Ein Paar - Richard und Gloria – flüchtet im Auto aus einer Stadt, flieht vor der Untersuchung eines Falles, der das Geheimnis ihrer Beziehung - ein Geflecht aus Liebe, Schuld, Hass und Abhängigkeit
– aufdecken würde.
Mit dem letzten Tropfen Benzin halten sie bei einem einsamen Haus und treffen dort auf zwei Halbwüchsige - Clarissa und ihr Bruder Phillip –, deren Eltern scheinbar verreist sind. Die Kinder legen es darauf an, ihre zufälligen Gäste länger im Haus zu halten...
Eine psychisch labile Frau, ihr überprotektiver Begleiter, ein emotionell eng aneinander gebundenes jugendliches Geschwisterpaar - die Gruppendynamik der vier handelnden Personen lässt den Roman zum nervenaufreibenden Pageturner werden.
Patricia Brooks
Garten der Geschwister
Roman
Impressum:
Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency
Foto: fotolia
© 110th / Chichili Agency 2014
EPUB ISBN 978-3-95865-109-8
MOBI ISBN 978-3-95865-110-4
Urheberrechtshinweis:
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Dieses Werk unterlag zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung noch nicht der neuen Rechtschreibreform.
Daher werden noch die alten Schreibweisen verwendet.
Vor zwei Stunden hatten sie die Stadt verlassen. Richard lenkte den grauen Toyota durch die Nacht. Er fuhr ruhig und ohne Hast. Sie waren in diesem Augenblick in Sicherheit, in Sicherheit vor der Vergangenheit und vor der Zukunft. Seine Haltung war entspannt. Er genoss diese Nachtfahrt überland, genoss das Wissen, etwas hinter sich gelassen zu haben und etwas Neues zu beginnen. Eine magische Zeitspanne, eine geistige Freiheit, in der alles offen, alles möglich war. Gloria saß in den Beifahrersitz gekauert und blickte unverwandt aus dem Fenster. Der Lichtkegel der Autoscheinwerfer erhellte einen Ausschnitt der Straße und skizzierte die Idee einer gespenstischen Landschaft. Die Dörfer, durch die sie fuhren, schliefen tief und fest. Richard hatte mit Absicht kleine Landstraßen abseits der großen Schnellstraßen und Autobahnen gewählt. Er hörte Musik aus dem Autoradio und rauchte. Sie sprachen nicht. Es gab in diesem Augenblick nichts zu sagen, nichts was neu gewesen wäre. Gloria lehnte den Kopf zurück, schloss für ein paar Sekunden erschöpft die Augen. Sie fühlte sich elend, jeder Muskel ihres Körpers verspannt. Ihr rechtes Bein schmerzte, ein glühender, peinigender Schmerz, der sich von den Lendenwirbeln bis zur Kniekehle zog. Das alte, schlummernde Leiden, das immer dann erwachte, wenn sie sich überanstrengte oder aufregte. Sie unterdrückte ein Seufzen. Richard wusste es ohnehin. Wusste es immer. Er warf den Stummel seiner Zigarette aus dem Fenster und legte seine Hand auf ihren Schenkel. Sah sie nicht an, schob nur den Saum ihres Rockes ein wenig hoch. Sie spürte die Wärme seiner Handflächen durch den dünnen Kunstfaserstoff ihres Rockes und ihrer seidigen Strümpfe sickern. Ein frostiger Schauer lief über ihren Körper. Sie trug immer noch die Uniform der Versicherungsgesellschaft, für die sie bis vor wenigen Stunden gearbeitet hatte. Taubenblaues Kostüm mit pfirsichfarbener Bluse. Es waren die Erkennungsfarben der Gesellschaft, die sie nun schon fast zwei Jahre lang auf jedem Briefpapier, Prospekt, jeder Versicherungskarte in den Händen gehalten hatte. Sie hätte weinen mögen. Am liebsten hätte sie Richards Hand fortgeschoben. Ließ es aber bleiben. Es war nicht gut Richard jetzt zu verärgern. Sie mochte es nicht, wie er ihr Bein, ihren Schmerz, sie in Besitz nahm, und doch war in dieser Geste auch etwas Tröstliches. Ein Trost, der den Widerwillen nicht aufhob, sondern sich mit ihm verbündete und sie in jene Pattstellung zwang, in der Richard seinen Willen und seine Absichten durchsetzte.
