Aus dem Englischen
von Ulrike Becker
Verlag Antje Kunstmann
Für alle, die gerne im Zug lesen
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Vorwort
I: DER ZUG DER LEBENDEN TOTEN
1. Verona – Mailand
2. Mailand – Verona
II: ERSTER KLASSE, HOCHGESCHWINDIGKEIT
3. Verona – Mailand
4. Mailand – Florenz
III: BIS ANS ENDE DES LANDES
5. Mailand – Rom – Palermo
6. Crotone – Tarent – Lecce
7. Lecce – Otranto
Nachwort
Danksagung
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EIN ZUG IST EIN ZUG IST EIN ZUG, nicht wahr? Parallele Gleise quer durch die Landschaft, auf Stahl laufende Räder, Kraft und Fliehkraft der schweren Lok, die ihre Wagenschlange durch ein Gewirr von Weichen führt, in Tunnel hinein und wieder hinaus, während der Reisende knapp einen Meter über dem Erdboden sitzt und unbehelligt vom Wetter von einer Stadt zur nächsten rast, dabei ein Buch liest, mit Freunden plaudert oder einfach ein bisschen döst, jeder Verantwortung für Tempo oder Lenkung enthoben und von der Verpflichtung befreit, der Welt, durch die er sich bewegt, die sonst nötige Aufmerksamkeit zu schenken. So oder so ähnlich werden Bahnreisen wohl überall erlebt.
Nur in Indien ist es jedoch möglich, an der offenen Wagentür zu stehen, während der Zug ratternd und schwankend durch die sandige Ebene von Rajasthan fährt. Die elegante Melancholie des Hauptbahnhofs von Buenos Aires, von britischen Architekten in französischem Stil entworfen, mit Stahlbögen, die aus dem fernen Liverpool angeliefert wurden, erzählt viel über das heutige und das damalige Argentinien. Und mit Sicherheit lassen sich die Geschichte und der Zeitgeist von Thatchers und danach Blairs England weitgehend aus dem gegenwärtig chaotischen Zustand des überteuerten, ungeschickt privatisierten und insgesamt äußerst unglückseligen Eisenbahnsystems des Landes ablesen. Amerikas mangelnde Investitionen in sein Bahnsystem künden von einem Land, das gerne seine Rechtschaffenheit betont, aber eine krankhafte Abneigung dagegen hat, Auto und Flugzeug zugunsten einer ökologisch gesünderen und gemeinschaftsbewussteren Form der Mobilität aufzugeben.
Nach Italien kam die Eisenbahn im Jahre 1839, zunächst in Gestalt einer sieben Kilometer langen Schienenstrecke im Schatten des Vesuvs von Neapel bis Portici, gefolgt von vierzehneinhalb Kilometern von Mailand bis Monza im Jahre 1840. In Anlehnung an das englische railways prägten die Italiener den Begriff ferrovie, »Eisenwege«. Anders als die Engländer besaßen sie jedoch kaum Eisen für die Schienen, so gut wie keine Kohle, um die Züge anzutreiben, und nur einen Bruchteil der Nachfrage nach Fracht- und Personentransport, den in England die industrielle Revolution erzeugt hatte. Es war schwierig, die Züge zu füllen, und noch schwieriger, sie profitabel zu betreiben. Aber wenn das Geschäft schlecht lief, gab es ja noch die Politik. Der Prozess des Risorgimento, der das Ziel verfolgte, die separaten, oft fremd regierten Staaten der Halbinsel zu einer einzigen Nation zu vereinen, war in vollem Gange; alle beteiligten Parteien hatten verstanden, dass schnelle Kommunikationswege die Einigung fördern und später untermauern würden. Hinzu kamen militärische Erwägungen. Was war besser geeignet, um einen großen Trupp Männer von A nach B zu bringen als Lastwagen auf Schienen?
Der Bau von Bahnstrecken war also fast immer politisch motiviert, was wiederum die kommerzielle Seite des Unternehmens belastete. Nach der Einigung boten Debatten über den Verlauf strategisch wichtiger Strecken ein neues Schlachtfeld für den uralten campanilismo, den Kirchturmblick und ewigen Geist der Rivalität, der jede italienische Stadt glauben lässt, die Nachbarorte hätten sich gegen sie verschworen. Bei allem Idealismus und allen Streitereien hatten sich die Eisenbahngewerkschaften am Ende des 19. Jahrhunderts zu den größten und militantesten im ganzen Land entwickelt und sollten noch eine wichtige Rolle im Kampf zwischen Sozialismus und Faschismus spielen; nach dem Zweiten Weltkrieg standen sie im Mittelpunkt der Politik einer Regierung, die ihre Wähler zufriedenstellen wollte, indem sie nicht existente Stellen schaffte und großzügige Gehälter und Pensionen bezahlte. Mehr als einmal schon ist behauptet worden, dass man die gesamte Geschichte der Entwicklung des italienischen Nationalstaats anhand der Eisenbahnlinien erzählen könnte.
Doch dieses Buch ist weder ein Geschichtsbuch noch ein Reisebericht, obwohl es darin auch um die Geschichte und um das Reisen geht. Ich habe es auch nicht auf die gleiche Weise geplant und in Angriff genommen wie meine anderen Bücher über Italien. Ein paar erklärende Worte für den Reisenden, der soeben sein Ticket erstanden hat und zugestiegen ist, sind also angebracht.
Mein erster Blick auf Italien fiel durch ein Zugfenster. Das war in der Morgendämmerung eines Sommertags im Jahr 1974. Ich hatte auf der Fahrt durch Frankreich gedöst und wachte in der Nähe von Ventimiglia auf, als an der Côte d’Azur gerade der Morgen graute, während wir über Viadukte hinwegflogen und durch Tunnel rasten. Es war nicht das erste Mal, dass ich Palmen sah, aber eines der ersten Male. Ich war neunzehn und reiste allein mit einem Interrail-Ticket. Ich hatte zwei nette Mädchen aus Lancashire kennengelernt, die sich unbedingt die byzantinischen Mosaiken in Ravenna ansehen wollten, und schloss mich ihnen an, ohne mir darüber im Klaren zu sein, dass eine solche Reise quer durchs Land der italienischen Topografie und dem Verkehrsfluss komplett zuwiderlief; nur ein Masochist würde versuchen, mit dem Zug von Ventimiglia nach Ravenna zu gelangen.
Ein paar Tage später kaufte ich auf dem Bahnsteig von Santa Maria Novella in Florenz mit zwei deutschen Jungs eine Flasche Chianti von der Sorte, die in bauchigen Flaschen mit Bastmantel verkauft werden, fiel nach gerade mal zwei kräftigen Schlucken in Ohnmacht und wachte drei Stunden später im Gang eines Abend-Expresszugs nach Rom in einer Lache von Erbrochenem wieder auf. Es war die – gottlob längst vergangene – Zeit, als billiger Fusel mit allem Möglichen verschnitten wurde. Die folgende Nacht verbrachte ich mit dreißig bis vierzig anderen Reisenden im Schlafsack auf einem Stück Rasen vor dem Bahnhof Roma Termini, und während ich schlief, wurde mir mithilfe einer Rasierklinge mein Brustbeutel, den ich um den Hals trug, abgenommen; als ich aufwachte, waren meine Schuhe, mein Reiseführer und mein Pass weg, aber nicht meine Brieftasche, denn die hatte ich mir in die Unterhose gesteckt. An diesem Vormittag verbrannte ich mir auf dem heißen Asphalt die nackten Füße, während ich mich auf die erste von vielen bürokratischen Odysseen in diesem Land begab, das Jahre später mein Zuhause werden sollte. Von der Sprache kannte ich kein Wort. Das alles waren Initiationsriten; ich war mit dem Zug in meine italienische Zukunft katapultiert worden.
