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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

 

Für Fragen und Anregungen

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2. Auflage 2020

© 2012 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 bei Dutton, einem Mitglied der Penguin Group (USA) Inc. unter dem Titel You are not so smart.

© 2011 by David McRaney. All rights reserved.

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Übersetzung: Marion Zerbst, Wiesbaden

Redaktion: Birgit Walter, Augsburg

Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München

Umschlagabbildung: Getty Images, © Christian Lichtenberg

Satz und Epub: Grafikstudio Foerster, Belgern

 

ISBN Print 978-3-86882-852-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-332-7

ISBN E-Book (Epub, Mobi) 978-3-86415-333-4

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

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Für Jerry, Evelyn und Amanda

Inhalt

Einführung: Sie

1. Priming

2. Konfabulation

3. Bestätigungsfehler

4. Rückschaufehler

5. Zielscheibenfehler

6. Verzögerungstaktik

7. Normalitätsbias

8. Introspektion

9. Verfügbarkeitsheuristik

10. Zuschauereffekt

11. Dunning-Kruger-Effekt

12. Apophänie

13. Markentreue

14. Autoritätsargument

15. Argument aus Ignoranz

16. Strohmann-Argument

17. Argumentum ad hominem

18. Gerechte-Welt-Glaube

19. Öffentliche-Güter-Spiel

20. Ultimatumspiel

21. Subjektive Validierung

22. Indoktrination durch Sekten

23. Gruppendenken

24. Übernormale Auslöser

25. Affektheuristik

26. Dunbar-Zahl

27. Selling Out

28. Selbstwertdienliche Verzerrung

29. Spotlight-Effekt

30. Third-Person-Effekt

31. Katharsis

32. Fehlinformationseffekt

33. Konformität

34. Extinktionsausbruch

35. Soziales Faulenzen

36. Informativer sozialer Einfluss

37. Erlernte Hilflosigkeit

38. Embodied Cognition

39. Ankerheuristik

40. Aufmerksamkeit

41. Self-Handicapping

42. Selbsterfüllende Prophezeiung

43. Der jetzige Augenblick

44. Konsistenzeffekt

45. Repräsentativitätsheuristik

46. Erwartung

47. Kontrollillusion

48. Attributionsfehler

DANKSAGUNG

LITERATURVERZEICHNIS

EINFÜHRUNG

Sie

DER IRRGLAUBE: Sie sind ein rationales, logisch denkendes Wesen, das die Welt so sieht, wie sie wirklich ist.

DIE WAHRHEIT: Sie sind wie alle anderen Menschen in Illusionen befangen. Und das ist auch gut so, denn sonst würden Sie womöglich den Verstand verlieren.

Sie halten ein Lehrbuch zum Thema Selbsttäuschung in den Händen, das Ihnen verrät, auf welch wundersame Weise wir Illusionen unterliegen.

Vermutlich gehen Sie davon aus, zu wissen, wie die Welt funktioniert. Tatsächlich haben Sie aber keine Ahnung. Auf Ihrem Weg durchs Leben bilden Sie sich Meinungen und reimen sich eine Geschichte zusammen, die erklärt, wer Sie sind und warum Sie all jene Dinge getan haben, die Sie getan haben, bis Sie angefangen haben, dieses Buch zu lesen. Und diese Erklärung scheint plausibel.

Immer mehr Erkenntnisse aus der Psychologie und der Kognitionswissenschaft besagen jedoch, dass Sie nicht wissen, warum Sie bestimmte Dinge tun, bestimmte Entscheidungen treffen oder Ihnen bestimmte Gedanken durch den Kopf gehen. Sie erfinden kleine Märchen, die nachvollziehbar machen, warum Sie Ihre Diät aufgegeben haben, warum Sie Apple bevorzugen und nicht Microsoft und warum Sie sich genau daran erinnern, dass Bettina Ihnen von diesem Clown mit einer Beinprothese aus Suppendosen erzählt hat. Dabei war es gar nicht Bettina, sondern Anton, und es ging auch nicht um einen Clown.

Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen, in dem Sie dieses Buch lesen. Denken Sie eine Sekunde darüber nach, wie viel Mühe es gekostet hat, die Dinge, die Sie umgeben, herzustellen. Malen Sie sich aus, wie viele Jahrhunderte des Fortschritts nötig waren, um diese Erfindungen überhaupt zu ermöglichen.

Beginnen Sie bei Ihren Schuhen, betrachten Sie dann das Buch in Ihren Händen und schließlich die vielen Maschinen und Geräte, die in jedem Winkel Ihres Lebens ständig in Betrieb sind – den Toaster, den Computer, den Krankenwagen, dessen Martinshorn von einer entfernt gelegenen Straße zu Ihnen hinüberhallt. Halten Sie sich, bevor wir zum eigentlichen Thema dieses Buches kommen, einmal vor Augen, wie erstaunlich es ist, dass wir Menschen so viele Probleme gelöst und so viele Dinge kreiert haben.

Gebäude, Autos, Elektrizität und Sprache … Der Mensch ist schon etwas ganz Besonderes, stimmt’s? Seine vernunftbegabte Denkweise feiert immer wieder neue Triumphe. Wenn Sie sich das vergegenwärtigen, wiegen Sie sich vielleicht in dem selbstzufriedenen Glauben, wir Menschen hätten uns zu wirklich schlauen Geschöpfen entwickelt.

Und doch schließen Sie Ihre Schlüssel im Auto ein. Sie vergessen, was Sie gerade sagen wollten. Sie nehmen zu. Sie gehen bankrott. Und anderen Menschen passiert das auch. Von Bankkrisen bis hin zu sexuellen Eskapaden – unser Verhalten ist manchmal ziemlich töricht.

Vom renommierten Wissenschaftler bis zum einfachen Handwerker – jedes menschliche Gehirn ist von vorgefassten Ansichten und Denkmustern durchsetzt, die es unbemerkt in die Irre führen. Sie befinden sich also in guter Gesellschaft. Egal, wer Ihre Idole und Mentoren sind – auch sie neigen zu falschen Annahmen.

