Patricia Brooks
Kimberly
Impressum:
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
Foto: fotolia
© 110th / Chichili Agency 2014
EPUB ISBN 978-3-95865-107-4
MOBI ISBN 978-3-95865-108-1
Urheberrechtshinweis:
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Dieses Werk unterlag zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung noch nicht der neuen Rechtschreibreform.
Daher werden noch die alten Schreibweisen verwendet.
Kimberly hätte eigentlich in einer städtischen Geburtsklinik zur Welt kommen sollen. Aber ihre Mutter Agnes S., die für das amerikanische Verteidigungsministerium als Beamtin im dritten Verschwiegenheitsgrad arbeitete und als Datenranger offiziell beauftragt war, unwegsame Gegenden des Cyber auszukundschaften, hatte es verabsäumt, rechtzeitig den ihr zustehenden Karenzurlaub anzutreten. So wurde sie, hochschwanger, wie sie war, am Computer auf einer ihrer Expeditionen von heftigen Wehen überrascht. Als unerfahrene Mutter – es war ihr erstes Kind – hatte sie die ersten ankündigenden Wehen übersehen, als erfahrener Ranger wußte sie, daß der Weg zurück ein langwieriger war, und der Schmerz, der sich in ihrem Unterleib aufbauschte, kappte Stück für Stück die dafür notwendigen Synapsen ihres Gehirns. Ein entschiedener Griff zur Escape-Taste hätte ihre Situation auf der Stelle verbessert, aber als verantwortungsbewußte Beamtin hatte sie Skrupel, nur wegen einer körperlichen Unpäßlichkeit ein System abstürzen zu lassen. Und viel Zeit, die Dinge gegeneinander abzuwägen, hatte sie auch nicht. So sicherte sie ihre Daten, schleppte sich an den Rand des Highways, der eine öde Wüstenlandschaft wie ein Messer durchschnitt. Auf einem geschützten Platz preßte sie unter heftigem Keuchen und Schreien ihr Baby aus dem Leib. Ein Mädchen, Gott im Himmel, ein Mädchen, dachte sie glücklich. Sie nabelte ihr Kind ab, wickelte es in ihre blütenweiße Bluse aus dem Versandkatalog, küßte es auf den Mund und fiel in eine tiefe Ohnmacht, die sie vom Kind wegschwemmte, zurück an ihren Arbeitsplatz, wo man sie wenig später fand. So waren Mutter und Kind getrennt und das Kind in der Wüste zurückgeblieben. Seine Chance zu überleben war klein wie ein Staubkorn. Es wäre mit Sicherheit gestorben, unfreundlich hinübergedämmert von einem Traum in den anderen, wäre nicht zufällig an diesem Nachmittag Dirty Daddy auf seinem Motorrad in diese unfreundliche Phase hineingeorgelt.
Die Schrotflinte am Rücken, eine flachbäuchige Miniaturausgabe von Virgin Mary in der Tasche, ein selbstgebrautes Destillat, von dem er sich ab und zu einen Schluck gönnte, spuckte er ein kehliges Lachen in den Fahrtwind, der ihm die Haare nach hinten wehte und die Gesichtshaut straffte. Er war hormonell bedingt gut aufgelegt, dachte an Polly Plums Pflaumenhintern und die violetten Flecken, die seine Finger dort hineingeknetet hatten. Daß auch andere in diesem watteweichen, flaumigen Fleisch wühlten, daß Polly Geld dafür nahm, das störte ihn nicht. Sie war so französisch, roch nach Kuchen, nach Frau. Jeden Tag wäre ihm das zuviel. Zuviel Kuchen, zuviel Frau, zuviel Strümpfe, zuviel Wimperntusche. Öfter könnte es schon sein, aber alle zwei Wochen war es jedenfalls ein Fest. Bei diesen Gedanken, die er genüßlich zerpflückte, und dem reichlichen Genuß von Pollys Schnaps, dem er in den letzten zwei Tagen und Nächten ausgiebig zugesprochen hatte, war es ein Wunder, daß ihm das weiße, zappelnde Bündel, halb verdeckt von einem Steinhaufen, und ein falscher Ton, der sich durch das Motorengeknatter fräste, aufgefallen waren. Irgend etwas war faul daran und veranlaßte ihn, die Maschine an den Straßenrand zu lenken und abzustellen. Nanu, was ist denn das? fragte er, als er sich über das verzweifelt schreiende, gegen den Hunger und das Verlassensein protestierende Bündel beugte. Das war nicht besonders intelligent, aber in Anbetracht der Umstände verzeihlich. Und er begriff recht schnell die Situation, was seine schwierige Rolle darin nicht gerade verbesserte. Einen Augenblick lang war er versucht, das Bündel als trunksuchtbedingte Fata Morgana abzutun, gedachte, nie wieder Virgin Mary und ihren Schwestern zuzusprechen oder mit allen zusammen zur Hölle zu fahren. Aber seine Hormone waren gut aufpoliert, er reagierte instinktiv und steckte das Geschrei unter seine Lederjacke an die Brust. Nach zwei Meilen verstummte es. Dirty Daddy empfand das als erholsam, aber auch beunruhigend, dachte, das Baby sei vielleicht erstickt oder sonstwie gestorben, und er schob seine vom Fahrtwind klammkalten Finger an die Babybrust, einen Herzschlag zu ertasten, worauf das empörte Geschrei auch prompt wieder einsetzte. Er bedauerte das, weil es ihn eine weitere Meile kostete, es erneut zum Verebben zu bringen, aber er schloß daraus, daß es wohl ein nettes Baby war, weil es Motorradfahren so sehr mochte, daß es dabei nicht gestört werden wollte. Die Probleme fingen jedoch zu Hause erst so richtig an. Fieberhaft überlegte er, was man so einem Baby denn füttern könnte. Eingedoste Bohnen und Corned beef kamen nicht in Frage, das war ihm klar. Er probierte es mit in Wasser aufgeweichtem Zwieback, woran das Baby gierig sein Mäulchen anzappelte, um nach dem zweiten Versuch enttäuscht den Kopf wegzudrehen und wieder in ein erbärmliches Gezeter auszubrechen, bis ihm die rettende Idee mit der Dosenmilch kam, die er vor zwei Jahren von einem in der Wüste gestrandeten Militärtransport aufgelesen hatte. Pur mochte das Baby sie nicht, aber mit abgekochtem Wasser versetzt schien sie ihm zu schmecken. Was Dirty Daddy nach drei nervenzermürbenden Stunden mindestens ebenso glücklich machte wie das Baby selbst. Er holte seinen Gitarrenkoffer, nahm die Gitarre – so eine von der Sorte, auf der auch Jimi Hendrix spielte –, stellte sie fürsorglich zur Seite, polsterte den Koffer mit einigermaßen sauberen Handtüchern aus und legte das Baby hinein. Aber dieses hatte noch nie etwas von Jimi Hendrix gehört, weigerte sich, auch nur ein Ohr dafür herzugeben, fand es einfach ungemütlich und ließ Dirty Daddy das umgehend wissen. Also legte er es in sein Bett. Und nach anfänglichem Mißtrauen schien es fürs erste gewillt, ihm einen Vertrauensvorschuß zu gewähren, klappte die Augen zu und schlief ein. Die Stille war ein zerbrechlicher Ort.