Inzwischen lebe ich seit dreißig Jahren in Italien. Es gibt Hochebenen und plötzliche Talfahrten; man biegt um eine Ecke und sieht unvermittelt das Land und die eigenen Erfahrungen mit ihm in einem völlig neuen Licht. Man kann es sich wie ein vierdimensionales Puzzle vorstellen; die üblichen drei Dimensionen plus die Zeit: Man wird niemals alle Teile zusammenfügen können, und sei es nur, weil ständig neue Tage hinzukommen, aber trotzdem erscheint das Bild von Jahr zu Jahr vollständiger und vor allem dichter und plausibler. Man wird nie ganz zum Einheimischen, aber man ist auch kein Fremder mehr. Genau wie ich meine Kenntnis der italienischen Literatur langsam von den Romanen Natalia Ginzburgs und Alberto Moravias, die ich las, um die Sprache zu lernen, indem ich jedes neue Wort unterstrich, auf die Meisterwerke von Svevo und Verga, Manzoni und Leopardi und weiter zurück in die Vergangenheit ausdehnte, bis ich schließlich bereit war für Dante und Boccaccio, so ist auch meine Kenntnis von le ferrovie italiane im Laufe der Zeit breiter, tiefer und intensiver geworden; es ist keine Frage des Mögens oder Nichtmögens mehr; diese Eisenbahnen sind wie Verwandte.
Zu Anfang war das Bahnreisen nichts als eine lästige Pflicht. 1992 gab ich meine Stelle als Sprachlehrer an der Universität von Verona auf, um einen karriereträchtigen Job an einer Universität in Mailand anzutreten. Da wir mit kleinen Kindern nicht in die Großstadt ziehen wollten, war ich dazu verdammt, zwei bis drei Mal wöchentlich zu pendeln. Damals hatte ich keine Ahnung, dass die italienische Eisenbahn zu der Zeit einen absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, und erst recht keine Vorstellung, warum das so war. Ich litt einfach, und natürlich lachte ich auch darüber, denn Lachen ist besser als Weinen und viel aufbauender. Aber oft genug genoss ich die Fahrten auch: denn mit dem Zug durch eine wunderschöne Landschaft zu rollen ist immer ein Vergnügen, und es fördert auf seltsame Weise das Lesen, das einen wesentlichen Teil meines Lebens ausmacht. Hinzu kam noch: Je tiefer man in ein Land eintaucht, desto mehr empfindet man jede neue Information, jedes Ereignis und jede Entdeckung als faszinierende Bestätigung oder als Herausforderung. Man fragt sich, wie passt diese merkwürdige Sache, die eben passiert ist, zu dem, was ich bereits über dieses Land weiß? Was einem im ersten Jahr trivial oder einfach ärgerlich vorkam, bereichert und verändert auf einmal das Gesamtbild.
Ich fing an, mir Notizen zu machen. Ich fing an zu glauben, dass jemand, der Italien verstehen möchte, damit anfangen könnte, das Fahrkartensystem der Bahn zu verstehen oder die Ansagen auf den Bahnsteigen in Venezia Santa Lucia und Roma Termini, die seltsame Betonung bestimmter Namen und die vollkommen unlogische Reihenfolge, in der die Informationen gegeben werden. 2005 bat mich die Zeitschrift Granta um einen Reisebericht, und mit ein bisschen Mogelei konnte ich meine Notizen verwenden, obwohl es sich dabei streng genommen nicht um Reiseberichterstattung handelte. Untypischerweise schrieb ich vier Mal so viel, wie verlangt wurde, 120 Seiten, viel zu viel für einen Zeitschriftenartikel, aber nicht ganz genug für ein Buch: Doch damals habe ich auch nicht an ein Buch gedacht; es machte mir einfach Spaß, viel mehr Spaß als erwartet, über die Eisenbahn und die Art, wie die Italiener sie betreiben, zu schreiben. Granta veröffentlichte ein Fragment meines Textes.
Sieben Jahre später haben sich die italienischen Züge stark verändert, Italien hat sich verändert, und ebenso Europa und die Welt. Vom Autor ganz zu schweigen. Letztes Jahr wandte ich mich dem Buch, das nicht ganz ein Buch war, wieder zu. Waren diese Seiten ganz einfach veraltet? Oder ließ sich der Unterschied zwischen dem, wie es damals war, und dem, wie es heute ist, benutzen, um etwas aufzuzeigen, das mich schon immer interessiert hat: dass sich der Nationalcharakter gerade dann am deutlichsten offenbart, wenn die Dinge, von denen man glaubte, sie würden sich nie ändern, sich schließlich doch ändern? Schaut man sich an, wie die Hochgeschwindigkeitszüge in Italien Einzug gehalten haben, während die Regionalbahnen stagnieren, oder mit welcher Selbstverständlichkeit in den Business-Class-Abteilen eines Frecciarossa von Mailand nach Rom Handys benutzt werden, oder wie das Fahrkartensystem auf Computer umgestellt wurde und wie die Furcht einflößenden alten Schaffner damit umgehen, oder reist man an der Südküste von Kalabrien und Apulien entlang und sieht, in welchem Ausmaß Geldmittel der Europäischen Union immer wieder, sinniger- oder unsinnigerweise, in die verlassenen Bahnstrecken gesteckt werden, dann offenbart sich ganz unbestreitbar die italienische Art, die Dinge zu handhaben.
Und genau die habe ich in diesem Buch einzufangen versucht.
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DIE ITALIENER PENDELN. Jedes Jahr im September erhalte ich von der Verwaltung der Mailänder Universität, an der ich unterrichte, einen Brief, in dem man mich daran erinnert, dass ich, da ich nicht in dieser Stadt wohne, für das kommende Jahr ein nullaosta beantragen muss. Dieses Papier, das vom Universitätsrektor persönlich unterzeichnet wird, besagt, dass mich nulla ostacola … nichts daran hindert, in Mailand zu arbeiten, obwohl ich im hundertsechzig Kilometer entfernten Verona wohne.
Was in aller Welt könnte mich daran hindern?
Nur Trenitalia, die Eisenbahn.
Wie so oft in Italien gibt es kein offizielles Formular zum Ausfüllen; man muss den Antrag selbst formulieren. Das kann beängstigend sein, wenn man kein Muttersprachler ist und die womöglich speziellen Floskeln und Anredeformen nicht kennt. Als Universitätsdozent will man schließlich nicht unbeholfen wirken.
