Marguerite Porete
kam vermutlich im Jahr 1250 in der nordostfranzösischen Stadt Valenciennes zur Welt. Aufgrund ihrer hohen Bildung darf man vermuten, dass sie dem Patriziat der Stadt entstammt. Sie schloss sich der Beginenbewegung an und hatte ein zwiespältiges Verhältnis zur Kirche. Ihr in einfacher Volkssprache geschriebenes Werk Der Spiegel der einfachen Seelen versetzte die kirchliche Inquisition in Aufruhr und führte zu ihrer öffentlichen Verbrennung im Jahr 1310 in Paris. Heute gilt sie als eine der wichtigsten Mystikerinnen und theologischen Schriftstellerinnen Frankreichs.
Der Herausgeber
Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.
Der Übersetzer
Dr. Bruno Kern, geboren 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer.
Zum Buch
»Ihr Leben löst die Wahrheit ihres Buches ohne Worte ein.« Franz-Josef Schweitzer
Marguerite Porete hatte in einer ebenso überzeugenden wie herausfordernden Weise das Wort ergriffen und Widerhall unter dem Kirchenvolk ihrer Region gefunden. Ihr oblag es, einen Stufenweg der Seele zu Gott zu zeigen. Sie legte in temperamentvollen, bisweilen enthusiastischen Dialogen dar, wie sich die erleuchtete Seele von den Unzulänglichkeiten der menschlichen Vernunft wie auch der herkömmlichen Tugenden zu verabschieden habe, um sich in hingebungsvoller Liebe mit der Gottesliebe zu verbinden, einer Verbindung, die eine ungeahnte Freiheit des Geistes (spiritus libertatis) eröffnet. Sich selbst versteht diese ihres Adels bewusste Seele als eine Herrin über die Tugenden und als eine geradezu ebenbürtige Tochter der Gottheit.
Marguerite Porete hat mit ihrer tief im menschlichen Geist verankerten Liebe zu Gott das christliche Denken nachhaltig beeinflusst. Wie viele andere – gerade weibliche – vordenkende Mystiker musste auch sie für das Eintreten für ihre Glaubensweise auf dem Scheiterhaufen mit dem Leben bezahlen. Die den Beginen angehörende französischsprachige theologische Schriftstellerin war für eine Frau ihrer Zeit äußerst gebildet und vertrat ihre Ansichten zu öffentlich, und das ohne ihre Lehre als einer Gottesoffenbarung entsprungen zu bezeichnen, was im frühen Mittelalter meist der einzige Weg war, als theologisch in der Öffentlichkeit agierende Frau nicht in Konflikt mit der mittelalterlichen Inquisition zu kommen. Enthusiasmus rief Marguerite Porete unter den Gläubigen mit ihrer Lehre hervor, in der der Spiegel die etappenweise Befreiung der menschlichen Seele aus der weltlichen Abhängigkeit hin zu Gottes allmächtiger Liebe versinnbildlicht.
