Jutta Schubert
Zu blau der Himmel
im Februar
Roman
Das Umschlagbild zeigt Alexander Schmorell, eine Zeichnung nach dem Ausschnitt einer Fotografie von Angelika Knoop-Probst (1918-1976), der Schwester von Christoph Probst, aufgenommen zu Ostern 1939.
Gewidmet
Alexander Schmorell
und allen
im Widerstand gegen die Nationalsozialisten
im Jahre 1943 hingerichteten Menschen um die Weiße Rose
Gegen das Vergessen
Und mit Dank
für Michael Stacheder
„Mit der Herstellung und Verbreitung unserer Flugblätter wollten Hans Scholl und ich einen Umsturz herbeiführen. Wir waren uns darüber im Klaren, dass unsere Handlungsweise gegen den heutigen Staat gerichtet ist … Was ich damit getan habe, habe ich nicht unbewusst getan, sondern ich habe sogar damit gerechnet, dass ich im Ermittlungsfalle mein Leben verlieren könnte. Über das alles habe ich mich einfach hinweggesetzt, weil mir meine innere Verpflichtung zum Handeln gegen den nationalsozialistischen Staat höher gestanden ist.“
Alexander Schmorell
in den Verhörprotokollen vor der Gestapo, 1943
„Ich muss damals schon oft an der Gedenktafel für Sophie Scholl in der Franz-Joseph-Straße vorbeigegangen sein, ohne sie zu bemerken. Eines Tages fiel sie mir auf, und als ich mir vergegenwärtigte, dass sie 1943 hingerichtet wurde, als mein Leben bei Hitler erst so richtig begann, war ich zutiefst schockiert. Sophie Scholl war ursprünglich ja auch ein BDM-Mädchen, ein Jahr jünger als ich, und sie hatte sehr wohl erkannt, dass sie es mit einem Verbrecherregime zu tun hatte. Mit einem Mal kam mir die Entschuldigung abhanden.“
Traudl Junge, Hitlers Sekretärin,
in einem Interview 2002
„Das Problem mit der Freiheit ist, wenn du einmal in ihre Richtung gelaufen bist, kannst du nicht mehr ohne sie leben.“
Syrischer Freiheitskämpfer, 2011
1
Im Zug von München nach Klais beginne ich mit den Aufzeichnungen. Es ist Februar. Föhnwetter, blauer Himmel, fünfzehn Grad, eine milde Sonne. Hier fuhr er entlang.
An der Bahnstrecke sitzen die Leute in ihren Gärten in Liegestühlen, als sei schon Mai.
Was hat er vom Zugfenster aus gesehen? Falls er überhaupt etwas sah und nicht die Todesangst seine Wahrnehmung trübte.
Die Bäume – viele sind älter als siebzig Jahre, also muss er sie gesehen haben. Zu welcher Tageszeit sah er sie? Wie lange brauchte der Zug damals? Nichts ist sicher. Nichts wird man mehr genau wissen können, niemals mehr.
Bei geschlossenen Augen zeichnet die Sonne groteske Reflexe aus Licht und Schatten auf die Lider. Ein Flirren.
Er hatte sicherlich die Augen offen. Er wird nicht gewagt haben, sie auch nur für einen Moment zu schließen.
Die wenigen, die ich noch fragen konnte, bestätigten, dass das Wetter genau so war. Ein strahlender Vorfrühling, der den Beteiligten grotesk und grausam erschien, eine Vorankündigung nahen Lebens, des Wiedererwachens der Natur und mitten darin ein sinnloses Sterben, wie zufälliger Tod.
Der Zug passiert Starnberg. Links liegt der See. Das Strandcafé ist um diese Jahreszeit noch geschlossen, eine auf spätere Tagestouristen und sonnenhungrige Urlauber wartende Idylle. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt erreicht der Zug Tutzing.