»Und wenn ich das einfach ignoriere?«, habe ich mal einen Kollegen gefragt. »Es ist ja nur eine Formalität.«
Das war vor vielen Jahren, in den Neunzigern. Damals war ich noch naiv. Mir wurde erklärt, dass eine Formalität in Italien so etwas wie ein schlafender Vulkan ist. Jahrelang erscheint er harmlos, bis er einem plötzlich um die Ohren fliegt. Wenn ich also eines Tages im Unterricht einen Fehler mache oder bei einer heiß umstrittenen Fachbereichswahl den falschen Kandidaten unterstütze, könnte der Rektor plötzlich zu dem Schluss kommen, dass Trenitalia nicht so zuverlässig ist, als dass man in Verona wohnen und in Mailand arbeiten könnte. Genau wie in Italien manche Gesetze zur Buchführung oder zum Umgang mit Parteispenden urplötzlich rigoros durchgesetzt werden, aus Gründen, die nur wenig mit dem illegalen Verhalten einer bestimmten Person zu tun haben. Sage also nie nur eine Formalität.
Entmutigenderweise schlug mir derselbe Kollege, der mir mit der Analogie vom schlafenden Vulkan die Augen geöffnet hatte, zu einem späteren Zeitpunkt vor, mich auf eine freie Dozentenstelle in Lecce zu bewerben. Verstört wies ich darauf hin, dass Mailand zwar hundertsechzig Kilometer von Verona entfernt liegt, Lecce jedoch neunhundertsechzig. In dem Fall wäre das nullaosta mit Sicherheit keine reine Formalität mehr. »Es gibt einen Nachtzug von Verona nach Lecce«, wurde mir beschieden. »Kein Problem. Sie könnten zweimal in der Woche fahren. Oder die Woche über dort bleiben und am Wochenende nach Hause fahren.«
Es war ein ernst gemeinter Vorschlag. Hunderttausende Italiener machen es so. In Mailand habe ich Kollegen, die in Rom, Palermo oder Florenz leben. Ich habe Studenten, die jedes Wochenende heim nach Neapel oder Udine fahren. Tausende und Abertausende Reisekilometer werden so zurückgelegt. Die Italiener wohnen gern dort, wo sie wohnen – das heißt dort, wo sie geboren wurden –, bei Mamma und Papà. Von dort aus pendeln sie. Selbst wenn es dort keine Arbeit gibt, ist die Heimatstadt immer die beste aller Städte; ein dickes Netz aus Familienbanden und Bürokratie hält einen dort fest. Trenitalia verbindet diese Stadtstaaten. Das Unternehmen macht die Nation erst möglich und erlaubt ihr, zerstückelt zu bleiben, erlaubt den Menschen, ein Doppelleben zu führen. Nicht umsonst heißt die Holding-Gesellschaft Le Ferrovie dello Stato. Staatseisenbahn. Nulla ostacola.
WENN ICH RECHTZEITIG UM NEUN UHR morgens bei einem Seminar oder einer Prüfungskommissionssitzung in Mailand sein will, muss ich den Interregionale um 6.40 Uhr von Verona Porta Nuova nach Genova Piazza Principe erwischen. Das ist der Zug der lebenden Toten. Aber wenigstens blinken um sechs Uhr früh noch die meisten Ampeln der Stadt nur in Gelb. Man kommt voran. Man kann sogar anhalten und parken.
Veronas Hauptbahnhof wurde ebenso wie die Straßen drum herum und das nahe gelegene Stadion zur Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1990 umgebaut. Die Meisterschaft fand statt, ehe die Straßen fertig waren, und damit ging die Dringlichkeit, wenn nicht gar jegliches Interesse an der Fertigstellung verloren. Die großen Mannschaften von damals kamen nicht nach Verona. Ich erinnere mich vage, dass Belgien Uruguay schlug. An die Namen der anderen Mannschaften erinnere ich mich nicht. Ist irgendjemand hingegangen und hat zugeschaut? In all den Jahren, in denen ich später eine Dauerkarte fürs Stadion innehatte, hat nie jemand diese Spiele erwähnt. Aber das seinerzeit hastig entworfene Straßennetz wird uns noch Jahrzehnte erhalten bleiben, auch eine Unterführung in einer engen Kurve, die schon Dutzende das Leben gekostet hat, und ebenso der ansprechende Steinfußboden im Bahnhof Verona Porta Nuova. Er besteht aus kleinen dunklen, metamorphen Fliesen, bei denen sich eine auf Hochglanz polierte, fast spiegelnde Oberfläche mit grobkörnigen marmorierten Brauntönen abwechselt. Ausgesprochen stilvoll. Als in den frühen Neunzigerjahren der Tangentopoli-Skandal zur verschärften Bekämpfung politischer Korruption führte, wurde behauptet, der Bürgermeister und seine Kumpanen hätten im Zuge der Baumaßnahmen für die Fußballweltmeisterschaft in Verona einen Großteil der Aufträge an Freunde und Verwandte vergeben. Niemand ging dafür länger als ein paar Tage ins Gefängnis. Niemand fand, dass das ein besonders schlimmes Vergehen war.
Leider gibt es selbst morgens um Viertel nach sechs am Fahrkartenschalter eine unsäglich lange Schlange. Der ernsthafte Pendler braucht eine Dauerkarte. Aber welche Dauerkarte soll er nehmen? In England gibt es inzwischen unterschiedliche Karten für unterschiedliche Züge, die von unterschiedlichen Gesellschaften betrieben werden. Es herrschen der Wirrwarr und der Trubel der freien Marktwirtschaft, und um Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht zu bringen, sind die Karten zu verkehrsstarken und verkehrsschwachen Reisezeiten unterschiedlich teuer. Das ist ärgerlich, aber verständlich, und sehr angelsächsisch. In Italien sind die Komplikationen anders gelagert. Wer hier den wirklichen Durchblick haben will, müsste über die gesamte italienische Regierungs- und Sozialpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg im Bilde sein.
Zuallererst gilt, dass Zugfahrkarten billig sein müssen, und zwar offensichtlich billig. Dahinter steckt das Bedürfnis der Menschen, in der einen Stadt zu leben und in einer anderen zu arbeiten, verbunden mit der Tatsache, dass die italienischen Löhne und Gehälter zu den niedrigsten in Europa gehören. Ein Student muss es sich leisten können, jedes oder zumindest jedes zweite Wochenende nach Hause zu fahren. Die Freunde aus der Grundschule bleiben Freunde fürs Leben. Ohne sie kann man nicht sein. Und wer soll die Wäsche waschen, wenn nicht die geliebte Mutter? In Italien gibt es kaum Waschsalons. Die Fahrt von Verona nach Mailand – 148 Kilometer, sagt mir meine Fahrkarte – kostet also nur 6,82 Euro, egal zu welcher Tageszeit, ob werktags oder am Wochenende.∗ Das ist billig.
