Paul Badde
im Muschelseidentuch von Manoppello
Erweiterte Neuausgabe
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ePub-Bearbeitung und Cover: Manuel Kimmerle
ISBN (gedruckte Ausgabe): 978-3-7171-1207-5
ISBN (ePub): 978-3-7171-1237-2
Öffentliche Zeigung des Schleiers der Veronika, circa 1486
Für Joseph
»Dentro da sé, del suo colore stesso,
mi parve pinta de la nostra effige;
per che ‘l mio viso in lei tutto era messo.«
»Tief im Innern, gemalt in seinem Ton desselben Lichts,
Erschien mir unser Ebenbild –
auf dessen Grund ich mein Gesicht entdeckte.«
Dante Alighieri »Die Göttliche Komödie«
(1307–1321), Das Paradies,
Dreiunddreißigster Gesang, Vers 130–132
Vor dem Krieg der Karikaturen: eine Entdeckung des Papstes im Paradies, im Innern des unzugänglichen Lichts der Liebe, »die die Sonne und die Sterne bewegt«
Sturm auf dem Petersplatz und ein Film rückwärts: über die Scala Regia durch Michelangelos Jüngstes Gericht hindurch – zum Bild der Bilder des Weltalls
Das Antlitz eines verprügelten Mannes auf einem versteckten Hügel über einer schroffen Schlucht im Wald vor Manoppello, einem kleinen Ort der Abruzzen
Die Entdeckung Blandina Paschalis Schlömers, einer deutschen Nonne von den schweigenden Trappistinnen, in der Krankenstube des Klosters von Maria Frieden
Das wahre Bild Christi aus Jerusalem auf einem hauchdünnen Schleier in Rom, wo es schon Kaiser Tiberius von einem surrenden Wespennest im Kopf heilte
Nutzlose Versuche, die Reliquie zu sehen zu bekommen, und andere hilfreiche Nachforschungen zu einem Bild, das nur noch einmal pro Jahr aus der Ferne gezeigt wird
Ein begründeter Verdacht: deutliche Hinweise auf den Raub der wertvollsten Reliquie der Christenheit, Indizien für eine Vertuschung durch vier Jahrhunderte
Die Schatzkammer des Petersdoms mit einem leeren Rahmen: vom größten Kriminalfall des Barockzeitalters zum Vergessen des wahren Bildes Gottes
Ein Festessen in Turin: Aufhellungen, Verdächtigungen und Fantasien von Schriftgelehrten – und immer neue Kapitel von Dantes Göttlicher Komödie
Eine Reise in den alten Orient: zurück zu den frühesten Auskünften über ein nicht von Menschenhand geschaffenes Bild in Edessa, Kamuliana oder Memphis
Zusammengekniffene Lippen in den Museen des Vatikans und eine sprudelnde Quelle bei Pater Pfeiffer, im obersten Stock der Universität der Gesellschaft Jesu
Das Heilige Gesicht als Sienesische Malerei aus dem 15. Jahrhundert, mit klaren Einflüssen aus der Kunst des Islam: die Expertise einer Expertin aus Amerika
Der »Patron für aussichtslose Fälle« als Führer in einem Irrgarten neuer Wege und Umwege und wieder heraus: zum »vierfaltigen« Tuchbild des Apostels aus Edessa
Ein Muschelessen am Meer und die erste Nachricht von einem verschollenen Gewebe der Antike: Byssus, der geheimnisvolle Stoff von Jasons Goldenem Vlies
Aus Sardinien zu den Abruzzen: Chiara Vigo, die letzte Byssus-Weberin des Mittelmeers, erkennt hinter dem Heiligen Gesicht die heilige Muschelseide wieder
Kleine Enthüllungsgeschichte zu den Künstlerhänden Gottes: von der Erschaffung der Welt bis zur Fertigstellung der Pietà durch seinen Assistenten Michelangelo
Zwei Paten der Offenbarung des Heiligen Gesichts in der Neuzeit: ein Heiliger im Gargano und einer seiner Brüder, der in dem Antlitz seinen Retter wiedererkannte
Eine zweite Veronika im keltischen Nebel Asturiens. Kurze Reise zu einem Schweißtuch Christi, das schon seit dem 8. Jahrhundert in Oviedo verwahrt liegt
Die Offenbarung und Verlebendigung des Bildes vom Manoppello im Licht der Sonne, unter Rosenblättern und Feuerzungen – als wahrer Stellvertreter Jesu
Hinter der aufgesprungenen Tür: die erstmalige Ansicht der Veronika des Vatikans durch einen leibhaftigen Berichterstatter und das stolze Ende der alten Legende
Ein Briefwechsel mit Johannes Paul II. zum wahren Bild Christi und eine Reise mit Kardinal Meisner nach Manoppello und zurück zur Bahre des toten Papstes
Die wunderbare Verwandlung Kardinal Ratzingers in Papst Benedikt XVI. – vom Christusbild über seinem Kopf zur Stunde der Wahrheit vor dem Jüngsten Gericht
Von der Verhüllung zur Enthüllung von Gottes Gesicht: unter einem Schleier aus spinnwebenfeiner Muschelseide – mit einem Mund, der alle Sprachen spricht
Das wahre Bild
Das kosmische Speicherchip
Jesus und Petrus
Petrus auf dem Tabor
Das Antlitz des Königs
Ausgewählte Literatur
Bildnachweis
Danksagung
Über den Autor
Kommt und seht!
