Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2011
© 2011 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
© der Originalausgabe 2003 by Bob Tarte
Die englische Originalausgabe erschien 2003 bei Algonquin Books unter dem Titel Enslaved by Ducks.
Published by Arrangement with Duck Pen Communications LLC.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Elisabeth Liebl, München
Redaktion: Nicole Luzar, Betzenstein
Umschlaggestaltung: Geviert — Büro für Kommunikationsdesign
Umschlagabbildung: Archiv Geviert
Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech
EPUB-Produktion: Grafikstudio Foerster, Belgern
Printed in Germany
ISBN 978-3-86415-013-5
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Für meine wunderbare Frau Linda, die es irgendwie schafft, das Chaos zu bändigen
Dramatis Personae
Einführung
Kapitel 1: Binky, das kriegerische Kaninchen
Kapitel 2: Ollie übernimmt
Kapitel 3: Stanley Sues Identitätskrise
Kapitel 4: Howard, der täppische Romeo
Kapitel 5: Jetzt geht der Zinnober erst richtig los
Kapitel 6: Wilde Jagd – auf eine Ente
Kapitel 7: Killer-Waschbären
Kapitel 8: Mein Leben als Entensklave
Kapitel 9: Gewohnheitstiere
Kapitel 10: Der Truthahnflüsterer
Kapitel 11: Wo bist duuu?
Kapitel 12: Kommen und Gehen
Kapitel 13: Haselnussbraune Augen
Kapitel 14: Weaver im Anmarsch
Kapitel 15: Der Papagei, der mich hasste
Danksagung und Schuldzuweisungen
(Also alle Mitwirkenden – nach Gattungen geordnet und daher mehr oder weniger in der Reihenfolge, in der sie im Buch auftauchen)
Haustiere
Kaninchen
Binky: sturer Holländischer Zwerg
Bertha: wild lebender Holländischer Zwerg, im Vorort aufgegriffen
Bertie: Holländischer Zwerg, Rollos Bruder
Rollo: Holländischer Zwerg, Berties Bruder
Walter: englischer Schecke mit großem Kopf, von einer Farm gerettet
Papageien und Sittiche
Ollie: stets schlecht gelaunter Tovi-Sittich
Stanley Sue: Timneh-Graupapagei mit einer gewissen geschlechtlichen Verunsicherung
Dusty: Kongo-Graupapagei und Plaudertasche, die den Autor mehrfach gebissen hat
Andere Vögel
Howard: verliebte Turteltaube
Chester: nicht von Hand aufgezogener Kanarienvogel
Elliott: kratzbürstiger Wellensittich, Nachfolger von Chester
Farley: dienstältester Wellensittich
Rossy: in Ollie verliebtes Wellensittichweibchen
Reggie: in Ollie verliebtes Wellensittichmännchen
Sophie: sittsame Wellensittichdame
Tillie: Taube zu Besuch
Weaver: unser Stargast
Katzen
Penny: scheue Katze, die Binky hätte Gesellschaft leisten sollen
Agnes: weniger scheue Freilaufkatze, die regelmäßig unter dem Vogelhäuschen zu finden ist
Freilauftiere
Enten
Daphne: Moschusente vom Parkplatz
Phoebe: schwarz-weiße Kayuga-Ente, von Wanderlust erfüllt
Martha: blaue Pommern-Ente mit lautem Organ
Peggy: heroische Peking-Ente, die Chloe beschützte
Chloe: Stockente, die hinken lernte
Blabby und Wing Ding: recht geruchsintensive Peking-Enten
Stewart: Khaki-Campbell-Ente, Trevors Bruder
Trevor: Khaki-Campbell-Ente, Stewarts Bruder
Marybelle, Clara, Gwelda: unerwarteter Mischlingsnachwuchs
Hector: übellaunige Moschus-Ente, die gerne auf Schultern sitzt
Richie: Findling aus dem Richmond Park
Timmy: unerwarteter Nachwuchs, Sohn von Richie
Gänse
Liza: afrikanische Höckergans, leidenschaftliche Schoßsitzerin, Schwester von Hailey
Hailey: nicht ganz so freundliche Gans, Schwester von Liza
Truthähne
Hazel: Opfer einer Schnabelattacke
Lizzie: des Angriffs verdächtig
und zwei weitere namenlose Truthähne
Menschen
Gewöhnliche Menschen
Bob Tarte: zu Selbstmitleid neigender Autor
Linda Tarte: die Frau, die den Autor seit Langem erdulden muss
Joan Smith: Schwester des armen Autors
Rupert Murdoch: nicht der Milliardär, sondern der Entenzüchter
Jacob Lestermeyer: Streichelzoo- und Fleischhandlungsbesitzer in einer Person
LuAnne Grady: Besitzerin einer im Haus lebenden grünflügeligen Krickente
Bill Holm: Yuppie-Freund des beklagenswerten Autors
Marge und George Chedrick: Naturschützer und Arbeitstiere in ihrer Reha-Station für kranke Tiere
Menschen mit Doktortitel
Tierärzte
Alanson Benedict: »Sie ziehen also anderswo über uns her.«
Katherine Stallings: verschreibt merkwürdige Tinkturen
Michael Hedley: freundlicher Tierarzt und Zoo-Berater
Alice Colby: behandelt keine Truthähne
Owen Fuller: außergewöhnlicher Vogelexperte
John Carlotti: bastelte für Howard einen Kragen
Menschenärzte
Carl Glaser: »Hören Sie Stimmen?«
Jerold Rick: herzloser Hippie-Psychodoc
Ich hätte es wissen sollen: Das Schicksal hat mich dazu ausersehen, ein Buch über unsere Tiere zu schreiben. Da sie ja mein Leben mehr oder weniger zur Gänze übernommen haben, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch meines Computers bemächtigten. Erste Hinweise darauf gab es, als ich an einer Musikkolumne für die Zeitschrift The Beat schrieb. Es ging dabei um eine Gesangsgruppe aus Sardinien. CC Smith, meine Redakteurin, fragte mich: »Kommen Tiere darin vor?«
»Nein, natürlich nicht«, protestierte ich voller Überzeugung.
»Keine Papageien oder Kaninchen?«
»Nicht einmal eine Ölsardine.«
»Das ist ja ganz was Neues. Bisher tauchte in jeder deiner Kolumnen in diesem Jahr eine Gans auf. Oder irgendein anderes Getier.«
»Dieses Mal nicht«, antwortete ich, zunehmend auf der Hut, denn ich war tatsächlich drauf und dran gewesen, in meinem Text eine Gans zu erwähnen, aber ein plötzlicher Biss meines Gewissens hatte mich davon abgehalten.