Zugleich wird die Eisenbahn traditionell dazu benutzt, überschüssige Arbeitskraft aufzunehmen und die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. »Beamte in Massen!«, schrieb D.H. Lawrence 1920 über den Bahnhof von Messina auf Sizilien. »Man erkennt sie an den Mützen. Elegante, forsche, kleine Beamte mit Schuhen aus Wildleder oder Lackleder, mit goldbetressten Mützen, einige mit schmalen, langen Nasen mit noch mehr Gold an den Mützen spazieren durch die Himmelspforten hinein oder heraus, kommen und gehen durch die vielen Türen.«
Seit Trenitalia in den letzten zwanzig Jahren hunderttausend Stellen abgebaut hat, ist das Unternehmen nicht mehr ganz so überbesetzt, beschäftigt aber immer noch weit mehr Personal pro Reisekilometer als seine Pendants in Frankreich, Deutschland oder England. Zehntausend der neunundneunzigtausend Bahnbediensteten gelten als überflüssig. Und die Mitarbeiter tragen immer noch schicke Mützen mit Goldlitze und glänzende Knöpfe an den dunklen Uniformjacken.
Eines Abends, als ich aus Venedig zurückkam und in dem kleinen Bahnhof Verona Porta Vescovo aussteigen wollte, gingen die Türen nicht auf. Im Interregionale gibt es einen roten Griff, den man hochzieht, sobald der Zug zum Stehen gekommen ist. Dann sollten die Türen sich seitlich öffnen. Ein Reisender nach dem anderen ruckelte und zerrte. Flüche und Verwünschungen. Da sich auf beiden Seiten des Zuges ein Bahnsteig befand, wurde auf beiden Seiten gezerrt und geruckelt. Gerade als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, flog eine Tür auf und eine Handvoll Reisender stieg eilig aus.
Woraufhin wir, während wir uns noch zu unserem knappen Entkommen gratulierten, von einem Mann mit einer wunderbar spitzen Mütze, die weit größer, gebauschter und vor allem röter war, als nötig schien, angebrüllt wurden. Es handelte sich um die Mütze des capostazione, des Bahnhofsvorstehers. Jemand erklärte, warum wir erst ausgestiegen waren, als der Zug schon wieder angefahren war, was natürlich streng verboten ist. »Non esiste!«, protestierte der wichtige Mann. Es konnte unmöglich sein, dass die Türen nicht aufgingen. Wir mussten etwas falsch gemacht haben. Etliche Fahrgäste bestätigten die Geschichte. »Non esiste!«, beharrte er. Das kann nicht sein. Wenn man bei Trenitalia arbeitet, ist es vielleicht manchmal nötig, die Augen vor der Realität zu verschließen.
Zum Beispiel ist klar, dass bei niedrigen (weniger als die Hälfte der bei der Deutschen Bahn und weniger als ein Drittel der bei den britischen Eisenbahngesellschaften üblichen) Preisen und hohen Personalkosten der Bahnbetrieb eine kostspielige Angelegenheit ist. Wie soll ein Land mit einer laufenden Staatsverschuldung von über 100 Prozent des Bruttosozialprodukts mit so etwas fertig werden? Eine Antwort lautet: il supplemento.
Kostet die Fahrt nach Mailand mit dem Interregionale 6,82 Euro, dann kostet die Fahrt mit dem schnelleren Intercity 11,05 Euro, oder vielmehr das Basisticket von 6,82 Euro zuzüglich eines Zuschlags, des supplemento, von 4,23 Euro; der noch (etwas) schnellere Eurostar kostet weitere 50 Cent mehr. Früher machte der Zuschlag nur einen geringen Prozentsatz des Ticketpreises aus, aber da bei der Berechnung der landesweiten Inflationsrate die Basispreise für Bahnfahrten herangezogen werden, die Preise für Intercityfahrten jedoch nicht, jedenfalls bis vor Kurzem nicht, sind die Zuschläge im Verhältnis zum Basistarif tendenziell stärker gestiegen. Durch solche Tricks lässt sich ein Großteil der Inflation verstecken. Aber was bekommt man für dieses Extrageld? Der Interregionale braucht vierzehn Minuten länger als der Intercity und vierundzwanzig Minuten länger als der Eurostar. Sind vierzehn Minuten meiner Zeit mir 4,23 Euro wert?
Aber so einfach ist es nicht.
Um die Leute zum Kauf der teureren Tickets zu motivieren, verschwinden die Interregionali zu bestimmten Tageszeiten vom Fahrplan, besonders auf längeren Strecken. Auf der anderen Seite jedoch, und das läuft der Logik von Angebot und Nachfrage komplett zuwider, gibt es für die, die mit den lebenden Toten reisen, wie ich es oft gezwungen bin zu tun, nur Interregionali, um die ärmeren Pendler zu versorgen, die Verdammten, diejenigen, die sich nicht jeden Tag die höheren Fahrpreise leisten könnten; all das verdankt sich dem ziemlich frommen, aber immer begrüßenswerten italienischen Engagement für eine bestimmte Art des volksnahen Sozialismus (mit dem der Katholizismus und der Faschismus natürlich eng verwandt sind). Je größer also die Nachfrage, desto niedriger der Preis.
Wir haben also den Interregionale Mailand–Genua um 6.40 Uhr morgens und den fürchterlichen Interregionale Mailand– Venedig um 18.15 Uhr abends. Seltsamerweise sind diese hoffnungslos überfüllten Pendlerzüge, die zu niedrigen Preisen zu den Stoßzeiten verkehren, die verlässlichsten und pünktlichsten überhaupt. Da sie mit Lok und Waggons, die 180 Stundenkilometer fahren können, in zwei Stunden nur eine Strecke von 160 Kilometern bewältigen müssen, haben sie viel zeitlichen Spielraum.
Am ersten Tag jedes neuen akademischen Jahres kaufe ich mir also meine Dauerkarte nach Mailand. Dafür gibt es keinen Extraschalter. Man stellt sich mit allen anderen gemeinsam an. Vier Schalter sind besetzt, sechs unbesetzt. Zum Glück wurde vor Kurzem im Bahnhof Verona Porta Nuova das Einschlangensystem eingeführt – eine lange, gewundene Schlange zwischen Seilabsperrungen, um die Frustrationen zu vermeiden, zu denen es immer wieder kommt, wenn man den falschen Schalter wählt und stundenlang anstehen muss. Wir alle haben dieses Zeichen des Fortschritts und der Zivilisation sehr begrüßt. Die Seile sind in schickem Rot-Weiß gehalten und hängen zwischen glänzenden Chrompfosten; aber beim Aufbau der Absperrung wurde nicht darauf geachtet, denen, die sich nicht hinten angestellt haben, den Zugang zu den Schaltern zu verwehren, sodass man auch durch den vorgesehenen Ausgang eintreten kann.
Ein Mann lehnt Kaugummi kauend an einer Säule, beobachtet die Schalter, wartet und geht dann, genau als ein Schalter frei wird, mit schnellen Schritten darauf zu und drängelt sich vor. Die Kartenverkäuferin weiß, was passiert ist, protestiert aber nicht. Die Leute in der Schlange grummeln, greifen aber nicht ein. Das hat mich in Italien immer erstaunt, dieses allgemeine Schulterzucken angesichts eines furbo, eines Schlitzohrs. Es lohnt sich in diesem Land immer, es zu versuchen. Sollte es doch einmal unangenehm werden, kann man immer noch behaupten, man hätte nicht Bescheid gewusst.