Eine Woche später lebte das Baby erstaunlicherweise immer noch. Das freute Dirty Daddy, aber er war übermüdet und nervlich sehr angespannt. Er hatte sich das nicht so vorgestellt. Ununterbrochen war er damit beschäftigt, das Baby zufriedenzustellen. Und seit einer Woche war er nicht einmal mehr dazu gekommen, sich ordentlich zu betrinken. Nach einer Nacht, in der er kein Auge zugetan hatte, weil das Baby nicht eingesehen hatte, daß es schlafen sollte, bloß weil es Nacht und Dirty Daddy hundemüde war, beschloß er, es zu Polly Plum in die Stadt der drei Frauen zu bringen. Schließlich war Polly eine Frau, und Frauen sagte man in solchen Dingen die bessere Hand oder zumindest die besseren Nerven nach. Er packte Dosenmilch und zugeschnittene Windelfetzen in die Motorradsatteltaschen, hob das kleine Ding aus seinem Bett und steckte es in seine Lederjacke. Und dabei sah es ihn an mit seinen undurchschaubaren, nachtblauen Augen, so friedlich und unschuldig, als könnte es kein Wässerchen trüben, und Dirty Daddy trieb es eine kleine Stecknadel ins Herz. Das Leben würde wieder anders werden ohne das Baby, sagte er sich zuversichtlich, er würde sich in seinem Schaukelstuhl vor der Hütte aus Holz und Blech ausgiebigst und in aller Ruhe betrinken. In der Vorfreude darauf küßte er das Baby auf die Nase, das Baby nieste, Dirty Daddy lachte, stupste das Köpfchen unter die Lederhaut und trat die Maschine an.
Polly Plum war überrascht, ihn nach so kurzer Zeit wieder an ihrer Tür zu sehen. Sie stand in ihrem puderrosa geblümten Unterkleid mit bloßen Füßen und flammend roten Zehennägel auf der Treppe ihres Wohncontainers, als Dirty Daddy den Grund seines Besuchs aus der Lederjacke zog.
– Adam Jeremy Roth, rief sie aus, klatschte in die Hände, und die kastanienbraunen Locken, die ihr bis zur Taille fielen, hüpften wie erschrockene Schlangen hoch, wo zum Teufel hast du denn das her?
Und es war das letzte Mal, daß jemand Adam Jeremy Roth zu ihm sagte, obwohl er eigentlich Adam Jeremy Roth hieß.
– Ist das süß, kicherte sie und nahm das Baby ungeschickt in den Arm. Dirty Daddy konnte ihr gar nicht zusehen dabei, er fuhr sie an, doch gefälligst den kleinen Kopf zu stützen, damit er nicht wie ein Zündholz über den Nacken knickte, weil dieses kleine Ding ihn noch nicht selber halten konnte. Und er dachte, so geschickt Polly in der Liebe war, so blöd stellte sie sich mit dem Baby an. Und das Baby dachte das auch. Und wahrscheinlich mochte es auch keinen Geruch nach Kuchen und nach wildem Jasmin. Es schrie wie eine Trillerpfeife, und sein Gesichtchen lief dunkelrot an. Bevor das Baby kollabierte und Polly es aus Nervosität vielleicht auch noch fallen ließ, entwand Dirty Daddy es ihr unwirsch. Und der bereits routinierte Griff seines Arms, sein Geruch nach Tabak, Lederjacke, Schweiß und Motoröl schienen das Baby der Welt zu versichern, es schniefte noch ein bißchen beleidigt vor sich hin, aber seine Hautfarbe wurde schön langsam wieder normal. Es wühlte sein Köpfchen in Dirty Daddys Halsgrube und himmelte ihn aus halbgeschlossenen Augen an. Da wuchs sich die Stecknadel in seinem Herzen zu einem Schwert aus. Und er ließ alle Hoffnung fahren, sich in nächster Zeit in aller Ruhe und ordentlich betrinken zu können.
– Du gottverdammter alter Dreckskerl, grinste Polly mit respektvoller Bewunderung, jetzt bist du auch noch Vater!