Bestimmt hatte er Angst vor Kontrollen, war er nervös, konnte kaum erwarten, dass der Zug endlich weiterfuhr. Vielleicht bereute er flüchtig, seine Uniform verbrannt zu haben. Sah den Moment wieder vor sich und Lilos schreckgeweitete Augen, als sie sagte: „Damit schneidest du dir jeden Rückweg ab.“
„Es gibt keinen Rückweg“, hatte er ihr geantwortet, aber in dem Augenblick, als er das sagte, glaubte er wahrscheinlich selbst noch nicht so bedingungslos daran. Erst später, jetzt vielleicht, hier.
Es ist angenehm, so in der Sonne am Fenster zu sitzen. Eine Schulklasse, die sich wohl auf einem Ausflug befindet, steigt in Tutzing aus. Es wird augenblicklich spürbar stiller im Abteil. Die Fahrt geht durchs Alpenvorland. Grauer Mischwald, Schneereste in den Senken. Dazwischen trockene Hochebenen, bleiches Gras. Links ein kleiner See, auf dem noch Eis schwimmt, ein Schwan am Ufer. Zwiebeltürme. Weilheim. Zugefrorene Tümpel. Am Bahnhofsgebäude ein rostiges Schild mit der Ortsaufschrift. Hing es damals schon? Hinter Weilheim tut sich links der Blick in die Berge auf, eine blassblaue Silhouette, sich scheinbar entfernend.
Endlich, muss er gedacht haben. Hinter diesen Bergen erhoffte er sich die Rettung.
Auch zur Rechten sieht er jetzt Bergketten. Die Gipfel im Schnee. Langsam, aber stetig, fährt er auf die Berge zu. Eine Melodie schießt ihm durch den Kopf, er denkt flüchtig an Tschaikowskys Symphonien, er sieht das Klavier, die Balalaika, seine Zeichnungen … und es durchzuckt ihn ein Schmerz wegen der Dinge, die er zurücklassen musste und jetzt schon vermisst, die er künftig immer vermissen wird. Einst, in einem anderen Leben, haben sie zu ihm gehört, einem Leben, aus dem er gerade verzweifelt hinausfährt, mit unbekanntem Ziel. Und Hans … – er bricht den Gedanken ab.
Hinter Uffing matschige Feldwege, Traktorspuren im Schlamm, rechts der Staffelsee, dahinter nah, viel näher schon, die Kulisse der Berge, Sonnenlicht in den Schneehängen, ein perfektes Modell für romantische Ölbilder, im Vordergrund Maulwurfshügel in den Wiesen, immer sehen sie ein bisschen wie frische Gräber aus. Könnte man sich doch unter der Erde verstecken! Bei Murnau schimmert der See weißlich vom Eis. Starres Wasser. Die Ohren dröhnen von der Stille.
Er kann sich nicht sattsehen. Wie herrlich das Land ist. Diese Landschaft wird bleiben. Bleiben. Alles überstehen. Rechts rücken die Berge zum Greifen nahe. Ununterscheidbare Gipfel. Es geht ihm nicht schnell genug. Fahr, fahr! Ein Bachlauf in den Wiesen. Alles fließt von München fort. Fort. Pferde. Höfe. Die schroff aufragenden Hänge. Da hinüber jetzt. Weiter. Birken, Tannen, nasses Heu, Bretterhütten, abgestellte Güterwaggons, das gleichmäßige Rattern des Zuges. Seine Unruhe wächst.
Einmal ein Hund an einem Gatter. Dann Schafe. Zottige Ponys im Schlamm. Eine Stille draußen, die zwischen den Schneeflecken ausgebreitet ist. Man fürchtet sich, sie aufzustören. Schon ein Blick zu viel verrät die Landschaft. Entlang der Loisach. Das Selbstbewusstsein der Gebirgsflüsse, unbeschwerte, zur Schau gestellte Kraft. Vom Zugfenster aus sieht man die Eiszapfen schnell in der Sonne schmelzen. Über Ohlstadt, Eschenlohe nach Oberau. Der Zug hält quietschend. Niemand steigt ein. Langsam wird es klar: Dies ist ein harmloser Ausflug. Oder aber eine Flucht.