Ein Schild weist darauf hin, dass man am Fahrkartenschalter keine Auskünfte einholen soll, nur sein Ticket kaufen und basta, aber die Leute fragen trotzdem ganz ungeniert nach den detailliertesten Sachen. »Wie viel würde es kosten, im Nachtzug nach Lecce bei vier Reisenden von der zweiten zur ersten Klasse zu wechseln, wenn man die Familienermäßigung und den Preisnachlass für die über siebzigjährige Großmutter berücksichtigt?«
Die Verkäufer sind geduldig. Sie müssen keinen Zug erwischen. Vielleicht erteilen sie gern Auskünfte, stellen gern ihr Wissen und ihre Fachkundigkeit zur Schau. An der Stelle, wo die offizielle Schlange aus der Seilführung hinaustritt, kurz bevor man an der Reihe ist, stellt sich heraus, dass man den Schalter ganz links nicht sehen kann, weil er von einer Säule verdeckt wird, die (wegen der Weltmeisterschaft) mit einer glänzenden, schokoladenbraunen Marmorverkleidung umgeben ist. Dieser versteckte Schalter ist, wie ich bemerkt habe, fast immer offen, während die dem Ausgang der Warteschlange direkt gegenüberliegenden und deshalb gut sichtbaren Schalter meistens geschlossen sind. Wenn man nicht weiß, dass es den Schalter hinter der Säule gibt, geht man dort auch nicht hin. Und der dort sitzende Kartenverkäufer ruft einen nicht auf. Er hat keinen Knopf, den er drücken könnte, keine Lampe, um die Kunden auf sich aufmerksam zu machen. Trenitalia will uns schließlich nicht verwöhnen.
Am Schalter rechts von mir fragt jemand nach einer komplizierten Verbindung in eine Stadt in Ligurien. Die Leute in der Schlange ärgern sich. »Und in welchen Zügen kann ich mein Fahrrad mitnehmen?«, fragt der Mann. Ein zweiter furbo drängelt sich dreist vor, als der Schalter am Ausgang ganz kurz frei wird. Diesmal protestiert der Verkäufer, aber nur halbherzig. »Geht schnell bei mir«, sagt il furbo. »Ich verpasse sonst meinen Zug.«
Niemand brüllt los. Es entsteht nur ein leises, unterschwelliges Gegrummel, so als empfänden die, die sich ordnungsgemäß verhalten haben, eine grimmige Freude angesichts dieses erneuten Beweises, dass gutes Benehmen sich nicht auszahlt, dass man als braver Bürger zwangsläufig zum Märtyrer wird. Dies ist eine wichtige italienische Gefühlslage: Ich benehme mich gut, und deshalb muss ich leiden. Ich bin ein Märtyrer. Mi sto sacrificando. Dieses Grundgefühl kann zu gegebener Zeit auch einmal schlechtes Benehmen rechtfertigen.
Müssen diese Leute wirklich am Fahrkartenschalter so viele Auskünfte einholen? Nein. Überall hängen plakatgroße Fahrpläne, die alle Abfahrten von diesem Bahnhof auflisten. Darin sind die Italiener gut. Es gibt billige, umfassende und halbwegs verständliche landesweite Fahrpläne im Zeitungsladen des Bahnhofs. Darin stehen alle Züge, die in Norditalien in den nächsten sechs Monaten verkehren. Es gibt auch ein Informationszentrum. Aus irgendeinem Grund befindet sich das Informationszentrum am anderen Ende des Bahnhofs, etwa hundert Meter von den Fahrkartenschaltern entfernt – man muss einen langen, elegant gefliesten Flur entlanglaufen –, und die Fahrpläne hängen auch nicht in der Nähe der Fahrkartenschlange. Das scheint in allen Bahnhöfen Italiens so zu sein. Es ist seltsam. Man kann sich nicht über die Abfahrtszeiten informieren, während man am Schalter ansteht, obwohl das oft genau der Moment ist, in dem man sich gern darüber informieren würde. Natürlich eilt man zum Schalter, ohne vorher den Fahrplan zu studieren, denn man fürchtet, sonst noch länger warten zu müssen und seinen Zug zu verpassen, aber dann muss man sich am Schalter nach den Fahrzeiten erkundigen. An einem Schalter fängt die Fahrkartenverkäuferin gerade geduldig an, die Vor- und Nachteile eines komplizierten Werbeangebots zu erläutern. Über die Lautsprecheranlage werden die nächsten Zugabfahrten angesagt.
UM DIESER STRESSIGEN SITUATION zu begegnen, hat Trenitalia den SportelloVeloce, oder FastTicket-Schalter eingeführt. (Man könnte ganze Abhandlungen verfassen über diese Angewohnheit, eine Übersetzung anzubieten, die nicht wirklich eine Übersetzung, sondern vielmehr eine italienische Fantasievorstellung der Funktionsweise der englischen Sprache darstellt und sich, sozusagen als Werbemaßnahme, eher an ein italienisches Publikum richtet als an Englisch sprechende Durchreisende.) Es handelt sich dabei um einen Schalter, den man nur benutzen darf, wenn der Zug, den man nehmen möchte, innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten abfährt. Vernünftigerweise wurde der SportelloVeloce an der Stelle eingerichtet, wo die Leute sich üblicherweise vordrängeln, um die Hauptschlange zwischen den rot-weißen Seilen und verchromten Pfosten zu umgehen.
Aber was ist, wenn mein Zug in einer halben Stunde fährt? Ich warte fünfzehn Minuten in der Schlange und stelle fest, dass es eng wird. Soll ich dann zum Schnellschalter wechseln, wo bereits vier Leute anstehen? Und wenn einer von ihnen Auskünfte einholen will? Oder wenn plötzlich alle beschließen, erst fünfzehn Minuten vor Abfahrt ihres Zuges einzutreffen und den Schnellschalter zu nutzen? Das wäre ein Problem, denn während von den regulären Schaltern immer mindestens zwei geöffnet sind, ist der Schnellschalter häufig geschlossen.
Oder was ist, wenn ich mich fünfundzwanzig Minuten vor Abfahrt meines Zuges am Schnellschalter anstelle, aber achtzehn Minuten vor Abfahrt an der Reihe bin? Wird der Verkäufer mich dann trotzdem bedienen? Vermutlich schon, aber er hätte das Recht, es nicht zu tun. Vor allem Immigranten werden oft genug abgewiesen. Nicht-Weiße, meine ich. Und manchmal auch Touristen. Ausländische Touristen. Muss ich mich dann wieder hinten anstellen? Kann ich mich drei Minuten lang mit ihm streiten, sodass er mir schließlich doch einen Fahrschein verkaufen muss? Es sei denn, für meinen Zug wird plötzlich eine halbstündige Verspätung durchgesagt. Was auch nicht gerade selten vorkommt. Oder, da eine normale Bahnfahrkarte zwei Monate gültig ist, was wäre, wenn ich behaupte, den Intercity nach Bozen nehmen zu wollen, der in fünf Minuten abfährt, obwohl ich ihn in Wirklichkeit erst in zwei Wochen nehmen will? Wird jemand überprüfen, ob ich tatsächlich heute in den Zug einsteige? Lauter offene Fragen. FastTicket hat den Fahrkartenkauf also nicht wirklich einfacher gemacht. Das sieht jedes Kind. Warum wurde der Schalter also eingeführt? Es wird Zeit, über das Image zu reden.