Urreliquie der Christenheit: Der österliche Blick
Ein Regenbogen wölbte sich über die Berge. Daneben wand sich die Autobahn Rom – Pescara im Dezemberlicht auf den großen Tunnel zu, der uns eine Viertelstunde später auf der östlichen Flanke des Apennin wieder freigeben würde. Doch der Regenbogen wollte auch jenseits des Tunnels nicht weichen. Manchmal verdoppelte er sich im Spiel mit den Wolken. Eine halbe Stunde später blieb er links unter uns stehen: gerade über dem Heiligtum des Göttlichen Gesichts, das ich diesmal rechts hatte liegen lassen für eine letzte Schleife in die Berge hoch.
Denn zuerst wollte ich Wolfgang das Meer von hier oben zeigen, bevor wir da unten die kleine Kirche betreten würden. »Siehst du es?«, sagte ich meinem Freund und zeigte nach Osten zum Spiegelblau der See hinüber. Es war ein klarer Wintermorgen geworden, und die Fahrt vom Tyrrhenischen bis zum Adriatischen Meer hatte vielleicht zwei Stunden gedauert, ein Wimpernschlag für Wolfgang Büscher. Vier Jahre zuvor war er von Berlin nach Moskau gewandert. Ein Jahr zuvor hatte er Deutschland zu Fuß, mit der Bahn, mit Bussen und Taxis umrundet. In den Jahren, die ich ihn kenne, ist er zu einem Dichter unter den Journalisten geworden, doch für mich war er vor allem ein Freund geblieben: ein moderner Homo Viator, der Schätze, Geheimnisse, Gott und sich selbst gesucht hatte und besser als Bruce Chatwin von seinen Entdeckungen zu erzählen wusste – bevor er jetzt zu meinem Wegbegleiter geworden war. Vor Jahren hatten wir noch für die gleiche Zeitung gearbeitet, er in Berlin, ich in Jerusalem und Rom. Hier wie da wollte er mich schon besuchen, es hatte nur nie geklappt. Doch jetzt war er im Auftrag seines neuen Chefs gekommen, und was er gleich sehen sollte, war ihm bisher weder in Kiew noch in Moskau noch im Himalaya unter die Augen gekommen. Ich würde ihm die Urikone Christi zeigen. Das Abbild des Messias ruhte auf hauchdünner Muschelseide, die leuchten konnte wie Spinngewebe des Paradieses. Zwei Jahre zuvor hatte ich ihm erstmals davon erzählt.
»Hör mal, Wolfgang«, hatte ich ihm damals am Telefon gesagt, »ich habe hier eine Riesengeschichte für uns entdeckt. Vielleicht können wir sie zu Ostern ins Blatt nehmen. Pass auf, sie geht kurz so. Erstens: Es gibt ein authentisches Bild Gottes. Zweitens: Der Vatikan hat es lange gehabt. Drittens: Dort wurde es geklaut, vor rund 400 Jahren. Und jetzt halt dich fest. Denn viertens hab ich es wiedergefunden. Das Bild ist nicht verschwunden. Es gibt dieses Bild – und ich habe auch ein paar Fotos davon gemacht. Bist du noch da?«
Er schwieg. »Paul«, sagte er dann, »warte, ich mach kurz die Tür zu.« Ich hörte ein paar Schritte, das Zuschlagen einer Tür, dann war er wieder in der Leitung. »Paul«, sagte er nun, »weißt du was: Jetzt muss ich dich vor dir selber schützen.« Ich konnte ihn verstehen; diese Geschichte wollte er am nächsten Morgen in der Redaktionskonferenz der WELT nicht vorschlagen müssen – doch aufgeben konnte ich natürlich auch nicht. Denn hier war der Schlüssel, warum nur Christen Gott abbilden dürfen – Juden oder Muslime aber nicht. Nur die Christen haben ein Bild Gottes. Nur für sie ist das »Wort Fleisch geworden«. Äthiopiens Christenheit konnte sich bis ins 9. Jahrhundert darum nur von Ikonen und Bildern entwickeln, ohne Schrift! Ohne Bibel! Meine Stunde würde noch kommen, das wusste ich genau.
Es ging um Folgendes: Tief in den Abruzzen wurde von Kapuzinern auf einem Hügel hinter dem Städtchen Manoppello seit mindestens 400 Jahren ein rätselhaftes Tüchlein verwahrt. Es hat feinere Qualitäten als feinstes Nylon und kann weder Seide noch Leinen sein. Es war aber nicht nur extrem feines Gewebe, das dort zu bestaunen war. Auf dem Stoff ruht ein Christusbild, dem kein zweites gleicht, oder besser: dem fast jedes Christusbild der Erde gleicht wie ein Sohn seiner Mutter, doch nie in dieser Vollkommenheit. Es hat unvergessliche Augen, eine schlanke Nase, einen halb offenen Mund. Die Schattierungen sind delikater, als Leonardo da Vinci sie mit seiner sfumatura zu zaubern verstand. In manchem erinnert das Bild an eine Fotografie, doch in der Iris ist die rechte Pupille aus dem Zentrum leicht nach oben verschoben, wie es in keinem Foto möglich ist. Genauso wenig kann das Bild eine Holografie sein, der es trotzdem gleicht, wenn leichtes Licht von hinten den Schleier bescheint. Doch eine 400 Jahre alte Holografie in den Abruzzen? Der Gedanke ist noch absurder als Nylon.