Nehmen wir als erstes Beispiel den Selection Task von Peter Wason. Stellen Sie sich vor, ein Wissenschaftler teilt Ihnen vier Karten aus. Im Gegensatz zu normalen Spielkarten zeigen diese auf der einen Seite eine Zahl und auf der anderen eine Farbe. Wenn Sie die Karten von links nach rechts betrachten, sehen Sie eine Drei, eine Acht, eine rote und eine braune Karte. Der raffinierte Psychologe lässt Sie die Karten ein paar Sekunden lang betrachten und stellt Ihnen dann eine Frage. Nehmen wir an, er sagt: »Ich habe einen ganzen Stapel von diesen Karten, und es gilt nur eine Regel. Wenn eine Karte auf der einen Seite eine gerade Zahl zeigt, muss sie auf der anderen Seite rot sein. Welche Karte oder Karten müssen Sie umdrehen, um zu beweisen, dass ich lüge?«

Haben Sie die Karten noch im Gedächtnis? Drei, Acht, rot, braun. Welche müssen Sie umdrehen?

Unter den psychologischen Experimenten zählt diese Aufgabe zu den einfachsten. Mit logischem Denken kommt man der Antwort leicht auf die Spur. Doch als der Psychologe Peter Wason diesen Test im Jahr 1977 durchführte, erzielten weniger als 10 Prozent der Befragten das richtige Ergebnis. Auf Wasons Karten waren zwar statt Farben Vokale zu sehen, jedoch bewiesen auch spätere Experimente mit farbigen Karten, dass die meisten Menschen mit der Lösung dieser Aufgabe überfordert waren.

Welche Antwort hätten Sie gegeben? Hätten Sie sich für die Drei und die rote Karte entschieden oder allein die Acht und die braune Karte gewählt, gehören Sie zu den 90 Prozent der Menschen, die von der Aufgabe in die Irre geführt werden. Wenn Sie die Drei umdrehen und die Rückseite der Karte ist rot oder braun, beweist das gar nichts. Sie erfahren nichts Neues. Wenn Sie die rote Karte wenden und eine ungerade Zahl erscheint, bedeutet das keinen Regelverstoß. Die einzig richtige Antwort besteht darin, sowohl die Acht als auch die braune Karte umzudrehen. Ist die Rückseite der Acht rot, bestätigt das zwar die Regel, erbringt aber noch keinen Beweis, dass diese auch in anderen Fällen eingehalten wird. Ist die braune Karte mit einer ungeraden Zahl kombiniert, gewinnen Sie keine neuen Erkenntnisse. Zeigt sie aber eine gerade Zahl, widerlegen Sie die Behauptung des Psychologen. Nur die Acht und die braune Karte liefern die richtige Antwort. Und sobald man diese Lösung kennt, erscheint sie offensichtlich.

Was könnte einfacher sein als vier Karten und eine einzige Regel? Wenn 90 Prozent aller Menschen diese Aufgabe nicht lösen können, wie gelang es der Menschheit dann, Rom zu erbauen und einen Impfstoff gegen Kinderlähmung zu entwickeln? Genau das ist Thema dieses Buches: Der Mensch neigt von Natur aus dazu, in bestimmten Bahnen zu denken, und unsere Umwelt ist das Ergebnis dieser Prägung.

Wenn Sie die Zahlen und Farben auf den Karten durch eine typische Alltagssituation ersetzen, wird der Test viel einfacher. Nehmen wir an, der Psychologe kehrt zurück und sagt diesmal: »Sie befinden sich in einer Bar und dem Gesetz nach dürfen Sie erst Alkohol trinken, wenn Sie über 18 Jahre alt sind. Bei jeder dieser vier Karten ist auf der einen Seite der Name eines Getränks aufgedruckt und auf der anderen das Alter der Person, die es bestellt hat. Welche der vier Karten müssen Sie umdrehen, um festzustellen, ob der Besitzer der Bar sich an das Gesetz hält?« Dann gibt der Psychologe Ihnen vier Karten, auf denen steht:

21 – Bier – Cola – 17

Nun ist die Aufgabenstellung viel klarer. Die Cola verrät Ihnen gar nichts, und die 21 auch nicht. Wenn der 17-jährige Alkohol trinkt, verstößt der Barbesitzer gegen das Gesetz. Konsumiert der Junge aber ein alkoholfreies Getränk, müssen Sie das Alter des Biertrinkers überprüfen. Schon haben Sie die zwei Karten, die Sie umdrehen müssen – Bier und 17. Unserem Gehirn fällt es leichter, die Welt in bestimmten Zusammenhängen, zum Beispiel in sozialen Konstellationen zu betrachten, statt sich in abstrakten Bezugsrahmen wie denen von Logikrätseln zu orientieren.

Dieser Sachverhalt wird Ihnen in diesem Buch immer wieder begegnen – zusammen mit Erklärungen und Analysen. Die von Wason gestellte Aufgabe ist ein Beispiel dafür, wie schlecht es um Ihr logisches Denken bestellt ist. Gleichzeitig prägen Sie viele Überzeugungen, die zwar auf dem Papier gut aussehen, sich in der Praxis aber schnell in Wohlgefallen auflösen. Das Scheitern dieser Überzeugungen gestehen Sie sich meist nicht ein. Sie sind von einem tiefen Bedürfnis erfüllt, recht zu haben, und dem noch größeren Wunsch, sich selbst  Ihre Moral und Ihr Verhalten  in einem positiven Licht zu sehen. Um diese Ziele zu erreichen, können Sie Ihren Verstand in beträchtlichem Maße verbiegen.

Die drei Hauptthemen dieses Buches sind kognitive Verzerrung, Heuristiken und Fehlschlüsse. Das sind Arbeitsweisen Ihres Gehirns, die Ihnen ähnlich wie Ihre Organe unter optimalen Bedingungen gute Dienste leisten. Leider bietet uns das Leben jedoch nicht immer optimale Bedingungen. Dank der garantierten Existenz und Vorhersehbarkeit dieser typisch menschlichen Denkweisen sind Schwindler, Zauberkünstler, Werbetreibende und Verkäufer aller möglichen pseudowissenschaftlichen Heilmittel seit Jahrhunderten gut im Geschäft. Erst als die Psychologie begann, menschliches Verhalten mit streng wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, konnte man diese Selbsttäuschungen in Kategorien einteilen und quantifizieren.