Natürlich war alles ganz anders, als meine Redakteurin es darstellte, aber in gewisser Weise hatten sich im Laufe der Jahre immer mehr Tiere in meine Musikkolumnen geschlichen. Ich weiß nicht genau, warum sie zuließ, dass sich Tiergeschichten in einer Zeitschrift ausbreiteten, in der es um Reggae und internationale Musik geht. Vermutlich verliehen sie The Beat ein wenig mehr »Kontur« – wie Sand, der an einer Erdbeere klebt. Außerdem wirkten die anderen Autoren im Gegensatz zu mir deutlich sachverständiger.
Ich hatte 1989 angefangen, für die Zeitschrift zu schreiben, zu einer Zeit also, als Schallplattenläden noch Schallplatten verkauften. Als ich meinen ersten CD-Player kaufte, packte mich völlig unerwartet der Furor: Ich schrieb einen Brief an das Magazin und fragte an, ob man dort keinen Autor brauche, der über CD-Neuerscheinungen von afrikanischer Musik, Reggae und Weltmusik berichtete, die damals nicht gerade zahlreich waren. In meinem Briefkopf behauptete ich kühn, ich sei Schriftsteller. Ich hatte noch nie für ein Magazin geschrieben – außer einem Artikel, der in einer englischen Zeitschrift für Übersinnliches erschienen war. Aber CC gefielen die Arbeitsproben, die ich mitgeschickt hatte, und so taufte sie meine neue Kolumne »Technobeat« – ohne zu ahnen, dass sie damit eine ganze Musikrichtung aus der Taufe hob. Und dass ich Jahre später in dieser Kolumne über meine Abenteuer auf der Jagd nach einer ständig ausbüxenden Ente schreiben würde.
Mein Hauptproblem war damals, dass ich von der internationalen Musik, die ich als Experte den Lesern von The Beat präsentieren sollte, keine Ahnung hatte. Allerdings war ich der Überzeugung, dass der Durchschnittsleser dies nicht bemerken würde, solange ich Gattungen wie »Obertongesang aus der Mongolei« oder »Karelischen Runo-Gesang« vorstellte. Um den gebildeten Leser, der mich vielleicht hätte vorführen können, ein wenig abzulenken, stellte ich an den Anfang meiner Kolumne stets eine kleine Geschichte, in der ich meist keine glorreiche Figur abgab. Mein Lieblingsthema bestand darin, dass ich nach achtunddreißig Jahren erfolgreichen Städtertums aufs Land gezogen war.
Ich schrieb über meine Frau Linda, unser hundert Jahre altes Farmhaus und immer öfter auch über die Tiere, die sich allmählich in unser Leben drängelten. Eines Abends sollte ich über Foday Musa Suso schreiben, einen senegalesischen Musiker, der die Kora-Harfe spielte. Binky, unser Kaninchen, war im Wohnzimmer auf der Suche nach Kabeln, die er durchnagen konnte. Als ich die Stereoanlage einschaltete und die Klänge der Kora den Raum erfüllten, versteckte sich Binky erschrocken hinter einem Stuhl und klopfte laut mit dem Hinterbein, bis ich die Musik schließlich ausmachte.
Andere Tiere aber mischten sich noch viel ungenierter in meine Hörgewohnheiten. Ausgesprochen geräuschvolle Papageien – die selbst höchst lärmempfindlich waren – protestierten lautstark, wenn ich ihren abendlichen Schönheitsschlaf zu stören wagte. Doch sogar tagsüber musste ich mich nach unseren Mitbewohnern richten. Wellensittiche, die, ohne mit der nicht vorhandenen Wimper zu zucken, unser Gebälk zerlegten, sahen unglücklich drein, wenn ich auflegte, was mir gefiel. Sogar die draußen lebende Ente tat gelegentlich durch missvergnügtes Quaken ihren Unmut kund.
Ich liebte die Musik wie eh und je, aber sie spielte keine so große Rolle mehr in meinem Leben, seit ich widerwillig angefangen hatte, mich mit Haustieren zu umgeben. Früher, als ich noch ein unbescholtener Appartementbewohner war, brachte ich die Rede sofort auf Musik, wenn ich auf einer Party einem Fremden vorgestellt wurde. Wohnte jemand beispielsweise in der Bali Road, fragte ich ihn sofort, ob er balinesische Gamelanmusik mochte.
Das unaufhaltsame Vordringen der Tierwelt in meinen Lebensraum schob dem ein für alle Mal einen Riegel vor. Ohnehin hatte ich mit der Frage »Haben Sie Tiere?« mehr Erfolg bei meinen Gesprächspartnern. Die meisten Menschen haben einen Hund oder eine Katze und tun nichts lieber, als sich über deren schlechte Manieren zu beschweren. War mein Gegenüber gar ein sorgenvoller Vogel- oder Kaninchenbesitzer, entstanden schnell Freundschaften. Fiel dann womöglich noch eine Bemerkung über die Launen von Papageien, geriet ich in Versuchung, meinen Gesprächspartner im Testament zu bedenken.
Meine neu erwachte Tierliebe verblüffte mich. Doch während Linda und ich anfangs noch die »Herren« im Haus waren, hat sich das Blatt gewendet: Jetzt werde ich von den Tieren gelenkt, geleimt und gelackmeiert.
Heute früh beispielsweise versperrte Dusty, Lindas großer Graupapagei, mir den Weg ins Badezimmer, indem er sich vor mir aufbaute und deutliche Anstalten machte, mit seinem Riesenschnabel auf meine nackten Zehen einzuhacken. Unsere Gänse und Enten leben nicht im Haus, doch wenn ich ihre Plastik-Swimmingpools auffüllen möchte, muss ich durch den Keller, wo zwei rekonvaleszente Truthähne so lange jämmerlich quieken, bis ich ihnen ein paar Maiskörner gebe.
Rein gewichtsmäßig betrachtet, macht unser Zoo nicht viel her. Jeder Hundebesitzer mit einem Paar Rottweiler ist uns in Sachen Biomasse weit überlegen. Doch wenn es um Durchsetzungsfähigkeit geht, nimmt unsere Menagerie aus Enten, Gänsen, Papageien, Wellensittichen, Truthähnen, Katzen, Kaninchen und Singvögeln es mit jeder durchgehenden Rinderherde auf.