– Versuch zu schlafen.
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Er löste die Hand von ihrem Schenkel, langte über die Lehne seines Sitzes auf die Rückbank und holte seine Jacke hervor. Fürsorglich stopfte er sie ihr auf die Schulter, so dass sie wie ein Kissen zwischen ihrem Kopf und dem Seitenfenster steckte. Gloria klappte die Schöße ihres Mantels über die Knie und zog die Revers mit gekreuzten Armen vor ihrer Brust zusammen. Richard schaltete die Heizung eine Stufe höher und drehte die Musik zurück. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen Ort, einen Abschnitt ihres Lebens, eine ausgedachte Identität hinter sich gelassen hatten. Und es würde nicht das letzte Mal sein. Die Abstände wurden kürzer. Aber welche Rolle spielte schon das Maß der Zeit? Es setzte einen mathematischen Anfangsund Endpunkt, aber es war kein Ort, um darin heimisch zu werden. Nicht für Richard, nicht für sie. Das dumpfe, monotone Dröhnen des Gebläses und der Gesang einer klaren, sehnsüchtigen Frauenstimme aus dem Autoradio hoben Gloria auf und trugen sie fort.
Als sie erwachte war der Morgen angebrochen. Hell und strahlend erstreckte sich die unbekannte Landschaft vor ihren Augen, braune Felder in Winterruhe, lose gestreute Waldgruppen, kleine Dörfer im Glanz einer kräftigen Morgensonne. Es war Februar und ein blitzendes Versprechen von Frühling lag in der Luft. Dennoch verspürte Gloria keinerlei Freude daran. Ihre Gedanken und Gefühle waren taub und benommen. Sie streckte den Rücken, strich sich über das Bein.
Richard beobachtete sie von der Seite.
– Geht es dir besser?
Sein Lächeln war warm und voll Anteilnahme. Aber seine Augen waren so kalt und frisch wie das Blau des Himmels. Gloria ließ sich in den Sitz zurückfallen.
– Irgendwann muss damit Schluss sein. Ich halte das nicht aus, es macht mich krank.
– Du hast immer noch Schmerzen, nicht wahr?
– Ja. Aber es sind nicht die Schmerzen, die mich krank machen.
– In ein paar Tagen sind wir weit von all dem fort. Dann ist auch alles vergessen. Wir suchen uns einen schönen Ort und fangen wieder neu an. Wir können tun und lassen, was wir wollen.
– Für wie lange? Und wozu? Es hat überhaupt keinen Grund gegeben, dass wir fort mussten.
– Es ist dir nicht gut gegangen.
– Mir ist es gut gegangen! Bis gestern am Abend ist es mir sehr gut gegangen!
– Gloria, du sollst dich nicht aufregen.
– Ich rege mich aber auf. Wieso sollte ich mich nicht aufregen?
– Nimm eine Tablette, das hilft.
Sie hasste dieses ruhige, besorgte, geduldige Gesicht, das er ihr entgegenhielt. Wie immer wenn er über Tabletten sprach.
– Gegen was? Gegen die Schmerzen? Die Angst? Den Rest der Welt?
Er zündete sich eine Zigarette an und schwieg. An der Art, wie er den Rauch tief in seine Lungen sog und in einem Schwall wieder ausstieß, erkannte sie, dass er verstimmt war. Das machte sie wütend auf ihn, noch wütender, als sie ohnehin schon war. Es war seine Schuld, dass sie jetzt im Auto saßen und wieder einmal Hals über Kopf alles aufgeben mussten. Aber es war ein schlechter Zeitpunkt, um zu streiten. Sie waren aufeinander angewiesen. Immer, und jetzt besonders.