Marguerite Porete
Textauswahl und Kommentar
von Gerhard Wehr
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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Bildnachweis: “Mater Dolorosa” von Hans Memling, um 1480/90
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eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0436-3
www.marixverlag.de
EINFÜHRUNG
Marguerite Porete als Begine
Brüder und Schwestern vom Freien Geiste
Der Spiegel – Marguerites Lehrbuch der Liebe
Nachwirkungen
AUS DEM Spiegel der einfachen Seelen
Die von Gott berührte Seele (Kap. 1)
Das Vorhaben der Liebe (Kap. 2)
Die Liebe und die Gebote der heiligen Kirche (Kap. 3)
Die erhabene Tugend der Nächstenliebe (Kap. 4)
Der Friede der Nächstenliebe (Kap. 5)
Abschied von den Tugenden (Kap. 6)
Inwiefern die Seele edel ist (Kap. 7)
Wie die Vernunft erstaunt ist (Kap. 8)
Von der Willenlosigkeit (Kap. 9)
Zwölf Namen der Liebe (Kap. 10)
Neun Punkte der Liebe (Kap. 11)
Die zunichte gewordenen Seele, die überhaupt keinen Willen mehr hat (Kap. 12)
Inwiefern die Vernunft zufrieden ist (Kap. 13)
Durch den Glauben weiß die Seele von Gott (Kap. 14)
Vom heiligen Sakrament des Altares (Kap. 15)
Die Seelen gestehen der Natur das zu, was sie begehrt (Kap. 17)
Wie Gaube, Hoffnung und Nächstenliebe Kenntnis verlangen (Kap. 19)
Die Liebe antwortet der Vernunft (Kap. 21)
Zwei Stützpfeiler der Seele (Kap. 23)
Ob solche Seelen Freude empfinden (Kap. 25)
Die Seele gerät in Verzückung (Kap. 33)
Keinerlei Unbehagen wegen der Sünde (Kap. 41)
Wie der Heilige Geist lehrt (Kap. 42)
Solche Seelen als heilige Kirche (Kap. 43)
Lebensweise der nach Liebe sich sehnenden Seele (Kap. 44)
Die ohne Willen leben in der Freiheit der Nächstenliebe (Kap. 45)
Welche Seele niemals frei ist (Kap. 48)
Inwiefern diese Seele der Gottheit ähnlich ist (Kap. 51)
Wie die Liebe diese Seele lobt (Kap. 52)
Wie die Liebe der Vernunft antwortet (Kap. 55)
Die Tugenden beklagen sich über die Liebe (Kap. 56)
Die Seelen und ihr Freund (Kap. 58)
Über die sieben Stadien der Seele (Kap. 61)
Was die Seele froh macht (Kap. 66)
Das Land, in dem die Seele sich aufhält (Kap. 67)
Die Seele und das göttliche Werk der Dreieinigkeit (Kap. 68)
Der Tugendwandel ist nichts als Sorge und Plage (Kap. 69)
Die Seele tut kein Werk mehr für Gott, für sich und den Nächsten (Kap. 71)
Der Geist muss sterben, damit er seinen Willen verliert (Kap. 73)
Die erleuchtete Seele und die Verklärung Christi (Kap. 75)
Wie die Seele singt (Kap. 80)
Vier Seiten der Freiheit (Kap. 82)
Inwiefern die Seele schließlich ganz frei wird (Kap. 85)
Der Gerechte fällt siebenmal am Tag (Kap. 103)
Wie Gott der Seele ihren freien Willen gab (Kap. 104)
Die sieben Stufen oder Seinszustände (Kap. 118)
Die Seele entschuldigt sich für das zu lang geratene Buch (Kap. 119)
Wie die Wahrheit solche Seelen lobt (Kap. 120)
Die heilige Kirche lobt diese Seele (Kap. 121)
Aus dem Lied der Seele (Kap. 122)
Erste Betrachtung: Von den Aposteln (Kap. 123)
Zweite Betrachtung: Von Maria Magdalena (Kap. 124)
Dritte Betrachtung: Von Johannes dem Täufer (Kap. 125)
Vierte Betrachtung: Von der Jungfrau Maria (Kap. 126)
EPILOG
STIMMEN UND ZEUGNISSE
LITERATUR
Was wäre die christliche Mystik ohne den Anteil der Frauen? Der Pulsschlag fehlte ihr, das empfindende, das liebende und das leidensfähige Herz! Aber Mystikerinnen und Mystiker leben gefährlich. Die Geschichte ist reich an entsprechenden Belegen. Bedroht und verfolgt, missdeutet und verleumdet, nach peinlichen Verhören gewaltsam getötet werden sie in der Regel nicht etwa von Gottesleugnern oder von erklärten Gegnern des Christentums. Paradoxerweise geht die Verunglimpfung durchwegs von den Hütern der sogenannten Rechtgläubigkeit aus. Sie befürchten, das kirchliche Dogma werde durch enthusiasmierte Christen oder Christinnen überall dort verfälscht, wo beispielsweise Eigenerlebtes über kirchenamtlich sanktionierte Wortlaute gestellt wird. Aber haben alles Offenbarungsgeschehen und aller Erkenntnisdurchbruch etwa nicht ursprünglich im Seeleninnern von jeweils Einzelnen ihren Anfang genommen? Und doch wirke sich die Verbreitung bestimmter innerer Erfahrungen dieser Art schädlich aus, meinen die Buchstabengläubigen einst und heute. Ganz zu schweigen von einer eventuellen Infragestellung allgemein verbindlicher Lebensregeln und Gebote, die schließlich außer Kraft gesetzt würden. Und gerade auf diese Selbst-Erfahrung, auf diese oft blitzartige Begebenheit der Erkenntnis und des Ergriffenseins kommt es an! Das ist Mal um Mal zu bezeugen.