Die Verwendung des Englischen ist immer aufschlussreich. Die Leser werden schon bemerkt haben, dass heute nur noch die langsamen Züge italienische Namen tragen, der Interregionale, und der noch langsamere Regionale, der träge von einem Wasserloch zum nächsten kriecht. Diese Züge brauchen der Außenwelt, dem auswärtigen Geschäftsmann oder dem Touristen mit Kreditkarte, nicht angepriesen zu werden. Sie fahren mit alten, ratternden Waggons. Im Sommer wird man darin gebraten, im Winter friert man. Die Sitze sind schmal und hart, die Sauberkeit … nun, wenn man an der Toilette vorbeigeht, hält man am besten die Luft an. Aber sobald man anfängt, Zuschläge zu zahlen, befindet man sich im Bereich des Englischen, oder zumindest der internationalen Sprache. Die stolzen alten Kategorien Espresso, Rapido und Super-Rapido sind weitgehend verschwunden. Heute haben wir den Intercity, den Eurocity und den Eurostar.
Wir haben es hier mit einem ewigen italienischen Dilemma zu tun. Sind wir ein »Teil von Europa« oder nicht? Sind wir ein Teil der modernen Welt? Sind wir fortschrittlich, oder hinken wir hinterher? Und vor allem, meinen wir es ernst? Es wird allgemein angenommen, dass man in Italien die Dinge, vor allem die des öffentlichen Lebens, schludrig und schleppend handhabt und sich von Eigeninteresse und politischen Überlegungen leiten lässt; folglich ist eine enorme Anstrengung nötig, dem südländischen Temperament entgegenzuwirken und an die teutonische Pünktlichkeit und die anglo-französischen Hightech-Standards heranzukommen.
Dieses Unbehagen reicht bis zur Gründung des italienischen Staates zurück. Es scheint schon durch im berühmten Ausspruch des Patrioten d’Azeglio: »Wir haben Italien erschaffen, jetzt müssen wir die Italiener erschaffen.« Es scheint durch in Mussolinis Überzeugung, dass »die Art, wie wir essen, uns kleiden, arbeiten und schlafen, der ganze Komplex unserer Alltagsgewohnheiten, reformiert werden muss«. Pünktliche Züge würden beweisen, dass der Faschismus das erreicht hat, dass tatsächlich eine grundlegende Veränderung in der nationalen Psyche stattgefunden hat. »Abbasso la vita comoda!«, lautete ein faschistischer Slogan. Nieder mit dem bequemen Leben! Man kann verstehen, warum die Wahlen kaum frei und fair sein konnten, wenn die größte politische Partei derartige Slogans verbreitete.
Aber auf einer anderen Ebene haben die Italiener verständlicherweise überhaupt nicht das Bedürfnis, sich zu ändern. Sie mögen das bequeme Leben. Sie fühlen sich den rohen, verdrießlichen Völkern überlegen, die Pünktlichkeit wichtiger finden als Stil und eine geruhsame Verdauung. Der Kompromiss wird im Image gesucht. Man wird dafür sorgen, dass Italien schnell und modern wirkt. Man führt Schnellschalter ein, obwohl sie den Fahrkartenkauf komplizierter und stressiger machen. Im Mailänder Hauptbahnhof wird seit Neuestem ein Bahnmitarbeiter dafür eingesetzt, die Fahrgäste, die sich am SportelloVeloce angestellt haben, zu überprüfen. »Welchen Zug möchten Sie nehmen, mein Herr? Wann fährt er ab?« Aber wie soll man sichergehen, dass die Antwort, die ein Fahrgast diesem Bediensteten gibt, mit seiner Bestellung am Schalter übereinstimmt? Das Problem der Überbesetzung ist kleiner geworden, eine neue Stelle wurde geschaffen, aber die Lücke für den furbo bleibt weiterhin offen.
PLÖTZLICH WIRD MIR KLAR, dass hinter der Scheibe eines der fünf bisher geschlossenen Schalter jemand sitzt. Ein Mann in Uniform. Ich bin inzwischen Zweiter in der Schlange. Der Mann sitzt ruhig und unauffällig da. Seine Schicht hat soeben angefangen. Er betrachtet die Schlange stehenden Menschen, die ihre ungeduldigen Blicke auf die besetzten Schalter heften. Er kratzt sich den unrasierten Nacken und blättert in den rosa Seiten seiner Gazzetta dello Sport. Er drückt sich nicht vor der Arbeit, aber er reißt sich auch nicht darum. Er hat ja was zu lesen.
Ich stupse den Mann vor mir an: »Der Schalter da drüben ist frei.« Er schaut mich misstrauisch an, als wolle ich ihn nur loswerden, um selbst an den nächsten frei werdenden Schalter zu gehen. »Haben Sie auf?«, ruft er, ehe er sich festlegt. Der Mann hebt die Augenbrauen und weist auf das elektronische Display über seinem Schalterfenster. »Steht doch da, oder?« Das führt dazu, das ich selber ein paar Minuten später zu dem hinter der Säule versteckten Schalter gehe, an dem, wie ich feststelle, mein früherer Nachbar Beppe Dienst tut.
Vor fünfzehn Jahren hat Beppe sein vielversprechendes und einträgliches Leben als selbstständiger Elektriker aufgegeben, um dafür die langweilige Stelle eines Fahrkartenverkäufers im Bahnhof Verona Porta Nuova anzutreten. Er hatte sich einige Jahre zuvor während einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit um den Job beworben; er überstand ein langes, kompliziertes Aufnahmeverfahren und die angemessene Zeit auf einer Warteliste mit einer Menge anderer Männer und Frauen. Als ihn Jahre später endlich der Ruf ereilte, hätten seine Frau und seine Eltern ihm niemals erlaubt, diese Chance auszuschlagen: ein gesichertes Auskommen auf Lebenszeit. So wird ein Job bei der Eisenbahn betrachtet. Er wird ordentlich bezahlt und ist so unwiderruflich wie ein Platz im Paradies. In den 1960er-Jahren grassierte sogar mal der Vorschlag, die Bahnjobs vererbbar zu machen, eine Rückkehr zum ständischen System des Mittelalters. Das mag lachhaft erscheinen, aber da die meisten Italiener in gehobenen Stellungen die Kinder von Leuten in ähnlichen Stellungen zu sein scheinen, da die überwiegende Anzahl kleiner Familienunternehmen, die den dynamischsten Teil der italienischen Wirtschaft ausmachen, vom Vater an den Sohn, oder im Notfall auch an die Tochter, weitergegeben wird, versteht man schon, warum die Gewerkschaften der Meinung waren, ein solches Modell ließe sich für eine Elitegruppe wie die der Eisenbahnmitarbeiter durchaus einführen.