Ungefähr hier könnte er schon vorsichtig aufgeatmet haben. Bald. Bald!
Die Berge so nah. Schnee auf den Dächern. Nackter Fels und unwahrscheinliche Schneeschrägen, Abgründe, unwegsames Gelände. Dort hinauf, wer könnte das jetzt wagen? Nur ein Verzweifelter forderte das heraus. Nein. Nicht einmal er. Was liegt hinter der Bergeinsamkeit?
Endlich Garmisch. Seine Angst nimmt wieder zu. Er spürt sein Herz, einen Klumpen, beschwerlich, steinig. Das Alleinsein schmeckt bitter unter der Zunge. Niemand erwartet ihn. Nirgends. Niemand weiß in dieser Minute, wo er sich befindet. Der Zug steht lange in Garmisch am Bahnsteig. Zu lange. Die Angst wandert tiefer. Sitzt im Bauch. Ein Kreisel. Leichter Schwindel. Er hält sich am Fenster fest. Für einen Moment hinterlässt seine warme Hand auf der kalten Scheibe den Hauch einer flachen Spur. Schon gelöscht.
Ich höre ein Martinshorn, draußen in der Stadt, es kommt schnell näher, entfernt sich dann wieder. Bis auf ein älteres Paar weiter vorne im Wagen bin ich allein, eingehüllt vom Schweigen der Reise. Niemand steigt ein.
Menschenskind, fahr. Fahr doch! Er schließt kurz die Augen, spürt seine Müdigkeit in allen Knochen, dahinter die Anspannung. Nicht einschlafen. Endlich. Die Türen zu. Er fährt. „Nächster Halt des Zuges ist Klais.“
Die Berge im Mittagslicht. Erhaben. Wie klein sind wir dagegen, wie lächerlich. Er hatte den unsinnigen Gedanken, die Nähe der Berge gewähre im Schutz. Eintauchen zu können in die stumme Bergwelt. Holz werden, Stein, Schnee. Niemals vorher wird er eine solche Stille empfunden haben. Etwas, das ihn abgrenzte. Ein für alle Mal.
Das Tal verengt sich. Links Baumhänge direkt am Bahndamm. Schmale Wege. Es bleibt nicht viel Land, auf das ein Flüchtender seinen Fuß setzen könnte. Der Schnee zeigt seine Spur. Er macht ihn lächerlich klein. Unbedeutend.
Der Zug schiebt sich durch das Hochtal, langsam, zielstrebig, in stetiger Vorwärtsbewegung. Waldsenken. Schneebecken. Dazwischen das Laub vom Vorjahr und viel trockenes Geäst. Wie trocken das alles. Hell. Klar. Von einer harten Klarheit, die sich widerspiegelt im eigenen Kopf. In dieser Klarheit kann jeder Schritt der letzte sein. Ein Kruzifix am Weg. Vertrocknete Blumen. Unberührte Schneeflächen, Wildspuren. Dann zwei Skiläufer. Das Tal öffnet sich.
Vor ihm die Berge, er fährt direkt darauf zu.
Der Bahnhof – ein kleines Häuschen, alpenhausähnlich, rechts davon einige alte Holzschuppen, das stand sicher alles damals schon. „Deutschlands höchstgelegener Intercity-Bahnhof. 933 m“, steht heute stolz an der Hauswand. Zwei Geleise in der Landschaft, weiter nichts. Fällt schwer, hier nicht aufzufallen.
Hier stand er also. Vor sich das Karwendelgebirge, die österreichische Grenze. Hinter sich sein Leben. In Nikolais Jacke, in Lilos Pullover, mit Nikolais Pass. Ich nehme an, ihn fror. In jenem Februar 1943, am fünften Tag seiner Flucht.