Außerdem habe ich mit der Zeit gelernt, sie nicht als »Tiere« zu sehen, sondern als mit Intelligenz begabte Wesen einer anderen Rasse. Aus der (emotionalen) Distanz betrachtet, scheinen »Tiere« eine uniforme Masse zu sein. Aus der Nähe gesehen aber, offenbart jeder gewöhnliche Wellensittich eine ganz eigene Persönlichkeit. Als Kind hielten wir unseren Wellensittich ganz allein in einem Käfig in einer dunklen Ecke des Wohnzimmers. Das ist der Gipfel der Tristesse. Die drei Wellensittiche in unserem »Zoo« aber sind strahlende Geschöpfe. Sophie ist scheu und eine echte Dame. Reggie ist ein Clown und ahmt alles und jeden nach. Wenn Rossy auf meiner Schulter sitzt und an meinem Ohr knabbert, kommt er unweigerlich dazu.
Neben der Musik schrieb ich immer nur über Tiere. Dabei wollte ich unter anderem der Frage nachgehen, wie jemand vom glücklichen Besitzer eines Tieres zum ebenso glücklichen Bediensteten einer ganzen Menagerie werden konnte. Ich bin ein so unglaublich fauler Mensch, dass ich einen ganzen Monat brauche, um in meinem Arbeitszimmer einen Stapel Papiere von einer Ecke in die andere zu schieben. Für unsere Tiere aber erledige ich widerspruchslos schweißtreibende Arbeiten, die mir früher Albträume verursacht hätten.
Außerdem fand ich, dass die Geschichte von Bob und Linda aufschlussreich sein könnte. Es gibt ja Hunderte von Büchern über glückliche Hunde- und Katzenbesitzer. Doch wenn es um Enten, Gänse und Tauben geht, finden sich nur Bücher mit Zucht- und Schlachtanleitungen. Und obwohl die Literatur über Papageien in den letzten Jahren etwas umfangreicher wurde, war mir nicht klar, dass die Liebe zu diesen eigenwilligen Geschöpfen ihren Mann fordert.
Darüber hinaus möchte ich mit diesem Buch auch vor den Gefahren der Tierhaltung warnen. Das Kaninchen mit dem charmanten Überbiss kriegt Ihren Teppich schneller kahl als jedes Haarentfernungsmittel. Die angeblich so pflegeleichte Ente im Hinterhof erfordert mehr Aufmerksamkeit als ein Spaceshuttle. Und die geschenkte Gans kann krank werden und Ihre Taschen schneller leeren als der Sicherheitsbeamte am Flughafen. Ich höre und lese immer wieder, dass der Besitz von Tieren Stress reduzieren und unser Leben verlängern soll. An diesen Gedanken klammerte ich mich, während ich im Januar die Entenbassins im Hof mit Wasser füllte – an einem Tag, der so eisig kalt war, dass der Schnee jammerte, wenn ich auf ihn trat. Und ich fragte mich: »Wer will unter solchen Umständen schon länger leben? Warum nur hat mich niemand gewarnt?«
Sind dies nicht lauter gute Gründe, um ein Buch zu schreiben? Schon, aber natürlich kam der entscheidende Anstoß letztlich doch von einem Tier.
Ich wollte gerade ein Sandwich essen, als Linda von einem Kirchenfest zurückkam. Das Esszimmer konnte ich vergessen. Dort saß Ollie, unser Tovi-Sittich, und bekam fast einen Anfall, als er sah, wie ich mein Sandwich in Stücke schnitt. Unser afrikanischer Graupapagei, Stanley Sue, war natürlich auch interessiert: »Ich will, ich will …«, schnarrte er vor sich hin. Als er sah, dass ich ungerührt ins Brot biss, ohne ihm etwas abzugeben, brach er in lautes Geschrei aus. Ich zog mich ins Wohnzimmer zurück, war damit aber immer noch in Ollies Blickfeld.
»Ich esse draußen«, sagte ich zu Linda.
»Aber nicht auf der Veranda«, meinte sie hastig. »Da sieht er dich durchs Fenster.«
»Von mir aus. Wenigstens höre ich ihn nicht.«
»Das glaubst auch nur du. Ich habe ihn schon im Auto gehört.«
Ab in den Hinterhof also. Von wegen. Die Enten und Gänse, die dort lebten, würden sofort anfangen, zu zetern und zu betteln, sobald sie mich sahen. Kurz zog ich den vorderen Hof in Erwägung, verwarf diese Idee aber – zu viele Autos und damit Abgase. Und so ließ ich mich auf dem Gras vor der Scheune nieder, sodass die Truthähne dahinter mich nicht sehen konnten. Endlich – so schien es – hatte ich einen sicheren Platz erwischt. Eine riesige Tanne schirmte mich vom Haus ab. Ich lehnte mich gegen den Pfahl, auf dem unsere Satellitenschüssel sitzt, hob mein Sandwich an die Lippen und freute mich auf den ersten Bissen, als Agnes, unsere schwarze Katze, meinen Schoß enterte und um ein Häppchen bettelte.
Ich gab auf und teilte mein Mittagessen mit ihr. Ein paar Minuten später ging ich ins Haus, setzte mich an den Computer und fing an, über unsere Tiere nachzudenken – und über die Frage, weshalb ich mein ganzes Leben verändert hatte, um ihnen eine Heimstatt zu bieten.
Kapitel 1
Nachdem ich so lange in der Stadt gewohnt hatte, fühlte sich das Landleben seltsam an. Ich sah aus dem Fenster, und statt auf ein anderes Fenster fiel mein Blick auf Bäume. Das brachte mich durcheinander. Genauso wie die Vögel, die am Morgen ihr Liedchen anstimmten, und der Gewehrschuss vom anderen Ufer des Flusses. Ich war an Autohupen und Pistolenschüsse gewöhnt. Und so irritierten mich auch das Brunnenhäuschen im Hinterhof, der gewaltige Holzofen im Keller und das undurchdringliche Brombeergestrüpp auf der anderen Seite des Zauns. Nachts trieben sich seltsame Tiere auf dem Anwesen herum. Tagsüber segelten Geier darüber hinweg. Haltestangen in der Scheune und eine verrostete Viehtränke am Rande des Sumpfes erzählten von anderen tierischen Bewohnern. Doch das war Vergangenheit – sagte ich mir. Meine Frau Linda allerdings hatte da so ihre eigenen Vorstellungen.
Linda konnte es gar nicht erwarten, jede freie Fläche im Haus mit Schnickschnack zu füllen. Die drei Morgen Land, die an den Fluss grenzten und mich mit ihren mysteriösen Felsbrocken erschreckten, boten in ihren Augen die heiß ersehnte Möglichkeit zum Gärtnern. Was das Zusammenleben mit mir anging, war sie sich wohl weniger sicher. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, einen Teil des Jahres in ihrem Blockhaus im Norden von Michigan zu verbringen. Ein paar Monate später waren wir verheiratet, und sie änderte ihre Meinung, was die Harmonie zwischen uns stark beeinträchtigte. Dann kam Binky.