Nun ist die Praxis der Verurteilung Missliebiger seit den ältesten Zeiten in der Christenheit, und nicht nur in ihr, bekannt. Man muss sich nur die Art und Weise vor Augen führen, wie beispielsweise die Vertreter gnostischer Strömungen in und seit den ersten Jahrhunderten diskriminiert und deren schriftliche Überlieferungen großenteils vernichtet wurden. Wie die Geistesgeschichte vorwiegend des vergangenen 20. Jahrhunderts zeigt, bedurfte es spezieller Schriftenfunde, um an relativ unzensierte Dokumente nichtkanonischer Evangelien sowie an bislang nur aus Gegnerschriften bekannte Glaubens- und Erkenntniszeugnisse heranzukommen.1 Wer als mystikós oder mystiké an einem Mysterium vernehmend, schauend, erkennend teilhat, der bzw. die gehört in der Regel einer Minderheit an. Und religiösen Außenseitern begegnet die jeweilige Allgemeinheit ohnehin mit Skepsis und Argwohn. Da wie dort ist das autoritative Handeln der Kirche herausgefordert und gefragt.
Hinsichtlich der mittelalterlichen Mystik handelt es sich um jene Männer und Frauen, die nicht allein den allgemeinen Frömmigkeitsübungen und dem religiösen Brauchtum folgen, sondern die sich darüber hinaus durch eigenes Erleben, nicht zuletzt durch ein eigenständiges spekulatives Weiterdenken auszeichnen und die davon durch Wort und Tat öffentlich Zeugnis ablegen. Dazu gehören Erfahrungen einer besonderen Gottesgegenwart, einer Geistesgegenwärtigkeit, die bis in ihren Alltag hineinwirkt. Denn gerade dort haben sich Echtheit und Wirklichkeitsgehalt des innen Erfahrenen zu erweisen, gilt es doch, wie Eckhart predigt, „Gott in allen Dingen“ zu ergreifen und das kontemplative Leben durch die Aktion gleichsam in Kraft zu setzen.2
Freilich geschieht ein solches Innewerden der vom Geistfeuer der Mystik ergriffenen Menschen in einer besonderen seelischen Verfassung. Mystik wird für sie Mal um Mal Ereignis; Mystik geschieht. Sie geschieht in der Sphäre einer letztlich unbeschreiblichen Gott- Unmittelbarkeit, sei es in Gestalt einer ungeahnten Erkenntnis, die wie ein Blitz dem betreffenden Menschen auf- und einleuchtet, und sei es als eine das ganze Leben durchdringende Empfindung der Gottes- oder Christusliebe. Sie geschieht nicht zuletzt in der Freiheit des unverfügbaren Geistes: Der Geist weht, wo er will! Er lässt sich nicht vorschreiben, in wem und auf welche Weise er sich kundgeben möchte. Wer einmal, und zwar nachhaltig, ein solches Gotteserlebnis durchgemacht hat, der bleibt nicht länger von einer durch äußere Autoritäten gelenkten Vermittlung des Glaubens abhängig. Er oder sie ist auf diese Weise – um mit Meister Eckhart zu reden – ihrer ledig, somit gott- oder geistunmittelbar geworden. Solche Menschen werden – nolens volens – in einer zweifachen Weise auffällig – eine Publizität, die ihnen am allermeisten zuwider ist, zumal das Bereden des Geheimnisvollen, Verborgenen, dem Wesen mystischer Wirklichkeit entgegensteht! Schon der Begriff – griech. myein, die Augen bzw. den Mund schließen – signalisiert: Es gilt, den Mund zu schließen und zu schweigen. Und doch kann es dabei nicht bleiben! Zum einen üben die von außerordentlichen Erfahrungen Heimgesuchten auf ähnlich gestimmte Zeitgenossen eine nicht geringe Faszination aus; es kommt zu einer speziellen Gruppenbildung von Gottesfreunden, von Brüdern und Schwestern im Geiste. Zum anderen heben sie sich vom Gros des biederen Kirchenvolkes ab, wiewohl sie ihm weiterhin verbunden bleiben, Seite an Seite mit dessen Mitgliedern auf das göttliche Wort hören und – von Ausnahmen abgesehen – die Sakramente gemeinsam empfangen.