2
Ich stelle mir vor, er kam wie irgendein Bergwanderer vor Einbruch der Dunkelheit in Klais an. Als er aus dem Zug stieg, fiel die Anspannung, die ihn während der Fahrt von München wach gehalten hatte, von ihm ab und er spürte, wie müde er war. Noch auf dem Bahnsteig begann es in dünnen Flocken zu schneien und er stand, eingehüllt in Nikolais Jacke, die kaum Wärme gab, für einen Moment wie gefangen in seinem Körper da. Die Stille um ihn, die er schon auf der Zugfahrt gespürt hatte, nahm zu. Sie hatte etwas Endgültiges. Zwei Geleise in der Landschaft, weiter nichts. Dazu das kleine schäbige Bahnhofsgebäude. Alles machte den Eindruck, als sei es vor geraumer Zeit verlassen worden und Alex fragte sich mit aufsteigender Verzweiflung, ob es tatsächlich richtig war, hierher gekommen zu sein. Aber er hatte keine Zeit für lange Überlegungen. Seine Entscheidung war sowieso gefallen und jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Er musste sehen, dass er nach Elmau hinaufkam, bevor es stockdunkel war. Außerdem sollte er so schnell wie möglich vom Bahnhof weg, bevor er sich verdächtig machte. Ein einzelner junger Mann, der nicht in Uniform und ohne Gepäck einfach so in der Gegend herumstand, konnte nicht lange unentdeckt bleiben.
Er hatte nicht bemerkt, ob außer ihm noch jemand hier ausgestiegen war. Sollte das aber der Fall gewesen sein, so hatten die einsetzende Dämmerung und das heftiger werdende Schneetreiben ihn bereits verschluckt. Alex blickte sich um. Er befand sich allem Anschein nach allein auf dem Bahnsteig. Er atmete kurz auf. Das sah nicht nach Kontrollen aus. Um trotzdem von niemandem angesprochen zu werden, mied er den kleinen Bahnhofschalterraum, ging stattdessen links um das Bahnhofsgebäude herum und einen schmalen Fußweg zur Straße hinauf. Der Ort umfasste nicht einmal ein Dutzend Häuser und Höfe, die sich hinter dem Bahnhof rechts und links in lockerer Folge die Dorfstraße hinauf zogen. Alex folgte der Straße, es war sowieso die Einzige. Er ging zielstrebig, bemühte sich aber, keinen hastigen Eindruck zu machen. Obwohl ihm niemand begegnete und auch nicht erkennbar war, dass jemand ihm folgte, wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Er hatte keine Ahnung, wo der Weg abzweigte, aber er war sicher, dass er ihn finden würde. Es gab gar keine andere Möglichkeit. Vorbei an der Post, wo durch die Schneeflocken in der Dämmerung noch ein schummriges Licht zu erkennen war, das sicher bald verdunkelt würde, gelangte er zu einem kleinen Dorfplatz. Dort, zwischen dem Gasthof und einer Kapelle mit Holzturm zweigte eine Straße ab, und nachdem er sie nur wenige Meter hinauf gegangen war, sah er einen hölzernen Wegweiser mit der Aufschrift: Nach Elmau.
3
Rot – scharlachrot war die Farbe des Schnees.