Der Kauf dieses Kaninchens war eine der folgenschwersten Taten, die ich als Erwachsener je begangen habe. Trotzdem weiß ich nicht mehr, was mich zu der Auffassung bewegte, es sei gut, ein Kaninchen zu besitzen. Und Binky war weit mehr als ein Kaninchen! Er verwandelte unser Haus von einer jungfräulichen, tierlosen Zone in einen Haustierzoo. Er veränderte mein ganzes Leben. Wenn ich so über meine tierfreie Vergangenheit nachdenke, dann frage ich mich, wie ein missvergnügtes Holländisches Zwergkaninchen ohne soziale Fähigkeiten uns dazu brachte, noch mehr Tiere an- statt ihn abzuschaffen.
In unserem ersten gemeinsamen Frühling in Lowell brachte Linda plötzlich das Gespräch auf Hasen: »Wäre es nicht nett, wenn so ein Tierchen durch das Haus hoppelte?«
»Du hoppelst auch beim Gehen«, sagte ich zu ihr. »Wenn du daran noch ein bisschen arbeitest, brauchen wir keinen Hasen.«
»So ein Hase macht überhaupt keine Mühe«, bohrte sie weiter. »Meine Freundin Justina hatte so ein Tierchen. Es sitzt immer neben dem Wäschetrockner und schläft in seinem Bettchen aus einem alten Handtuch.«
»Und wo schläfst du dann?«, fragte ich sie. Da wusste ich allerdings schon, dass es wenig Sinn hatte, mit Linda zu streiten. Sie wusste, was sie wollte.
Bevor ich Linda kennenlernte, hatte sie zwei Hunde besessen, und die vermisste sie nun. Da schien mir der Hase doch das geringere Übel. Einen Hund musste man schließlich ausführen, baden, bürsten und stubenrein machen. Man musste ihm beibringen, dass er im Auto sitzen blieb, alte Leute nicht umrannte und selten bellte. Man musste ihn flöhen, Hundesteuer zahlen, ihn impfen lassen – kurz: Ein Hund ist Teil der Familie. Das hieß, er würde sich in meiner Welt herumtreiben. Die Welt eines gefangenen Kaninchens aber war ein Käfig mit einem Meter Seitenlänge. So dachte ich damals.
Ein Besuch bei meinem Freund Philip bestätigte mich darin. Als wir im Wohnzimmer saßen, fragte ich ihn, ob er nicht seinen Hasen Drusilla ein wenig herauslassen wolle.
»Sie ist hier schon irgendwo. Vermutlich versteckt sie sich hinter einem Stuhl.«
Als ich aufstand, sah ich, wie ein Fellknäuel zurück in den Schatten huschte. Verglichen mit der Zudringlichkeit eines Hundes (»Streichle mich!«) oder einer Katze (»Ich will auf deinen Schoß!«), fand ich Drusillas Zurückhaltung recht ansprechend. »Und das ist alles, was sie tut?«
»Im Grunde zeigt sie nur zwei Verhaltensweisen. Wenn sie irgendwo neu ist, flitzt sie herum, so schnell sie kann, bis sie alles gesehen hat. Dann versteckt sie sich und kommt nur heraus, wenn man ihr einen Grund gibt.« Das hörte sich gut an. Was dann kam, tat ich als Eigenheit ab. »Allerdings liebt sie Kabel. Ich ziehe bei jedem Gerät, das ich nicht gerade brauche, den Stecker, bevor ich sie hereinlasse. Sonst beißt sie das Kabel einfach durch.«
»Und dabei kriegt sie keinen elektrischen Schlag ab?«
»Die Mundhöhle von Kaninchen ist extrem trocken«, erklärte Philip. »Sie haben nicht viel Speichel, also bekommen sie keinen so starken Schlag, wie du ihn bekommen würdest, wenn du ein Lampenkabel durchbeißt.«
Dass ich je Geschmack am Durchbeißen von kunststoffüberzogenen Kupferdrähten finden würde, schien mir nun so weit hergeholt, dass ich die Bemerkung auf Philips spleenige Art schob. Zum Beispiel bewahrte er das abgenagte Gerippe eines zwei Jahre alten Thanksgiving-Truthahns im Gemüsefach seines Kühlschranks auf.
Ich berichtete Linda von Drusillas Vorliebe für Kabel.
»Rose, eine meiner Kundinnen, hat einen Hasen, aber davon hat sie noch nie erzählt.«
»Ich dachte, es sei Justina«, hakte ich nach.
»Rose hat auch einen«, sagte Linda, die bei ihrer Arbeit als Putzfrau allerhand lustige Leute kennenlernte. »Er sitzt immer bei Rose auf dem Schoß, wenn sie Glücksrad im Fernsehen sieht.«
»Das ist meine Lieblingssendung.«
»Ich weiß.«
»Und der Hase darf auf meinem Schoß sitzen?«
Plötzlich schien der Weg zu einem Dasein als Hasenbesitzer leicht. Wir waren voller guter Vorsätze. Allerdings kauften wir ein Tier, das so ganz anders war, als wir es uns vorgestellt hatten. Zunächst einmal hatten wir uns kein bisschen informiert. Wir gingen davon aus, dass Hasen und Kaninchen sich höchstens in der Größe unterscheiden. Wer hätte gedacht, dass sie alle eine Persönlichkeit haben, die sich je nach Rasse unterscheidet?
Der Farmer nördlich von Rockford, einem Städtchen in Michigan, jedenfalls nicht. Er hatte nur ein handgeschriebenes Schild an seinen Trailer gehängt, auf dem in großen Lettern stand: »Hasen zu verkaufen«. Zu Lindas Entsetzen züchtete er »Fleischtiere«, also Tiere zum Schlachten. Geläutert steuerten wir den nächsten Bauernhof an. Dieser Bauer züchtete zwar Hasen als Haustiere, doch dummerweise Langohrhasen, deren Ohren auf dem Boden dahinschlappen wie bei einem Cockerspanielwelpen. Linda aber wollte einen »Hasen mit richtigen Ohren«. Und so schlug uns der Züchter vor, uns am folgenden Wochenende auf der jährlichen Easter Bunny Show in der North Kent Mall umzusehen.