Dirty Daddy seufzte ergeben.
– Willst du so eine Art Patentante für das Kind sein fragte er sie.
Und Polly wollte sehr gerne, fächerte mit klimpernden Wimpern, die aufsteigenden Tränen der Rührung trocken. Polly Plum war dabei, sich in Dirty Daddy zu verlieben. Und so etwas passierte einem schließlich nicht alle Tage. So wurde aus Dirty Daddy Dirty Daddy, aus Polly Plum eine Tante, und das Baby bekam am darauffolgenden Sonntag den Namen Kimberly: weil Tante Polly, die mit einem riesigen Geschenkpaket auf Besuch kam, befand, es sei höchste Zeit, daß das Baby einen Namen bekomme, und Dirty Daddy befand, es sei höchste Zeit, daß jemand einen Popsong mit dem Titel Kimberly schreibe – er dachte da an Jimi Hendrix, Jim Morrison oder zur Not auch die noch ziemlich unbekannte Patti Smith. Polly tendierte mehr zu Water Violet oder dergleichen, aber da empörte sich Dirty Daddy, da käme dann vielleicht gar einer wie Leonard Cohen daher, um darüber ein Liedchen zu trällern, und das könne man dem Kind denn nun wirklich nicht antun. Polly hatte Leonard Cohen ganz gern, aber Dirty Daddy verstand da keinen Spaß, und der Name Kimberly tat es fürs erste auch, schließlich konnte die Kleine sich später nennen, wie es ihr beliebte.
Es war eine wilde, weitgehend unerschlossene und unbehelligte Gegend des Cyber, in der Kimberly aufwuchs. Eine blinde Zone, von den Militärs als Durchzugsland genutzt. Darüber hinaus war es strategisch nicht von Bedeutung, und es gab auch keine bedeutenden Vorfälle, die die Aufmerksamkeit des Militärs auf diese Gegend gelenkt hätten. Die kleineren Händel und die Tatsache, daß ab und zu irgendwo ein militärischer Transport versandete, war ein statistisch einkalkulierter Risiko-Drop-out, der überall anders auch vorkam. Siebzig Meilen nördlich lag Three Point Base, eine kleinere Militärbasis, eine Dependance, die keine konzeptuellen und territorialen Aufgaben hatte, sondern aufgrund der geographischen Lage eine Verteilerfunktion ausübte, wo der Nachschub an die nächsthöheren, aber immer noch drittrangigen Basen im Norden, Westen und Osten vorsortiert und weitergeleitet wurde. Die ersten Jungs von Three Point Base hatten die Stadt der drei Frauen installiert, um ein bißchen Spaß und Entspannung zu haben. Das mit den Frauen in militärischem Gebiet war nun einmal so, aber während es auf realem Boden dafür reale Regeln gab, war das Cyberland Neuland, und keiner kannte sich mit den Regeln richtig aus. Three Point Base war ein Sprungbrett für die Karriere junger militärischer Subsubkader. Die Jungs blieben fast nie länger als ein halbes Jahr, dann stiegen sie entweder ganz aus oder zogen weiter in ihrer Karriere, und keiner kümmerte sich um das Erstellen von Regeln für diesen Teil, diesen blinden Fleck des Cyberlands. Und es blieb fürs erste ein freies Land, ein feines Land, wo sich Cybergypsies, Freaks und ein Hippie namens Dirty Daddy lose verstreut angesiedelt hatten.
Dirty Daddy war auf einer psychedelischen Reise hier vorbeigekommen und zufällig hängengeblieben. Er fand es ganz angenehm da, die Stille, die Einsamkeit, die Freiheit. Etwas, das man in den schrillen Hell's-Angels-, Antivietnam- und Hippiebewegungen Kaliforniens, von wo er hergezogen war, nicht einmal mit Drogen herbeizuführen vermochte. Hier war das ganz leicht, weil alles so echt war. Und Dirty Daddy beschloß, diesen unverhofften Luxus eines Selbstfindungstrips auf unbefristete Zeit auszukosten. Vielleicht wäre er irgendwann zurückgefahren, vielleicht irgendwann weitergezogen, vielleicht hätte er sich in Virgin Marys orgiastisch weichen, wabbeligen Armen zu Tode gesoffen, hätte sich nicht Baby Kimberly in Gottes undurchschaubarem Programm in seine Selbstfindungsschleife gepixelt. Was seinem Leben einen handfesten biologisch Sinn gab, den er nicht hinterfragte, weil es in der Natur biologischer Sinne lag, daß sie nicht zu hinterfragen waren, weil sie ohnehin keine Antwort gaben. So fuhr Kimberly erst in der Lederjacke an seiner Brust, dann in einem Tragegestell an seinem Rücken und später am Rücksitz seiner Harley durch die Landschaft, schlief auch in späteren Jahren wie ein Kätzchen zusammengerollt unter seiner Achselhöhle in seinem Bett, was ihr so gar nicht auszureden war. Sie entwickelte ihre Ernährung von Dosenmilch über Zwieback, Karotten und einem Absud aus wilden Kamillen zu allmählich menschenwürdiger Nahrung wie Haferflocken, Popcorn, Kartoffeln, Hühnerfleisch und Lakritzestangen. Und sie liebte den Blues. Den Blues, den Dirty Daddy auf seiner elektrischen Gitarre spielte. Sie tanzte hüpfend mit nackten, dünnen Vogelbeinen oder sang mit glasklarer Stimme ihre eigene Version dazu. An den Sonntagen kam Polly vorbei. In einer scheppernd vanillefarbenen Staubwolke ihres