Vier deutliche Falten durchziehen das Tüchlein, als wäre es lange Zeit einmal längs und zweimal waagerecht gefaltet gewesen. Das Porträt schillert nicht wie ein Regenbogen; die Farben des Volto Santo, des »Heiligen Gesichts«, leuchten zwischen Braun- und Rot- und Rosa-Tönen, zwischen Umbra, Siena, Silber, Schiefer, Kupfer, Bronze, Gold. Es scheint mit Licht (griechisch: photos) gemalt, denn unter dem Mikroskop wurden überhaupt keine Farbspuren in dem Gewebe entdeckt. Im Gegenlicht aber wird es durchsichtig wie klares Glas, dann verschwinden auch die Falten vollkommen.
Es sind Phänomene, die sich nur bei Muschelseide beobachten lassen: dem kostbarsten Gewebe der Antike. Auch das ist eine Sensation. Denn die ältesten, sicher identifizierten Fragmente aus diesem höchst seltenen Stoff sollen aus dem 4. Jahrhundert stammen. Sie sind allerdings viel kleiner und längst nicht so gut erhalten. Und ein Tuch aus Muschelseide mit einem Bild oder einer Zeichnung gibt es überhaupt nirgendwo. Muschelseide lässt sich nicht bemalen. Das ist technisch unmöglich. Den einleuchtendsten Unterschied zu gewöhnlicher Seide kann hier in Manoppello aber auch jeder Laie mit bloßem Auge erkennen. Denn links und rechts oben fehlen dem Bild zwei Ecken, die irgendwann einmal durch Flicken aus feinster Seide ersetzt worden sind. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Gegen Licht wirken diese Flicken grau, der ganze Schleier hingegen ist so durchsichtig, wie nur Muschelseide durchsichtig sein kann.
Das Bild vereint in sich also Qualitäten von Fotos, Holografien, Gemälden, Zeichnungen, zusammen mit rätselhaften Unmöglichkeiten und Ungenauigkeiten. Es ist völlig schleierhaft, was die wahre Natur dieses göttlichen Gesichts eigentlich ist und wie man es treffend benennen kann. Klar ist nur, dass es seit Jahrhunderten hoch verehrt wird und dass es mit all seinen Eigenschaften nur einem einzigen Objekt im großen Bildersaal des letzten Jahrtausends gleicht. Das ist das »Schweißtuch der Veronika«, das bis zum Beginn der Neuzeit von zahllosen Malern festgehalten worden ist.
Das Volto Santo von Manoppello muss dieser Schleier der Veronika sein. Zu überwältigend sind die vielen Merkmale, mit denen es einer ganzen Galerie von Bilddokumenten entspricht, in denen Künstler des Mittelalters den Schleier dargestellt haben. In Rom finden sich in den Grotten unter dem Petersdom fünf Fresken in zwei kleinen alten Kapellen, die sehr deutlich jenes alte »Ziborium« festhalten, das Papst Johannes VII. im Jahr 705 für dieses »allerheiligste Schweißtuch« errichten ließ. Der säulenverzierte Altar, der es damals barg, war der wichtigste Reliquienschrein der alten Petersbasilika Kaiser Konstantins aus dem 4. Jahrhundert. Erst im Jahr 1506 wurde dann mit dem Neubau des heutigen Petersdoms begonnen – und zwar sogleich mit einer neuen Schatzkammer für die Kronreliquie. Gleich der erste jener vier hochhaushohen Pfeiler, auf denen die Peterskuppel ruht, wurde als Hochsicherheitstresor für den zarten Schleier mit dem Christusbild ausgebaut. Hier sollte er hinein, als der alte Schrein im Jahr 1608 abgerissen wurde. Und hier verschwand er im 17. Jahrhundert. Das »Schweißtuch« ist in vielen Abbildungen noch immer allgegenwärtig in Rom, von einem Gemälde in der Sakristei des Pantheons bis zu drei Fresken in der San- Silvestro-Basilika. Nur das Urbild ist in Rom nicht mehr zu sehen. Das hat die Suche nach dem wahren Bild Christi in den letzten Jahrhunderten so sehr erschwert, dass sie schließlich kaum noch unternommen wurde.
Sehr viel einfacher war es in diesem Zeitraum, in Büchern und alten Texten danach zu forschen, wo das Bildnis vor seiner Ankunft in Rom wohl gewesen sein mochte. Da mussten Forscher nicht lange suchen, wenn auch mit oft verwirrenden Ergebnissen. Ein uraltes mysteriöses Christusporträt wird in Edessa erwähnt. Da soll es eingemauert in einem der Stadttore eine große Zeit lang alle Stürme überstanden haben. Später muss das Urbild in Konstantinopel gewesen sein. Das Christusmosaik in der Kuppel der Hagia Sophia gleicht noch heute dem göttlichen Gesicht von Manoppello ganz außerordentlich. Im frühen 6. Jahrhundert wird im Orient mehrfach von einem allerfeinsten Jesusbild »mit vier Falten« berichtet, das da allerdings »Abgar-Bild« oder »Mandylion« heißt. Es hatte noch einige Namen mehr. Wie Schalen einer Zwiebel haben sich verschiedene Namen im Lauf der Geschichte um dieses eine Bild gelegt und mit immer neuen Legenden überlagert. Wer sie Haut für Haut wieder voneinander löst, stößt im Innern dieser Begriffe unweigerlich auf das griechische Wort acheiropoietos. Das ist der wohl älteste Name des Urbilds von Manoppello – der zugleich eine erhellende kleine Geschichte erzählt.
