willst du damit andeuten, dass ich Romeo ähnele, der sich in einen hitzigen, unüberlegten Kampf mit Tybalt stürzt, um Mercutios Tod zu rächen? Und meinst du vielleicht, ich könnte ebenso tragisch enden wie Romeo, wenn ich weiter meine Absichten gegen THOR verfolge?«

»Das habe ich damit nicht gemeint. Ganz und gar nicht«, erwiderte ich. »Und hätte ich darauf anspielen wollen, dann hätte ich eher die Worte Benvolios gebraucht als die Julias: ›Ihr Narren, fort! Ihr wisst nicht, was ihr tut.‹«

Leif starrte mich an, so reglos, wie es nur Vampire und Schmunzelsteine können. »Ich halte es da eher mit Hamlet«, entgegnete er schließlich. »›Nun tränk ich wohl heiß Blut und täte Dinge, die der bittre Tag mit Schaudern sähe.‹« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und bewegte sich rasch – vielleicht ein wenig zu rasch für ein menschliches Wesen – zu seinem auf der Straße geparkten schwarzen Jaguar XK Cabriolet hinüber. Er brummte noch ein beleidigtes »Gehab dich wohl«, bevor er hineinsprang, den Motor aufheulen ließ und in einem untoten Temperamentsausbruch davonjagte.

›Kumpel, wenn das gerade ein Shakespeare-Zitate-Duell war, hat er dich ganz schön alt aussehen lassen.‹

Ich weiß. Aber ich hab etwas von T.S. Eliot eingestreut, und es ist ihm nicht aufgefallen. Außerdem werde ich mich hoffentlich nächstes Mal nicht von einem Mordanschlag erholen müssen und wieder besser abschneiden. Ich stand immer noch vorgebeugt da, damit das Amulett nicht auf meine Brust zurückfallen konnte. Ich musste dringend irgendetwas unternehmen – wollte es aber nicht vor den Augen Mr. Semerdjians tun, der mich sicherlich noch beobachtete.

Oberon, ich möchte, dass du die Straße überquerst, dich irgendwo seitlich an den vorderen Rand seines Rasens hockst und ihn anstarrst.

›Das ist alles? Nur dasitzen? Denn ich möchte nichts anderes machen, während er zuschaut.‹

Das ist alles. Du sollst ihn nur ablenken. Seit du ihm mal ein kleines Präsent hinterlassen hast, befürchtet er, du könnest es wieder tun. Es war ein sehr nachhaltiges Geschenk.

Eigentlich war es eine Schande, dass Mr. Semerdjian und ich nicht miteinander auskamen. Er war ein leicht dicklicher libanesischer Herr Ende sechzig, der sich schnell lautstark erregte und mit dem es vermutlich viel Spaß gemacht hätte, Baseballspiele anzuschauen. Wir wären wohl auch gut miteinander klargekommen, hätte er sich nicht gleich nach meinem Einzug als ein solcher Blödmann erwiesen. Aber ebenso gut könnte man wahrscheinlich sagen, der Ertrinkende hätte nicht sterben müssen, hätte er Wasser atmen können.

›In Ordnung, aber dafür ist dann mindestens ein Würstchen fällig.‹

Abgemacht. Außerdem gehen wir später noch laufen.

›Warte. Er erinnert sich doch hoffentlich nicht mehr an die Geschichte im Papago Park, oder?‹ Oberon bezog sich auf einen tragischen Vorfall, bei dem ein Parkranger ums Leben gekommen war und Mr. Semerdjian anschließend versucht hatte, uns die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Nein. Leif hat ihn einer patentierten Vampir-Gehirnwäsche unterzogen. Das brachte mich auf den Gedanken, dass es manchmal ziemlich praktisch war, einen Vampir zum Freund zu haben. Ich hoffte, Leif würde mir nicht allzu lange böse sein.

›Okay, das könnte Spaß machen.‹ Oberon trottete über die Straße, und der Spalt in der Jalousie wurde größer, als Mr. Semerdjian das Versteckspielen aufgab. ›Ich kann jetzt seine Augen sehen.‹

Während die beiden sich zu ihrem visuellen Showdown trafen, zog ich Kraft aus der Erde und beschwor einen dichten, lokal begrenzten Nebel herauf. Arizona ist berühmt für seine trockene Luft, aber in der ersten Novemberwoche und bei heraufziehendem Gewitter lässt sich hier durchaus Wasserdampf finden und magisch binden. Während das Wasser langsam kondensierte, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Regeneration meiner verbrannten Haut zu und erzielte jetzt deutlich bessere Ergebnisse, weil das Amulett mein Fleisch nicht mehr schneller versengte, als es heilen konnte.