alten Ford-Cabrios, die wie ein feiner Hochzeitsschleier anmutig zu ihren Füßen niedersank, wenn sie scharf abbremste und mit strahlendem Gesicht und geöffneten Armen heraussprang, um Kimberlys Begrüßungsansturm aufzufangen. Polly brachte immer kleine Geschenke mit, Süßigkeiten, Stoffpüppchen, Bänder, Mickymaushefte und anderen Kinderkrimskrams, den Polly und Kimberly am Boden kauernd aus Pollys riesiger Strohtasche herausklaubten. Hi, Daddy, rief Polly, winkte ihm zu und schickte Küsse mit der Hand. Das Kind und die Frau lachten und schnatterten, zupften und nestelten einander am Haar und an den Kleidern herum. Dirty Daddy stand ein wenig abseits und drehte sich eine Zigarette oder einen Joint; er war froh, daß keine von beiden erwartete, daß er bei dem Treiben mittat. Das war ihm irgendwie zu kompliziert, zu emotional, zu weiblich. Und er konnte warten, bis er seinen Teil davon abbekam. Wenn das Begrüßungsritual abgewickelt war, erhob sich Polly, strich ihr Kleid an den Hüften glatt, ließ das Kind für einen Augenblick Kind sein, fuhr mit der Hand unter sein Hemd und züngelte ihre samtige Pfefferminzzunge zwischen seine Lippen. Ein Versprechen auf spätere Liebe – das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Davor jedoch klippte sie ihr Haar mit einer Spange im Nacken zusammen, band sich eine Schürze übers Kleid, fegte die Hütte, wusch das Geschirr vom Vortag, briet ein Huhn, einen Truthahnschenkel, je nachdem, was ihr die Boys aus dem Vorratslager der Base diese Woche als Geschenk mitgebracht hatten, und deckte den Tisch mit Tellern, Besteck, Gläsern und dünnen Papierservietten aus der Kantine der Base, die zwar praktisch nichts hergaben, aber dem Ganzen einen kultivierten Anschein verliehen. Und zwischendurch stemmte sie die Arme in die Taille, schimpfte ein bißchen über Dirty Daddys Haushaltsversäumnisse, gleichzeitig alberte sie mit Kimberly herum, die ihr am Schürzenzipfel hing, und stellte Dirty Daddy ihren geschäftigen Hintern, ihre Brüste und ihr rosig erhitztes Gesicht in den Weg. Sie wirkte sehr französisch dabei. Sie stammte nämlich aus Quebec. Nach dem Essen spielte sie mit Kimberly Memory oder Verstecken, las ihr aus den Mickymausheften vor oder erzählte ihr absonderliche Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen. Die mußten auch französisch sein, Dirty Daddy hatte noch nie von solchen Leuten gehört. Kimberly lauschte mit aufmerksamem Gesicht, sog den Geruch von Pfefferminze und Kuchen ein, bis sie genug davon bekam. Dann sprang sie von Pollys Schoß und trollte sich. Polly und Dirty Daddy rauchten ein bißchen Marihuana, nippten an Virgin Marys Hals und plauderten zerstreut und sonntäglich. Erst abends, wenn Kimberly eingeschlafen war und sie unter herzzerreißendem Wüstensternenhimmel in Dirty Daddys Marihuanagärtchen saßen, Dirty Daddy einen leise melancholischen Blues auf der Gitarre spielte und Polly sich das Kleid über die Schenkel hochschob, seufzend die Augen schloß, um die Zuckerseite des Lebens zu genießen, dann sprachen und benahmen sie sich wieder wie Mann und Frau. Und sie hatten Sex. Der Sex war zahmer geworden, nicht unbedingt besser, nicht unbedingt schlechter, sagen wir: spiritueller. Aber wenn man miteinander ein Kind aufzog, regelmäßig Sex hatte und Sonntag mittags gemeinsam ein gebratenes Huhn aß, war es schwer, sich auf Dauer vorzumachen, man sei ein alter Rocker und eine lasterhafte Hure, noch dazu, wo Polly es für Daddy schon seit langem gratis machte.
Kimberly hatte diese frühen Jahre der Kindheit in glücklicher Erinnerung. Dirty Daddy war ein Glückstreffer und Polly Plum das Tüpfelchen auf dem i. Ihre Haltung war – von so kleinen Schnitzern wie ihren Nahrungs- und Genußmittelvorlieben und Dirty Daddys Schrotflinte abgesehen – anthroposophisch, obwohl sie niemals in ihrem Leben etwas von Rudolf Steiner gehört hatten. Um sie herum war viel Luft, viel Licht, viel Musik und eine Prise psychedelischen Krams Polly las aus den Tarotkarten und behauptete, wenn sie es darauf anlegte, orange, rote oder violette Farbkreise um Leute zu sehen. Dirty Daddy hatte seine geheimen Theorien über außerirdisches Leben und interplanetare Intelligenzen, aber da sie geheim waren, behielt er sie auch für sich. Kimberly fing Spinnen, Käfer und Schlangen, wenn sie sie erwischte, baute ihnen Paläste und Gärten, sah Dirty Daddy beim Reparieren von Maschinen zu, die die Siedler nicht selbst reparieren konnten, denn Dirty Daddy hatte magische Finger und brachte alles, was mechanisch und elektrisch defekt war, wieder zum Laufen. Oder sie begleitete ihn auf seinen Streifzügen durch die Wüste, wo sie von gestrandeten Militärtransporten oder verendeten Reisenden wundersame und manchmal auch sehr nützliche Dinge einsammelten.