Denn auch die Menschen vor 1700 Jahren müssen ja so verständnislos vor demselben Bild gestanden haben wie wir heute. Wenn es uns fremd ist, muss es ihnen noch viel fremder gewesen sein. »Was ist es?«, müssen auch sie sich also gefragt haben. Offensichtlich haben sie diese Frage aber schließlich beiseitegeschoben und durch die klassische Krimi-Frage von Scotland Yard ersetzt: Who dunnit? »Wer hat das gemacht?« – »Wir wissen es nicht«, sagten sie dann. »Wir wissen nicht, ob vielleicht Gott selbst oder Engel dieses Bild gemalt haben. Wir wissen nur eins: Menschen mit all ihrer Kunstfertigkeit können es nicht gewesen sein. Dieses Bild wurde ›nicht von Menschenhand geschaffen‹ – auf Griechisch: acheiropoietos.« – Präziser hat bis heute kein Begriff dieses uralte Rätsel eingekreist.
Die Odyssee des Muschelseidentuchs zurück zu ihrem Ursprung ist damit aber noch nicht beendet. Denn wo kommt es bloß her? Ist es irgendwann einmal vom Himmel gefallen? Wie ein Mann vom Mars sieht das Porträt jedoch nicht aus. Im Gegenteil: Er hat eine eigentümliche Spiegelwirkung. Das Bild ist fremd und nah zugleich. Das Gesicht leuchtet auf wie ein geheimnisvoller Referenzpunkt für jedes Geschlecht, für Mann oder Frau. Am allermeisten gleicht es jedoch dem Antlitz des Mannes, der einmal in dem Turiner Grabtuch gelegen hat. Es ist genauso majestätisch und das Muschelseidentuch ebenso rätselhaft wie das Leintuch aus Turin – jenem zweiten, doch viel, viel größeren Textil, das seit frühester Zeit acheiropoietos genannt wurde. Und das ist vielleicht darum am allermerkwürdigsten, weil sich so gar nichts damit beweisen lässt.
Denn unter allen Materialien gibt es ja kaum zwei Stoffe, die von ihrer ganzen Natur her weniger »exakt« sind als diese beiden Gewebe: Leinen das eine, Muschelseide das andere, beide von völlig unterschiedlicher Dichte, Dicke, Struktur und Webart. Beide lassen sich verschieden verziehen. Ungenauigkeit und höchst problematische Messbarkeit sind diesen organischen Materialien praktisch eingewebt. Wer auch immer die beiden Tücher für dieses Experiment ausgesucht hat, es scheint ihm fast augenzwinkernd daran gelegen zu haben, dass diese Tücher für einen mathematischen Beweis überhaupt nicht taugen.
Umso erstaunlicher ist deshalb, wie außerordentlich hoch die Übereinstimmung zwischen beiden Abbildern dennoch auf den ungleichen Tüchern ist. Alle bisher möglichen Vergleiche und Messungen lassen auf ein und denselben Abgebildeten schließen. Beide Tücher bilden eine einzige identische Figur ab, beide als Urbilder, und beide vollkommen verschieden. Alles andere sind Kopien.
Darum war Wolfgang Büscher nun aus Berlin nach Rom angereist. Zwei Monate vorher war ein Buch erschienen, in dem ich Indizien für einen Prozess zusammengetragen hatte, der nun noch einmal ganz neu eröffnet werden muss. Die erste Kopie des »Muschelseidentuchs« hatte ich Papst Benedikt XVI. in seinen Palast hochgeschickt. Denn wer sollte und musste sich mehr dafür interessieren? Schon das Pontifikat seines Vorgängers hatte unter dem Anspruch einer »Reinigung der Erinnerung« der katholischen Kirche gestanden. Musste auch ihn da nicht sehr die Frage bewegen, was es mit den Bildern der Kirche wirklich auf sich hat, im Vatikan und in Manoppello? Das Tuch aus Turin kennt er gut. Es sei ein »Geheimnis«, hat er dem Publizisten Peter Seewald einmal erklärt, »das noch keine eindeutige Erklärung gefunden hat, auch wenn sehr vieles für seine Echtheit spricht«. Ist es aber echt, dann entstammt es der ersten Osternacht: dem leeren Grab in Jerusalem, als erste Hinterlassenschaft der Auferstehung Christi. Joseph Ratzinger selbst kam am 16. April 1927 zur Welt, einem Karsamstag, und noch in derselben Osternacht wurde er mit frisch geweihtem Wasser getauft. Der Umstand ist ihm immer bewusst geblieben. Musste es ihn da nicht alarmieren, wenn nun »beide Tücher« aus dem leeren Grab wiedergefunden waren, von denen der Evangelist Johannes in seinem lakonischen Bericht der allerersten Osternacht spricht?