Der Anhänger war jedoch immer noch viel zu heiß, daher lief ich gebückt zum Gartenschlauch und drehte ihn auf. Bevor ich fortfuhr, kontrollierte ich vorsichtshalber, ob auch wirklich Nebel aufgezogen war. Ich sah Oberon noch an seinem Platz unter einer Straßenlaterne hocken, aber die Fenster von Mr. Semerdjians Haus waren schon nicht mehr zu erkennen. Das reichte. Ich hob eine Hand vor mein Gesicht, um es gegen den aufsteigenden Dampf zu schützen, dann richtete ich den Wasserstrahl auf das Amulett.

Es zischte, brodelte und der erwartete Dampf schoss wie ein Geysir empor, aber schon nach ein paar Sekunden kühlte das Metall merklich ab.

›Hey, ich glaube, er kommt nach draußen‹, rief Oberon.

Kein Problem. Bleib einfach ruhig sitzen und starre ihn weiter an. Und wenn du kannst, wedle mit dem Schwanz.

›Unmöglich. Ich mag ihn einfach nicht.‹

Ich hörte, wie Mr. Semerdjian in höchster Erregung aus dem Haus stürzte. »Verschwinde von hier, du dreckiger Köter! Husch! Weg da!«

›Hat er mich gerade Köter genannt? Das war aber sehr unhöflich. Hey, er hält eine zusammengerollte Zeitung in der Hand.‹

Wenn er damit auf dich losgeht, knurr ihn an.

›Cool. Da kommt er.‹ Ich hörte Oberon bedrohlich knurren, und Mr. Semerdjians gebieterische Kommandos schlugen abrupt in ein um mehrere Oktaven höheres, schrilles Flehen um.

»Ahhhh! Braves Hundchen! Bleib nur sitzen! Braver Hund!«

›Der muss mich für blöd halten. Erst geht er mit der Zeitung auf mich los und will mir auf den Kopf schlagen, dann sagt er ›braver Hund‹ und erwartet, dass ich alles wieder vergesse? Ich denke, er verdient ein lautes Bellen.‹

Nur zu. Das Amulett kühlte jetzt rasch ab; noch ein paar Sekunden und es würde wieder auf meiner Brust liegen können, ohne weiteren Schaden anzurichten. Oberon bellte wütend, und Mr. Semerdjians panische Stimme erreichte Mariah-Carey-Höhen.

»O’Sullivan! Rufen Sie Ihren Hund zurück, verdammt! O’Sullivan! Kommen Sie sofort hier herüber! Woher kommt denn auf einmal dieser beschissene Nebel?«

Zufrieden drehte ich das Wasser ab, richtete mich auf und ließ das Amulett zurück auf meine Brust fallen. Sie war noch nicht vollständig geheilt, sah aber schon wieder besser aus, und den Schmerz hatte ich unter Kontrolle. Langsam schlenderte ich über die Straße zu der Stelle, an der Oberon saß.

»Ist ja gut«, sagte ich ruhig, während ich aus dem Nebel auftauchte und mich plötzlich wie eine fahle Lichtsäule neben meinem Hund materialisierte. »Wozu die Aufregung, Mr. Semerdjian? Mein Hund sitzt einfach nur da und verhält sich kein bisschen angriffslustig.«

»Er läuft frei herum«, stotterte er.

»Ebenso wie Sie«, stellte ich fest. »Wenn Sie sich ihm nicht in bedrohlicher Weise genähert hätten, hätte er Sie niemals angeknurrt, geschweige denn gebellt.«

»Wie auch immer!«, fauchte Semerdjian. »Er darf nicht ohne Leine herumlaufen! Und er hat nichts auf meinem Grundstück verloren! Ich sollte die Polizei rufen!«

»Ich glaube, das letzte Mal, als Sie mir die Polizei auf den Hals gehetzt haben, haben Sie eine Verwarnung wegen Missbrauchs der Notrufnummer erhalten, erinnere ich mich da richtig?«

Semerdjians Gesicht verfärbte sich dunkellila, und er brüllte: »Verschwinden Sie von meinem Grundstück! Sie beide!«

Folge mir rückwärts über die Straße, bis wir aus seinem Blickfeld verschwunden sind, wies ich Oberon an. Jetzt. Während wir uns zurückzogen und Nebel uns umhüllte, behielten wir Mr. Semerdjian sorgfältig im Auge. Ich malte mir aus, wie das Ganze für meinen Nachbarn aussehen musste: ein Mann und sein Hund, die hintereinander rückwärts gingen, ohne dass der Mann dem Hund ein hörbares Kommando erteilt hatte, und die schließlich wie Gespenster im Dunst verschwanden.