Doch bei dieser Show ging es in Wirklichkeit um Immobilien. Nur ganz hinten, hinter einer Reihe leerer Schuhläden, fanden sich drei Kaninchen- und Hasenzüchter, von denen jeder höchstens sechs Käfige vorweisen konnte. Der Erste hatte ein paar Holländerjunge, die aussahen wie überdimensionierte Meerschweinchen. Eine sehr freundliche Rasse, wie wir hörten. Der Nächste wieder Langohrhasen. Die im Übrigen ausgesprochen sanftmütig sein sollen. Auf dem letzten Tisch sahen wir ein paar klassische »Fleischhasen«, die uns zu groß waren. Und ein paar Holländische Zwergkaninchen. Ein Preisrichter in Lowell meinte später einmal zu uns, diese Rasse sei »launisch«. Für ebendiese entschieden wir uns.
Ein kleiner Junge mit Wuschelkopf streichelte ein Tier, das sich wohlig auf dem Tisch ausstreckte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Offensichtlich gefiel ihm die menschliche Gesellschaft. Wir konnten nicht widerstehen: Wir mussten es auch streicheln. Seine lustige Zeichnung gefiel uns: Das Kaninchen sah aus, als habe es ein schwarzes Höschen an und eine schwarze Kapuze auf. Der Rest war milchweiß.
»Ist der zu verkaufen?«, fragte Linda entzückt.
»Sie ist die Mutter«, sagte der Junge und sah uns an.
»Ja, aber ist sie zu verkaufen?«, fragte ich nochmals. »Wie alt ist sie denn?«
»Dreizehn Monate.«
Linda und ich berieten uns hastig. Ein Jahr und ein Monat – für ein Kaninchen war das viel. Vor allem, da wir doch übereingekommen waren, ein Kaninchenbaby zu kaufen, das wir nach unserem Willen formen konnten.
»Das ist der Wurf«, meinte der Junge dann und wies auf ein Trio etwa acht Wochen alter Zwergholländer im Käfig daneben. Wenn die Mutter Menschen mochte, galt das für die Jungen vielleicht auch.
»Der da ist süß«, meinte Linda.
»Schaut er gerne Glücksrad?«, fragte ich.
»Gefällt er Ihnen?«, sprach uns ein Mann an, dessen Namensschild ihn als »Warren« auswies.
»Dürfen wir ihn auf den Arm nehmen?«, wollte Linda wissen.
»Natürlich«, versicherte uns Warren. Doch kaum hatte er in den Käfig gegriffen, als sich das Fellknäuel, das eben noch geistesabwesend an der Tränke genagt hatte, in einen veritablen Kampfhasen verwandelte. Schon setzte er zum Sprung an, als Warren ihn geübt am Kragen packte und in Lindas Arme nötigte. Wo er nicht bleiben wollte. Was für mich ebenso galt.
»Haben Sie noch andere Männchen?«, fragte Linda, als Warren den widerstrebenden Burschen wieder in den Käfig steckte, wo er mit Unschuldsmiene an den Zedernholzspänen zu kauen begann. Ein Züchter hatte uns nämlich mal erzählt, dass Männchen bessere Haustiere seien als Weibchen.
Warren schüttelte den Kopf. »Nein, die anderen sind Weibchen.«
»Vielleicht liegt’s daran, dass er Sie noch nicht kennt«, versuchte Warren es noch mal.
»Dann nehmen wir ihn eben«, meinten wir schließlich.
Der Mann wusste, wie man Kaninchen verkauft. Da wir weder genug Handgeschick noch eine ausreichend dicke Rüstung besaßen, um unseren neu erworbenen Mitbewohner zum Parkplatz zu tragen, steckte Warren ihn kurzerhand in einen stabilen Karton. Während wir nach Lowell fuhren, kratzte und tobte er in seinem Gefängnis, was das Zeug hielt, und gab uns so einen Vorgeschmack auf seine teppich- und schuhfeindliche, asoziale Natur. Etwa eine Stunde nach unserer Ankunft schaffte Linda es, das Zwergkaninchen im Würgegriff auf die Couch zu zwingen.
»Vielleicht muss er sich erst ans Gehaltenwerden gewöhnen«, meinte sie. Mein Kopfschütteln interpretierte sie als Aufforderung, das kleine Ungeheuer auf meinen Schoß zu setzen.
»Geben wir ihm halt ein paar Tage«, antwortete ich und versuchte, mich vor seinen Klauen zu schützen.
»Sieh mal. Er setzt sich.«
»Er hat ja keine Wahl. Wenn ich meinen Griff jetzt lockere, bin ich vermutlich meine Hand los.« Ein paar Sekunden später hörte sein kleiner Körper auf zu zittern, und er entspannte sich. »Vermutlich hast du recht«, antwortete ich. Doch in diesem Moment überflutete der Kleine regelrecht mein Hosenbein und die Couch. Wir tauften ihn nach dem griesgrämigen Hasen in Matt Groenings berühmtem Comic Life in Hell auf den Namen Binky.
In den nächsten Tagen versuchte ich, eine Beziehung zu Binky aufzubauen. Dazu kniete ich auf dem Küchenboden nieder, um eine möglichst wenig bedrohliche Haltung einzunehmen. Binky hoppelte desinteressiert um mich herum. Ich brachte mein Kopfkissen in die Küche und legte mich hin, ihm ein Nickerchen vorspielend. Er sollte sich wohlfühlen mit mir. Offensichtlich aber war das Problem ein anderes, denn sobald ich eine Banane schälte, kam Binky an wie der Blitz und legte mir gierig seine Pfote aufs Handgelenk. Seine Zuneigung zeigte er uns, indem er gnädig im Raum blieb und uns den Rücken zuwandte, wenn wir hereinkamen. Wenn er in großmütiger Stimmung war, durften wir sogar von hinten an ihn heranrobben und flüchtig seinen Kopf streicheln. Wagten wir aber, ihm weitere Zeichen der Zuneigung anzudienen, hoppelte er eiligst in eine menschenfreie Zone und putzte sich angeekelt dort, wo wir ihn gestreichelt hatten.