Im 6. Jahrhundert haben byzantinische Heerführer dieses zweite Grabtuch schon als Siegesbanner in ihren Kriegen gegen die Perser mit sich geführt – gerade so, wie das alte Israel die Bundeslade in seinen Feldzügen gegen die Philister mit sich führte. Auch die Bundeslade war schon verloren gegangen und auf abenteuerliche Weise wiedergefunden worden, bis sie schließlich endgültig verschollen ging: das »Allerheiligste« Israels mit den Geboten vom Berg Sinai. Musste das Wiederauftauchen von Christi Urbild die Christenheit aber nicht mindestens so freuen wie eine letzte Wiederentdeckung der Bundeslade? Christi Gesicht! Die Augen, die vom Kreuz auf seine Mutter geschaut hatten, die Lippen, denen wir die Bergpredigt verdanken: »Selig die Armen im Geist, selig die Trauernden, selig, die keine Gewalt anwenden, selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, selig die Barmherzigen, selig, die ein reines Herz haben, selig die Friedenstifter, selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden …!« Schöner hat Gott sein Gesicht nie gezeigt.
Vor Jahren hat Kardinal Ratzinger nachgewiesen, dass erst in der Auseinandersetzung mit dem »Gesicht Gottes« das Verständnis der »Person« entwickelt worden ist, wie wir es heute in der Welt des Westens haben. Selbst die alten Griechen kannten den Begriff der Person noch nicht. Die »Person« ist ein Geschenk der Christenheit an die Welt – das längst noch nicht überall angenommen worden ist. »Sollten wir nicht darin das wahre Verhängnis der Welt sehen und umso lauter und eindringlicher zu Gott rufen, dass er sein Antlitz zeige?«, rief der Kardinal damals, bevor er das bewegende Plädoyer mit den Worten beendete: »Das Neue der biblischen Religion war und ist es, dass ›Gott‹, von dem es keine Bilder geben kann, dennoch Gesicht und Namen hat, Person ist. Und das Heil besteht nicht im Versinken ins Namenlose, sondern ›in der Sättigung an seinem Angesicht‹, die uns im Erwachen zuteilwird.«
Vor dem Erwachen setzten nun aber zuerst noch einmal Träume ein, zumindest bei mir. Wolfgang Büscher schrieb die Geschichte des göttlichen Gesichts in einem Bericht für die Weihnachtsausgabe der ZEIT so grandios weiter, als hätte ihn der Regenbogen nach Berlin weiter begleitet, der bei unserer Reise nach Manoppello nicht von uns weichen wollte. Der barmherzige Blick des Heiligen Gesichts auf der Titelseite bewegte die Herzen vieler Leser an Kiosken, in Supermärkten und Autobahnraststätten; die Ausgabe verkaufte sich rasant. Alexander Smoltczyk vom Spiegel hatte schon im Oktober in einem spektakulären Stück über »Die doppelte Veronika« berichtet. Dass Deutschlands linksliberale Flaggschiffe in diesem Ausmaß – und erstmals ohne zynischen oder auch nur ironischen Unterton – im Mutterland der Reformation über Reliquien berichteten, konnte fast selbst unter der Rubrik »Zeichen und Wunder« verbucht werden. Hatte unter dem deutschen Papst vielleicht ein neues Zeitalter begonnen?
Bald kamen erste Busse mit Pilgern aus Sankt Petersburg von der Baltischen See an der Adria an, mitten im Winter. Gerhard Wolf, ein führender Kunsthistoriker, reiste erstmals nach Manoppello und stand bewegt vor dem »lebendigen Gesicht«. Der orthodoxe Erzbischof von Athen begann von dem Muschelseidentuch zu erzählen. Unabhängig von allen Recherchen wurde am 23. Dezember 2005 in Manoppello von Erzbischof Forte aus dem nahen Chieti ein Heiliges Jahr für das Heiligtum eingeläutet, das an jenen »Sonntagnachmittag im Jahr 1506« erinnern soll, an dem »ein Engel« den Schleier hierhin gebracht hatte. Von weit her waren Pilger zu dem nächtlichen Fackelzug durch die eiskalte Nacht gekommen, um mit den Einwohnern des Städtchens den Beginn des Jubiläums zu feiern. Aus dem Vatikan war ein Schreiben James Francis Staffords eingetroffen, des Kardinalgroßpönitentiars der Kurie, das allen Pilgern einen »vollständigen Ablass« zusagte, die in dieser Zeit des Jubiläumsjahres in gebührender Andacht zu dem Heiligen Antlitz gepilgert kämen. Mit einem nächtlichen Fackelzug den Hügel hoch zum Göttlichen Gesicht für eine feierliche Messe um Mitternacht endete das Jahr 2005. Wir waren noch einmal von Rom dazugekommen. Früh am 31. Dezember hatte Pater Emilio mir im Chor der Kirche einen Text Papst Leos des Großen aus dem 5. Jahrhundert zum Vorlesen gegeben. »Die Geburt des Herrn ist die Geburt des Friedens«, las ich im Stehen, »er ist unser Friede, er, der aus zwei Völkern ein einziges geschaffen hat, aus Juden und Heiden.« Plötzlich war ich hellwach geworden und schaute zum Gesicht Christi über der gegenüberliegenden Brüstung hinauf.