Als kognitive Verzerrung werden vorhersehbare Denk- und Verhaltensmuster bezeichnet, die Sie zu falschen Schlussfolgerungen führen. Diese ärgerlichen und inkorrekten Sichtweisen sind allen Menschen von Geburt an eingeimpft, sodass wir sie kaum wahrnehmen. Sie dienen vor allem dazu, Ihr Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu sichern und Sie davon abzuhalten, sich selbst als Dummkopf zu erachten. Die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbilds scheint für uns Menschen so wichtig zu sein, dass wir mentale Mechanismen entwickelt haben, die es uns erlauben, uns großartig zu fühlen. Kognitive Verzerrung führt zu fragwürdigen Entscheidungen, mangelndem Urteilsvermögen und absonderlichen Erkenntnissen, die oft völlig falsch sind. So neigen Sie beispielsweise dazu, nach Informationen zu suchen, die Ihre Überzeugungen bestätigen, und Informationen zu ignorieren, die diese infrage stellen. Dieses Phänomen bezeichnet man als Bestätigungsfehler. Die Bücher in Ihren Regalen und die Lesezeichen in Ihrem Webbrowser sind Ergebnis dieser Tendenz.

Heuristiken sind verkürzte kognitive Operationen, die wir bei der Lösung alltäglicher Probleme anwenden. Sie beschleunigen den Prozess, zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, lassen uns aber manchmal so schnell denken, dass wir Wichtiges außer Acht lassen. Anstatt den langen Weg zu gehen und genau zu überlegen, welches die beste Vorgehensweise oder der logischste Gedankengang wäre, wenden wir kognitive Heuristiken an, um in Rekordzeit zu einem Ergebnis zu gelangen. Manche Heuristiken sind angelernt, andere sind uns von Geburt an zu eigen. Solange sie funktionieren, helfen sie unserem Gehirn, ressourcensparend zu arbeiten. Funktionieren sie nicht, lassen sie uns die Welt stark vereinfacht wahrnehmen. Wenn Ihnen zum Beispiel auffällt, dass in den Nachrichten vermehrt über Haiangriffe berichtet wird, gelangen Sie zu der Schlussfolgerung, dass bei Haien aggressives Verhalten überhandnimmt. Tatsächlich wissen Sie aber nur mit Sicherheit, dass die Anzahl an Medienberichten über Haiattacken gestiegen ist.

Fehlschlüsse sind wie mathematische Textaufgaben, bei denen Sie einen Arbeitsschritt überspringen oder aus dem Konzept kommen, ohne es zu merken. Es sind mentale Argumentationsketten, mit deren Hilfe Sie zu einer Schlussfolgerung gelangen, ohne alle Fakten zu berücksichtigen –­­ entweder weil Sie sie nicht hören wollen oder weil Sie kein Bewusstsein dafür haben, wie begrenzt Ihre Informationen sind. Das macht Sie zu einem schlechten Detektiv. Fehlschlüsse können aber auch auf Wunschvorstellungen basieren. Manchmal wenden Sie Logik auf falsche Voraussetzungen an, manchmal betrachten Sie die Wahrheit nicht folgerichtig. Wenn Sie zum Beispiel hören, dass Albert Einstein es ablehnte, Rührei zu essen, folgern Sie vielleicht daraus, dass Rührei für Sie schädlich sein könnte. Diese Denkweise bezeichnet man als Autoritätsargument. Sie gehen davon aus, dass ein hochintelligenter Mensch stets nur richtige Entscheidungen trifft. Vielleicht hatte Einstein aber auch nur einen ganz besonderen Geschmack.

Jedes Kapitel dieses Buches wird Ihnen dazu verhelfen, sich selbst mit neuen Augen zu sehen. Sie werden zu dem Schluss kommen, dass Sie einer ganzen Menge Irrtümern unterliegen. Aufgrund kognitiver Verzerrung sowie zahlloser Heuristiken und Fehlschlüsse betrügen Sie sich in jeder Minute selbst, um mit der Realität zurechtzukommen.

Aber machen Sie sich keine Sorgen: Die Lektüre wird Ihnen Spaß machen.

1

Priming

DER IRRGLAUBE: Sie wissen genau, wann Sie beeinflusst werden und wie sich das auf Ihr Verhalten auswirkt.

DIE WAHRHEIT: Sie nehmen die ständige Manipulation durch Überzeugungen, die in Ihrem Unterbewussten entstehen, überhaupt nicht wahr.

Auf dem Nachhauseweg vom Lebensmittelladen fällt Ihnen ein, dass Sie vergessen haben, den Spinat-Dip zu kaufen, der der eigentliche Anlass für die Einkaufsfahrt war. Vielleicht könnten Sie den noch an der Tankstelle holen. Ach was, Sie kaufen ihn einfach beim nächsten Mal. Das Nachdenken über den Dip mündet in ein Sinnieren über die Benzinpreise, was Sie wiederum zu Grübeleien über Ihre Lebenshaltungskosten bringt und zu der Frage, ob Sie sich einen neuen Fernseher leisten können. Das erinnert Sie an den Tag, an dem Sie sich eine komplette Staffel von Battlestar Galactica am Stück angesehen haben … Und plötzlich stehen Sie vor Ihrer Haustür und können sich an keine Sekunde der Wegstrecke erinnern.

Sie sind in einem Zustand der Autobahntrance nach Hause gefahren, bei dem Körper und Geist nebeneinanderher zu schweben scheinen. Als Sie das Auto anhielten und den Schlüssel abzogen, wurden Sie jäh aus einem traumähnlichen Zustand aufgeschreckt, der auch als Fließbandhypnose bezeichnet wird – in Anlehnung an die Dissoziation der Wahrnehmung, die ein Fabrikarbeiter bei seiner immer gleichen Tätigkeit erlebt. In solchen Situationen schweift unser Bewusstsein ab: wir schalten eine mentale Aufgabe auf Autopilot und beschäftigen uns gedanklich mit interessanteren Dingen.

Sie teilen Ihr subjektives Erleben ständig zwischen Bewusstem und Unbewusstem auf, auch in diesem Moment: Sie atmen, blinzeln, schlucken, erhalten Ihre Körperstellung aufrecht und den Mund geschlossen, während Sie lesen. Sie können diese Aktionen gezielt der Kontrolle Ihres Bewusstseins unterstellen oder sie dem vegetativen Nervensystem überlassen. Sie können kreuz und quer durchs Land fahren und dabei ganz bewusst die Position Ihres Fußes auf dem Gaspedal verändern, Ihre Hände am Lenkrad bewegen und die Millionen winzig kleiner Entscheidungen treffen, die notwendig sind, um bei hoher Geschwindigkeit einem Tod im Autowrack zu entgehen. Sie können aber auch mit Ihren Freunden ein Lied singen und diese banalen Tätigkeiten einer anderen Region Ihres Gehirns überlassen. Sie erkennen das Unbewusste als einen sonderbaren Bestandteil des menschlichen Erlebens an, betrachten es aber als separate Einheit – als unterhalb Ihres Bewusstseins existierendes Ur-Ich, das keine Schlüssel für Ihr Auto hat.

