Eine lexikalische Kurzzusammenfassung könnte wie folgt lauten:
Point & Figure (auch Point and Figure, P&F) ist ein methodisches Konzept aus dem Bereich der technischen Analyse. Die charakteristische, »kästchenartige« Chart-Darstellungsform reicht über 100 Jahre zurück. Die Kursdaten werden dabei gefiltert und auf Intervalle reduziert. Diese Intervalle nennt man Box oder Kästchen. Kursbewegungen innerhalb einer Box werden ignoriert. Die Größe einer Box kann je nach gewünschtem Detaillierungsgrad eingestellt werden. Dabei können absolute Werte oder auch die prozentuale (logarithmische) Skalierung genutzt werden. Erst wenn der Kurs über die Boxgröße abweicht, wird eine neue Box im Chart eingezeichnet. Solange kein Trendwechsel vorliegt, werden die Boxsymbole übereinander abgetragen. Ein X steht dabei für eine steigende Bewegung (Aufwärtstrend), ein O steht für eine fallende Bewegung (Abwärtstrend). Diese Fokussierung auf den Trend geschieht unter Ausblendung der für die Kursbewegung benötigten Zeit. Daher ist die Zeitachse eines P&F-Diagramms nicht äquidistant und von untergeordneter Bedeutung. Zusätzlich zum Boxfilter wird der Umkehrfilter verwendet. Die Umkehr ist eine ganze Zahl, die angibt, wie viele Boxen einer Gegenbewegung erforderlich sind, um im Chart einen Trendwechsel – von X zu O oder umgekehrt – einzuzeichnen. Die 3er-Umkehr wird am häufigsten verwendet und besitzt zusätzlich zur Darstellungsform das umfangreichste methodische Regelwerk.
Zu den technischen Konzepten gehören: Trendlinien, Kurszielbestimmung, eindeutige Muster, die zu Kauf- oder Verkaufssignalen führen, sowie ein Regelwerk, um aussagekräftige, starke Signale zu erkennen. Das besondere Merkmal ist hierbei die objektive Bestimmung der genannten Elemente anhand des klaren Regelwerks. Die P&F-Methode stammt ursprünglich aus den USA und ist in Deutschland (noch) weniger verbreitet als im Ursprungsland oder beispielsweise in Großbritannien. P&F gehört zum Pflichtausbildungsprogramm des Weltverbandes der Technischen Analysten.
((Abbildung1))
Abbildung 1: Beispiel eines Point & Figure-Charts mit Analysewerkzeugen
Wir werden in diesem Lehrbuch Schritt für Schritt jeden Aspekt dieser Zusammenfassung beleuchten und jedes Konzept anzuwenden lernen. Der Nutzen ist sowohl für das längerfristige Investieren als auch für das kurzfristige Handeln gegeben. Die Point & Figure-Darstellung und die ersten Grundzüge der Methodik wurden beispielsweise direkt in den US-Handelssälen entwickelt. Und zwar aus ganz praktischen und bodenständigen Gründen: nämlich der Suche nach einer effizienten und effektiven Darstellungsform des Kursgeschehens, um durch die Betrachtung und Analyse der Kursdiagramme Prognosen zu erstellen.
Im Lauf der Zeit wurde die Methodik verbessert und ergänzt. Insbesondere dank der heutigen Verfügbarkeit von Computern und entsprechender Software lassen sich von jedermann – und nicht nur von Investmentprofis mit teuerstem Equipment – in kurzer Zeit Point & Figure-Analysen erstellen.
Auch wer seine Investments primär fundamental auswählt, kann stark von P&F profitieren. Zum einen in Bezug auf das Timing: Wann genau kaufe ich? Zum anderen zur klaren Risikobegrenzung: Wann verkaufe ich?
Besondere Vorkenntnisse der technischen Analyse werden für die Arbeit mit diesem Lehrbuch nicht vorausgesetzt. Es ist natürlich von Vorteil, wenn Sie das Buch in die Hand nehmen und bereits Erfahrung gesammelt haben mit Liniencharts, Trendlinien, gleitenden Durchschnitten u.a. Sollten Sie sogar umfassende Expertise in verschiedenen Bereichen der technischen Analyse gesammelt haben, werden Ihnen diese Kenntnisse beim Erlernen und Einordnen der neuen Konzepte helfen.
Wenn es sich anbietet, werden zudem Querbezüge hergestellt. So ist beispielsweise das Konzept der Trendlinie keineswegs eine Besonderheit von Point & Figure, erfährt jedoch hier eine einzigartige Ergänzung, die es so in keinem anderen methodischen Konzept gibt.