– Tut mir Leid, sagte sie einlenkend, ich bin einfach nervös.
– Du bist erschöpft, du hast nicht genug geschlafen. Versöhnlich griff Richard den Faden auf, den sie ihm hinhielt.
– Wir brauchen Benzin. An der nächsten Tankstelle werden wir halten, und dann können wir dort frühstücken. Gloria hatte keinen Hunger, verspürte keinen Wunsch nach Essen. Sie war durstig, ihre Zunge klebte dick am Gaumen.
– Haben wir Wasser?
– Ich weiß nicht. Sieh nach.
Sie beugte sich vor und tastete mit der Hand über den kurzen Flor des Bodenbelags, fischte eine Plastikflasche mit Mineralwasser unter ihrem Sitz hervor. Sie trank in großen, hastigen Schlucken. Das Wasser schmeckte schal und alt, aber es löste den bitteren, klebrigen Belag in ihrem Mund, spülte ihn fort. Sie hielt Richard die Flasche hin.
– Möchtest du auch?
Er schüttelte den Kopf. Also kippte sie den Rest in ihren Mund, schraubte die Flasche zu und warf sie auf den Rücksitz. Für einen Augenblick fühlte sie sich besser. Als Richard die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, entdeckte sie einen feuerroten Striemen, der von der Wurzel des Daumens quer über seinen Handrücken lief.
– Du hast deine Hand verletzt, sagte sie.
– Ach, ist nicht der Rede wert.
– Eine Brandwunde, stellte sie fest.
– Nein. Ich habe mir die Hand eingeklemmt, als ich unsere Sachen in den Wagen gepackt habe.
Gloria glaubte kein Wort davon.
Sie hielten Ausschau nach einer Tankstelle. Die Landschaft war dünn besiedelt, ab und zu durchquerten sie Dörfer, deren Bewohner für sie unsichtbar blieben. Die Gegend war menschenscheu. Der einzige Gasthof, an dem sie vorbeikamen, war geschlossen. Die Straße zog sich in leichten Kurven über Wald und Wiesenhügel. Sie gehörte ihnen alleine. Aber nirgendwo eine Tankstelle, nur ab und zu ein einsam stehender Hof, eingebettet in die Eintönigkeit der Landschaft. Abweisend und verschlossen. Diese Höfe sahen unbewohnt aus. Der Zeiger der Benzinanzeige sank in den roten Bereich, das Warnlämpchen leuchtete bereits auf. Gloria wurde nervös. Ein dünner Film von Schweiß überzog ihre Haut. Der Stoff der Bluse klebte in ihren Achselhöhlen. Es blieben ihnen also noch fünfzehn, zwanzig Kilometer zu fahren. Und dann?
– Da!, sagte Richard.
Sie folgte mit ihrem Blick seinem Finger. Rechts von der Straße führte ein Weg durch das dürre Gestrüpp von Ästen zu einem Haus.
– Wir werden es hier versuchen. Sonst müssen wir zu Fuß weiter.
Richard bog von der Straße in den Weg ein, der nahtlos von einem Stück Wald in einen verwilderten Garten überging. Eine grünbraune, winterliche Wiese mit kahlen Bäumen und struppigem Buschwerk erstreckte sich bis zu einem alten Haus. Auf einer Teppichklopfstange an halbverrotteten Seilen eine alte Kinderschaukel. Unmittelbar vor dem Haus war ein rechteckiges Schwimmbecken mit wasserblau gestrichenen Wänden in die Erde eingelassen, darum herum lief, wie der Rahmen eines Bildes, ein zwei bis drei Meter breiter Betonweg. Das einzig Makellose an diesem Anwesen. Dem alten Landhaus waren deutlich Spuren von Verfall anzusehen. Der hellgraue Verputz der Fassade war rissig und an manchen Stellen abgeblättert, die Fensterrahmen wirkten verzogen und der Lack war gesprungen. Es war aber bewohnt. Zwei der Fenster im ersten Stock standen sperrangelweit offen. Der Kies knirschte unter den Rädern des Toyota. Richard stellte den Wagen ein paar Schritte vor dem Haus ab. Sie stiegen aus. Gloria streckte sich. Es war ungewöhnlich warm für einen Februartag. Die milde, frühlingshafte Luft legte sich wie Seide auf ihr Gesicht.