Die Wissenschaft sieht das anders.

Ein hervorragendes Beispiel für den großen Einfluss unseres Unterbewusstseins lieferten die Wissenschaftler Chen-Bo Zhong von der University of Toronto und Katie Liljenquist von der Chicagoer North­western University in einem Artikel, der 2006 in der Zeitschrift Science erschien. Die beiden Forscher führten eine Untersuchung durch, in der die Probanden gebeten wurden, sich an einen groben Fehltritt in ihrer Vergangenheit zu erinnern, an ein Verhalten, das in irgendeiner Art unmoralisch war. Die Teilnehmer wurden anschließend danach gefragt, wie sie sich angesichts dieser Erinnerung fühlten. Nun wurde der Hälfte der Versuchspersonen die Möglichkeit geboten, sich die Hände zu waschen. Am Ende des Tests wurden alle Probanden gefragt, ob sie dazu bereit wären, unentgeltlich an einem weiteren Forschungsprojekt teilzunehmen, um damit einem Doktoranden, der sich in einer schwierigen Lage befand, einen Gefallen zu tun. Von denjenigen, die sich vorher nicht die Hände gewaschen hatten, erklärten sich 74 Prozent dazu bereit, von den Teilnehmern mit »sauberen« Händen nur 41 Prozent. Nach Einschätzung der Wissenschaftler hatte sich die eine Probandengruppe unbewusst von ihrem schlechten Gewissen reingewaschen und sah sich deshalb weniger dazu veranlasst, für ihr Verhalten Buße zu tun.

In Wirklichkeit haben die Probanden ihre Gefühle natürlich nicht weggewaschen, geschweige denn diesen Vorgang bewusst als solchen wahrgenommen. Die Reinigung besitzt jedoch eine weitreichendere Bedeutung als bloße Körperhygiene. Laut Zhong und Liljenquist beziehen sich in den meisten Kulturkreisen die Vorstellungen von Reinheit und Sauberkeit beziehungsweise von Schmutz und Unrat sowohl auf den körperlichen als auch auf den moralischen Bereich. Waschungen spielen in vielen religiösen Ritualen eine Rolle und prägen Metaphern in unserer Alltagssprache. Auch niederträchtiges Verhalten als schmutzig und böse Menschen als Abschaum zu bezeichnen, ist geläufig. Unser Gesichtsausdruck ist der gleiche, wenn wir das Verhalten eines Menschen abstoßend finden oder wenn wir etwas Unappetitliches sehen. Unbewusst brachten die Teilnehmer an dem Experiment ihr Händewaschen mit all den Vorstellungen in Verbindung, die dieser Vorgang tragen kann, und diese Assoziationen beeinflussten ihr Verhalten.

Wenn ein Reiz aus der Vergangenheit Sie in Ihrem späteren Denken und Verhalten oder in Ihrer Wahrnehmung eines neuen Reizes beeinflusst, so bezeichnet man das als Priming. Jede Wahrnehmung – egal ob bewusst oder unbewusst – setzt in Ihrem neuronalen Netzwerk eine Assoziationskette in Gang. Wenn Sie einen Bleistift sehen, denken Sie an Kugelschreiber oder Füller. Beim Anblick einer Tafel denken Sie an ein Klassenzimmer. Solche Assoziationen laufen in Ihrem Gehirn ständig ab und wirken sich auf Ihr Verhalten aus, auch wenn Ihnen das gar nicht bewusst ist.

Eine der vielen Studien, die zeigen, welchen Einfluss Ihr Unterbewusstsein auf Ihr Denken hat und wie leicht Sie sich durch Priming beeinflussen lassen, wurde im Jahr 2003 von Aaron Kay, Christian Wheeler, John Bargh und Lee Ross durchgeführt. Die Testpersonen wurden in zwei Gruppen eingeteilt und gebeten, zwischen Fotos und beschreibenden Texten Linien zu ziehen. Einer der beiden Gruppen wurden Fotos mit neutralen Motiven vorgelegt: Die Teilnehmer zogen auf einem Blatt Papier Linien zwischen Bildern von Drachen, Walen, Truthähnen und anderen Objekten und den Beschreibungen. Die zweite Gruppe verband Texte mit Abbildungen von Aktenkoffern, Füllfederhaltern und anderen Gegenständen aus der Geschäftswelt. Dann wurden die Probanden in separate Zimmer geführt. Es wurde Ihnen mitgeteilt, jedem von ihnen sei eine zweite Testperson als Partner zugeteilt worden. Dieser »Partner« war jedoch vorher in das Experiment eingeweiht worden. Man kündigte den Versuchsteilnehmern an, Sie würden jetzt an einem Spiel teilnehmen, bei dem es bis zu zehn Dollar zu gewinnen gebe. Die Versuchsleiter überreichten jedem Probanden eine Tasse und erklärten ihnen, dass sich in der Tasse zwei Zettel befänden. Auf dem einen stehe das Wort »Angebot«, auf dem anderen »Entscheidung«. Die Probanden wurden vor die Wahl gestellt, entweder blind einen Zettel aus der Tasse zu ziehen oder es dem Partner zu überlassen, blind zu losen. Und der Trick dabei? Derjenige, der den Zettel mit der Aufschrift »Angebot« zog, bekam die 10 Dollar und durfte bestimmen, wie das Geld zwischen den beiden Partnern aufgeteilt werden sollte. Die andere Person konnte dieses Angebot entweder annehmen oder ablehnen. Wies sie das Angebot zurück, bekam keiner der beiden Teilnehmer irgendeinen Betrag. Dieses als »Ultimatumspiel« bekannte Experiment ist dank seiner Vorhersagbarkeit bei Psychologen und Wirtschaftswissenschaftlern sehr beliebt. Angebote, die unter 20 Prozent des Gesamtbetrags liegen, werden normalerweise abgelehnt.