Ein anderer Freund von mir, ein junger Mann, der sich früher auf die Herstellung von handgearbeiteten Harfen spezialisiert hatte, gab seine kleine Werkstatt auf, um als Tischler bei der Bahn mutwillig zerstörte Personenwageneinrichtungen zu reparieren. Der Gruppendruck, der zu solch traurigen Entschlüssen führt, ist erheblich. Ein sicherer Arbeitsplatz rangiert hier vor allen anderen Überlegungen. Beppe, das weiß ich, findet seinen Job am Fahrkartenschalter furchtbar öde, aber er versucht stumpfsinnig, sich bei Laune zu halten. »Die Zeiten sind schlecht«, sagt er, obwohl es heutzutage mit zum Schwierigsten gehört, schnell einen Elektriker zu bekommen. Handgemachte Harfen sind auch nicht gerade überall zu haben.
»Eine Jahreskarte nach Mailand«, sage ich zu ihm.
»Interregionale, Intercity oder Eurostar?«, fragt Beppe.
Ich erläutere, dass ich mit dem Interregionale hinfahre, zurück aber häufig den Intercity nehme.
Mein ehemaliger Nachbar schüttelt den Kopf und reibt sich mit einer Hand übers Kinn. »Schwierig.«
Anfang der 1990er-Jahre wurden die Ferrovie dello stato (FS) in dem Versuch, die Eisenbahn rank und schlank zu machen, oder zumindest weniger üppig und verschwenderisch, offiziell aus der staatlichen Kontrolle herausgenommen und verpflichtet, wenn schon keinen Profit, dann doch auf jeden Fall weniger Verluste zu machen. Da allerdings die Regierung weiterhin mehr als die Hälfte der Bahnaktien innehatte und auch weiterhin die Firmenpolitik in allen Bereichen bestimmte, indem sie vorschrieb, welche Strecken die Bahn wie regelmäßig und zu welchen Fahrpreisen zu betreiben hatte, war diese Maßnahme, nun ja, kaum mehr als eine Formalität. Dann, Ende der 1990er-Jahre, wurde die gigantische Gesellschaft unter dem Dach der FS-Holding in verschiedene kleinere Gesellschaften aufgeteilt, um den europäischen Gesetzen zum Wettbewerb im Transportwesen zu genügen; von da an betrieb Rete Ferroviaria Italiana (das italienische Eisenbahnnetz) die Strecken und kleineren Bahnhöfe, während Grandi Stazioni für die großen Bahnhöfe und Trenitalia für die Züge verantwortlich war.
Auch diesmal schienen die Veränderungen, da dieselben Leute wie vorher in den Aufsichtsräten dieser angeblich neuen Gesellschaften saßen, eher vorgetäuscht als substanziell zu sein. Was allerdings für die Fahrgäste eine Veränderung brachte, war die Tatsache, dass Trenitalia noch weiter in unterschiedliche Sektoren aufgeteilt wurde, von denen jeder die Auflage bekam, die finanziellen Verluste zu begrenzen. Das führte dazu, dass die Interregionali und die Intercitys jetzt ein separates Rechnungswesen haben, und die Eurostars wiederum von beiden getrennt laufen. Deshalb kann man jetzt nicht mehr ein normales Ticket plus einen gesonderten Zuschlag kaufen, um sich dann im letzten Moment zu entscheiden, welchen Zug man nehmen will. Nein, man muss dem Fahrkartenverkäufer mitteilen, mit welchem Zug man fahren möchte (Zeit und Datum), und er muss diesen Zug in seinen Computer eingeben, ehe er den Fahrschein ausdruckt, damit das Geld, das man bezahlt, auch auf dem Konto der richtigen Firma landet, auch wenn sie letztendlich alle Teil derselben Gesellschaft sind. Seltsamerweise ist aber die Fahrkarte dann zwei Monate gültig, was bedeutet, dass es sehr wohl gestattet ist, nicht genau den Zug zu nehmen, den man beim Kauf der Fahrkarte angegeben hat. Merkwürdig, oder? Kauft man also ein Intercity-Ticket, bei dem der Zuschlag inklusive ist, dann kann man damit, falls man sich spontan dazu entschließt, auch einen billigeren Interregionale nehmen. Umgekehrt allerdings nicht, das ist klar.
Ist das tatsächlich eine anerkannte Regel, die irgendwo geschrieben steht, oder nur gesunder Menschenverstand? Ich meine, dass man ein teureres Ticket in einem billigeren Zug benutzen kann, aber nicht umgekehrt? Ich weiß es nicht, aber neulich habe ich eine Situation erlebt, in der einer sehr schönen jungen Frau mit rabenschwarzem Haar und der Art von Brüsten, die die Italiener prosperose nennen, mitgeteilt wurde, sie müsse eine Strafe zahlen, weil sie mit einer teureren Eurostar-Fahrkarte im Intercity reiste. Nur eine Meuterei der umsitzenden Fahrgäste rettete sie. Das Ganze dürfte fast zwanzig Minuten gedauert haben, und zum Schluss waren fünf oder sechs Leute daran beteiligt. Wie gesagt, sie war eine sehr attraktive Frau.
Kurzum, man kann also nicht mehr fünf oder sechs Interregionali-Fahrscheine und ein paar Zuschläge erwerben und dann einfach in den Zug einsteigen, der gerade am günstigsten ist, weil beim Intercity-Ticket der Zuschlag jetzt bereits mit drin ist. Allerdings, so erklärt mir Beppe, wenn ich eine Jahreskarte für den Interregionale kaufe, dann habe ich doch die Möglichkeit, quasi als besondere Vergünstigung, weil ich so viel Geld ausgegeben habe, zusätzliche supplementi zu erwerben – es gibt sie also doch noch –, um im Einzelfall dann mit dem Intercity fahren zu können, sofern ich, das ist Bedingung, beim Kauf dieser Zuschläge meine Dauerkarte und ein gültiges Ausweisdokument (ich liebe den Ausdruck »gültiges Ausweisdokument«) vorlegen kann. Der Fahrkartenverkäufer wird dann meinen Namen und die Nummer (die ziemlich lange Nummer) meiner Dauerkarte mit zwei Fingern in seinen Computer eingeben, damit die Reise buchhalterisch von einer Firma zur anderen übertragen werden kann und die Eisenbahn somit effizienter wird. Leider, leider sind jedoch diese besonderen Vergünstigungs-Zuschläge wegen der Notwendigkeit, ein Ausweisdokument vorzulegen, nicht an den Fahrkartenautomaten erhältlich. Dafür muss ich mich am Schalter anstellen.