Ein Mensch hat aus zwei Völkern eins geschaffen? Ein solches Ereignis ist sonst nur aus Mexiko bekannt, wo im Jahr 1531 nach einer Erscheinung Marias aus spanischen und aztekischen Todfeinden plötzlich das neue Volk der Mexikaner entstand. Die unverständliche Versöhnung war jedoch nicht etwa das Werk der Erscheinung, sondern Frucht eines rätselhaften Bildes, das die Madonna von sich hinterlassen hatte! Das »Bild« der Jungfrau von Guadalupe auf einem billigen Umhang hat damals den Gang der Weltgeschichte umgelenkt. »So hat Gott an keinem Volk gehandelt!«, habe Papst Benedikt XIV. gerufen, als er im Jahr 1754 das Wunder offiziell anerkannte, erzählen die Mexikaner. Das Bild Marias aber ist dort noch heute zu betrachten, ich habe es selbst gesehen, am Stadtrand der Millionenmetropole, wo ebenfalls bis jetzt keiner zu sagen weiß, wie Menschenhände es je hätten erschaffen können.
Kann und muss dann das Bild ihres Sohnes – wenn es aus dem leeren Grab in Jerusalem stammt – nicht auch eine unvergleichliche Rolle bei der rätselhaften Versöhnung der Juden und Heiden nach der Auferstehung Christi gespielt haben?, fragte ich nachher meine Frau in der Bar nebenan. Bei der Entstehung jenes neuen Volkes der Christen, von dem der Apostel Paulus in seinem Brief an die Epheser so staunend schreibt. Muss dieses neue Bild dann nicht auch im Arkanum – im verborgenen Geheimraum der christlichen Urgemeinde aus Juden und Heiden – von Anfang an eine unglaubliche Rolle gespielt haben, und bei der so unverständlich schnellen Verbreitung der Nachricht von der Auferstehung Christi. Petrus sah im leeren Grab »die Leinenbinden und das Schweißtuch« liegen, schreibt der Evangelist Johannes. Danach ging er auch selbst hinein und »sah und glaubte«. Was sah er denn, dass er so schnell glaubte? Warum glaubte er nicht schon vorher? Wochen später war der kleine Haufen um die versprengten Apostel schon auf mehrere tausend Menschen angewachsen. Muss daran nicht einfach auch dieses Bild beteiligt gewesen sein, mehr als jedes Buch, und nicht nur die Predigt des Petrus? Ein neues Buch – neben der jüdischen Bibel – hatten die ersten Christen doch mehrere Generationen lang gar nicht.
»Das hättest du noch in dein Buch aufnehmen sollen«, meinte meine Frau. »Zu spät«, sagte ich und bestellte noch zwei Cappuccinos.
In den letzten Jahren hatte ich die abenteuerliche Geschichte von der Wiederentdeckung des Urbilds Christi zunehmend als einen Fortsetzungsroman vom Humor des lieben Gottes erfahren. Da brauchte es diesen letzten Gedanken nicht mehr, um noch irgendetwas daran zu vervollständigen. Alles stand gerade erst am Anfang. Sicher war nur: Es würde noch viele Überraschungen geben. Darauf wies schon ein kurzer Überblick auf die bisherigen Orte und Akteure dieses Kirchen-Krimis hin: Ein riesiger Tresor, der einen hauchdünnen Schatz nicht zu halten vermochte. Ein Papst der Barockzeit in der Klemme, mit einer verruchten Idee. Eine Trappistin, die sich dem Schweigen verschrieben hat und wie eine Nachtigall singt. Ein einsamer Kunsthistoriker mit einzigartigen Thesen. Eine märchenhafte Begriffsverwirrung, die das Schleierbild umwickelt wie eine Mumie. Eine alte Fälschung, die zum letzten Indiz wird für die Identifikation des Originals. Dr. Martin Luther, der mit einer skeptischen Beobachtung zu einem Kronzeugen für die wahre Veronika wird, jedoch erst 500 Jahre später. Deutsche Professoren, die sich mit grandiosen Untersuchungen auf falsche Fährten stürzten. Verschwiegen verschworene lächelnde Domherren. Groteske Irrtümer, die zu richtigen Ergebnissen führen. Vernichtende Gutachten zu einem Objekt, das keiner der Gutachter je gesehen hatte. Heilige, die es gar nicht geben soll, und die dennoch helfen – selbst meinen protestantischen Freunden. Ein Muschelessen beim Apostel Thomas mit brisanten Folgen. Ein Kardinal, der die Versammlung der Kardinäle für einen Ausflug in die Abruzzen schwänzt. Schließlich ein Journalist, um dessen Verstand seine besten Kollegen bangen. Ich konnte mich nicht beklagen, und auch nicht darüber, dass sich dieser Geschichte nun noch zwei ungleiche Jubiläen anfügten, die kein Regisseur hätte dazu erfinden können. Den ersten Geburtstag in seiner Amtszeit als Papst wird Benedikt XVI. in diesem Jahr 2006 wieder am Ostersonntag feiern. Zwei Tage später wird im Vatikan der Grundsteinlegung des Petersdoms im Jahr 1506 gedacht werden – in einem Jubiläum wie in Manoppello, wo jedoch das ganze Jahr über die Ankunft des Göttlichen Gesichts im Jahr 1506 gefeiert wird.