Richard klopfte an das Tor. Oben am linken Fenster erschien der Kopf eines halbwüchsigen Mädchens, ihr Haar war blond und fiel ihr ins Gesicht, als sie sich aus dem Fenster beugte und zu ihnen herabsah.
– Was gibt es, fragte sie unwirsch.
– Wir haben kein Benzin.
Das Mädchen verzog das Gesicht.
– Ja und? Was soll ich da machen?
Richard hatte den Kopf nach hinten geneigt und beschirmte mit der Hand seine Augen.
– Vielleicht kannst du uns sagen, wo wir Benzin bekommen können.
Er lächelte liebenswürdig und unverschämt.
– Nein, kann ich nicht.
– Kannst du vielleicht einen Augenblick herunterkommen?
Das Mädchen seufzte gereizt.
– Wenn es unbedingt sein muss.
Ihr Kopf verschwand aus dem Fensterausschnitt, kurz darauf stand sie in der Tür. Sie war vierzehn oder fünfzehn, das Haar reichte ihr bis zur Schulter. Sie trug Shorts und einen kurzen, beigen Baumwollpullover, der zweifingerbreit ihren nackten Bauch freigab. Oberhalb ihres Nabels steckte eine kleine silberne Kugel. Sie musterte Gloria und Richard unverhohlen und ohne Sympathie.
– Was wollt ihr?
– Sind deine Eltern zu Hause?
– Nein, nur der Kleine und ich.
– Wir brauchen Benzin. Gibt es hier in der Nähe eine Tankstelle?
– Glaube ich nicht. Es ist mir jedenfalls noch nicht aufgefallen.
– Habt ihr vielleicht welches im Haus?
– Benzin? Wozu sollten wir Benzin im Haus haben?
– Oder weißt du, wo wir welches bekommen könnten?
– Keine Ahnung.
Sie lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und zuckte ungeduldig mit den Schultern.
– Wie weit ist es zum nächsten Nachbarn?
– Wir haben keine Nachbarn.
– Hör zu, das Problem ist, dass unser Tank so gut wie leer ist. Und ohne Benzin können wir nicht weiterfahren. Wir brauchen eure Hilfe. Wir sitzen hier sozusagen fest.
Dieser Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie verdrehte die Augen. Richard und Gloria hier im Haus zu haben, war offenbar das letzte, was ihr noch gefehlt hatte.
– Na ja. Vielleicht kann euch mein Bruder weiterhelfen, der weiß in solchen Sachen eher Bescheid. Aber er schläft noch. Wenn ihr wollt, könnt ihr ja auf ihn warten. Da hinten im Schuppen sind Gartenstühle.
Sie trat einen Schritt aus der Tür und deutete nach rechts.
– Nehmt euch zwei Stühle und setzt euch hier vor dem Haus in die Sonne. Da ist es warm, und ich kann euch im Auge behalten.
Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, machte sie kehrt und warf die Haustür hinter sich zu.
– Komm wir fahren. Wir versuchen es woanders.
Gloria wandte sich zum Gehen, aber Richard hielt sie auf.
– Das hat keinen Sinn. Mit dem Rest Benzin kommen wir nirgendwo mehr hin. Wir werden wohl oder übel bleiben und auf ihren Bruder warten.