Wir überhäuften Binky mit einer schicken Wasserflasche, einem Kaninchenklo und Spielzeug zum Draufherum-Kauen. Wir fütterten ihn mit Tortillachips und Buttertoast. Wir bauten ihm draußen einen Stall, indem er sich ertüchtigen konnte, und ließen ihn ungehindert im Haus auf und ab flitzen. Und doch bezeigte er uns nichts anderes als die streitbare Haltung, die Hasen mitunter an den Tag legen. Wir kauften ihm eine lavendelfarbene Leine und nahmen ihn mit einem für Chihuahuas gedachten Geschirr mit in den Wald. Das funktionierte nicht besonders, denn entweder saß Binky stundenlang gemütlich da und kaute an einem Blatt herum, oder er raste wie besessen über die Moospolster, sodass wir kaum mithalten konnten. Vermutlich verwöhnten wir ihn einfach nicht genug. Mein Freund Philip fütterte Drusilla mit Smarties. Zwar stand in allen Büchern über Kaninchenhaltung, dies sei für die Tiere reines Gift, aber Drusilla hatte mit Fachliteratur offensichtlich nichts am Hut. Wenn Philip sie rufen wollte, schüttelte er ein Päckchen Smarties. Dann kam sie angelaufen, egal, wo sie sich gerade versteckte. Das Einzige, was Binky dazu bewegen konnte, ein Versteck zu verlassen, war eine menschliche Hand, die ihn streicheln oder gar hochheben wollte. Aber nur, um sich ein noch besseres Versteck zu suchen.
Warren, Binkys Züchter, hatte Linda beim Kauf seine Visitenkarte gegeben und gemeint, sie könne ihn jederzeit anrufen, wenn wir Probleme hätten. Und so telefonierten wir fleißig.
»Wir haben Schwierigkeiten mit Binky. Er will sich nicht streicheln lassen«, meinte sie einmal.
»Das ist merkwürdig«, antwortete Warren. »Das habe ich bei ihm noch nie beobachtet. Ich weiß auch nicht, was ich euch da sagen soll.«
Ein andermal rief sie ihn an, weil Binky alles anknabberte, was er finden konnte. »Ich wünschte, ich könnte euch helfen«, meinte Warren und fügte einmal mehr hinzu, wir sollten ihn doch anrufen, wann immer wir Probleme hätten.
Ähnlich war es, als wir nachfragten, wieso Binky immer im Kreis um uns herumlief und ganz seltsam brummelte. »Das ist mir ja völlig neu«, erklang es am anderen Ende der Leitung. Wir fragten uns allmählich, wie ein Kaninchenzüchter so wenig über das Verhalten dieser Tiere wissen konnte.
Da ich nie zuvor ein Kaninchen besessen hatte, wusste ich nicht, wie ich mit Binky umgehen sollte. Ich dachte, er wäre so wie eine Katze, vielleicht ein wenig neugieriger und mehr an seinen menschlichen Mitbewohnern interessiert. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Kaninchen es mögen, wenn man mit ihnen spricht, aber Binky schien dies neu zu sein.
Es irritierte mich auch, dass er keinen Laut von sich gab. Eine zufriedene Katze schnurrt wenigstens. Papageien sind wandelnde Sprechblasen. Kaninchen aber verlassen diese Welt in sprachlicher Hinsicht, wie sie sie betreten haben: als unbeschriebenes Blatt. Gelegentlich machen sie ihrer Unzufriedenheit durch ein kleines Grunzen Luft, wenn man sie beispielsweise gegen ihren Willen aufnimmt. Später lernten wir, dass sie außerdem brummen, wenn sie paarungsbereit sind. Oder wenn ihnen etwas auf die Nerven geht. Binky in die Augen zu sehen war, als richte man den Blick auf die dunkle Wasseroberfläche eines ansonsten undurchsichtigen Sees. Man wusste, dass da »jemand« war, aber es gab nie ein Zeichen des Wiedererkennens.
Meine kommunikativen Fähigkeiten wurden also auf eine harte Probe gestellt. Binky hingegen gab klar zu verstehen, was er wollte. War seine Wasserschüssel leer, stieß er sie ungnädig immer wieder gegen die Gitterstäbe seines Käfigs. Er wollte immer alles haben wie gewohnt und legte großen Wert darauf, dass seine Umgebung sich seinem Tagesplan anpasste. Als wir einen Weihnachtsbaum aufstellten, fanden wir nur deshalb seine Zustimmung, weil die Zweige ihm ein neues Versteck boten. Als wir um Ostern herum den Baum dann endlich abbauten, ließ Binky uns seinen Ärger deutlich spüren. Einen vollen Monat lang ließ er uns links liegen und klopfte mit dem Hinterbein, wann immer er in einen Raum kam, in dem wir anwesend waren.
Auch war Binky narzisstischer als jede Katze. Wenn er nicht gerade schlief, putzte er sich. Und wenn er aus dem Käfig durfte, zerstörte er etwas. Beispielsweise benutzte er unsere Kabel als Lakritzstäbchen, nur um sich dann irgendwo zu verstecken, wo man ihn garantiert nicht erwischte. Das Kabel für das Netzteil meines luxuriösen Sony-Weltempfängers hatte ich durch einen schmalen Spalt hinter dem Bett gezogen, wo ich es sicher glaubte. Binky aber zwängte seinen birnenförmigen Rammlerleib in die fünf Zentimeter schmale Öffnung und schlängelte sich vor bis zum Kabel, das er mit Genuss entzweibiss. Um ihn vom Kappen meiner wichtigsten Kabel abzuhalten, besorgte ich eine Verlängerungsschnur – extra für ihn. Mit der ganzen Verachtung, die er aufbringen konnte, riss er mir das Teil aus der Hand und warf es zur Seite. Wie Haie, die sich unter Wasser gerne in der Nähe von Überseekabeln aufhalten, brauchte er wohl Strom live. Ihm selbst geschah dabei nie etwas, unsere Haushaltsgeräte allerdings erlitten beträchtlichen Schaden.
Kaninchen lieben Kaninchenklos mit der richtigen Streu darin, heißt es. Und das stimmt auch. Aus irgendeinem Grund erraten sie ganz von selbst, wozu die gefüllte Plastikwanne da ist. Instinkt vermutlich. Wie sie auch instinktiv ihr Territorium markieren. Zum Beispiel durch Kinnrubbeln. Sie haben Drüsen am Kinn, die ihren Duft absondern, und so reiben sie diesen Körperteil an Couchtischen, Kleiderständern, Stuhl- oder Menschenbeinen. Will ein Männchen aber anderen Rammlern signalisieren, dass dies sein Revier ist, dann nutzt er seine Körpersäfte. Binky hat uns dies überdeutlich beigebracht. Und natürlich auch dem Rest unserer späteren Kaninchenpopulation.