Das sollte ihm einen ordentlichen Schrecken einjagen, erklärte ich Oberon. Und tatsächlich rief Mr. Semerdjian hinter uns her, während wir den Weg die Straße hinunter einschlugen.

»Sie sind ein gruseliger Bastard, O’Sullivan!«, schrie er, und ich musste ein Lachen unterdrücken angesichts der Ironie dieser Beschimpfung. »Sie und Ihr Hund halten sich besser von mir fern!«

›Das war ziemlich lustig‹, schnaufte Oberon. ›Wie heißt das noch mal, wenn man sich einen Spaß mit jemandem erlaubt?‹

Ein Streich. Ich trabte los, während Oberon neben mir her trottete. Ich löste die magische Bindung vom Wasserdampf, woraufhin sich der Nebel zerstreute. Wir sind wie die Merry Pranksters von 1964, die Mr. Semerdjian seinen Acid Test verabreichen, allerdings ohne dass er in den Genuss von Acid käme.

›Was ist ein Acid Test?‹

Ich erzähle dir alles darüber, wenn wir nach Hause kommen. Da du anscheinend ein schmutziger Köter bist …

›Hey!‹

… brauchst du dringend ein Bad. Während du badest, erzähle ich dir alles über die Merry Pranksters und den Electric Kool-Aid Acid Test. Aber jetzt lass uns zum Markt joggen und dir das versprochene Würstchen besorgen.

›Einverstanden! Ich will eins von diesen saftigen Hähnchen-Apfel-Würstchen.‹

Macht es dir was aus, wenn ich vorher kurz telefoniere? Ich muss Malina anrufen und sie wissen lassen, dass ihr Fluch nicht gewirkt hat. Ich zog mein Handy heraus und suchte nach Malinas Nummer.

›Kein Problem. Aber bevor ich’s vergesse, sollte ich dir wohl besser noch sagen, dass dich Leif vorhin möglicherweise belogen hat.‹

Wie das? Ich runzelte die Stirn.

›Erinnerst du dich noch daran, wie du mich vor vier Tagen in den Superstition Mountains gerettet hast und ich eine Nasevoll von dem Dämonengestank erwischt hab?‹

Das war vor drei Wochen und nicht vor vier Tagen, aber ja, ich erinnere mich daran.

›Also, Leif hat behauptet, Mr. Semerdjian würde nicht nach Dämon riechen, aber irgendwie hat er doch danach gestunken. Und er tut’s immer noch. Wenn du mir nicht glaubst, dann verwandle dich in einen Hund. Deine verkümmerte menschliche Nase hilft dir da nicht weiter.‹

Warte. Moment. Ich blieb mitten auf der Straße stehen. Oberon hielt nach ein paar Schritten ebenfalls inne und blickte mit heraushängender Zunge zu mir zurück. Wir befanden uns immer noch auf der Eleventh Street, kaum mehr als einen Block von meinem Haus entfernt. Die Straßenlaternen warfen in regelmäßigen Abständen Lichtkegel, die in der Dunkelheit wie gelbe Partyhüte wirkten. Du witterst noch immer Dämonengestank, obwohl wir schon ein ganzes Stück die Straße runter sind?

›Klar. Und es wird immer schlimmer.‹

O nein, das ist gar nicht gut, Oberon. Ich schob mein Handy wieder in die Tasche. Wir müssen zurück zum Haus. Ich brauche mein Schwert. Vor uns, etwa einen Häuserblock entfernt, bewegte sich irgendetwas im Schatten. Es besaß die Größe eines Volkswagen-Käfers und schien auf unnatürliche Weise über dem Boden zu schweben, bis ich erkannte, was es antrieb: überlange, groteske Insektenbeine, die einen massigen Torso trugen, der vage an eine Heuschrecke erinnerte. Eigentlich können Insekten aufgrund ihres Tracheensystems nicht größer als rund fünfzehn Zentimeter werden, doch das war diesem Dämon offenbar gleichgültig.