Dennoch geraten sie bisweilen in ein gefahrvolles Abseits, zumal die Hierarchen der Kirche, der sie unterstellt sind, über viel Macht verfügen. Eine Weise dieser Machtausübung besteht darin, unliebsam gewordene Menschen inquisitorisch aufzuspüren, ihr Denken am herkömmlichen Dogma zu messen, sie gegebenenfalls daraufhin als Ketzer und Ketzerinnen zu verurteilen und die solcherart Gebrandmarkten alsbald dem „weltlichen Arm“, das heißt dem Henker, zu übergeben. Da stehen Amt und Charisma, wie so oft in der Kirchengeschichte, einander feindselig gegenüber! Aber selbstbewusste, mit einer Geistesgabe (Charisma) ausgestattete Menschen meinen bisweilen, sich nicht länger an die Weisungen der zuständigen Amtsinhaber halten zu müssen. Doch einem Ketzer, einer Ketzerin, so sagt man, gebührt seit alters der Feuertod!
So ist es wieder einmal geschehen: Am 1. Juni des Jahres 1310.3 Auf der Place de Grève in Paris4, am Nordufer der Seine gelegen, verbrennt man eine von der Inquisition angezeigte und wiederholt gemaßregelte Frau; dazu, wie sich herausstellt, eine unmittelbare Zeitgenossin und Geistesverwandte Meister Eckharts!5 Es handelt sich um Marguerite Porete, eine Nordfranzösin. Sie ist die Autorin des Buches „Der Spiegel der einfachen und zunichte gewordenen Seelen“ (Le mirouer des simple ames anienties), also eine Intellektuelle, die etwas Bestimmtes, dazu Provokatives zu sagen hat.
Die ungewöhnliche Rede von dem Vernichtigtsein und damit von dem Zunichte-Gewordensein meint die Erkenntnis des eigenen Nichts, und zwar als eines besonderen Zustandes. „Die Vernichtung ist also eine Bewusstwerdung des Nichts, demgegenüber das Alles Gottes umso deutlicher wird.“6 Damit verbunden sind – wie in der mystischen Literatur nicht unüblich – Aussagen über das Nacktsein und Nichtssein vor Gott, was jedoch nicht als Mangel oder als Unwert anzusehen sei, sondern als die Voraussetzung für das Freiwerden, für die Freiheit aus den Knechtschaften in Kirche und Gesellschaft, und zwar um der Gottesfreundschaft willen. „Die vernichtete Seele ist zugleich eine befreite Seele; beide Begriffe treten regelmäßig miteinander auf, wie etwa an einer Stelle, wo davon die Rede ist, dass das rechte Verständnis der Gottesminne bei der vernichteten Seele liegt: Das Verständnis der Gottesminne ist in der vernichteten Seele und verbleibt in ihr, die auch eine befreite Seele ist.“7 Es ist der Bräutigam Gott bzw. Christus, der die Seele aus der Knechtschaft, zu der auch erzwungene Tugenden zählen, herausführt. Denn Dank seiner wird die Seele frei.
Mit dieser Schrift, die Marguerite Porete – wie einst üblich – durch wiederholtes öffentliches Vorlesen bekannt machte, hatte sie offensichtlich vor einer nicht geringen Zuhörerschaft mehrfach Aufsehen erregt. Das konnte der kirchlichen Obrigkeit weder verborgen noch durch sie ungestraft bleiben. Das Urteil namhafter Theologen über die Gedanken der Porete war zwar nicht eindeutig ausgefallen. Doch schließlich behielten ihre Widersacher als Ketzerrichter die Oberhand. Sie werden wahrgenommen haben, dass sie es mit einer in Fragen des geistlichen Lebens kundigen und – gemessen an ihrem damaligen geringschätzig beurteilten Stand – mit einer theologisch durchaus gebildeten Frau zu tun hatten, aber eben mit einer Frau. Und Frauen sind in der katholischen Kirche weder kultusfähig, noch steht ihnen in jenen Tagen die Kompetenz der theologischen Unterweisung zu. Und doch erheben sie ihre Stimme, manche beginnen zu predigen!