Noch zerstörerischer aber ist die Vorderseite von Kaninchen. Ihre Zähne wachsen unaufhörlich. Die unteren Zähne können lang werden wie bei einem Werwolf, die oberen Zähne hingegen wachsen nach innen und durchstoßen die Mundhöhle, wenn sie nicht gekürzt – oder durch ständiges Nagen abgenutzt – werden. Binky hatte sich für das Nagen entschieden und dazu unser Gebälk auserwählt. Darüber hinaus zerlegte er unseren Teppich. Den Schutzumschlag solch unsterblicher Werke wie Fliegende Untertassen vom Mars, Drei Männer in ihren fliegenden Untertassen und Sie wussten zu viel über fliegende Untertassen verspeiste er als Appetithäppchen, weil ich sie unvorsichtigerweise auf dem untersten Regalbrett liegen lassen hatte. Er dezimierte unser Schuhwerk, erledigte Lautsprecherkabel und Antennendosen ebenso elegant wie Stuhlbeine, Telefonkabel, Bettvorleger, Hasenklos, Weidenkörbe und das Kabel unserer Satellitenantenne.
Seine Ausdauer diesbezüglich wurde nur überboten von seinem unbedingten Willen, sich in Spalten zu zwängen, durch die er eigentlich nicht passte. Was ihn am meisten interessierte, war zweifellos die Ritze zwischen dem Kopfteil unseres Polsterbetts und der Wand. Dort war er für uns unerreichbar. Und obwohl ich rechts und links etwas vor die Lücke gestellt hatte, damit er nicht hineinkonnte, schaffte er es dennoch. Dann half nur noch eines: Wir mussten einen Karton durch den Spalt ziehen und diesen wild auf und ab bewegen. Doch sobald wir uns umdrehten, war er unweigerlich wieder drin.
Sie können nicht gewinnen, wenn Sie sich mit einem Kaninchen anlegen. Wenn das Kaninchen Sie austrickst, stehen Sie dumm da. Wenn Sie das Kaninchen austricksen, stehen Sie aber oft noch dümmer da. Diese tiefgründige Erkenntnis kam mir, als Binky eines Tages die offen stehende Kellertür entdeckte … und im Keller das schönste Versteck seines Lebens. Dort hatte ich bereits alle kuscheligen Ecken nach ihm abgesucht: den Spalt hinter der Waschmaschine, zwischen dem Trockner und dem Abfluss, unter dem Arbeitstisch, unter dem Heizöltank, die Nische, in der Linda ihre Weihnachts-, Oster- und Halloweendeko aufbewahrt. Ich hatte im Wäschekorb nachgesehen, hinter den Konserven und unter dem Boiler. Als ich zum dritten Mal in den Keller kam, um nach ihm zu suchen, saß Binky ganz nonchalant da und putzte sein Fell, als würde er auf mich warten. Als ich einen Schritt auf ihn zutat, sprang er flugs hinter eine offene Rigips-Verschalung und verschwand hinter einem Betonschalstein in der Mauer.
Er ließ sich etwa fünf Zentimeter hinter der Stelle nieder, an die meine Fingerspitzen gerade noch reichten, und fing wieder an, sich in aller Ruhe zu putzen. Mich ließ er bitten, betteln, drohen und jammern. Als ich versuchte, ihn mit einem Besen herauszutreiben, verschwand er noch tiefer. Ich schnappte mir eine Trittleiter, kletterte hinauf und wollte ihn von oben mit einer Pappröhre herausscheuchen. Leider war er zu schnell für mich. Er verschwand am anderen Ende der Schalung, sodass ich im Strahl meiner Taschenlampe nur noch seine Ohrspitzen sah. Ich hatte keine Chance.
Der gesunde Menschenverstand sagte mir, dass ich warten sollte, bis Binky es leid war, dort zu sitzen. Schließlich gab es da kein Kabel zu kauen und auch nichts zu essen. Aber ich war nicht in der Stimmung für gesunden Menschenverstand. Ich wollte Binky zeigen, dass er hier nicht der Boss war.
»Lass ihn doch in Ruhe«, riet Linda. »Er kommt schon, wenn er mag.«
»Du hast recht«, antwortete ich und tat so, als wäre ich ihrer Meinung. Ich ging hinauf in die Küche. Als Linda wenig später in die Badewanne stieg, schlich ich wieder hinunter.
Ich nahm mein Teppichmesser und schnitt ein Loch in die Rigipswand, wo ich Binky vermutete. Dann trieb ich einen Schraubenzieher hinein und holte das Stück aus der Trockenmauer heraus. Natürlich hätte das Hin und Her ihn auch vertreiben können, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er es ruhig über sich ergehen lassen würde. Klopfen und Pochen hatten Binky noch nie gestört. Dann steckte ich die Hand durch das Loch. Er saß zu weit vorne, ich konnte nur seine Hinterbeine greifen. Doch als ich die zweite Hand durchsteckte, um sie über seine Brust zu legen, befreite er sich aus meinem Griff und gab Fersengeld. Bevor ich mich noch erheben konnte, hoppelte er schon eilig die Treppe zur Küche hinauf.
Binkys unabhängiges Gehabe ärgerte mich. Schließlich lebte er schon zwei Jahre in unserem Haushalt und war noch kein bisschen zahmer geworden. Ich wusste, dass er es mir nur zeigen wollte. Aber ich war nicht gewillt, mir das noch länger bieten zu lassen.
Diesen Entschluss fasste ich, nachdem er aus einem ausbruchssicheren Käfig entwichen war, den ich im Hinterhof für ihn gebaut hatte. Hühnerdraht umschloss einen ehemaligen Sandkarten bis zu einer Höhe von etwa 1,80 Meter.
»Daraus haut er nicht mehr ab«, prahlte ich Linda gegenüber, nachdem ich Binky in seine neue Outdoor-Unterkunft gebracht hatte. Fünfzehn Minuten später rief Linda nach mir. Ich hatte mich ins Schlafzimmer zurückgezogen, um afrikanische Musik zu hören.
»Liebling, ich sehe Binky nicht mehr.«
»Keine Sorge«, rief ich. »Er ist im Gehege.«
»Aber ich sehe ihn nicht.«
Also stand ich auf und blickte aus dem Fenster. Ich sah ihn auch nicht. Normalerweise war er in dieser Lage recht leicht zu erkennen. Ein schwarz-weißes Fellknäuel, das nach einem Ausgang suchte. Aber das Gehege lag ruhig und verlassen da.