Ein viel zu grelles Licht traf seine Augen, so dass er sie für einen Moment schloss, und als er sie vorsichtig wieder öffnete, war das weite Schneefeld vor ihm rot und färbte sich immer dunkler ein. Von den Rändern des Bildes, die langsam ausfransten, verstärkte es sich und für Sekunden sah er eine rote Fläche, Schnee und Himmel zusammengeschmolzen zu einem orangeroten, grellen Fleck. Er hielt die Hand schützend vor die Augen und blieb stehen. Vielleicht bin ich schneeblind, dachte er, jedenfalls, so kann ich nicht weitergehen. Da bemerkte er den Wind, der über den Bergrücken kam und rasch an Geschwindigkeit zunahm. Der Wind wirbelte den Schnee auf wie feinen Sand und trieb ihn ihm in die Augen, so dass sie zu tränen begannen. Er spürte die Schneekristalle wie Nadeln auf dem Gesicht, wo sie mit einem winzigen stechenden Schmerz aufprallten und sofort schmolzen. Der Sturm war so heftig geworden, dass er taumelte, er machte ein paar mühsame Schritte rückwärts und dabei hörte er das Lachen. Es klang kräftig und hart und hallte ein wenig. Ihm war, als käme es als Echo von den Bergwänden zurück, aber die Quelle dieses Lachens schien ganz nah bei ihm zu sein. Er zwang sich, hinzusehen. Vor ihm saß Freisler in einer Schneewehe, bis zum Bauch eingegraben in den Schnee, seine scharlachrote Robe flatterte, als hockte er in schneller Fahrt auf einem Schlitten, aber Freisler steckte fest, er bewegte sich gar nicht. Alex wusste sofort, dass es Freisler war, obwohl er ihn nie gesehen hatte. Der oberste Richter des Volksgerichtshofs, ein berüchtigter, gefährlicher Mann. Wie war er hierher gekommen? Niemals vorher hatte Alex solche kalten Augen gesehen. Inmitten der Hitze des roten Schnees, eisgraue Augen in einem hageren Gesicht, das einem Totenschädel glich. Diese Augen waren, daran bestand kein Zweifel, auf ihn gerichtet. Sie durchbohrten ihn gleichsam, blickten in ihn hinein und entdeckten dort seine Angst, das gehetzte Tier, das er war. Freisler lachte nicht mehr.
„Na, Russisch können Sie ja“, sagte er jetzt in einer Mischung aus herablassender Anerkennung und Ironie. Das Echo vervielfältigte seine Stimme, ließ sie von den Bergwänden zurück prallen. Er sagte noch etwas, das nicht zu verstehen war, denn gerade jetzt hob der Wind wieder an, schlimmer als vorher. Alex wich langsam zurück, verlor den Halt, stolperte und fiel – er fiel – in rasender Geschwindigkeit flog er an Felsen vorbei, Vorsprüngen, nach denen er zu greifen versuchte, er stürzte, spürte einen Schwindel, sah unter sich die taumelnden Schneehänge, eine löchrige Schwarzweißfotografie, dann nichts mehr – etwas Schwarzes, wie ein Loch, flog auf ihn zu, fing ihn auf, er wollte schreien und – erwachte.
Alex lag, in Schweiß gebadet, neben dem Bett auf dem Bretterboden der Kammer. Es war ein altes Bauernbett mit schwerem Holzrahmen, worauf ihm der Kutscher am späten Sonntagabend, nach seiner Ankunft, eine muffig-fleckige Matratze geworfen hatte, die sich feuchtklamm anfühlte und nach den Pferden roch.
Es war nicht mehr ganz dunkel in der kleinen Kammer, graues Morgenlicht fiel durch das schmale Fenster, aber im Haus und draußen am Tor war alles still. Alex lauschte seinem eigenen Atem. Er musste aus dem Bett gefallen sein, das wirklich sehr schmal war, früher waren die Leute wohl kleiner gewesen. Mit dem Erwachen schwappte eine unerklärliche Traurigkeit über ihn, er blieb auf dem Boden liegen, faltete die Hände unter dem Kopf und sah zu den dunklen Balken der Decke auf. Die Kammer diente als Abstellraum. Alex fand sich zwischen alten Schrankkoffern, Schlitten, Butterfässern, Rädern und geflochtenen Körben, Spinnweben und Staub. Über dem Bett an der Wand beobachtete ihn Jesus am Kreuz, und aus dunklen Rahmen sahen die Ahnen der Bauern herab, die hier einmal gelebt hatten. Im Dämmerlicht erkannte er Hochzeitsbilder, Kinder mit Kommunionskerzen und junge Männer in kaiserlichen Uniformen, die lachend in den Krieg zogen. Kein Führerbild. Die Kammer war wohl seit vielen Jahren nicht mehr benutzt worden. Alex atmete auf. Wer sollte hier nach ihm suchen?