Menschen, die einfach glaubten, dass ein Engel das Bild hierher gebracht habe, hatten den kostbaren Schatz Jahrhunderte beschützt und bewahrt. Ihr Glaube hat völlig genügt. Doch jetzt haben wenige Jahre für einige ruhelose Deutsche genügt, um hinter diesem Bild nur noch die alte römische Veronika zu sehen – als habe das alte Urbild hier in einer kleinen Kirche in den Abruzzen so verborgen die Stürme der letzten Jahrhunderte überlebt wie einst in dem Mauerverlies im Stadttor von Edessa. Aus irgendeinem Grund konnten diese Deutschen nicht aufhören zu fragen: Wer war der Engel? Wo kam er her? Was brachte er mit? Wo war es vorher?
Warum Deutsche? Weil in Deutschland der letzte große Bilderstreit begonnen hatte? Weil aus Deutschland vor rund hundert Jahren – wenn auch durch die Hand des Russen Kandinsky – in München das erste völlig abstrakte Bild der Kunstgeschichte hervorgegangen war, die vollständige Auflösung des Gegenständlichen in der Bilderwelt? Weil in Deutschland Katholiken wie Protestanten wie Agnostiker wie Atheisten längst alle durch das gleiche Säurebad der Reformation, der Aufklärung und der modernen Exegese gegangen waren und immer neu alles befragen und bezweifeln mussten? Wahrscheinlich war es von allem etwas.
Doch nun hörten plötzlich die Bewohner von Manoppello nicht auf zu fragen, und ihre Frage war immer die gleiche: Kommt der Papst? Wann kommt er? Dass der bayerische Nachfolger Petri immer häufiger vom »Gesicht Gottes« redete, war auch den Menschen in den Abruzzen nicht entgangen. Am 11. Januar beendete er die Generalaudienz wieder mit den Worten, dass »für Christen Gott das liebende Gesicht Christi angenommen hat«. Am 18. Januar berichtete die Zeitung Il Tempo in den Abruzzen über »Gerüchte«, dass der Papst »im Frühling« nach Manoppello komme. Am 23. Januar bestätigte mir der Sekretär des Papstes die Nachricht: Ja, der Papst habe seinen Besuch dem Erzbischof von Chieti schon angekündigt und fest versprochen, er komme bald!
Am gleichen Tag erläuterte Benedikt XVI. in Rom öffentlich seine erste Enzyklika. Dantes »Göttliche Komödie« habe ihn zu dem Schreiben inspiriert, ließ er in dieser Erklärung wissen – wo ein »kosmischer Ausflug« im Innern des Paradieses zum innersten Licht der Liebe führe, »die Sonne und Sterne zugleich bewege«. – Das tiefste Innere dieses unzugänglichen Lichts sei jedoch nicht etwa ein noch gleißenderes Leuchten oder noch helleres Scheinen, sondern das zarte Gesicht eines Menschen, das dem Seher da endlich auf seiner Suche entgegentrete. Dies sei »etwas vollkommen Neues«. Das menschliche Antlitz Jesu Christi, das Dante im Innern des innersten Geheimnisses Gottes erkenne, sei »noch viel bewegender als die Offenbarung Gottes in der Form des dreifaltigen Kreises von Erkenntnis und Liebe. Gott, das unendliche Licht, … besitzt ein menschliches Gesicht.« Ich las die Rede dreimal. Dann holte ich die »Divina Commedia« aus dem Bücherregal und suchte die Stelle.
Doch es war nicht so einfach in meiner italienisch-deutschen Ausgabe. Der 130. bis 132. Vers des 33. Gesangs klang in der Übertragung August Vezins dunkler als das Orakel von Delphi, wo »unser Bild aus Flimmerfloren, / gleich ihm getönt, erschien im Binnenkreise, / und (der Seher sich) neu in neue Schau verloren«. Dennoch: Es war die entscheidende Stelle. In der Sprache Dantes hieß sie nur so: »Dentro da sé, del suo colore stesso, / mi parve pinta de la nostra effige; / per che ‚l mio viso in lei tutto era messo.« Ich versuchte die Zeilen zuerst grob und wörtlich zu übersetzen, dann noch einmal etwas eleganter: »Tief im Innern, gemalt in seinem Ton desselben Lichts, / erschien mir unser Ebenbild, / auf dessen Grund ich mein Gesicht entdeckte.« In den nächsten Zeilen beschrieb der Dichter das Gesicht als letzten Referenzpunkt weiter, wie ein Landvermesser der alten Welt der Christen. Ich rief meine Frau.