Die Wüstenzone um Three Point Base war etwa hundertfünfzig bis zweihundert Meilen im Durchmesser groß. Was jenseits davon lag, interessierte keinen der hier Ansässigen so genau. Man erzählte sich, daß der Süden, Südosten eine Art unterentwickeltes Gebiet sei, während der kapitalkräftige, prosperierende Norden, Nordwesten mit einem Höllentempo den Ausbau der Infrastruktur und Vernetzung vorantrieb. Das waren die Gerüchte, die die Jungs von der Base in Umlauf setzten. Die wußten vielleicht ein bißchen mehr, aber hatten im Grunde genommen auch keine Ahnung. Sie kamen aus New Jersey, Wyoming, Sasketchewan oder sonstwoher, um auf ihre Cybertauglichkeit hin geprüft zu werden und sich die ersten Sporen im Neuland zu verdienen. Und wenn sie einmal soweit waren, sich über die zwei nächstgelegenen Militärstützpunkte hinauszudenken, wurden sie in einen höheren Rang befördert und versetzt. Es gab die Base, als kleines lebenspendendes Herz in der Wüste, die Stadt der drei Frauen, die unter der Hand ihren Virgin-Mary-Schnaps brannten und eine Variante von Schwarzsupermarkt betrieben, wo man Alkohol, Tabak, Hygieneartikel und Lebensmittel kaufen konnte. Und es gab die verstreuten Siedler – wie Dirty Daddy, die Witwe Lopez, eine stattliche, resolute Endfünfzigerin, Hispanoamerikanerin und immer in Schwarz gekleidet, die mit ihrem asthmakranken, hyperallergischen Sohn hierhergezogen war, weil der Sohn nach der Lektüre der Bücher eines drogensüchtigen Schamanen in der Wüste sein letztes Heil sah und die Witwe nach dem Tod ihres Mannes die teuren medizinischen Therapien und Arzneimittel ohnehin nicht mehr bezahlen konnte. Und das sterile Klima der Wüste bekam ihm tatsächlich. Seine Konstitution verbesserte sich zwar nicht dramatisch, aber sie verschlechterte sich auch nicht, pendelte sich auf einen ätherischen Zustand ein, wo er flach atmend mit durchsichtigen Augen die Welt transzendierte. Das mit den Augen kam vielleicht nicht nur vom Schauen in die Welt der Toten, das kam vielleicht auch vom vielen Fernsehen, was er, wenn er nicht gerade seine Schamanenbibel las, die meiste Zeit des Tages und des Abends tat. Die Witwe und ihr Sohn waren Dirty Daddys nächste Nachbarn. Dahinter lag das Anwesen der McCormays, einer Familie mit sechs erwachsenen Kindern, fünf trink- und rauflustigen jungen Männern und einer schwachsinnigen jungen Frau, die von allen sechs Männern der Familie, Brüder wie Vater, zu inzestuösen sexuellen Handlungen angestiftet wurde, wie man unter den Nachbarn munkelte. Aber das war irische Familiengeschichte.
Fremde kamen anfangs nur selten in dieser Gegend vorbei. Die regulären Militärtransporte liefen auf einer gut eingefahrenen Schiene und ohne große Sicherheitsvorkehrungen. Hin und wieder kam ein wandernder Prediger vorbei und versuchte die Desert Zone zu missionieren, hin und wieder verirrte sich ein Individualreisender oder ein militärischer Pfadfinder hierher. Manchmal fand man ihre abgefressenen und sonnengebleichten Knochen, auf denen der Wüstenwind den Sand tanzen ließ, wenn sie nicht das Glück gehabt hatten, zufällig oder von einem der Siedler geleitet zur Base zu kommen. Und manchmal fand man sie auch nicht. Staub zu Staub und Asche zu Asche. Man fragte nicht danach. Später kamen dann noch die Feldforscher, die im Auftrag großer Konzerne das Neuland auf Zehenspitzen bereisten, um ihm etwas Gewinnbringendes abzuringen. Gewohnt, in Kategorien von Rohstoffen, Billignebenkostenproduktion, neuen Technologien und Märkten zu denken, tappten diese Gringos linkisch und kopfverdreht durch das Land und suchten etwas, von dem sie selbst noch nicht so genau wußten, was es war oder sein sollte. Zum Glück stellten sie fest, daß sie es hier nicht fanden. So hielten sie sich nicht lange auf, verbrachten vielleicht ein, zwei Nächte in der Stadt der drei Frauen und zogen weiter. Das Land war weit genug, daß sie sich darin verliefen. Und die Brüder McCormay brachten mit erstaunlicher Geschicklichkeit wundersame Dinge wie Rosenkränze, Exorzierinstrumente, Peilsender und Taschenrechner in ihren Besitz. Polly war eine der ersten, die diese Entwicklung mit Mißtrauen beobachteten.
– Ich weiß nicht so recht, sagte sie, dieser Pioniergeist hat etwas Ungesundes an sich. Es hat sich hier etwas verändert, und es verändert sich weiter. Das ist erst der Anfang, prophezeite sie düster. Und sie sollte recht behalten.