Sein Körper fühlte sich taub an, fremd, als wäre es gar nicht sein eigener, nur den Schweiß empfand er als unangenehm kühl. Er spürte die Erschöpfung der letzten Tage, die Anspannung lauerte in ihm wie ein Tier. Warum war er aufgewacht, besser wäre es gewesen, überhaupt nicht mehr zu erwachen, um die Maschine des Denkens, die unaufhörlich in ihm arbeitete, zum Stillstand zu bringen. Sobald man die Augen öffnete, war man wach, und wenn man sich erinnerte, wo man war und wer man war, ging das Ganze wieder los. Die Traurigkeit ließ ihn schwer werden, er musste da herauskommen, daraus auftauchen, versuchen, sie abzuschütteln.
Er hatte etwas geträumt, ein schales Gefühl beschlich ihn, als er jetzt daran dachte, aber er konnte sich nicht wirklich erinnern. Die Farbe Rot hatte eine Rolle gespielt und irgendetwas war mit seinen Augen nicht in Ordnung gewesen.
Ein Geräusch an der Tür ließ ihn aufhorchen. Sofort sprang er instinktiv auf die Beine. Er zitterte ein wenig vor Anstrengung, das Hemd klebte an seiner Brust, aber er stand und war in wenigen Sekunden in seinen Schuhen. Er hatte in den Kleidern geschlafen und war deshalb voll angezogen, als der Kutscher eintrat.
„Es ist gut, dass du schon auf bist“, sagte Sergej. Er sprach Russisch. „Du musst sofort weg.“ Sein bedächtiger Tonfall stand in vollständigem Kontrast zum Inhalt.
Der Kutscher sah ihn nicht an. Er sog trotz der frühen Morgenstunde an einem Zigarettenstummel und blickte in eine der dämmrigen Zimmerecken irgendwo links hinter Alex, wo doch überhaupt nichts war. Fest stand, Sergej wollte ihn loswerden und das sofort. Alex wartete, ob der andere noch etwas sagen würde, aber der schwieg hartnäckig.
„Wie spät ist es?“
„Nach sechs.“
Alex griff nach Lilos Pullover, zog ihn über und nahm Nikolais Windjacke, in der sich die wenigen Dinge befanden, die er noch besaß, ein Rest Tabak, seine Pfeife, Zündhölzer, ein Taschentuch und etwa fünfzehn Reichsmark. Er zog die Jacke rasch an und vergewisserte sich mit inzwischen schon routinierten Handgriffen, dass alles an seinem Platz war, griff in die Innentasche, wo sich der Pass befand, ja, da war er, er fühlte sich hart und flach an, ein beruhigendes Gefühl. Dann stellte er einen Fuß auf die Bettkante und fing an, seinen Schuh zu binden.
„Hast du was zu essen?“
Der Kutscher nickte und zog einen kleinen Beutel hervor, den er ihm verlegen hinhielt.
„Brot“, sagte der Kutscher und räusperte sich, nahm dabei schnell den Zigarettenstummel aus dem Mund und trat ihn auf den Holzbohlen aus. Alex band sich den zweiten Schuh. Kam es ihm nur so vor, oder war Sergej distanzierter, fremd?
„Wohin willst du jetzt?“ Er trat von einem Fuß auf den anderen, die linke Hand tief in der Hosentasche.
„Weiß nicht“, sagte Alex knapp, wickelte sich Lilos roten Schal um den Hals und nahm ihm endlich den Beutel ab, „keine Ahnung.“
Draußen wieherte ein Pferd. Sie sahen sich stumm an. Alex verstaute den Brotbeutel und ging zur Tür, am Kutscher vorbei, der einen kleinen Schritt zur Seite gemacht hatte. Die Hand schon auf der Klinke drehte Alex sind nach ihm um. „Und danke“, sagte er, „spasiba bolschoj.“
„Pass auf dich auf, Schurik.“
Aber Alex, dessen Schritte draußen auf dem pulvrigen Schnee in der Auffahrt knirschten, hörte es schon nicht mehr.