MARIEN LOHA: „Waschbär im Schlafrock“
1. Auflage, Juli 2014, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta
© 2014 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Lektorat: Julia Bossart Meister
Cover: Nicole Altenhoff, www.nicoletta-illustration.de
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-943876-73-4
epub ISBN: 978-3-943876-44-4
E-Book-Version: 1.1
Mein Kopf klärt sich und verdrängt langsam den Schlaf.
Den ganzen Nachhauseweg war ich ziemlich damit beschäftigt, nicht an Sex mit Melanie zu denken. Aber nach einer ordentlichen Dusche ging es dann einigermaßen. Doch beim Einschlafen musste ich immer noch viel nachdenken.
In der Nacht habe ich geträumt. Ich würde ja gerne sagen, ich habe von ihr geträumt. Aber es ging um Fußball. Ich mag gar kein Fußball.
Grübele noch eine Weile vor mich hin, dann geh ich ins Wohnzimmer. Ein Waschbär liegt auf meiner Couch. Weiter ins Bad. Pinkeln, Gesicht waschen, Zähneputzen, Rasieren. Muss ja gleich los, in der Redaktion vorbeischauen, ob was für mich anliegt.
Ich schneide mich furchtbar mit der Klinge, renne ins Wohnzimmer und starre entgeistert auf den Waschbär.
Er guckt mich mit seinen schwarzen Knopfaugen teilnahmslos an. Das linke ist ganz milchig, vermutlich ist er darauf blind.
Unwirsch fange ich an hin und her zu laufen, halte dabei aber lieber ein paar Meter Abstand zur Couch und lasse ihn nicht aus den Augen.
Er mich auch nicht.
Blut läuft meinen Hals herunter und wird von meinem Unterhemd aufgesaugt.
„Mist! Nicht bewegen!“, rufe ich sinnigerweise und renne zurück ins Bad. Klebe das obligatorische Stück Toilettenpapier auf die Wunde und bin noch nicht mal ganz zur Badtür raus, da klatscht schon das feuchte Stück Papier vor mir auf den Boden.
„Eine Spur von Blut zog sich hinter ihm her“, sagt eine rauchige Whiskeystimme in meinem Kopf. Ich ignoriere sie. Hab ich vermutlich mal irgendwo aufgeschnappt. Klebe ein Pflaster auf die Wunde. Vor meinem geistigen Auge sehe ich meinen Vater, wie er enttäuscht den Blick senkt und den Kopf schüttelt:„Junge, wenn du dich mal schneiden tust, reiß dir was von der Rolle und drück’s drauf!“
So leichtfertig verletze ich also die durch Generationen erprobten Regeln. Egal, Hauptsache ich blute hier nicht weiter alles voll.
Wieder im Wohnzimmer ist der Waschbär weg.
Nein, doch nicht, jetzt sitzt er im Sessel.
Nicht oben auf der Rückenlehne, nicht auf den Armlehnen, und er liegt auch nicht auf dem Polster. Nein, er sitzt im Sessel. Wie ein aufrechter alter Herr, nur sehr viel kleiner und haariger. Obwohl die Haaranzahl vielleicht sogar mit einem alten Herrn übereinstimmt, sich aber natürlich auf dem kleineren Körper unproportional verdichtet. Ist das also wohlmöglich gar kein Waschbär, sondern ein geschrumpfter alter… ach, lass den Quatsch!
Am liebsten würde ich ihm eine alte Schirmmütze und einen Pullunder anziehen. Noch eine Pfeife in den Mund und dann fotografieren. Abgeschickt an irgendeine Sendung wie ‚Die lustigsten Tiere der Welt‘ oder ‚Die niedlichsten Tiere‘, würde ich bestimmt viele tolle Briefe bekommen: „Sie Tierquäler!“, „Was tun Sie nur diesem armen, kleinen, wehrlosen Geschöpf an?!?“, „Gibt’s den auch als Kuscheltier? Ich brauch noch ein Geschenk für meine Enkelin.“ usw.
Wir starren uns an. Weitere Details fallen mir an ihm auf: ein Teil seines linken Ohrs fehlt, wohl mal von einem anderen Tier abgebissen oder so, und auch sonst sieht er sehr zerzaust aus.
Scheint ein älteres Tier zu sein und schon viel mitgemacht zu haben. Ein Veteran. Ein Veteranenwaschbär. Ein Waschbärveteran.