Er ging zum Schuppen, holte zwei Liegestühle, klappte sie auf und stellte sie nebeneinander mit dem Rücken zur Hauswand. Es waren alte Liegestühle aus Holz mit einer blaugrünen, längsgestreiften Segeltuchbespannung. Der Stoff war brüchig und die Farben von der Sonne ausgeblichen. Richard zog die Jacke aus und warf sie über die Lehne.
– Ich werde einmal fragen, ob wir etwas zu Essen bekommen können.
– Sie hat nicht gerade so ausgesehen, als ob sie erpicht darauf wäre, uns hier zu bewirten, entgegnete Gloria.
– Aber sie wird es mir nicht abschlagen.
Nein, natürlich würde das Mädchen Richards Bitte nicht abschlagen. Niemand schlug Richard je etwas ab. Er bekam immer, was er wollte. Keiner wusste das besser als sie. Richard war sehr überzeugend und geschickt. Es war ihr nie gelungen, ihm etwas zu verwehren. Sie hatte in all den Jahren eine kleine verkrüppelte Armee an Widerständen in ihrer Brust versammelt. Eine hoffnungslose Armee, die sich in hoffnungslosen Momenten noch hoffnungsloser zusammenrottete. Feindselig und unfähig, voll ersticktem Groll. So wie jetzt. Sie würde niemals eine Schlacht gewinnen. Und das Mädchen schon gar nicht.
Die Luft war dick und süß wie Honig. Es roch nach warmem, moosigem Erdboden und vermodertem Laub. Gloria hatte sich in den Liegestuhl gesetzt. Bequem war es nicht, die Sonne brannte auf ihrem Gesicht. Ihr Herz klopfte schnell, es schlug um sich wie ein Ertrinkender, der aus der Tiefe eines Gewässers an die Oberfläche aufzutauchen versucht. Ein leichtes Gefühl von Schwindel erfasste sie und verschmolz mit dem Licht und der Wärme der Sonne, die hoch und beinahe sommerlich am Februarhimmel stand. Es musste längst Mittag sein. Richard trat aus dem Haus, er hatte zwei Flaschen Cola, Hals an Hals zwischen die Finger der einen Hand geklemmt, und in der anderen Hand balancierte er drei in Plastikfolie verpackte Fertigsandwiches. Er stellte die Flaschen zwischen ihren Liegestühlen ab und legte ein Sandwich in Glorias Schoß. Sie lächelte schwach. Richard setzte sich neben sie, riss die Verpackung auf und biss in die übereinander gelegten Weißbrotdreiecke. Er aß mit dem gesunden Appetit der Unschuldigen und Gerechten. Wo um alles in der Welt er diese Unverfrorenheit hernahm! Gloria beneidete ihn darum.
– Iss, forderte er sie auf, es wird dir gut tun.
Gehorsam schlitzte sie mit dem Fingernagel die Verpackung auf. Es hatte keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Sie fühlte sich zu schwach für eine Auseinandersetzung. Es war einfacher zu essen, als zu streiten. Kalt und leblos fühlte sich das Brot an, an dessen Schnittstellen eine Creme aus Majonäse und Thunfisch herausquoll. Unwillkürlich verzog Gloria das Gesicht. Richard übersah es. Oder er tat zumindest so. Sie biss ab und bemerkte, dass ihr Bedürfnis nach Nahrung wieder erwachte. Immerhin hatte sie seit ungefähr vierundzwanzig Stunden nicht gegessen. Ein kleiner gemischter Salat und ein hartgekochtes Ei zum Mittagessen am Vortag