Dessen ungeachtet hatte auch Marguerite Porete in einer ebenso überzeugenden wie herausfordernden Weise das Wort ergriffen und Widerhall unter dem Kirchenvolk ihrer Region gefunden. Ihr oblag es, einen Stufenweg der Seele zu Gott zu zeigen. Sie hatte in temperamentvollen, bisweilen enthusiastischen Dialogen darzulegen, wie sich die erleuchtete Seele von den Unzulänglichkeiten der menschlichen Vernunft wie auch der herkömmlichen Tugenden zu verabschieden habe, um sich in hingebungsvoller Liebe mit der Gottesliebe zu verbinden – eine Verbindung, die eine ungeahnte Freiheit des Geistes eröffnet. Sich selbst versteht diese sich ihres Adels bewusste Seele als eine Herrin über die Tugenden und als eine geradezu ebenbürtige Tochter der Gottheit. Dieses Wissen kann sie nicht für sich behalten, sie muss es Menschen mitteilen, die bereits eine Ahnung davon in sich tragen. Möglich scheint ihr die Verbreitung dieser Einsicht nicht länger in der „kleinen Kirche“ (Sainte Eglise la petite) der vielen, sondern nur in der ihrer spirituellen Qualität nach „großen Kirche“ (Sainte Eglise la grande). In ihr kennt man Wissende, deren Seelen Gott als dem nah wie fern Geliebten (Loing-Près) angetraut sind. Es handelt sich offensichtlich um Eingeweihte, die sich als die Freien von den „anderen“ unterscheiden, denen das Mysterium verschlossen oder zumindest noch nicht zugänglich geworden ist.8 Wie aber können, wie müssen derlei esoterische, das heißt spirituell nach innen gerichtete Vorstellungen in einer Kirche aufgenommen werden, in der die Erfüllung von strikten Tugendnormen, Unterordnung und Gehorsam keinen Widerspruch leiden, zumal, wenn die diesbezüglichen Lehrer und Autoren nicht etwa gelehrte Magister der hohen Schule sind, sondern „nur“ Frauen, die einen Weg zur spirituellen Vollkommenheit beschreiten? Zumal wenn es sich um eine Frau wie Marguerite Porete handelt, die diesen Weg auch anderen mit der ihr eigenen Eindringlichkeit lehrt und bezeugt?
Schon einige Jahre vor der Hinrichtung Marguerite Poretes hatte der Bischof von Cambrai (etwa um 1305) die Vernichtung des Buches in erster Fassung veranlasst. Ihr späterer Inquisitor, der Dominikaner Wilhelm von Paris, erkannte daher auf Rückfälligkeit. Rückfällige Ketzer verdienen kein Pardon. Da hat auch das Sakrament der Beichte und Absolution (Sündenvergebung) seine Grenze. Nicht nur die kirchliche Glaubenslehre, sondern auch die moralischen Normen der Kirche schienen – verstanden oder missdeutet – durch Porete in Frage gestellt zu sein. Bei der Überprüfung ihrer Texte beanstandeten mehrere Pariser Theologen verdächtig scheinende Passagen ihrer Schrift, des Miroir. Fünfzehn Sätze genügten ihnen, um Poretes Gedanken in ihrer Gesamtheit als Ausdruck einer todeswürdigen Irrlehre zu beurteilen. Einer fortgesetzten Verbreitung musste daher für immer Einhalt geboten werden, und zwar umso mehr, als die selbstbewusste und von ihrer Einsicht überzeugte Angeklagte sich zu keiner Umkehr bereit fand.