Das Desaster war schleichend in der Desert Zone eingezogen, hatte sich ausgebreitet und festgesetzt wie ein parasitärer Befall. Sally aus der Stadt der drei Frauen, war bei der Arbeit von einem jugendlichen Kunden überfallen worden. Ein schüchterner, hochaufgeschossener Junge, sein Lächeln war weich gewesen, hatte sie erzählt. Er hatte sich nicht getraut, die Unterhose auszuziehen. Aber plötzlich war er über sie hergefallen, hatte ihr das Haar mit dem Rasiermesser abgesäbelt und ihr Ohr angeschnitten, das sich glücklicherweise als zu widerspenstig erwiesen hatte, als daß es sich so leicht gelöst hätte. Eine Gruppe von Rowdys trieb ihr Unwesen. Gerüchten zufolge waren sie von einem großen Konzern angeheuert, um den Siedlern das Leben hier zu verleiden, damit die Company sich ungestört das Land unter den Nagel reißen konnte Eines Abends hatten sie den asthmakranken Sohn der Witwe Lopez, als die Witwe sich bei der alten Maureen McCormay verplaudert hatte, vom Fernseher weggezerrt, an eines ihrer Autos geseilt und um sein Leben laufen lassen. Mit von den Zehen bis zum Scheitel blutig aufgerissener Haut und gebrochenen Knochen hatten sie ihn vor der Haustür abgeworfen, wo ihn die Witwe wenig später gefunden hatte. Ein wahnsinniger Prediger hatte versucht, der debilen Megan McCormay den Teufel aus dem Leib zu treiben, was ihm fast gelungen wäre, hätten nicht ihr Vater und einer ihrer Brüder rechtzeitig eingegriffen und dem Prediger die Zähne eingeschlagen.
– Ach, Daddy, laß uns von hier fortgehen, sagte Polly, sagte es immer wieder und noch zu einer Zeit, da sie ungehindert mit ihrem vanillefarbenen Ford aus der Stadt der drei Frauen zu Dirty Daddys Hütte gelangen konnte. Es gab immer noch die Sonntage, die gebratenen Hühner oder Truthahnschenkel, die Virgin Marys, das Marihuana und das Sitzen im Gärtchen. Aber es kam vor, daß Polly das Essen nicht anrührte, verloren auf die knusprige Haut des Bratens starrte und ohne einen Bissen davon zu essen, den Teller von sich schob. Und die Virgins sprudelten nicht mehr wie eine sorglose Sonntagsquelle zwischen ihnen im Gärtchen, sondern trugen nun ein ernsteres, strengeres Gesicht.
– Polly, fragte Dirty Daddy sanft, wo sollen wir denn hingehen, zurück nach Kalifornien oder Quebec? Nach Australien, Japan, Europa vielleicht? Was fangen wir dort an?
– Du könntest Motorräder reparieren und Gitarre spielen, ich könnte tanzen oder servieren in einer Bar. Und die Kleine könnte etwas Ordentliches lernen, in eine anständige Schule gehen und mit Kindern in ihrem Alter spielen.
Dirty Daddy spuckte den braunen Auswurf eines Hustens auf den Boden und Pollys Zukunftsträume in den Wind.
– Auf zwei wie uns, Zuckerpflaume, wartet dort keiner. Auf zwei wie uns wartet nirgendwo einer.
Polly schwieg dünn und durchsichtig.
Als sie am nächsten Sonntag zu Dirty Daddy und Kimberly fuhr, erwartete sie eine Horde von Rowdys in Range Rovers und Toyota Landcruisers am Meilenstein 75. Sie blendeten die Suchscheinwerfer wie ein Kampfsignal auf und jagten Polly über den Highway. Sie riefen ihr Anzüglichkeiten nach und bewarfen sie mit Gelächter, ein Spaß, der sich an Pollys Geschlechtszugehörigkeit, Beruf und hippiehaftem Aussehen aufschaukelte und mit auf Pollys Kopf und Schultern gezielten halbvollen Bierdosen endete. Mit diesen Jungs war nicht gut Kirschen essen. Polly troff von Bier, und der Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie trat aufs Pedal und fuhr auf Teufel komm raus, was das alte Ford-Cabrio nur hergab. Die Meute hetzte Polly, bis auf ein Zeichen ihres Anführers der ganze Konvoi plötzlich abdrehte. Mit erhobenen Fäusten drohten sie Polly ein baldiges Wiedersehen an. Wie ein erschrecktes vanillefarbenes Insekt mit riesigen Sonnenbrillenaugen landete Polly an Dirty Daddys Brust, wo ihre Tränen weich zerrannen. Aber sie sagte nicht mehr: Laß uns von hier fortgehen. Sagte vielleicht: Eines Tages werden sie mich erwischen, und wußte, Dirty Daddy würde sich bei nächster Gelegenheit mit diesen Gringos prügeln und sie am nächsten Sonntag aus der Stadt der drei Frauen abholen. Aber fortgehen würde er von hier nicht. Und ohne Dirty Daddy und ohne Kimberly würde auch Polly nicht fortgehen. So nahmen die Dinge ihren Lauf. Während Polly und Daddy im Marihuanagärtchen saßen, die letzte Ernte verrauchten und an Virgin Marys Hals saugten, breitete sich der Funke aus, der in einem Showdown Polly an die Blechwand ihres Wohncontainers nagelte, Dirty Daddy unter dem Hintern explodierte und die Desert Zone in Brand steckte.
In einer verlassenen Hinterhofgarage hatte sich eine Bande halbwüchsiger Straßenkinder für die Nacht eine Bleibe gefunden. Sie waren müde, erschöpft und durchgefroren. Willie, Scooter, Kimberly, Nancy und Fred. Der kalte Regen klimperte ein sanftes, monotones Toktok auf das Blechdach der Garage, rauschte durch die rostzerfressene, an den Lötstellen aufgeplatzte Regenrinne und weichte die Straße in einem glitschigen Glanz auf. Wie ein Ölfilm legte sich die Feuchtigkeit auf die Haut der Kinder. Sie waren zwischen zwölf und sechzehn Jahre alt. Steif hielten sie die klammen Hände über das Feuer, das sie in einer leeren Zehnliterlackdose mit Müll und Spänen einer zerbrochenen Obstkiste entzündet hatten. Es stank grauenhaft nach verbranntem Lack und Plastik, und der Rauch biß ihnen in die Augen. Selbst die Ratten wurden davon nervös und unvorsichtig. Scooter fing sich eine, packte sie am Schwanz und ließ sie mit der Schnauze über das Feuer baumeln.