in der Kantine der Versicherungsgesellschaft war ihre letzte Mahlzeit gewesen. Sie hatte auf das Menü mit Suppe und Hauptspeise verzichtet, hatte ihren Hunger aufsparen wollen, weil sie abends zum Essen verabredet gewesen war. Mit Sten. Mit Sten, der nicht wusste, weshalb sie nicht gekommen war, und es nie erfahren wird. Sie durfte nicht an Sten denken, nicht jetzt. Richard zerknüllte die leere Verpackung und ließ sie auf den Boden fallen. Er fischte die Jacke hinter seinem Rücken hervor, suchte nach Zigaretten. In der Sonne glänzte sein braunes, gelocktes Haar wie Gold. Viel zu schön für einen Mann, und er wusste es nicht zu schätzen. Er hatte immer noch das gleiche dichte Haar wie früher. Richard war vierunddreißig, nicht alt, aber in einem Alter, in dem bei Männern das Haar meist dünner wurde und die Stirn an den Ecken tief in den Haaransatz hineinzuwandern begann. Das Haar altert zuerst. Gloria war siebzehn gewesen, als sie das erste weiße Haar entdeckt hatte. Mit Staunen hatte sie es herausgepickt aus dem sanften Rieseln eines schattigen Meeres aschblonden Haares. Zu dieser Zeit war das warme Kinderblond bereits nachgedunkelt, wie von Grünspan überzogen. Der Unfall, hatte Richard gesagt, es war der Unfall, so etwas kommt vor. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Richard wirklich daran glaubte, dass ein Schock die Haare beinahe über Nacht weiß werden ließ. Das war so eine Geschichte, die er ihr erzählte, damit sie nicht weiter darüber grübelte. Mach dir keine Gedanken, du bist schön, hatte er ihr immer wieder versichert. Und doch war er es gewesen, der ihr angeraten hatte, ihr Haar zu färben. Seit vierzehn Jahren, seit sie zweiundzwanzig war, färbte sie ihr Haar, versuchte chemisch jenes Blond, das ihr abhanden gekommen war. Sie hatte keine Ahnung wie ihr Haar jetzt in seinem naturbelassenem Zustand aussah, sie wollte das auch gar nicht wissen. In seiner gelogenen Honigfarbe, dünn und kraftlos, war es tragisch genug. Der Anblick von Richards Haar machte sie immer neidisch. Er hatte seinen Pullover ausgezogen, die Ärmel von seinem Hemd bis zu den Ellbogen aufgekrempelt und rauchte. Die Haut auf seinen Unterarmen war hell wie Sand, mit wenigen, dunklen Härchen versehen. Er roch nach Salz und Nikotin und dem Tweedstoff seiner Jacke. Glorias eigener Geruch, der ihr aus dem Ausschnitt ihrer Bluse in die Nase stieg, erinnerte sie an Muscheln und Brackwasser, der abgestandene Geruch von Angst. Die Sonne brannte auf ihren Körper. Wenn man die Augen schloss, konnte man meinen, es wäre Mai oder Juni, einer jener frühen Sommertage. Die Wärme nahm sich unnatürlich aus in der winterlich abgestorbenen Gartenlandschaft. Apokalyptisch kam es Gloria vor, sie schwitzte und doch konnte sie sich nicht richtig erwärmen. Ein schattiger, kühler Unterton saß ihr in den Knochen und ließ sie frösteln. Sie hatte nicht genug geschlafen, war übernächtig. Das bekam ihr nicht, und alles andere bekam ihr schon gar nicht.