Denn es war klar, ich würde die Verse nicht genau übersetzt bekommen. Klar war aber auch, dass Dante hier vom Volto Santo sprach: vom Heiligen Gesicht im Innern des göttlichen Lichts! Die drei Zeilen aus dem Jahr 1320 beschrieben es genau wie ein Steckbrief. Der unvergleichliche Ton in Ton dieser »Malerei« aus »seiner selben Farbe«, das Tauchen des Pinsels in einen Topf aus Licht für Christi Gesicht, die merkwürdige Spiegelbildlichkeit zu jedem Betrachter. Mit diesen drei Zeilen gab Dante sich als ein Augenzeuge des Schleierbildes von Manoppello zu erkennen, aus nächster Nähe – nachdem er wenige Seiten vorher, im 31. Gesang, ausdrücklich »unsere Veronika« erwähnte. Ich war sprachlos. Generationen von Romanisten und Theologen hatten dieselbe Vision Dantes bisher immer auf die Gottesschau des Buches Ezechiel zurückgeführt, in dessen ersten Kapitel die Rede von »etwas« ist, »das wie Saphir aussah und einem Thron glich«, darauf »eine Gestalt, die wie ein Mensch aussah«. Oberhalb der Hüften sah Ezechiel »etwas wie glänzendes Gold in einem Feuerkranz«, unterhalb davon »etwas wie Feuer und ringsum einen hellen Schein. Wie der Anblick des Regenbogens, der sich an einem Regentag in den Wolken zeigt, so war der helle Schein ringsum. So etwa sah die Herrlichkeit des Herrn aus.« Ein Bezug der Verse Dantes zu dieser Vision ist offenkundig an den Haaren herbeigezerrt. Die Anschauung dessen, was die Christen einmal hatten, war verloren gegangen, bevor der Sinn unter unverständlichen Übertragungen begraben wurde.
Für mein Buch war die Entdeckung nun aber noch einmal zur wichtigsten Spur überhaupt geworden: Dieser Fund vom wahren Gesicht Christi im Herzen der christlichen Literatur, auf dem Gipfel der italienischen Dichtung, war spektakulärer, als es die Öffnung eines letzten geheimen Tresors hätte sein können. Noch unglaublicher war jedoch, dass der Papst selbst diese Entdeckung gemacht hatte. Ich hatte ihm Fotos geschickt. Doch ohne das Göttliche Gesicht von Manoppello auch nur einmal selbst gesehen zu haben, hatte er es hier schon im Innern der »Göttlichen Komödie« wiederentdeckt, inmitten des Paradieses! »Jesus leuchtet ein!«, hatte sein Freund Hans Urs von Balthasar ihm Jahre zuvor gesagt. Hier leuchtete Jesus plötzlich mehr als je zuvor ein, aus dem Innern des Lichts der Liebe, »die die Sonne und Sterne bewegt«. Wahrhaftig, kein geöffnetes Verlies hätte mir einen größeren Schatz zeigen können.
Nur wenige Tage später brach von Kopenhagen, Paris und Berlin der Krieg der Karikaturen und Bilder mit der islamischen Welt aus. Schreiber und Zeichner, die schon lange nicht mehr wissen, woher unsere Freiheit im Umgang mit Bildern rührt, hatten ihn angezündet wie Pfadfinder, die sich im Wald an einem kleinen Feuer wärmen wollten. Entsetzt wurde die Welt des Westens plötzlich gewahr, dass Bilder – sogar als Strichzeichnungen – explosiver als Bomben sein können, erst recht in den Zeiten der elektronischen Massenkommunikation und mit der noch halb antiken Welt des Islam. Ein neues Zeitalter wurde wieder aufgeschlagen, mit dem Grollen des uralten Bilderstreits aus der Tiefe, den die Christenheit schon so oft ausgefochten hat. Die Zeit der Ruhe wird so schnell nicht wiederkommen. Die Unruhe machte mit den letzten Nachrichten und neuen Aussichten aber auch klar, dass meinem schönen Buch vom letzten Herbst schon für den Frühling dieses neue Kapitel vorgesetzt werden musste. Erzählerisch war die Aufgabe so reizvoll wie eine letzte Variation um den Bau des Petersdoms, der in der Geschichte vom Verlust und der Entdeckung des Göttlichen Gesichts eine so eigenartige Hauptrolle spielt. Auch dieser Dom änderte ja mehrmals seine Gestalt, seit der Grundstein für den Neubau am 18. April 1506 zum Fundament für den »Pfeiler der Veronika« wurde.
Es war mitten im Zeitalter Machiavellis, des großen Lehrers der Verschlagenheit, dessen Handschrift sich auch in manchen Kapiteln der folgenden Geschichte wiederfindet. Danach haben mehrere Generationen lang Genies wie Bramante, Raffael oder Michelangelo an dem Monumentalbau mit verschiedenen Plänen weitergebaut. Der Dom war eigentlich schon fertig, als ihm Carlo Maderno hundert Jahre später noch einmal einen neuen Torbau mit der barocken Fassade vorsetzte, die bis jetzt das Bild vom Eingang in die weltberühmte Basilika prägt. Noch einmal fünfzig Jahre später verlieh dann Gianlorenzo Bernini der ganzen Anlage mit dem Petersplatz seine endgültige Gestalt – auf dem meine Erzählung ursprünglich begonnen hat und gleich noch einmal beginnen wird. Weniger genial – doch unendlich viel rascher – war es mir also nun auch mit dem Buch meines Lebens in unserem Zeitalter haltloser Beschleunigung gegangen. Ich musste und muss es nicht mehr neu schreiben und erzählen. Doch dieses erste Kapitel fehlte noch – als passender neuer und etwas monumentaler Torbau einer überaus zarten Geschichte, an der jetzt schon 2000 Jahre gewebt worden ist.
Die wunderbare Wiederentdeckung des wahren Bildes Jesu
Das Buch wartete auf sein Bild …
Das Sehen wartete auf sein Bild.
Seit das Wort Fleisch geworden,
wartet das Sehen immerfort.
Johannes Paul II., Römisches Triptychon