Häufig ist nach einem ersten Blick auf ein Point & Figure-Chart die Neugier groß, um herauszufinden, was sich dahinter verbirgt. Ebenfalls recht häufig – so zeigt die Erfahrung – wird mangels guten Lehrmaterials die Sache dann wieder ad acta gelegt. Ein Missverständnis ist, dass es sich bei Point & Figure lediglich um eine »neue« Darstellungsart der Kursdaten handelt, die sich auf den ersten Blick nicht erschließt.
Doch täuschen Sie sich nicht! Geben Sie Point & Figure eine Chance. Angesichts der Geldbeträge, die hinter dem Thema »Investieren und Handeln« stehen, empfiehlt es sich doch sehr, seinen Horizont ständig zu erweitern. Nehmen Sie sich etwas Zeit für dieses Buch, und urteilen Sie anschließend. Ich bin überzeugt, Sie werden feststellen:
Point & Figure ist eine bewährte Darstellungsart des Kursgeschehens, die sich in der Tat auf den ersten Blick erschließt. Mithilfe weniger Analysewerkzeuge wird die Lage präzise und objektiv nachvollziehbar beschrieben. Konkrete Szenarien für das Investieren oder Handeln können erstellt werden.
Point & Figure hat klare Regeln, ohne jedoch die persönlichen Neigungen des Handelnden (konservativ bis risikobereit, trendfolgend bis antizyklisch) einzuschränken. Die Methodik liefert die Fakten. Gerade bei Point & Figure ist Selbstbetrug äußerst schwierig. Auch wenn die Aktie noch so »attraktiv« erscheint, das Chartbild gibt eine unabhängige Empfehlung.
Der bereits erwähnte Weltverband der Technischen Analysten (www.ifta.org) und seine Landesverbände – wie die deutsche VTAD (Vereinigung Technischer Analysten Deutschlands e.V. www.vtad.de) – bieten verschiedene Weiterbildungsmaßnahmen und Zertifizierungen an. Dieses Buch soll dem Leser, der daran Interesse hat, auch dabei helfen, die dort auftretenden Fragen rund um Point & Figure zu verstehen und vorgegebene P&F-Chartbilder korrekt zu analysieren.
Die Kapitel dieses Buches haben eine einheitliche Struktur, um das Lesen und Erlernen zu vereinfachen:
Die Struktur des Buches ergibt sich aus dem Inhaltsverzeichnis. Neben dem Erlernen der Point & Figure-Darstellung und der zugehörigen Konzepte wird auch praktisches Erfahrungswissen vermittelt.
Wie bei jedem Buch, das eine primär visuelle Methodik erläutert, darf mit Abbildungen nicht gespart werden. Ein Bild sagt eben tatsächlich oft mehr als tausend Worte. Dabei werden durchgängig bei allen Abbildungen echte Kursdaten von Aktien, Indizes oder anderen Finanzinstrumenten von allgemeinem Interesse verwendet. Jede Abbildung kann bei Bedarf daher selbst nachvollzogen werden, und es wird hier nichts künstlich konstruiert: Alle Beispiele sind aus dem echten Kursgeschehen herausgegriffen.
Um präzise zu sein, werden einige Abläufe in Form von Algorithmen beschrieben (beispielsweise die genaue Konstruktion von Point & Figure-Charts). Die Algorithmen werden in Pseudocode formuliert und sind daher für diejenigen Leser, die sich schon einmal mit Programmieren beschäftigt haben, zusätzlich eine nützliche und kompakte Darstellungsform. Um den Lesefluss nicht zu bremsen, werden diese präzisen Abläufe jedoch unter Punkt 7 (»Anhang Point & Figure-Algorithmen«) zusammengefasst.
Der praktisch orientierte Leser schätzt sicherlich die Möglichkeit einer sofortigen Umsetzung und Anwendung des Erlernten. So wird neues Wissen verankert und werden Erfahrungswerte geschaffen. Die Verwendung einer Software für die technische Analyse mit Point & Figure-Funktionalität ist daher wünschenswert. Eine bestimmte Software wird dabei nicht vorausgesetzt – sie sollte allerdings korrekt bei der Berechnung und Darstellung von Point & Figure-Charts vorgehen und möglichst die wichtigsten methodischen Konzepte unterstützen. Das ist leider nicht selbstverständlich. Die Mehrzahl der Abbildungen in diesem Buch wurde mit der Software »Guidants« erstellt (www.guidants.de).
Wenden wir uns zunächst im ersten Kapitel der Gretchenfrage zu: Warum sollte ich mich überhaupt mit Point & Figure beschäftigen?