Renn nach Hause, Oberon! Jetzt! Ich wirbelte herum, um mit Höchstgeschwindigkeit zu meinem Vorgarten zu sprinten. Dabei hörte ich, wie der Dämon augenblicklich die Verfolgung aufnahm und seine mit Chitin gepanzerten Beine klackend über den Asphalt trommelten. Es gelang uns nicht, den Abstand zu dem Dämon zu vergrößern, im Gegenteil, er kam eher noch näher. Mir würde keine Zeit bleiben, mein Schwert zu holen.

3

Dämonen riechen wie Arsch und Friedrich – ein richtig fieser Gestank, der einem die Kehle runterrutscht, den Würgereflex findet und dann mit Autorität darauf hocken bleibt. Ich hatte eine Überdosis davon erwischt, als AENGHUS ÓG in diesen Gefilden eine Horde Dämonen entfesselt und ihnen den Auftrag erteilt hatte, mich zu töten; und nun wehte auch mich der üble Hauch des Exemplars hier an. Es war ganz sicher kein Aroma, das Gold Canyon demnächst in ihr Duftkerzen-Programm aufnahm.

Einige der freigesetzten Dämonen waren stark genug gewesen, AENGHUS ÓGs Bann zu entkommen, und sie waren in die Berge geflüchtet, um dort auf eigene Faust Unheil anzurichten. Obwohl FLIDAIS – die keltische Göttin der Jagd – die meisten von ihnen unschädlich gemacht hatte, waren immer noch einige auf freiem Fuß, und ich wusste, irgendwann würden sie mich heimsuchen. Trotz AENGHUS’ Tod war sein Bann der einzige Grund für ihre Anwesenheit in unseren Gefilden, und solange sie seinen Auftrag nicht erfüllt hätten, wären sie niemals richtig frei. Der Bann würde so lange an ihnen zerren, bis sie ihren Widerstand aufgäben. Den Großteil der Horde hatte ich mit Kaltem Feuer getötet, aber der Bursche hier musste schnell genug außer Reichweite gelangt sein. Von der Macht der magischen Bindung getrieben, hatte er mich nun aufgespürt.

Renn hinters Haus, Oberon. Mein Freund war mir bereits ein ganzes Stück voraus. Mit diesem Ding kannst du es unmöglich aufnehmen.

›Da möchte ich dir nicht widersprechen‹, erwiderte er. ›In was so eklig Stinkendes will ich sowieso nicht reinbeißen.‹

Mein Rasen war nicht mehr weit entfernt und der Dämon war dicht hinter mir. Abgesehen von dem Geklapper seiner sechs Beine hörte ich nun auch das Pfeifen seiner Atemlöcher. Sobald ich die bloße Erde erreichte, würde ich Kraft tanken und das Ding mit Kaltem Feuer schlagen können, obwohl dieser Plan auch gewisse Nachteile mit sich brachte: Erstens braucht Kaltes Feuer eine gewisse Zeit, um seine Wirkung zu entfalten, und zweitens würde mich sein Gebrauch so sehr schwächen, dass ich anschließend völlig wehrlos war.

Ohne ein Schwert, das Chitin durchdringen konnte, und ohne das nötige Zeitpolster für den Einsatz von Kaltem Feuer musste ich mich wohl darauf verlassen, dass meine magischen Schutzvorrichtungen den Dämon ausschalteten, bevor er mich ausschalten konnte. Auch das würde etwas Zeit in Anspruch nehmen, aber vielleicht konnte ich mich hinter meinem Mesquite-Baum verkriechen, außer Reichweite der gezackten, rasiermesserscharfen Vorderbeine, bis mein druidischer Zauber seine Wirkung entfaltete.

Die Erde hilft einem nur zu bereitwillig, wenn es um das Beseitigen von Dämonen geht. Diese Kreaturen gehören nicht zu der Erde, ja sie sind ihr ein Greuel, daher ist es ziemlich leicht, sie zur Errichtung eines Dämonen-Schutzbanns um das eigene Haus zu bewegen. Man muss ihr nur beibringen, die Anwesenheit von Dämonen wahrzunehmen und dann die verschmutzte Stelle zu reinigen, schon ist die Sache geritzt – zumindest theoretisch.