Die meisten Probanden entschieden sich dafür, den Zettel selbst aus der Tasse zu ziehen. Sie wussten nicht, dass in Wirklichkeit beide Zettel mit der Aufschrift »Angebot« versehen waren. Überließen Sie dem Partner die Wahl, tat dieser so, als habe er die Variante »Entscheidung« gezogen. Also standen alle Versuchsteilnehmer vor der Herausforderung, ihrem Partner ein akzeptables Angebot zu unterbreiten, wohl wissend, dass sie bei misslingender Offerte ein Geldgeschenk verpassen würden. Die Ergebnisse dieses Experiments waren kurios, bestätigten die Wissenschaftler aber in ihren Theorien über das Phänomen des Priming.

Wie unterschieden sich also die beiden Gruppen? Von den Probanden, die im Ultimatumspiel neutrale Fotos mit Texten verbunden hatten, entschieden sich 91 Prozent dafür, das Geld gleichmäßig aufzuteilen – 5 Dollar pro Person. Aus der Gruppe, die mit Bildern aus dem Geschäftsleben gearbeitet hatte, waren nur 33 Prozent der Teilnehmer zu einer gerechten Teilung bereit. Alle anderen versuchten, ein wenig mehr für sich zu behalten.

Die Wissenschaftler wiederholten das Experiment mit realen Gegenständen statt der Fotos. Eine Gruppe Probanden spielte das Ultimatumspiel in einem Raum mit einem Tisch, auf dem am hinteren Ende eine Aktentasche und eine Ledermappe lagen, vor jedem Probanden befand sich ein Füllfederhalter. Die andere Gruppe war von neutralen Gegenständen umgeben: einem Rucksack, einem Pappkarton und einem hölzernen Bleistift. Diesmal waren 100 Prozent der Teilnehmer aus der Gruppe mit den neutralen Gegenständen und nur 50 Prozent der Probanden aus dem Raum mit den auf das Geschäftsleben bezogenen Objekten zu einer ausgewogenen Verteilung des Geldes bereit: Die Hälfte der Versuchspersonen, deren Priming in Richtung Geschäftswelt ausgerichtet war, versuchte ihren Partner zu übervorteilen.

Alle Versuchsteilnehmer wurden anschließend befragt, warum sie sich so verhalten hatten. Dabei erwähnte keiner die Gegenstände in dem jeweiligen Raum. Stattdessen begannen die Probanden zu plaudern und erläuterten den Versuchsleitern ihre Vorstellungen von Fairness. Einige beschrieben ihren Eindruck von ihrem Spielpartner und gaben an, sie hätten sich von diesen Gefühlen leiten lassen.

Allein die Präsenz von Aktentaschen und schicken Füllfederhaltern hatte das Verhalten normaler, rational denkender Menschen verändert. Sie waren konkurrenzorientierter und habgieriger geworden, ohne zu wissen, warum. Als sie dazu aufgefordert waren, sich zu erklären, begründeten sie ihre Handlungsweise mit völlig unzutreffenden Argumenten, von deren Gültigkeit sie jedoch überzeugt waren.

Die Wissenschaftler führten das Experiment auch noch in anderen Varianten durch. Zum Beispiel ließen Sie Probanden Wörter vervollständigen, bei denen einige Buchstaben fehlten. Dabei ergänzten Versuchsteilnehmer, die zuvor Bilder aus dem Geschäftsleben gesehen hatten, Buchstabenkombinationen wie »K–n–renz« in 70 Prozent aller Fälle zu »Konkurrenz«, während dies nur 42 Prozent der Teilnehmer aus der neutralen Gruppe taten. Wurde den Versuchspersonen eine mehrdeutige Gesprächssituation zwischen zwei Männern vorgeführt, die versuchten, zu einer Einigung zu gelangen, werteten die Probanden, die vorher auf die Geschäftswelt bezogene Fotos gesehen hatten, die Unterhaltung als Verhandlung. Die »neutrale« Gruppe dagegen deutete sie als Bestreben, einen Kompromiss herzustellen. In beiden Fällen wurde die Denkweise der Teilnehmer durch unbewusstes Priming beeinflusst.

Fast jeder Gegenstand, den Sie sehen, löst in Ihrem Gehirn blitzartig eine Reihe von Assoziationen aus … Anders als für einen Computer, der mit zwei Kameras ausgestattet ist, ist die Realität für Sie kein Vakuum, in dem Sie ihre Umgebung objektiv überblicken. Sie konstruieren sich die Realität von Minute zu Minute aus Erinnerungen und Emotionen, die Ihre Wahrnehmung und Ihr Denken umkreisen. So entsteht ein einer Collage vergleichbares Bewusstsein, das nur in Ihrem Kopf existiert. Manche Gegenstände haben eine persönliche Bedeutung für Sie, zum Beispiel der Ring, den Ihr bester Schulfreund Ihnen einst geschenkt hat, oder die selbst gestrickten Fausthandschuhe, die Sie als Kind von Ihrer Schwester bekamen. Andere Objekte besitzen eine kulturelle oder universale Bedeutung, wie beispielsweise der Mond oder ein Messer oder ein Blumenstrauß. Alle Gegenstände üben Einfluss auf Sie aus, egal, ob Sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Manchmal laufen diese Prozesse in solch entlegenen Winkeln Ihres Gehirns ab, dass Sie gar nichts davon mitbekommen.

In einer anderen Version des Experiments wurde nur mit Gerüchen gearbeitet. Im Jahr 2005 forderte Heank Aarts von der Universität Utrecht Probanden auf, einen Fragebogen auszufüllen. Als Belohnung erhielten sie einen Keks. Eine Teilnehmergruppe saß in einem Raum, in dem ein leichter Geruch von Putzmitteln hing, während die anderen Probanden keinerlei Gerüchen ausgesetzt waren. Diese Teilnehmer der Gruppe, bei der ein Priming durch den Geruch von »Sauberkeit« erfolgt war, räumten nach dem Ultimatumspiel ihre Plätze dreimal so häufig auf als die andere.

In einer Studie von Ron Friedman, in der Testpersonen Flaschen mit Sportgetränken beziehungsweise mit Wasser gezeigt wurden, ohne dass sie daraus trinken durften, schnitten diejenigen, die Sportgetränke gesehen hatten, bei Aufgaben, die körperliche Ausdauer erforderten, besser ab.