Verdammt, ich muss los!
Stehe langsam auf, um ihn nicht zu erschrecken. Was fressen Waschbären denn so? Versuche es erst mal mit Milch, und wenn Zeit ist, werd ich nachher mal im Internet suchen.
Später wurde ich gefragt, warum ich ihn nicht sofort aus der Wohnung gejagt habe. Bis heute kann ich das nicht so genau beantworten, irgendwie hatte er was Hypnotisches und ich habe keine Sekunde daran gedacht, ihn einfach zu verscheuchen.
Stelle ihm also ein Schüsselchen Milch hin, schnappe meine Sachen und radel los.
Ja, ich fahre Fahrrad! In der Großstadt! Ich bin ein umweltbewusster Mensch! Bin ich! Mein Auto habe ich einfach mal stehenlassen! Bei der Polizei. Muss es mir in den nächsten zwei Wochen mal abholen und ein saftiges Bußgeld wegen Falschparkens in ca. 16 Fällen bezahlen. Die Welt ist nicht gerecht! Wenn eine brandheiße Story winkt, kann ich nun mal nicht immer darauf achten, korrekt zu parken.
„Verletzung der Pressefreiheit… Journalist von Welt… behindern meine Recherchen… Unverschämtheit… wollen mich nur ausbremsen… wer bezahlt Sie?!?“, brülle ich die Politessen dann manchmal an. Eigentlich gar nicht meine Art, so aufzubrausen, aber ich falle eben gerne mal aus der Rolle. Was für eine Rolle? Keine Ahnung. Egal.
Der letzte Ausbruch hat mir dann schließlich den Parkplatz bei der Polizei beschert: „Wohl kein Abschluss hingekriegt, wie?!? Naja, ohne ordentliche Ausbildung wäre ich vielleicht auch Politesse geworden.“
Verstehen keinen Spaß, diese Leute.
Mürrisch trete ich in die Pedale.
„Gut für die Umwelt, aber ungesund für mich!“, denke ich so bei mir, während ich eine Abgaswolke nach der anderen einatme.
Völlig verschwitzt - verdammt, ich bin aber auch gar nichts mehr gewöhnt - komme ich in der Redaktion an.
„Morgen, Cherell“, sage ich zur Empfangsdame.
„Cherell krank“, sagt die vermeintliche Cherell mit leichtem osteuropäischem Akzent.
„Oh… ähh… na dann… guten Morgen…“ ‚Besucher‘ steht auf ihrem Ausweis.
Sie bemerkt meinen Blick.
„Natascha. Besucherausweis ist nur, bis ich eigenen bekomme.“
Natascha mit dem Besucherausweis teilt also anderen Besuchern Besucherausweise aus. Welche Ironie.
Natascha lacht.Ups, habe ich das eben laut gesagt? Lächle breit, um meine Verwirrung zu überspielen.
„Sie komischer Vogel.“ Vermutlich hat sie das aus irgendeinem alten deutschen Film und keine Ahnung, dass das nicht gerade höflich ist.
„Ich geh dann mal an die Arbeit“, verabschiede ich mich.
„War sehr nett mit Ihnen, wir sehen uns dann in Kantine zur Pause.“ Der Satz wirkt wie von einem sehr langsamen Teleprompter abgelesen, sie muss sich anscheinend stark konzentrieren.
Ähh, ja… war das gerade eine Aufforderung, mich mit ihr in der Pause zu treffen? Es wirkte zumindest nicht wie eine Frage.
Was ist nur los? Gestern Melanie, heute Natascha. Bin ich jetzt irgendwie zum Frauenschwarm mutiert? Hab ich mein Deo gewechselt? Schnuppere unbewusst unter meiner Achsel.
Puhh, niemand da, der es gesehen haben könnte. Warum glaubt der Mensch immer, er wäre alleine, wenn er sich gerade mal nicht auf seine Umwelt konzentriert?
Vorgestern, einen Tag nach dem schmerzlichen Verlust meines Autos, bin ich das erste Mal seit Jahren wieder mit der Bahn gefahren, oder, wie ich sie danach nannte, mit dem Verhaltensforschungslabor. Ich kannte mich mit der Etikette des öffentlichen Nahverkehrs noch nicht hinreichend aus und so hörte ich weder Musik, noch las ich irgendwas, schlief oder starrte leeren Blickes in der Gegend herum. Nein, ich ließ meinen Blick unaufhörlich schweifen und beobachtete meine Mitgefangenen.