– Kleiner Leckerbissen, flötete er.
Die Ratte quiekte, wand sich, bäumte sich auf und schnappte nach seinen Fingern. Aber Scooter war sehr geschickt. Scooter hatte, was Ratten betraf, kein Gewissen. Die anderen nahmen davon kaum Notiz. Nancy und Fred schnüffelten an Klebstoff, Kimberly klopfte sich mit der flachen Hand einen Hustenanfall aus der Brust. Nur Willie beobachtete Scooters Rattenspiel mißbilligend.
– Entweder du schlägst ihr sauber den Schädel ein und frißt sie, oder du läßt sie laufen, fuhr er Scooter an.
Scooter tunkte zum dritten Mal den Kopf der Ratte ins Feuer. Die Ratte schrie erbärmlich.
– Willie, du bist Vegetarier, du verstehst das nicht, grinste Scooter, ihr Adrenalinausstoß erhöht die Qualität des Fleisches.
Willie sagte nichts. In einem anderen Leben hätte Willie Tierforscher und Naturschützer werden können. In diesem besaß er bloß eine moralische Autorität. Willie zog sein Messer und fixierte die Klinge. Mit einem schnellen, sicheren Schnitt durchtrennte er den Schwanz der Ratte. Wie eine Gummischnur schnalzte das eine Ende über Scooters Handgelenk, das Tier verfehlte um Haaresbreite die Feuerdose und plumpste zu Boden. Erst quiekte die Ratte. Dann schrie Scooter auf; das Tier hatte sich erbittert in seinen Unterschenkel verbissen. Er konnte es nicht abschütteln, und so riß er es mit einem Stück Haut und Muskelfleisch aus seinem Bein heraus und erschlug es. Dann kehrte Ruhe ein. Nur Nancy fing an zu lachen, ein leises, perlendes Lachen Ein Lachen, das anschwoll, bis Nancy sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. Ein Lachen wie das Heulen einer verrückten Wölfin. Aber keiner packte sie, schüttelte sie oder schlug ihr ins Gesicht, um sie zur Vernunft zu bringen. Scooter hätte ihr vielleicht eine runtergehauen, wäre er nicht so beschäftigt gewesen, seine heftig blutende Wunde zu versorgen. Nancys Lachen war ein verzweifelter Tribut an die Nacht, ein schmutziges Lachen, das ihre Seelen reinigte. Eines, das zu geschehen hatte, damit die Welt die Welt blieb und sie alle darin nicht den Verstand verloren.
Kimberly lag zusammengerollt wie ein Kätzchen unter Willies Achselhöhle. Eine Angewohnheit, die ihr nicht auszureden war. Willie ließ es geschehen, auch wenn ihm nach einiger Zeit die Schulter zu schmerzen begann. Irgendwie war es auch angenehm. Obwohl: Vor vier Monaten hatte ihre erste Regelblutung eingesetzt, was dieser körperlichen Nähe die kindliche Unschuld geraubt hatte. Aber sie roch am Kopf nach Zitrone und unter ihrem Hemd wie Brot. Er faßte sie an, damit es kein anderer tat, und er küßte sie manchmal mit der Zunge, weil sie süß und salzig zugleich schmeckte und es Willie zu Kopf stieg.
Kimberly bewahrte die Bilder von Dirty Daddy, Polly und ihren Kindertagen in einer verschlossenen Herzkammer auf. Dort waren sie sicher aufgehoben. Sie ging selten hin, um die Kammer aufzusperren, die Bilder in die Hand zu nehmen und zu betrachten. Das bekam ihr nicht. Aber es tat gut, zu wissen, daß sie da waren. Schön und unversehrt wie damals, mit ihren Rock-'n'-Roll-Geschichten, dem Marihuana, der Harley Davidson, den Blümchenkleidern, den Virgin Marys, den Sonntagsbraten, ihren züngelnden Küssen, ihren offenen Armen und weich ins kindliche Haar gekosten Worten. Die einzige Wirklichkeit, die blieb. Die anderen Bilder hatte sie wie Kalenderblätter abgerissen und fortgeworfen. Sie war zwölfeinhalb Jahre alt und seit zwei Jahren auf der Straße unterwegs. Willie war von Anfang an ihrer Seite gewesen. Das war ihr Glück im Unglück. Sie hatten sich auf einem Treck nach Norden kennengelernt. Nach dem Desaster der Desert Zone.