Priming funktioniert am besten, wenn man gerade nicht nachdenkt – wenn man nicht versucht, bewusst zu reflektieren, welches die beste Verhaltensweise wäre. Sind Sie sich unsicher, wie Sie zu verfahren haben, steigen aus der Tiefe Ihres Unterbewusstseins Ideen auf, die stark durch Priming beeinflusst sind. Außerdem hasst Ihr Gehirn Unklarheit und nimmt gerne Abkürzungen, um sich aus einer solchen Situation zu befreien. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, arbeitet es anhand dessen, was ihm gerade zur Verfügung steht. Wenn Ihre Mustererkennung versagt, erschaffen Sie sich eigene Muster. In den beschriebenen Experimenten standen dem Gehirn keine weiteren Impulse für seine unbewusste Verarbeitung zur Verfügung, also orientierte es sich an den Vorstellungen, die die Gegenstände aus der Geschäftswelt oder der saubere Geruch hervorriefen.

Man kann sich nicht selbst primen – jedenfalls nicht direkt. Priming muss unbewusst erfolgen. Genauer gesagt muss es in einem Bereich stattfinden, der in der Psychologie als adaptives Unbewusstes bezeichnet wird und der uns selbst höchst unzugänglich ist. Wenn Sie Auto fahren, führt Ihr adaptives Unbewusstes Millionen von Berechnungen durch, sieht jeden Moment voraus, passt Ihre Gefühlsregungen und Ihr Verhalten daran an und steuert Ihre Bewegungen. Es erledigt die harte Arbeit und schafft Ihrem Bewusstsein Raum, sich auf die wichtigen Entscheidungen zu konzentrieren. In Ihnen sind zu jeder Zeit zwei Kräfte am Werk: das übergeordnete rationale Ich und das untergeordnete emotionale Ich.

Der Wissenschaftsautor Jonah Lehrer beschäftigt sich in seinem Buch Wie wir entscheiden ausführlich mit dieser Trennung. Für Lehrer sind die beiden Ichs einander ebenbürtig: Sie kommunizieren miteinander und verhandeln, was zu tun ist. Einfache Aufgaben mit unbekannten Variablen lassen sich am besten mit dem Verstand lösen. Es müssen simple Problemstellungen sein, da der bewusste, rationale Teil Ihres Denkens nur mit vier bis neun Informationen gleichzeitig umgehen kann. Sehen Sie sich zum Beispiel die folgende Buchstabenreihe an und sagen Sie sie dann aus dem Gedächtnis laut auf: RKFBISPDCBSUDSSR. Sofern Sie nicht über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, ist das eine wirklich schwierige Aufgabe. Unterteilen Sie nun die Kette in kleine Gruppen, etwa folgendermaßen: RK FBI SPD CBS UDSSR. Wenden Sie Ihren Blick wieder vom Buch ab und versuchen Sie die Buchstaben aufzusagen. Diesmal sollte es Ihnen leichter fallen, denn Sie haben 16 Informationen auf fünf reduziert. Im Alltag portionieren Sie ständig auf diese Weise, um Ihre Welt besser analysieren zu können. Sie reduzieren den Ansturm vielfältigster Eindrücke auf ein Stenogramm der Realität. Aus diesem Grund war auch die Erfindung der Schrift ein so bedeutender Schritt in der Menschheitsgeschichte – sie ermöglicht es uns, Notizen zu machen und außerhalb der begrenzten Kapazität unserer Ratio Daten zu speichern. Ohne Hilfsmittel wie Stifte, Computer und Rechenschieber ist unser Verstand massiv beeinträchtigt.

Nach Jonah Lehrer ist unser emotionales Gehirn älter und hat folglich eine längere Entwicklung durchlaufen als das rationale Gehirn. Es eignet sich besser für schwierige Entscheidungen und die automatische Koordination von komplexen Bewegungsabläufen wie dem Saltoschlagen, dem Breakdancing, der Einhaltung von Tonfolgen beim Singen oder dem Mischen von Spielkarten. Diese Tätigkeiten scheinen einfach, beinhalten aber für Ihr rationales Gehirn zu viele Arbeitsschritte und Variablen. Also werden diese Aufgaben von Ihrem adaptiven Unbewussten durchgeführt. Tiere, die nur eine kleine oder gar keine Großhirnrinde besitzen, erledigen fast alles automatisch, da sie größtenteils oder vollständig von ihrem emotionalen Gehirn geleitet werden. Das emotionale Gehirn, das Unbewusste, ist alt, einflussreich und in gleichem Maße Teil Ihrer Persönlichkeit wie das rationale Gehirn. Allerdings lässt sich seine Tätigkeit nicht direkt beobachten oder an das Bewusstsein kommunizieren. Das emotionale Gehirn produziert hauptsächlich Intuitionen und Gefühle. Es ist jedoch ständig präsent und wirkt im Hintergrund bei den mentalen Prozessen mit. Lehrers zentrale Aussage lautet: »Sie wissen mehr, als Sie wissen.« Sie unterliegen dem Trugschluss, allein Ihr rationales Gehirn übe die Kontrolle aus, tatsächlich aber nimmt Ihr Verstand die Beeinflussung durch das Unterbewusstsein gar nicht wahr. Deshalb möchte ich in diesem Buch noch eine weitere Behauptung aufstellen: »Es ist Ihnen nicht bewusst, wie wenig Ihnen bewusst ist.«

In der verborgenen Region Ihres Unbewussten werden Ihre Erlebnisse ständig durchleuchtet, um Ihrem Bewusstsein Anhaltspunkte zu liefern. Deshalb können Sie sich in vertrauten Situationen auf Ihre Intuition verlassen. Bei neuen Erfahrungen müssen Sie dagegen auf Ihren Verstand zurückgreifen. Auf einer langen Fahrt werden Sie sofort aus dem Zustand der Autobahntrance gerissen, wenn Sie eine Ausfahrt nehmen, die Sie in ein für Sie fremdes Gebiet führt. Gleiches gilt für alle anderen Bereiche Ihres Lebens. Sie driften ständig zwischen Emotion und Verstand, Automatismen und bewussten Entscheidungen hin und her.

Ihr wahres Ich ist ein viel größeres und komplexeres Konstrukt, als Ihnen bewusst ist. Da Ihr Verhalten das Ergebnis von Priming und von Vorschlägen aus Ihrem adaptiven Unbewussten ist, erfinden Sie häufig Geschichten, um Ihre Gefühle, Entscheidungen und Gedankengänge zu erklären. Schließlich wissen Sie ja nicht, dass der unbekannte Souffleur in Ihrem Kopf Ihnen ständig Ratschläge zuflüstert.