Linda rannte sofort nach draußen in der Hoffnung, ihn zu finden, bevor er auf die viel befahrene Straße vor unserem Haus lief oder sich unter einem unserer Autos versteckte. Auch ich lief hinaus – und stolperte beinahe über ihn, als ich die Treppe hinunterstürzte. Er saß auf der zweiten Stufe und putzte sich mit der Selbstzufriedenheit eines Entfesslungskünstlers, der gerade ein Wunder vollbracht hat. Dass er sitzen geblieben war, zeigte mir eindeutig: Hier ging es nicht ums Weglaufen. Es ging einzig und allein darum, mir zu zeigen, dass ich mit meinem blöden Gehege ihn nicht halten konnte. Wie hatte er es nur geschafft? Ich hatte nie auf die zahllosen Löcher geachtet, die Binky im Hof grub. Gewöhnlich scharrte er heftig und rannte dann weg, um das nächste Loch zu buddeln. Einen Tunnel hatte er noch nie gegraben.
»Ich frage mich, wie lange er daran herumgetüftelt hat«, meinte Linda bewundernd. Seine Findigkeit zwang mich dazu, die Innenseite des Zauns mit Steinen zu beschweren, die künftige Ausbruchsversuche verhindern würden.
»Das ist unser erstes und letztes Kaninchen«, sagte ich zu Linda. »Kaninchen sind einfach keine guten Haustiere.«
»Binky ist schon in Ordnung«, gab sie zurück.
»Er sollte eigentlich in der Scheune leben.« Ich fing allmählich an zu kochen.
»Du darfst so etwas nicht sagen«, meinte sie. »Binky liebt dich.«
Und tatsächlich hatte Binky einige Gewohnheiten entwickelt, die ihn als nettes Kaninchen erscheinen ließen. Wenn ich mich in meinem Arbeitszimmer aufhielt, setzte er sich neben meinen Stuhl und putzte sich, glücklich und zufrieden, solange ich kein Zeichen gab, dass ich ihn bemerkt hatte. Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, fand ich ihn unter meinem Tisch sitzend vor. Offensichtlich wartete er. Endlich freute ich mich, ihn zu sehen. Wenn ich auf Händen und Knien auf ihn zukrabbelte und so tat, als suchte ich einen Bleistift, der mir hinuntergefallen war, blieb er mitunter sogar sitzen und erduldete ein oder zwei Streicheleinheiten.
Anlass zu Bewunderung gab seine Frechheit gegenüber unserer Katze Penny, die wir ihm zur Gesellschaft aufgenommen hatten. Obwohl Penny beim Spielen recht ungestüm wurde, nachdem sie sich vom Kätzchen zur veritablen Mieze gemausert hatte, gab ihr Binky so gut heraus, wie er nur konnte. Er senkte den Kopf und stieß ein dunkles Knurren aus, bevor er sich wie ein Rhinozeros auf sie stürzte und sie zwang, auf die Couch zu flüchten. Morgens jagten sie sich durchs halbe Haus und weckten uns, weil sie dabei über unser Bett stürmten. Binky sprang mittlerweile sogar allein aufs Bett, um uns Guten Morgen zu sagen. Dort hoppelte er ungelenk über unsere Füße und sprang dann gleich wieder runter. Bei jedem anderen Tier wäre das nicht mehr als eine »Fußnote« gewesen, bei Binky war es eine echte Liebeserklärung.
In der ersten Maiwoche allerdings vernachlässigte er seine neu gefundene Rolle als Wecker. Er blieb in einer Ecke sitzen, wirkte lustlos und fraß nicht. Als ich ihn zu seinem Käfig trug, wehrte er sich nicht. Wir wussten, dass er krank sein musste. Was wir nicht wussten, war, dass Kaninchen erste Anzeichen von Krankheit erst zeigen, wenn es bereits zu spät ist. Eines Morgens verschlechterte sich sein Zustand massiv. Er rührte sich kaum noch. Linda packte ihn in seinen Käfig und fuhr mit ihm zum Tierarzt, der seine Praxis etwa einen Kilometer entfernt hatte. Kaum zehn Minuten später war sie zurück. Binky war unterwegs gestorben.
Linda wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. »Nicht Binky«, jammerte sie unter Tränen. »Nicht Binky!«
Ich legte den Arm um sie. »Nun ja«, dachte ich bei mir, »das war’s also. Das Leben wird bestimmt einfacher ohne ihn.« Dann hatte ich das merkwürdige Gefühl, eine fremde Macht übernehme die Kontrolle über meinen Körper. Ich seufzte tief. Wir hüllten ihn in ein blaues Badetuch und begruben ihn auf der Rückseite des Hauses, auf der anderen Seite des Zauns.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Es war Vollmond. Mir schien, als konzentriere sich das ganze Licht auf den Fleck, wo Binky begraben lag.
»Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass er da draußen jetzt ganz allein ist«, sagte ich zu Linda. Es schien, als sei ich durch ein unsichtbares Kabel mit ihm verbunden, und wünschte mir, er wäre da, um es durchzubeißen.
Am Ende errichtete ich Binky ein Denkmal. Ich türmte Felsbrocken zu einer Höhe auf, die einen Pharao beeindruckt hätte. Irgendwann im Frühsommer schleppte ich eine Steinplatte in meinen Arbeitsraum im Keller. Mit Latexfarbe malte ich eine Inschrift darauf: »BINKY 1990 bis 1992 – Ade, mein lieber Freund«.
»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, meinte meine Mutter, als Linda ihr von unserem Grabmal erzählte. Dabei war ich noch keineswegs fertig. Ich stach die Grassode vom Zaun bis zu Binkys Grab unter einer Gruppe Ahornbäume ab. Diesen Weg säumte ich mit Pflastersteinen, die der Vorbesitzer des Hauses in der Scheune vergessen hatte. Dahinter legte ich einen Rand aus kohlkopfgroßen Steinen aus dem Flussbett. Den Weg zur Trauerstätte schüttete ich zentimeterhoch mit Rindenmulch auf. Und das war noch immer nicht alles. Ich zog einen zweiten Pfad am Zaun entlang. Dann stach ich das Gelände ein paar Meter tief um und säte Kriechmyrte und purpurfarbene Wicken aus. Die Wicken wucherten im Sommer wie Löwenzahn und begruben die Myrte unter sich.
Im Sommer darauf war von meinen Bemühungen nichts mehr zu erkennen. Die Steine waren tief unter Unkraut, wilden Brombeerranken, Brennnesseln und Disteln verborgen, sodass man sich den Zeh daran stieß. Die Wicken gerieten völlig außer Kontrolle. Die Farbe blätterte längst von Binkys Gedenkstein ab. Ich hatte die Inschrift zwar einmal erneuert, es dann aber sein lassen. Mittlerweile hatte ich nicht einmal mehr die Zeit, um Binky zu trauern. Dummerweise hatten wir nämlich ein Tier ins Haus genommen, das mindestens so streitbar war wie unser Binky.