Es war eine feuchtkalte, trostlose Nacht in dem Hinterhof von Sun Shed City, in dem die Kinder zugedeckt mit ihren Jacken oder Mänteln, Zeitungsblättern und Pappkartonfetzen, die sie aufgelesen hatten, schliefen. Erschöpft vom Wachsen, vom Pubertieren und einem langen Tag auf der Straße. Sie schliefen wie hellhörige Steine, taub und gleichzeitig immer auf dem Sprung, bereit zu fliehen, zu laufen, sich zu verstecken vor einer Gefahr, die viele Gestalten und keinen Namen hatte. Und wenn doch, dann nannten sie ihn nicht, weil sie zu schlau waren, um sich den Mund zu verbrennen. Aber diese Nacht war ruhig, nur das Gekläff der Hunde und das Heulen der Polizeisirenen webten einen silbernen Faden in die milchige Smogdecke der Nacht. Sie schliefen nicht wie Kinder ihres Alters in einem behüteten Haus, einem weichen Bett, vertrauensvoll und versunken, sie schliefen wie nervöse Erwachsene, immer knapp unter der Oberfläche des Schlafes, tauchten ab, tauchten auf, ohne daß diese dünne Haut zerriß. Das war der Bonus ihrer Jugend. Und sie waren daran gewöhnt, wie sie auch daran gewöhnt waren, zu frieren, auf rohem Boden oder Bänken zu liegen, zu laufen, wenn es zu laufen galt. Aber solange es einen Morgen gab, wachten sie mit klammen, steifen Gliedern und Muskeln auf und spürten in der Undurchsichtigkeit dieses Morgens, die alles Gute und Schlechte des kommenden Tages noch unter Verschluß hielt, ein Versprechen auf Lebendigkeit, an dem sie sich erwärmten. So hoffnungslos und niedergeschlagen sie auch in der Nacht zuvor gewesen sein mochten. Kimberly erwachte, den Kopf auf Willies Schenkel gebettet. Der säuerlich-milchige Geruch seiner schmutzigen Hose lag ihr in der Nase, weich und warm wie ihr eigener Atem. Sie roch das gern bei Willie und wußte nicht, wieso. Sie richtete sich auf und hustete, ein Husten, an den sie sich gewöhnt hatte, den sie nicht mehr losgeworden ist, seit sie das warme Klima der Desert Zone verlassen hatte. Fred rauchte seine dritte Zigarette, Scooter untersuchte fluchend sein schmerzendes Bein. Die Bißwunde war aufgequollen und entzündet, das Gewebe darum herum angeschwollen. Willie tätschelte Kimberlys Rücken und suchte die Wasserflasche. Nancy strich ihre grünen Strümpfe glatt.
– Was glaubt ihr, was ich heute geträumt habe? Das erratet ihr nie. Ehrlich! sagte sie und blickte erwartungsvoll von einem zum anderen. Nancy hatte die Angewohnheit, Träume zu erfinden und sie allen zu erzählen.
– Halt die Klappe, Nancy! herrschte Scooter sie an.
Scooter war nahe daran, aus Verzweiflung über sein Bein in Tränen auszubrechen oder alles kurz und klein zu schlagen. Er hatte sich noch nicht entschieden. Und Nancys Traumgeschichten wollte sowieso keiner hören. Nancy zog mißmutig die Mundwinkel hinunter. Aber sie war nicht beleidigt. Die meisten Menschen behandelten sie schlecht, sie war es gewöhnt. Nur Fred war immer nett zu ihr. Und Kimberly und Willie, wenn sie es gerade nicht vergaßen.
– Du solltest zu Doc Dillan gehen, sagte Fred, wer weiß, an welchem fauligen, versifften Aas das Vieh geknabbert hat, bevor es seine Hauer in dein Bein geschlagen hat.
– Zu dem alten Säufer, du Blödmann, ereiferte sich Scooter, wenn der mit seinen versoffenen, zittrigen Fingern und seinen dreckigen Messern da herumpfuscht, kann ich mir das Bein gleich selbst abschneiden.
– Du kannst ja auch in die Klinik gehen, wenn der Doc dir zu schlecht ist, ätzte Willie.
– Sehr witzig.
Scooter spuckte auf den Boden. Der Schmerz und die Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben. Die Klinik hatte einen bestimmten Ruf unter den Vagabunden, Obdachlosen, Säufern, Drogenabhängigen und Straßenkindern Einen, der nicht eindeutig bewiesen war, aber durch viele Gerüchte, die alle wahrscheinlich oder zumindest möglich schienen, eine unbestrittene Glaubwürdigkeit hatte. Die Klinik war als Organumschlagplatz nicht nur in potentiellen Spenderkreisen bekannt.
Mit dem Bus fuhren die Kinder ins Zentrum der Stadt. Wie jeden Morgen. Sun Shed City. City. Sun Dance Square. Mit direkten Links zum Hauptbahnhof, zu Metro- und Busstationen, zur Shopping-Mali, zu den gläsernen Monumentalbauten des Büroviertels. Sun Dance Square war das Herz der Stadt, wo ihr Blut, das reine und das verbrauchte, zusammenfloß und sich über die strahlenförmig angeordneten Hauptstränge zu den kleinen Arterien und Gefäßen verteilte. Sun Dance Square, ein Platz mit Springbrunnen und Straßencafés, Parkbänken unter Laubbäumen, Hot-dog-Verkäufern und fliegenden Händlern, die Silberschmuck und Lederwaren anboten. Ein Platz, wo jeder jeden traf, wo die Leute einander zufällig über den Weg liefen oder sich verabredeten. Ein Platz, wo sich ein guter Teil des Freizeit- und Unterhaltungsleben der Stadt abspielte. Nicht nur das erwünschte – auch das andere. Aber die staatliche Ordnungsgewalt, die uniformiert oder in Zivil lose patrouillierte, schritt nur bei gröberen, auffälligen Delikten ein und ließ den Rest geschehen, um die Subkultur von Drogenhandel, Schwarzmarkt und Prostitution, die sich hier auch angesiedelt hatte, lokalisiert und unter Kontrolle zu halten. So wurde das Illegale in gewissem kultiviertem Rahmen legal und das Legale in illegalem Rahmen zu einer grotesken Art von Kultur. Und alle hatten etwas davon. Die Kinder kamen jeden Morgen hierher, um die Zeit totzuschlagen oder von hier auszuschwärmen und sich abends wieder hier zu treffen. Zum Schlafen suchten sie sich einen anderen Ort. Es war nicht ratsam, in der näheren Umgebung des Platzes zu übernachten. Nachts wehte ein schärferer Wind durch die Straßen. Da patrouillierte das Auge der Security mit Suchscheinwerfern und Polizeisirenen. Die, die mit angepißten Hosen von solchen Razzien zurückkamen, erzählten nicht viel, die paar, die es taten, taten es nicht lange.