Wenn Sie einen geliebten Menschen umarmen und dabei wohlige Gefühle in Ihnen aufsteigen, dann haben Sie eine bewusste Handlung ausgeführt, die den älteren Teil Ihres Gehirns dazu veranlasst, angenehme Botenstoffe auszuschütten. Diese Beeinflussung des Unbewussten durch das Bewusste ist nachvollziehbar und erscheint nicht als beunruhigend.

Umgekehrt mutet die Beeinflussung des Bewussten durch das Unbewusste seltsam an. Wenn Sie sich geldgieriger als gewohnt verhalten, nur weil Sie neben einem Aktenkoffer sitzen, ist das so, als würden die Entscheidungszentren in Ihrem Gehirn versteckten Ratgebern zustimmen, die Ihnen ins Ohr flüstern. Da dies im Verborgenen geschieht, empfinden wir es als mysteriös und unheimlich. Menschen, die Sie beeinflussen möchten, wissen um dieses Gefühl und bemühen sich deshalb, Ihnen nicht den Eindruck zu vermitteln, Sie würden hinters Licht geführt. Priming funktioniert nur, wenn Sie sich dessen nicht bewusst sind, und Leute, deren Erfolg davon abhängt, Sie auf diese Weise zu manipulieren, geben sich große Mühe, Ihre Einflussnahme verborgen zu halten.

Spielkasinos beispielsweise sind Tempel des Priming. An jeder Ecke werden Besucher mit klingelnden Fanfaren und dem Klappern von Münzen beschallt – Symbole von Wohlstand und Überfluss. Auch die situativen Gegebenheiten werden perfekt genutzt: In den Räumen verrät keine Uhr die Tageszeit, es gibt keine Werbeplakate für Dinge, die nicht in diesem hermetischen Bereich sich wechselseitig begünstigender Priming-Faktoren erhältlich sind. Es besteht kein Anlass, den Ort zu verlassen, um zu schlafen, essen zu gehen oder irgendetwas anderes zu tun. Das Kasino lässt kein externes Priming zu.

Die Firma Coca-Cola entdeckte irgendwann einmal das ­Potenzial des Weihnachtsmanns als Priming-Faktor. Er lässt, während Sie sich zwischen einer Cola und einem anderen Softdrink entscheiden, in Ihrem Unterbewusstsein Erinnerungen an glückliche Kindertage und familiäre Werte aufsteigen. In Lebensmittelläden verzeichnete man eine Umsatzsteigerung, wenn den Kunden der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase stieg: Er veranlasste sie dazu, mehr Lebensmittel zu kaufen. Werden Produkte mit dem Zusatz »Bio« versehen oder mit Bildern idyllischer Bauernhöfe und Felder beworben, wecken sie in Ihnen Gedanken an die Natur statt an Fabriken und chemische Konservierungsstoffe. Rundfunk- und Fernsehgesellschaften beeinflussen ihre potenziellen Zuschauer und Zuhörer, indem sie sich ein bestimmtes Image, eine ganz spezielle Marke zulegen. So kommen sie Ihnen auf halbem Weg entgegen, noch ehe Sie Zeit haben, sich zu überlegen, wie Sie zu den von den Sendern produzierten Inhalten stehen und ob Sie diese überhaupt nutzen möchten. Produktionsfirmen investieren Millionen in Trailer und Plakate, um Ihnen einen ersten Eindruck zu vermitteln und eine bestimmte Stimmung heraufzubeschwören, die Sie den gesamten Film vom Vorspann an in vorgeprägter Weise genießen lassen soll. Restaurants achten bei der Gestaltung ihrer Inneneinrichtung darauf, alle möglichen Assoziationen von gehobener Küche bis zu psychedelischer Hippie-Kultur zu wecken, nur um Sie für den Genuss ihrer Käsesticks zu primen. In unserer modernen Welt starten Werbefachleute aus allen Ecken Angriffe auf Ihr Unbewusstes, um Ihr Verhalten so zu steuern, dass Sie für größere Umsätze sorgen.

Unternehmen haben das Phänomen des Primings noch vor den Psychologen entdeckt. Als jedoch die Psychologie begann, unser Denken zu analysieren, wurden immer mehr Beispiele für Automatismen entdeckt, und bis heute ist nicht klar, zu welchem Anteil unser Verhalten bewusst von uns gesteuert wird.

Die Frage, welche Instanz denn nun wirklich die Kontrolle ausübt, wurde durch eine Reihe von Studien, die John Bargh 1996 im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlichte, weiter verkompliziert.

John Bargh forderte Studenten der New York University auf, aus vorgegebenen Begriffen 30 jeweils aus fünf Wörtern bestehende Sätze zu bilden. Er gab vor, an ihren sprachlichen Fähigkeiten interessiert zu sein, tatsächlich diente das Experiment aber der Erforschung des Primings. Bargh teilte seine Probanden in drei Gruppen ein. Die erste bildete Sätze aus Wörtern, die mit Aggression und Unhöflichkeit assoziiert werden, beispielsweise »frech«, »stören« und »unverfroren«. Der zweiten Gruppe wurden »höfliche« Begriffe wie »zuvorkommend« und »wohlerzogen« an die Hand gegeben. Eine dritte Kontrollgruppe arbeitete mit Wörtern wie »fröhlich«, »vorbereiten« und »Bewegung«.

Die Leiter des Experiments erklärten den Studenten, wie die Aufgabe auszuführen war, und baten sie, nach der Erledigung zu ihnen zu kommen, um eine zweite Aufgabe ausgehändigt zu bekommen. Diese Aufforderung bildete den zentralen Bestandteil der Studie: Jeder Student, der auf einen Versuchsleiter zuging, fand diesen in einem Gespräch mit einem Schauspieler vor, der vortäuschte, bei der Bewältigung der Aufgabe des Sätzebildens Schwierigkeiten zu haben. Die Versuchsleiter ignorierten die Studenten so lange, bis diese das Gespräch unterbrachen oder zehn Minuten vergangen waren.

Das Ergebnis? Die Studenten aus der Gruppe mit den »höflichen« Wörtern warteten im Durchschnitt 9,3 Minuten lang, ehe sie das Gespräch unterbrachen. Teilnehmer aus der Gruppe mit neutralen Begriffen warteten 8,7 Minuten, jene, die mit »unhöflichen« Wörtern gearbeitet hatten, 5,4 Minuten. Zum Erstaunen der Versuchsleiter ließen über 80 Prozent der Probanden, die Sätze aus »höflichen« Begriffen gebildet hatten, die gesamten zehn Minuten verstreichen, während nur 35 Prozent der Teilnehmer aus der Gruppe mit den »unhöflichen« Begriffen das Gespräch nicht unterbrachen. Nach dem Experiment wurden die Probanden befragt und konnten nicht genau sagen, warum sie sich zum Warten oder Unterbrechen entschlossen hatten. Ihnen war diese Frage auch gar nicht in den Sinn gekommen, denn sie waren sich sicher, in ihrem Verhalten durch nichts beeinflusst worden zu sein. Die zuvor gebildeten Sätze hatten ihrer Meinung nach keinerlei Auswirkungen.