Hier ein Nasebohren, da ein Kratzen an unmöglicher Stelle, irgendwo puhlt jemand die Frühstücksreste zwischen seinen Zähnen hervor. Jemand trommelt verträumt zur lauten Kopfhörermusik auf seinem Schoß, gefährlich nah an seinen Eiern. Einige Sitzreihen entfernt unterhalten sich zwei Damen über ihren Chef. Trotz der Entfernung kann ich sie laut und deutlich verstehen. Nach ein paar Minuten Zuhören habe ich ein sehr detailliertes und abgrundtief schlechtes Bild von ihrem Chef, den sie liebevoll ‚Das Ekel‘, ‚Der Stinkstiefel‘ oder ‚Die alte Sackratte‘ nennen.
Ein Mädchen spricht lautstark vor sich hin. Ist die bekloppt oder was? Führt hier Selbstgespräche. Doch dann fällt mir das dünne Kabel mit einem kleinen Kästchen daran auf, das sich aus ihrem dichten Haar hervor schlängelt und wieder in ihrem Oberteil verschwindet. Ah, ein Headset. Na klar, beim Fahren darf man ja auch nicht das Handy am Ohr haben. Trotzdem nimmt sie leichtsinnigerweise immer wieder den kleinen Kasten in die Hand und führt ihn zum Mund, um hinein zu quasseln. Das führt für mich zwar den Zweck eines Headsets ad absurdum, aber gut, ist ja ihr Ding. Hin und wieder gestikuliert sie, nimmt dann aber schnell wieder das frei umherbaumelnde Mikro in die Hand und gestikuliert mit einer Hand weiter. Hin und wieder tippt sie zu jedem betonten Wort, also fast allen, kräftig auf ihren Oberschenkel, um den Worten auch wirklich Nachdruck zu verleihen. In mir wächst der Drang, ihr mitzuteilen, dass ein Headset nur Sprache überträgt.
Nach einem in-die-Luft-Werfen der Hände und dem anschließenden Wiederauffangen des baumelnden Headsets bohrt sie ihren Zeigefinger mehrmals in den Oberschenkel ihres Sitznachbarn. Der erschrickt, zumindest erzittert kurz die Zeitung, hinter der er sich verschanzt hat, er lässt sich aber weiter nichts anmerken.
Das Gesprächsthema ist auch sehr interessant. Definitiv für einen öffentlichen Ort und zum laut Hinausbrüllen geeignet. Es geht um ihre Periode. Genauer gesagt geht es um die längere Abwesenheit eben jener und das „Bow ey, zum Glück ey, echt ey!“-Wieder-Einsetzen heute früh. Details werden mir zum Glück erspart.
Sie bemerkt, dass ich sie beobachte.
„Ey! Belauschst du mich oder was?!“
Hebe abwehrend die Hände, verberge mein Grinsen und wende mich wieder anderen Mitfahrern zu.
Schade, die beiden Damen sind schon ausgestiegen, ich hätte ja gerne gehört, wie es mit der Sackratte weitergeht. Die Abenteuer von Kapitän Stinkstiefel. Er hat ein schweres Los, der Käpt’n. Verhasst bei den Untergebenen, allein auf den Weltmärkten, schippert er in seiner übergroßen BOSS-Tasse unaufhörlich weiter. Hat zu leiden unter Meuterei und Läuterung. Arme alte Sackratte.
Dann kommt wieder Action in die Bahn. Ein junger Mann, ein paar Meter entfernt, richtet seine Krawatte. Man sieht leider sehr deutlich, dass er keine binden kann. Anschließend versucht er, sich die Haare zu machen, während er immer wieder mit zusammengekniffenen Augen versucht, sein Spiegelbild in der Scheibe zu finden.
Mein Blick schweift weiter durch den Wagen in Erwartung, Menschen zu sehen, die sich die Fußnägel schneiden, Lockenwickler rausdrehen oder noch mal eben schnell ihr Hemd aufbügeln.
Nichts.
Diese Leute. In der Masse einsam, im Gedränge allein, auf dem Weg zu einem fernen Ort. Ob sie ihn jemals erreichen werden? Oder werden sie verdammt sein, auf ewig in dieser Büchse durch die Stadt zu ruckeln?