Fragt man nach Herkunft, Lebenszusammenhang und gesellschaftlicher Zuordnung, dann fällt die Auskunft über Marguerite Porete sehr sparsam aus. Nur weniges ist aus den Prozessakten zu erheben. Abgesehen vom Datum ihres Todes weiß man nicht viel von dieser Frau, nicht einmal ihr ungefähres Alter lässt sich mit einiger Sicherheit angeben. Man schätzt, sie sei etwa fünfzig Jahre alt gewesen. Gelebt hat Marguerite im Hennegau; es ist die Region im Norden Frankreichs an der Grenze zu Belgien. Nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann man sagen, dass sie in der Stadt Valenciennes gelebt und als Begine an einem regen religiösen Leben teilgenommen hat. Das ist jene in der Hauptsache von Frauen gebildete, geistlich ausgerichtete Bewegung vornehmlich des 13. und 14. Jahrhunderts, deren Mitglieder unabhängig von Ehe und Familie zunächst im niederländischen und im süddeutschen Raum verhältnismäßig lose religiöse Gemeinschaften bildeten. Beginen unterwarfen sich somit auch nicht auf Lebenszeit den mönchischen Gelübden der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams. Von Ausnahmen abgesehen, schlossen sie sich keinem Nonnenkloster an.9 In einzelnen Städten praktizierten sie in sogenannten Beginenhöfen ein gemeinsames Leben. Unter freiwilligem Verzicht auf ein gesichertes Einkommen widmeten sie sich einer handwerklichen Tätigkeit wie Spinnen, Weben, Kerzenmachen sowie der gesellschaftlich unverzichtbaren Kranken- und Armenfürsorge; andere nahmen den Bettelsack und führten ein Vagabundenleben.
Argwohn erweckten solche Beginen als pseudo-mulieres 10 überall dort, wo sie kirchenkritisch für ihre Lebensform am Rande der Gesellschaft warben und auf ihre Weise predigten. Wiederholt kommen Beginen in Konzilsbeschlüssen vor, z.B. in Vienne 1311/12, unter dem Vorzeichen der Missbilligung und des Predigtverbotes. Doch angesichts der unterschiedlichen Erscheinungsformen versuchte man, häretische und nicht häretische Beginen zu unterscheiden. Nicht wenige von ihnen traten als Mystikerinnen mit gleichfalls unterschiedlicher Charakteristik hervor. Das zeigt sich, wenn man Leben und Spiritualität so bedeutender Beginen-Gestalten wie beispielsweise Hadewijch von Antwerpen, Mechthild von Magdeburg11 oder Marguerite Porete nebeneinander stellt. Von ihrer je unterschiedlichen Prägung her gesehen, die kaum eine Normierung zulässt, ist es nicht ganz unproblematisch, von einer gleichförmigen Beginenmystik zu sprechen. Die vielen Namenlosen – Männer (Begarden) wie Frauen (Beginen) – galten weder alle als Ketzer noch als erwiesene Rechtgläubige. Von Region zu Region beobachtete man weitere Unterschiede.
Gemeinsam war ihnen jedoch die religiöse Aktivität, mit der sie ein Leben in der Nachfolge Christi und in apostolischer Armut führten. Auffälligerweise beschäftigten sie sich, soweit wir von ihnen wissen, mit subtilen religiösen Fragen, vornehmlich mit solchen, durch die sie zu eigenen Deutungen des Evangeliums gelangten. Und anders als gelehrte, lateinisch sprechende Theologen drückten sie sich in der ihnen jeweils eigenen Volkssprache aus. Insofern stellte die Mystik jener Zeit einen überaus bedeutsamen Neuansatz der Frömmigkeit dar. Wichtiger als die in theologischen Büchern niedergelegten Lehren und für sie existenziell wichtiger erschien ihnen das eigene innere Erleben, das sie in ihrer Muttersprache dafür aufgeschlossenen Mitmenschen mitteilten. Bei der etwa ein Menschenalter zuvor lebenden Mechthild war es das Niederdeutsche, bei der Porete das Mittelfranzösische. Schon von daher hat oder hätte es der ausdrücklichen kirchenamtlichen Approbation ihrer schriftlichen Äußerungen bedurft, um der Gefahr einer Verketzerung zu entgehen. Mechthild hatte immerhin einen guten Kontakt zum Dominikanerorden, dem ihr Bruder Balduin angehörte.