Ein gewisses Problem besteht darin, dass die Erde nicht gerade für ihre rasche Reaktionszeit bekannt ist. Alle zehn Jahre meditiere ich eine Woche lang und setze mich mit ihrem Geist in Verbindung, den die Menschen heutzutage GAIA nennen. Dabei plaudert sie gerne über die Kreidezeit, als wäre das gerade erst letzte Woche gewesen. Doch ein auf Sicherheit bedachter Druide kann sich eine solch langfristige Planung in Bezug auf gefährliche Eindringlinge nicht leisten. Deshalb hatte ich meinen Mesquite-Baum als erste Verteidigungslinie und zugleich als Alarmsignal für den Elementargeist der Sonora-Wüste eingerichtet. Der Elementargeist konnte die Aufmerksamkeit der Erde wesentlich rascher wecken als ich – und möglicherweise sogar als GAIAs Vorkämpfer auftreten. Im Grunde hatte ich jedoch nicht die leiseste Ahnung, was wirklich geschehen würde, wenn ein Dämon den Zorn der Erde weckte; ich setzte einfach darauf, dass die Erde gewinnen würde.

Als mein Fuß endlich das Gras meines Vorgartens berührte, hätte ich vor Erleichterung beinahe laut aufgeschrien. Augenblicklich zog ich aus der Erde neue Energie, die meine erschöpften Muskeln wieder auflud und mein Blut mit Sauerstoff anreicherte. Das verlieh mir schlagartig Tempo und erlaubte es mir, einem herabsausenden Stoß des Dämons um Haaresbreite zu entgehen. Sein klauenbewehrtes Vorderbein pfiff knapp an meiner Wade vorbei und bohrte sich tief in den Erdboden. Dabei fiel mir ein Trick wieder ein, den ich bei einigen Fir Bolgs angewandt hatte, die mich auf meinem Grundstück angegriffen hatten.

»Coinnigh!« Im Rennen richtete ich den Zeigefinger auf die Klaue des Insekts hinter mir und befahl der Erde, sich fest darum zu schließen. Das bremste den Dämon ab, machte ihn jedoch nicht gänzlich bewegungsunfähig. Das Chitin war einfach zu glatt, als dass die Erde es hätte fest umklammern können. Nachdem das Höllenwesen ein paarmal kräftig an seinem Vorderbein gerissen hatte, war es wieder frei. Trotzdem hatte ich zwei Dinge erreicht: Ich hatte ausreichend Zeit gewonnen, um mich hinter den Mesquite-Baum zu flüchten. Außerdem waren nun definitiv all meine Schutzvorrichtungen alarmiert.

Dornige Bougainvillea-Ranken schossen aus den Pfosten meiner Veranda und versuchten den Dämon zu umschlingen. Er hatte auf den zweiten Blick überhaupt nichts Heuschreckenartiges, sondern glich mit seinem Zahnrad-Rückenpanzer und seinem bedrohlichen Rüssel, den er in seine Opfer bohrte, um ihnen sämtliche Köpersäfte auszusaugen, eher einer gigantischen, schwarzen Raubwanze. Doch die Bougainvillea-Ranken waren nicht kräftig genug für ein solches Höllenwesen; sie verdorrten bei der ersten Berührung. Der Rasen unter der Kreatur wellte sich und brach auf, die Wurzeln meines Mesquite-Baums schossen aus dem Erdreich empor und schlangen sich um die vier hinteren Extremitäten des Dämons. Das erregte definitiv seine Aufmerksamkeit. Er kreischte in für Menschen kaum noch hörbaren Tonlagen seine Wut heraus, während er wild um sich schlug. Doch ähnlich wie die Ranken ertrugen auch die Wurzeln meines armen Baums die Berührung des Dämons nicht lange. Gerade mal zehn Sekunden hielten sie ihm stand. Hätte ich geahnt, welche aufopfernden Dienste sie leisteten, hätte ich das Kalte Feuer eingesetzt und es beendet.

»O’Sullivan! Was zum Teufel ist das für ein Ding?«

Götter der Unterwelt, Mr. Semerdjian war immer noch draußen! Und jetzt, da der Nebel sich gelichtet hatte und die Straßenlaternen wieder ihrer Aufgabe nachkamen, bot sich ihm ein Anblick, der sterblichen Augen eigentlich niemals zuteilwerden dürfte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm das Ganze auch nur ansatzweise erklären sollte. »Äh, ich bin augenblicklich sehr beschäftigt!«, sagte ich.

»Da werden Sie aber eine verdammt große Dose Insektenspray brauchen!«, rief er. »Oder vielleicht eine Panzerfaust. Ich hab eine in der Garage, wollen Sie die?«

»Was? Nein, Mr. Semerdjian, bitte nicht! Es würde nichts helfen! Bleiben Sie einfach, wo Sie sind!«

Ich musste ihn ausblenden. Wenn ich mich von ihm ablenken