Das Mädchen trat aus der Tür und setzte sich auf die Schwelle. Sie schlüpfte mit ihren Füßen in ein dunkel glänzendes Paar Skaters. Dem skeptischen Blick, den sie ihnen zuwarf, war nicht zu entnehmen, ob sie zufrieden war, dass sie hier geduldig warteten, ohne sie weiter zu belästigen, oder ob sie gewünscht hätte, sie wären ohne Aufhebens einfach wieder verschwunden. Sie beachtete sie nicht weiter. Während sie mit steifen, klackenden Schritten zu dem Schwimmbecken stakste, steckte sie die Stöpsel eines MP3-Players in die Ohren. Sobald sie den Betonstreifen, der das Schwimmbecken säumte, erreicht hatte, wurden ihre Bewegungen weich und fließend. Sie war eine geübte Läuferin. Ihre Beine waren kraftvoll und durchtrainiert, ihr Lauf geschmeidig und leicht. Scheinbar mühelos glitt sie dahin wie eine Tänzerin auf Eis. Sie trug noch Shorts und jetzt ein weißes T-Shirt, um die Hüften hatte sie lose die Ärmel eines dunkelblauen Sweaters geknotet. Das schulterlange Haar war mit einem roten Haargummi straff am Hinterkopf zu einem wippenden, pinselartigem Schwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht sah jetzt älter aus, aber verletzlicher. Gloria fragte sich, ob das an der Frisur lag, oder an der Hingabe, mit der sie in ihren Lauf versunken war. Das einzig Lebendige in diesem Garten unter dieser ungewöhnlichen Februarsonne und dem Gezwitscher unsichtbarer Vögel war das Mädchen. Richard und sie selbst zählten nicht, sie waren nicht lebendig, nicht in diesem Sinn. Sie waren Zaungäste am Rande eines fremden Lebensgartens. Ihre eigene Geschichte spielte woanders, unter anderen Bedingungen und Gesetzen. Gloria sah ungeduldig auf ihre Armbanduhr, es war zwei Uhr Nachmittag. Allmählich wurde sie unruhig.
– Wo bleibt bloß ihr Bruder, schon langsam ist es Zeit, dass wir etwas unternehmen, sonst wird es Abend, bevor wir von hier wegkönnen.
– Er wird schon kommen.
Richard saß da, wohlig wie eine Katze in der Sonne, mit halbgeschlossenen Lidern und beobachtete amüsiert, wie das Mädchen ihre hypnotisierenden Kreise zog. Als hätten sie alle Zeit der Welt.
– Ich werde dem Mädchen sagen, sie soll ihn wecken, falls er immer noch schläft.
– Du siehst doch, sie ist beschäftigt.
– Das ist mir egal. Wir können nicht ewig warten.
– Warum nicht?
– Man wird bereits nach uns suchen!
– Keiner wird uns suchen, geschweige denn finden. Gloria schnalzte ungehalten mit der Zunge, ein hoffnungsloser Laut des Ärgers.
– Vertrau mir, Gloria.
Richards Stimme war so sanft wie seine Hand, die er auf ihren Arm legte. Eine Beschwörungsformel. Die Verletzung auf seinem Handrücken leuchtete roh und wund im Licht der Sonne. Eine Brandwunde, dessen war Gloria sich sicher. Entschieden zog sie ihren Arm zurück. Das Mädchen hatte den gleichförmigen Rhythmus ihres Laufes unterbrochen. Die Beine parallel gestellt, rollte sie aus, streckte ihren Oberkörper, ihre Arme, ihr Kinn in die Höhe, andächtig, als schüttete der Himmel seinen Segen über sie. Fromm und selbstvergessen wirkte der Ausdruck ihrer Körperhaltung und ihres Gesichtes. Ein Ausdruck, dachte Gloria, der täuschte, dahinter lag die Kalkulation, dass man sich seinen Anteil am Segen mit dem Himmel durchaus aushandeln konnte, solange man sich im Zustand von ungebrochener Kraft und Selbstvertrauen befand. Es war kein vorsätzlicher Schwindel, bloß eine Selbsttäuschung mit unabsehbarem Risiko. Denn war dieser Zustand einmal gebrochen, war der Segen dahin. Auch das wusste Gloria, hatte es selbst erfahren, früher, endgültiger und unmissverständlicher als andere. Der Himmel machte kein Geschäft mit den Schwachen. Das Mädchen wusste das noch nicht. Sie beugte ihren Oberkörper sanft nach vorne, bis der Kopf vor ihren Knien baumelte, eine Reverenz, die sie einem geheimnisvollen Gott erwies. Langsam richtete sie sich wieder auf, streckte sich, schüttelte ihre Beine aus, lockerte die Muskeln. Ein Augenblick unsichtbarer Stille umgab sie, aus dem sie einem scheinbar plötzlichen Impuls folgend, heraustauchte und mit energischen Schlittschuhschritten erneut zum Laufen ansetzte. Aber im Gegensatz zu der mechanischen Gleichförmigkeit der vorherigen Bewegung war nun eine Zielgerichtetheit hinzugekommen. Als sie genügend Schwung gewonnen hatte, breitete sie die Arme wie Flügel aus, faltete sie mit leicht gespreizten Ellbogen konisch über ihrem Kopf und drehte sich um ihre eigene Achse. Einmal, zweimal.