Hab damals glatt meine Station verpasst, so spannend war die Verhaltensforschung. Der Mensch ist schon eine interessante Gattung. Pack viele auf einen Haufen und es wird noch interessanter, verworrener und verwirrender. Ergebnis: Großstadt.
Von leichtem Meeresrauschen begleitet fahre ich im Fahrstuhl nach oben. Wäre der Fahrstuhl nicht schon so alt und klapprig, wäre das vielleicht sogar schön und beruhigend. So erinnert es mich eher an einen rostigen Fischkutter, der jeden Moment unterzugehen droht. Der Geruch passt auch fast.
Im Großraumbüro erwartet mich der Chefredakteur.
„Karl!!!“ Er ist verschwitzt, weil es im gesamten Stockwerk so heiß ist, und hat einen Zigarrenstummel im Mund, der nicht mehr brennt. Er ist Nichtraucher.
Eigentlich hätten wir auch eine einigermaßen funktionierende Klimaanlage. Aber er glaubt, dass das zur ‚richtigen Atmosphäre‘ in der Redaktion beitragen würde. Außerdem hat er aus den vielen kleinen Büros durch Herausreißen der Wände ein Großraumbüro gemacht, mit einem verglasten Büro für sich an der einen Ecke. Als Sichtschutz dienen lediglich die übriggebliebenen Stützpfeiler. Ein Platz hinter so einem Pfeiler ist sehr begehrt.
Sonst heißt es: „HA! Ich hab’s zu was gebracht! Eigenes Büro, mit Fenster und allem!“ Bei uns nur: „HA! Ich hab einen Platz hinter ’nem Pfeiler!“ Zum Glück muss ich hier selten den ganzen Arbeitstag verbringen.
Auf dem Weg quer durch den Raum hin zum Glaskasten, von wo aus mich der Chefruf ereilt hat, blasen mir zahllose Tischventilatoren ins Gesicht, manchmal sind auch Blätter dabei. Auch das ein atmosphärisches Element.
„Ich zieh mir noch schnell ’n Kaffee, Chef!“, brülle ich auf der Hälfte des Weges.
„Kannste vergessen! Ist immer noch kaputt!“, schallt es zurück.
War auch mehr obligatorisch, der Automat ist seit ca. einem Jahr kaputt. Sonst hält Cherell unten für alle Kaffee bereit, eine gute Seele, die Cherell, aber Natascha hat diese Funktion wohl nicht mit übernommen.
Ich betrete das muffige, heiße Büro und schließe die Tür hinter mir. Er hätte nur die Fenster aufmachen brauchen und es wäre hier drin wesentlich angenehmer gewesen. Aber sein Glaube an diese verquere, fernsehgeprägte Redaktionsatmosphäre macht auch vor seinem eigenen Büro nicht halt.
„Morgen Chef, was macht die Welt?“
„Sie dreht.“
„Am Rad oder durch?“
„Beides, vermute ich.“
Das ist schon fast eine Art Ritual zwischen uns geworden. Irgendwie habe ich es inzwischen richtig liebgewonnen.
„Der Bundespräsident eröffnet heute bei uns eine neue Wildtierunterführung nahe der Autobahnabfahrt Ost. Schauen Sie sich das mal an!“
„Das kann ich Ihnen auch so schreiben, ohne da gewesen zu sein“, nörgele ich halbherzig.
„Dann schießen Sie halt nur ein paar Fotos, kommen wieder her und schreiben mir was darüber!“
„Kann das nicht einer der Praktikanten machen?“, nöle ich versuchshalber noch ein bisschen weiter.
„NEIN!“
„Wichtige Story, was?“
„Ihren Sarkasmus können Sie sich in den Hintern schieben, Karl!“, blafft er, wobei er mir fast seinen Zigarrenstummel ins Gesicht spuckt.
„Tut mir leid, da steckt noch der von letzter Woche, da ist leider kein Platz mehr“, erwidere ich zuckersüß.
„Ab mit Ihnen, aber sofort!“
Grinsend verlasse ich das Zimmer.