Das ist ziemlich lästig, aber ich lasse mich darauf ein. Ich kann gleich ein halbes Dutzend Zuschläge kaufen, denke ich, und meine Besuche am Fahrkartenschalter so auf ein Minimum reduzieren. Für 670 Euro gibt mir Beppe eine Karte, die genauso aussieht wie alle anderen Trenitalia-Fahrscheine oder auch Zuschlag-Karten: ein etwa zwanzig mal fünf Zentimeter großes Stück weiche, blau-rosa gemusterte Pappe mit einem blassen Computeraufdruck. Das Einzige, was diese Fahrkarte von der für 6,82 Euro unterscheidet, ist das Wort ANNUALE, das ungefähr ein Hunderstel der Kartenoberfläche einnimmt. Es ist klar, dass ich ein Stück farbiges Klebeband auf diese Karte kleben muss, um sie von den Zuschlägen, die ich kaufen werde, unterscheiden zu können. Und ich werde sie laminieren müssen, damit sie sich in meiner Brieftasche nicht langsam, aber sicher auflöst.
Beppe geht weg, um eine Fotokopie der Karte anzufertigen, falls ich sie verlieren sollte. Er macht sogar zwei Kopien, eine für mich und eine für das Fahrkartenbüro. Das ist großzügig. Sie führen eine Akte. Er macht einen alten Metallschrank auf. Das Ganze dauert mindestens fünf Minuten. Der Kopierer muss erst warm werden. Dann erkundigt er sich nach meiner Familie, und natürlich erwartet er, dass ich mich nach seiner erkundige. Das mache ich. Mir wird es langsam peinlich, denn um 6.35 Uhr morgens ist die Schlange hinter mir lang, und am Schnellschalter steht auch schon eine Menge beunruhigter Menschen. Der Zug der lebenden Toten, so wurde eben angesagt, befindet sich in partenza, das heißt, er fährt gleich ab. Sein Sohn kommt in der Schule sehr gut zurecht, erzählt mir Beppe. Ich weiß genau, wenn ich jetzt einwende, dass wir unter diesen Umständen nicht ins Plaudern geraten sollten, wo so viele andere Leute warten, dann wird er denken, ich wolle nicht mit ihm sprechen. Seine Tochter leider nicht so gut, sagt er. Sie scheint ihre Lehrer nicht ernst zu nehmen. Beppe würde nie verstehen, dass ich mich um die anderen Leute in der Schlange sorge. Warum sollte ich? Persönliche Beziehungen kommen vor dem Gemeinsinn. Salutami la Rita, ruft er. Meine Frau.
AUF MEINER FAHRKARTE STEHT an der Seite da convalidare. Seit ungefähr zehn Jahren muss man seine Fahrkarte in einen kleinen gelben Stempelautomaten schieben, bevor man in den Zug steigt. Dahinter steht der Gedanke, dass man, sollte der Schaffner im Zug nicht dazu kommen, die Fahrkarte zu kontrollieren, sie (mit ihrer zweimonatigen Gültigkeit) trotzdem nicht noch einmal verwenden kann, da sie ja nun einen Stempel mit einem bestimmten Datum und einer Uhrzeit trägt: die convalida. Aber die Tinte im Stempelautomaten ist meistens so blass, dass ich überzeugt bin, ich könnte mindestens zwei Mal mit demselben Ticket fahren, falls der Schaffner tatsächlich nicht kommt und ein Loch hineinstanzt. Der Aufdruck ist unleserlich. Misstrauisch, wie ich gelernt habe zu sein, frage ich mich, wer wohl den Auftrag bekommen hat, diese kleinen gelben Stempelautomaten in jeder Halle und auf jedem Bahnsteig der 2.260 Bahnhöfe in Italien aufzustellen und zu warten, und ob die Kosten dafür tatsächlich niedriger waren als die Einnahmen, die man früher an die furbi verloren hatte, denen es gelang, im Zug dem Fahrkartenkontrolleur zu entgehen. Denn neun von zehn Mal wird das Ticket dennoch kontrolliert und gestanzt, auch wenn es bereits convalidato ist.
Oder vielleicht – denn Verschwörungstheorien lassen sich endlos ausweiten, wenn man einmal angefangen hat –, vielleicht ging es gar nicht darum, dass jeder Reisende seine Fahrt bezahlt, sondern darum, neue Möglichkeiten aufzutun, um von den Fahrgästen Bußgelder zu kassieren: wenn man sein Ticket nicht im Automaten entwertet, muss man eine Geldstrafe zahlen – etwa 50 Euro, selbst wenn man das Abstempeln nur vergessen hat. Da es auf italienischen Bahnhöfen keine Sperren zwischen den Fahrkartenschaltern und den Bahnsteigen gibt – also nichts, wodurch man an seine Pflicht zum Ticketentwerten erinnert würde –, ist solche Vergesslichkeit nur allzu verständlich, vor allem bei Touristen, die sich nicht auskennen und vielleicht nicht die Angewohnheit haben, das Kleingedruckte auf ihren Fahrkarten sorgfältig zu lesen.
Meine Mutter musste vor einigen Jahren einmal zahlen. Sie reiste gemeinsam mit einer Freundin. Man stelle sich vor: zwei blasse englische Rentnerinnen in geblümten Kleidern auf dem Weg von Florenz nach Siena. Ihnen war nicht klar, dass sie ihre Fahrkarten abstempeln mussten: Meine fromme evangelische Mutter ist die Letzte, die versuchen würde, sich vor dem Fahrgeld zu drücken. Dies war höchstwahrscheinlich ihr einziger Gesetzesverstoß in den über achtzig Jahren ihres Lebens. Mit Sicherheit war es das einzige Mal, dass sie je ein Bußgeld zahlen musste. Sie war tief beschämt. Der Schaffner war gnadenlos: »Ihr Ausländer behauptet immer, ihr hättet nicht verstanden«, sagte er.
Aber in Italien ist kein Gesetz wirklich wasserdicht, von konsequenter Durchsetzung ganz zu schweigen. Es existieren immer interessante Schlupflöcher. Wenn ich zum Beispiel vergesse, mein Ticket zu entwerten, oder dazu nicht in der Lage bin, weil die Entwerter nicht funktionieren (was häufig vorkommt und auf einigen kleinen Bahnhöfen geradezu der Normalzustand ist), brauche ich den Fahrkartenkontrolleur nur vor dem Einsteigen darüber zu informieren, dann schreibt er mit seinem Stift Zeit und Datum auf das Ticket, setzt seine Unterschrift darunter, und schon ist mir vergeben und ich darf ohne ein Bußgeld zu zahlen mitfahren. Der Kontrolleur, der manchmal, wenn auch nicht immer, zugleich der capotreno, der Zugchef, ist, ist im Allgemeinen an der Tür einer der Waggons im hinteren Teil des Zuges zu finden, hat einen Fuß auf den Bahnsteig, den anderen wichtigtuerisch auf die Einsteigetreppe gestellt und wartet darauf, pfeifen und mit seiner grünen Mütze winken zu können, um dem Lokführer zu signalisieren, dass er die Türen schließen soll.
Als ich einmal mit meiner Interregionale-Dauerkarte einen Intercity genommen hatte, fiel mir plötzlich ein, dass ich die Zuschlagkarte für 4,23 Euro nicht abgestempelt hatte. Sogleich beunruhigt, sprang ich auf dem kleinen Bahnhof von Peschiera aus dem Zug, konnte jedoch auf dem Bahnsteig keinen Entwerter