Reinhard Scholl
8. Oktober 2013
Es gibt einige grundlegende Dinge, die der Leser dieses Buches wissen sollte. Zunächst ist Point & Figure ein methodisches Konzept aus der Domäne der technischen Analyse.
»Technische Analyse ist das Studium von Marktbewegungen, in erster Linie durch den Einsatz von Charts, um zukünftige Kurstrends vorherzusagen«, so lautet eine Definition aus Murphy (2011), einem Standardwerk der technischen Analyse. Es geht darum, durch Analyse des vergangenen Marktgeschehens Prognosen über die zukünftige Entwicklung zu erstellen.
Dies gilt daher im Speziellen auch für die Point & Figure-Methode.
Der Diskurs, warum dies funktioniert, ist nicht neu und dauert an. Er soll hier nicht tiefer erörtert werden. Jedoch sei der Hinweis erlaubt, dass nicht nur die Existenz von Konjunkturzyklen für das fundamentale Konzept des Trends – eine der Grundlagen für die Entwicklung von Prognosen – verantwortlich ist, sondern insbesondere die Tatsache, dass Menschen mit all ihren individuellen, komplexen Motivationen und Gefühlen (z. B.Gier, Hoffnung, Angst etc.) letztlich als Käufer und Verkäufer den Preis einer Aktie bestimmen. Dies geschieht eingebettet in weitere komplexe gruppendynamische Prozesse, an denen die Menschen teilhaben (Herdentrieb, Panik, Tipps von Experten, Medienberichte, Analystenempfehlungen etc.), und schließlich auch eingebettet in komplexe organisatorische Prozesse (beispielsweise die Entscheidungsprozesse von institutionellen Marktakteuren, die am Markt als Käufer und Verkäufer auftreten).
Das grundlegende Modell eines rational agierenden Homo oeconomicus, der ausschließlich an der Nutzenmaximierung ausgerichtet handelt, ist unvollkommen und entspricht nicht der Realität. Daher gibt es schon lange die inzwischen etablierte Verhaltensökonomik (behavioral economics) und die später daraus entwickelte verhaltensorientierte Finanzwissenschaft (behavioral finance) als eigenständige Disziplin (vgl. Goldberg/Stock 2013, Goldberg/Nitzsch 2000, Schriek 2010). Hier finden sich grundlegende Erklärungsmodelle für das, was technische Analysten seit über 100 Jahres durch das Studium der Marktdaten gelernt haben.
Letztlich ist die technische Analyse ergebnisorientiert. Sie fokussiert auf das Was, nicht auf das Warum.
Das methodische Handwerkszeug von Point & Figure ist sehr vollständig. Die Darstellung selbst ist darauf ausgelegt, das Kursgeschehen auf das Wesentliche zu reduzieren – quasi auf den Punkt zu bringen (der Name Point & Figure stammt allerdings nicht daher). Der ständige Kampf im Markt zwischen Käufern und Verkäufern soll sichtbar werden. Deswegen werden im Kernkonzept die Aufwärts- und Abwärtsbewegungen optisch getrennt dargestellt, und das Kursgeschehen wird von kleinen, wenig relevanten Bewegungen befreit.
Die Möglichkeiten der Parametrisierung sind dabei sehr flexibel. Point & Figure ist für langfristige Investoren ebenso wie für kurzfristig orientierte Händler geeignet. Tatsächlich begann die Entwicklung von Point & Figure-Charts vor über 100 Jahre in den Handelssälen der USA und wurde von Trader-Persönlichkeiten vorangetrieben.
Neben der Darstellung und deren Interpretation gibt es ein einfaches und kompaktes Regelwerk. Es umfasst im Wesentlichen:
Daher auch die lockere Bezeichnung als »All-inclusive-Methode«.
Unter objektiv ist dabei zu verstehen, dass zwei verschiedene Point & Figure-Analysten zum gleichen Ergebnis kommen. Diese Eigenschaft ist besonders bemerkenswert. Zwar wird Point & Figure gerne unter »Technik für Fortgeschrittene« verbucht, doch gerade Einsteiger in die Materie der technischen Analyse sind gut beraten, sich damit auseinanderzusetzen.
In diesem Lehrbuch werde ich Ihnen das gesamte relevante methodische Handwerkszeug erklären und durch Übungsaufgaben und Lösungen festigen.
Natürlich gehören auch signifikante Erfahrungswerte dazu. Die Praxis ist durch nichts zu ersetzen. Umso erfreulicher, dass inzwischen auf dem Markt Software existiert, die im Wesentlichen frei oder günstig zur Verfügung steht, sodass die praktische Anwendung geübt werden kann. Hervorzuheben ist hier die Software »Guidants« (www.guidants.de), mit der eine Vielzahl der Abbildungen in diesem Buch erstellt wurde.