In den ersten paar Wochen hier wurde ich ständig von ihm zur Schnecke gemacht, ohne dass ich Widerworte gab. Dann erklärte mir jemand, das sei so Usus hier. Der Chef wolle das so. Er behandelt alle mies und wir sollen ihm möglichst viel entgegensetzen, ihn anschreien, mit Sarkasmus kommen usw. Ich glaube, der Chef hat einfach zu viele schlechte Filme gesehen. Aber seit ich mich an diese seltsamen Umgangsformen gewöhnt habe, finde ich irgendwie richtig Gefallen an diesen kleinen Wortgefechten. Im normalen Leben muss man oft seine Klappe halten. Hier kann man einfach mal sagen, was einem in den Sinn kommt. Das ist sehr erfrischend. Manchmal versuche ich, das auf mein restliches Leben zu übertragen. Aber irgendwie klappt das nie. Ich bilde den Satz im Kopf, schaffe es aber nie, die Schwelle zum Aussprechen zu überwinden. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist es ja wirklich die so penibel gefertigte Atmosphäre im Büro, die es mir erleichtert. Aber im normalen Leben, absolute Flaute. Blöder Schädel, macht, was er will und wann er es will.
Der Bundespräsident sieht in Wirklichkeit irgendwie kleiner aus und älter. Ob ich meinen Artikel so beginnen sollte? Finde den Anfang ja nicht schlecht, aber nicht, dass unser Blatt dann eingestampft wird. Ein Hoch auf die Pressefreiheit!
Oder ich beginne mit: „Der Bundespräsident hat eine Faltentiefe von 12 mm. Dieselbe Länge in Metern hat auch die eben errichtete Wildtierunterführung an der Autobahnabfahrt Ost, für die unser Präsident den Schirm hält.“ Mhh, nee, auch blöd.
Ach, ich schreib das nachher im Büro zusammen.
Nach dem Eintreffen vor Ort muss ich mich erst mal akklimatisieren. Ich schwitze aus allen erdenklichen Poren und auch aus denen, an die noch gar keiner gedacht hat. 15 Minuten mit dem Auto zur Autobahnausfahrt. Locker! Kein Problem! Nach einer Stunde mit dem Rad über Feldwege und Wege, die diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient haben, stehe ich nun hier.
Der Präsident schneidet ein grünes Band durch und lächelt in die Kameralinsen. Also nee, es gibt doch tatsächlich Zeitungen, die zu dieser ‚Reißerstory‘ ein Bild drucken. Vermutlich auch noch Titelseite oder wenigstens 2. oder 3. Seite. Pah, lachhaft!
Ein Satz drängt sich durch den Nebel meiner Gedanken: „Dann… halt… paar Fotos… schießen.“ Oh, verdammt, ich sollte ja auch Fotos machen!
Das Band ist schon zu Boden gesegelt und der Präsident posiert gerade händeschüttelnd mit irgendeinem anderen Typen.
Hole schnell die Kamera raus, um wenigstens ein paar Bilder davon zu machen. Ich habe keine Kamera.
Naja, wenn’s wichtig wäre, hätte der Chef wohl nicht mich geschickt. Ich knipse ein paar unscharfe Fotos mit meinem Handy, wie weiterer Handschweiß und Bakterien ausgetauscht werden.
Schade, eigentlich hätte ich gerne gesehen, wie unser Präsident versucht, eine bockige Hirschkuh aus irgendeinem Wildpark durch den Tunnel zu schieben: „Na komm schon! Geh endlich durch den Tunnel! Guck mal da, lecker Möhrchen auf der anderen Seite… und das Gras… viel grüner… na los! Jetzt aber! Na komm schon, ist doch ein schöner neuer Tunnel! Der hat viel Geld gekostet!“
Dann raunt er der Hirschkuh verschwörerisch ins Ohr: „Also mich natürlich nicht und eigentlich ist das Ding auch total unnötig, aber psssst, das bleibt unter uns.“
Aber so wie die Bodyguards betont dezent um ihn herumstehen, würde jegliches Tier wohl eher erschossen werden, bevor es auch nur in die Nähe des Präsidenten kommt. Und eine Bambitragödie braucht hier wohl keiner. Obwohl… gut machen würde sich das schon, dann wäre vielleicht sogar die Titelseite drin.
Händegeschüttel hier, Händeschütteln da, kurzes Blabla und nach zehn Minuten ist alles vorbei. Da braust er davon.
Toll! Und dafür bin ich eine Stunde hergefahren.