In einem zweiten Experiment bat Bargh die Teilnehmer, Sätze aus Begriffen zu bilden, die mit vorgerücktem Alter assoziiert werden, wie etwa »pensioniert«, »faltig« und »Bingo«. Anschließend stoppte er die Zeit, die die Probanden für den Weg den Korridor entlang zum Aufzug benötigten, und verglich sie mit dem Tempo, in dem die Teilnehmer vor dem Experiment den Studienraum aufgesucht hatten. Tatsächlich legten sie den Weg zum Lift um ein bis zwei Sekunden langsamer zurück. Genau wie bei den Versuchspersonen mit den »unhöflichen« Wörtern war auch bei dieser Gruppe durch die Bilder und Vorstellungen, die die aufs Alter bezogenen Begriffe hervorriefen, ein Priming erfolgt. Um sicherzugehen, dass die Verhaltensänderung tatsächlich auf Priming zurückzuführen war, wiederholte Bargh das Experiment noch einmal – mit den gleichen Ergebnissen. Ein drittes Mal führte er den Versuch mit einer Kontrollgruppe durch, die Sätze aus Begriffen bildete, die Traurigkeit suggerierten. Bargh wollte damit ausschließen, dass seine Probanden nicht deshalb langsamer liefen, weil sie die mit dem Alter assoziierten Begriffe deprimiert hatten. Erneut benötigte die »Altersgruppe« für den Weg zum Fahrstuhl am längsten.

Außerdem führte Bargh eine Studie mit weißen Teilnehmern durch, die an einem Computer langweilige Fragebögen ausfüllen mussten. Vor jedem Testabschnitt wurden auf den Bildschirmen ­13 Millisekunden lang Fotos von afroamerikanischen beziehungsweise weißen Männern eingeblendet – so kurz, dass die Versuchsteilnehmer diese nicht bewusst wahrnehmen konnten. Sobald sie einen Fragebogen beendet hatten, erschien eine Fehlermeldung, die besagte, dass die Aufgabe erneut durchzuführen sei. Die Probanden, denen man Bilder von Afroamerikanern gezeigt hatte, reagierten daraufhin schneller feindselig und frustriert als die Teilnehmer, die die weißen Gesichter gesehen hatten. Obwohl sich die Versuchspersonen nicht für rassistisch hielten und glaubten, keine negativen Klischees zu vertreten, waren diese Vorstellungen in ihren neuronalen Netzwerken verankert und veränderten durch Priming ihr Verhalten.

Untersuchungen zum Thema Priming deuten darauf hin, dass Ihnen selbst bei intensivem Nachdenken über die Ursachen Ihres eigenen Verhaltens viele (vielleicht sogar die meisten) Einflüsse entgehen. Priming funktioniert nicht, wenn Sie sich dessen gewahr sind. Gleichzeitig können Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht auf sämtliche Impulse aus Ihrer Umgebung richten. Ein großer Teil dessen, was Sie denken, fühlen, tun und glauben, wurde Ihnen durch unbewusstes Priming eingegeben – durch Wörter, Farben, Gegenstände, Personen oder andere Dinge, die entweder aus Ihrem persönlichen Leben oder aus dem Kulturkreis, mit Sie sich identifizieren, mit einer bestimmten Bedeutung gespeist wurden. Und das wird auch in Zukunft so sein. Manche dieser Priming-Prozesse sind unbeabsichtigt, manchmal steckt aber auch jemand dahinter, der Ihr gesundes Urteilsvermögen manipulieren möchte. Natürlich können Sie den Spieß auch umdrehen und selbst versuchen, andere Menschen zu beeinflussen. Zum Beispiel können Sie durch die Kleidung, die Sie bei einem Vorstellungsgespräch tragen, Ihren potenziellen Arbeitgeber primen. Oder Sie können durch das Ambiente, das Sie für Ihre Party schaffen, die Stimmung Ihrer Gäste beeinflussen. Sobald Sie wissen, dass Priming ein unausweichlicher Bestandteil unseres Lebens ist, beginnen Sie die Macht und Unverwüstlichkeit bestimmter Rituale und Zeremonien, Normen und Ideologien zu verstehen. Systeme, die dem Zweck des Primings dienen, überdauern, weil sie funktionieren. Sie können schon morgen damit beginnen, durch ein Lächeln oder ein Dankeschön die Gefühle Ihrer Mitmenschen zu beeinflussen – hoffentlich mit positivem Resultat.

Vergessen Sie nicht: Sie sind am empfänglichsten für Suggestionen, wenn Ihr Gehirn auf »Autopilot« umgeschaltet hat oder wenn Sie sich in einer ungewohnten Situation befinden. Wenn Sie eine Einkaufsliste mitnehmen, ist die Gefahr geringer, dass Sie mit einem Wagen zur Kasse gehen, in dem lauter Dinge liegen, die Sie gar nicht kaufen wollten. Wenn Sie Ihr Lebensumfeld vernachlässigen und Chaos und Unordnung einziehen lassen, wird das auch auf Sie selbst Einfluss ausüben und vielleicht weitere Nachlässigkeiten nach sich ziehen. Positive Feedbackschleifen sollten Ihr Leben verbessern, nicht beeinträchtigen. Sie können sich zwar nicht selbst durch Priming manipulieren, aber Sie können Ihr Umfeld so gestalten, dass es den mentalen Zustand fördert, den Sie erreichen möchten. Nach dem Muster des Aktenkoffers auf dem Tisch oder des sauberen Geruchs im Zimmer können Sie Ihr persönliches Umfeld mit Gegenständen füllen, die für Sie eine Bedeutung haben – oder aber Sie weisen der Idee, nur wenige Dinge zu besitzen, Bedeutung zu. Egal, wofür Sie sich entscheiden – Ihre Umgebung wird Sie vielleicht gerade dann beeinflussen, wenn Sie am wenigsten damit rechnen.