Was fehlt? Was Point & Figure nicht leisten kann, ist die Analyse und Prognose der Zeitdauer, bis ein Signal, Kursziel oder ein Trend sich ergibt oder ändert. Die Zyklentheorie, die versucht, dies zu leisten, ist eine eigene, unabhängige Disziplin (siehe z. B. Kirkpatrick/Dahlquist 2010).
Kurz zu einigen Missverständnissen im Zusammenhang mit der Point & Figure-Methode:
Das Arbeiten mit Point & Figure ist effektiv und effizient. Warum?
Um dies beispielhaft zu beantworten, hier ein Auszug aus einer Tabelle, die der Autor wöchentlich aktualisiert und publiziert.
Jede Zeile beinhaltet einen Leitindex eines Landes. Nach den wöchentlichen Kursgewinnen oder Kursverlusten in den ersten Spalten folgen mit den Spaltenüberschriften »kurzfristig«, »mittelfristig« und »langfristig« weitere Informationen, die sich jeweils aus der Analyse eines Point & Figure-Charts ergeben.
Abbildung 2: Tabelle mit Kenndaten aus Point & Figure-Charts, Stand 23.8.2013
So kann beispielsweise die Frage nach der kurzfristigen Lage beim MDAX wie folgt abgelesen werden (Stand 23.8.2013): Der MDAX liegt kurzfristig (darunter verstehen wir auf Sicht von mehreren Wochen) im Aufwärtstrend. Tatsächlich liegt das Kursgeschehen sogar deutlich über der Trendlinie. Das nächste Kursziel liegt bei 15.150 Punkten. Ein neues, trendfolgendes Kaufsignal, basierend auf dem sogenannten Doppel-Top-Muster, ergibt sich, wenn der Kurs nur wenig über den letzten Wochenschlusskurs (14.839 Punkte) ansteigt.
Es ist äußerst effektiv, derartige Kernaussagen, welche die Point & Figure-Analyse bietet, in einer Tabelle zusammenzufassen. Zwar kann das zugehörige Chart noch mehr Informationen liefern, doch auf einen Blick in eine einzige Tabelle den wöchentlichen Stand der wichtigsten Weltmärkte mit verschiedenen Zeithorizonten zu erhalten ist schon sehr effektiv. Dies ist möglich, da durch wenige Aussagen des Point & Figure-Charts die Lage kompakt beschrieben werden kann.
Für die wöchentliche Aktualisierung der gesamten Tabelle (hier ist nur ein Auszug dargestellt) müssen etwas 70 Charts aktualisiert und analysiert werden. Dies ist in wenigen Stunden möglich, da ein Point & Figure-Chart auf einen Blick viele Informationen liefert und durch die objektiven Regeln für Trendlinien, Muster und Kurszielbestimmung die Analysearbeit am Chart rasch zum Ergebnis führt.
Auch die Frage nach der Profitabilität bei Anwendung einer Methode liegt auf der Hand. Eine beweisbare Antwort könnte letztlich nur ein automatisches Handelssystem mit genau definierten und nachvollziehbaren Parametern liefern. Ein dauerhaft funktionierendes, hoch profitables System wäre jedoch eine Gelddruckmaschine, quasi ein monetäres Perpetuum mobile.
Doch ist die Frage natürlich berechtigt. Die praktische Umsetzung von Prognosen erfordert – unabhängig von der verwendeten Methode – noch weitere Kenntnisse. Risiko- und Geldmanagement sowie die psychologischen Aspekte beim Handeln spielen eine große Rolle (vgl. Welz 2012). Doch gerade hier kann Point & Figure als methodisches Rahmenkonzept für Klarheit sorgen und essenzielle Fakten für die eigene Entscheidung liefern.
Studien zur Profitabilität von Point & Figure werden beispielsweise bei Kirkpatrick/Dahlquist (2010) aufgeführt, und Zieg/Weber (2003) widmen dem Thema ein eigenes Kapitel. Allgemein sind selbst korrekt durchgeführte Studien mit Vorsicht zu interpretieren, wenn sie sich nicht auf das aktuelle Kursgeschehen von heute und auf Ihren persönlichen Handelsansatz beziehen.
In jedem Fall werden wir in diesem Buch durch die Anwendung von Handelsregeln, aber auch durch das tiefere Verständnis für starke Signale und starke Ausgangssituationen lernen, den Erfolg zu erhöhen. Wenn wir auf dem Weg zum Ziel dabei noch Freude haben können, umso besser.