– Die Kür, und nicht die Pflicht, kommentierte Richard.
Er hatte die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, und die Gestalt des Mädchens verschwamm im Rauch, der zwischen seinen Worten aufstieg. Richards Sicht war immer auf sich selbst bezogen. Was die Dinge selbst darstellten, sah er nicht.
– Was verstehst du schon davon?
Glorias Stimme klang gereizt. Das Mädchen senkte die Arme, ließ die Drehungen ausklingen und begann rückwärts laufend Achterschleifen zu ziehen.
– Frauen in ihrem Alter lassen keine Gelegenheit aus, ihren Körper in Szene zu setzen.
– Sie ist keine Frau, sie ist noch ein Kind!
Richards Lächeln wurde breit und anzüglich.
– Na gut. Weibliche Kinder in ihrem Alter lassen keine Gelegenheit aus, ihren Körper in Szene zu setzen.
– Was meinst du damit?
– Das was ich sage.
– Es ist eine Anspielung auf mich, nicht wahr?
– Wie kommst du drauf, was hast du mit ihr zu tun?
– Sie ist wie ich.
– Zum Teufel Gloria, hör auf, immer alles auf dich zu beziehen.
– Ich war auch einmal jung. Und ich habe meinen Körper sportlich in Szene gesetzt, wie du das nennst. Vergessen?
– Nein habe ich nicht.
Ärgerlich schnippte Richard den Stummel seiner zu Ende gerauchten Zigarette auf den Boden und drehte die Glut mit dem Absatz seines Stiefels aus.
– Aber ich habe auch nicht daran gedacht. Ich habe nicht ständig jedes beliebige Detail deiner Vergangenheit im Kopf parat, um es dir in böser Absicht vorzusetzen.
– Es ist nicht ein beliebiges Detail meiner Vergangenheit. Es ist die einzig glückliche Erinnerung, die ich an meine Jugend habe.
Glorias Hände lagen in ihrem Schoß, zerbrechlich und schlaff wie Vögelchen mit gebrochenem Genick. Sie spürte wie das Unglücklichsein ihren Ärger unterwanderte und sie, in jenem langgezogenen Atem, in dem es keine Zeit und keine Erlösung gab, lähmte.
– Das weiß ich.
Richard beugte sich zu ihr, packte sie an der Schulter, zwang sie, ihn anzusehen.
– Deshalb solltest du es auch in guter und unversehrter Erinnerung behalten! Die Vergangenheit ist vorbei. Lass sie dort, wo sie hingehört!
Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, als wollte er durch sie in ihr Gehirn eindringen, um alle schlechten Gedanken auszulöschen und seine eigene Sichtweise darüber zu legen. Es würde ihm jetzt nicht gelingen. Sie drehte das Gesicht weg. Abrupt ließ er sie los und erhob sich. Ihr Unglücklichsein machte Richard meistens böse. Aber die Erinnerung an ihre späte Kindheit war eine Wunde. Vor allem eine Wunde. Das war kein Ort, den man im Schatzkästchen seines Herzens bewahrte, um ihn gelegentlich aufzusuchen, wie Richard sich das vielleicht vorstellte. Richard würde es für sich selbst so halten. Er kannte keinen Schmerz, und selbst wenn er ihn kennen würde, würde er ihn fortwischen, ausradieren. Es war leicht, das Bedauern über einen verlorenen Zustand zu verachten, wenn man selbst nie etwas verloren hat, das man bedauerte. In gewissem Maß konnte sie ihn sogar verstehen.