„Hey Karl, man, du siehst ja fertig aus.“
Widerwillig drehe ich mich um. „Tag Steef, schön, dich zu sehn.“ Überhaupt nicht schön, dich zu sehen, du verdammter Aasgeier.
Steef strahlt mich mit seinem Zahnarztfrauenlächeln an.
„Was hast’n gemacht? Bist hierher gelaufen?“ Er schüttelt sich vor Lachen bei dieser Vorstellung.
„Nein, ich will was für meine Gesundheit tun und bin mit dem Rad unterwegs“, sage ich todernst.
„Na, besonders gesund siehst du aber nich aus“, feixt er und betrachtet mich noch mal von oben bis unten.
Ich will vom Thema ablenken und sage nur: „Ja ja. Aber super Story, nicht wahr? Ein Ereignis, wie es bedeutender kaum sein kann. Die Titelseiten werden voll davon sein!“
„Wenn du meinst“, entgegnet Steef verwirrt. Er ist strohdumm und kennt keine Ironie. Wie er Reporter geworden ist, frage ich mich jedes Mal. Wahrscheinlich Vitamin-B.
Seine Artikel strotzen nur so vor Fehlern und er benutzt sehr, sehr viele Superlative. Gefühlt jedes zweite Wort ist ein „unglaublich“, „fabelhaft“, „gigantisch“, „unfassbar“. Morgen wird in dem Bilderbuch, für das er arbeitet, vermutlich ein schön retuschiertes, großes Foto des fett grinsenden Bundespräsidenten abgedruckt sein und daneben ein kurzer Text, der mit Hilfe großer Schrift und weiten Abständen optisch aufgebläht wurde. Da wird dann in etwa sowas zu lesen sein wie: „Der Bundespräsident eröffnete gestern einen der größten Wildtiertunnel an der Autobahnausfahrt Ost. Feierlich durchschnitt er das grellgrüne Band und lächelte sein makelloses Präsidentenlächeln. Durch den Tunnel könnte stündlich die unglaubliche Menge von 1000 Elefanten rennen, wenn sie den Kopf einziehen.“
So oder so ähnlich. Würg! Sein Artikel wird vermutlich viel ausgeschmückter sein. Das ist das Einzige, was er kann: auch ein noch so langweiliges Thema mit vielen Adjektiven und Superlativen aufbauschen. Steef scheint der Meinung zu sein, ein Zeitungsartikel sollte sich grundsätzlich wie das Drehbuch eines billigen Actionfilms lesen.
Ich klopfe ihm betont kräftig auf den Rücken, in der Hoffnung, ihm würde sein Gebiss rausfallen, und verabschiede mich. Auch wenn ich keine Lust auf den Rückweg habe, ist das immer noch verlockender, als weiter hier mit Steef in der Pampa rumzustehen.
„Hallo, ich bin Karl.“
„Freut mich, Melanie.“
Ich glaube ihr gerade noch, dass sie Melanie heißt, aber „Freut mich“?
„Meine Freunde nennen mich Mellie“, wirft sie ungefragt nach.
Soll das eine Aufforderung sein, sie Mellie zu nennen, oder eine Warnung, mich bloß nicht zu ihrem Freundeskreis zu zählen? Oder ein Test? Diese Frau verwirrt mich jetzt schon.
Ich denke eindeutig zu viel nach.
Das mit dem Nachdenken war schon immer so ein Problem von mir. Früher war ich recht still (naja, eigentlich heute auch noch). Ich bin nicht schüchtern, sondern einfach nur introvertierter als andere. Eines dieser ‚stillen Wasser‘ eben.
„Wenn ich etwas zu sagen habe, sag ich es“, ist meine Standardantwort auf die Standardfeststellung: „Karl, du bist immer so still.“ Okay, zugegeben, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Oft sage ich die Dinge einfach nur in Gedanken und schaue mein Gegenüber dabei so an, als wollte ich ihm meine Worte telepathisch übermitteln. Dabei entsteht dann leider oft der Eindruck, dass ich denjenigen gar nicht beachte, was mir den ebenfalls typischen Beinamen ‚Träumer‘ einbrachte.
Ich denke, in jeder Gruppe, ob Schulklasse, Freundeskreis, unter Arbeitskollegen oder wo auch immer, gibt es mindestens eine Person, die zwangsweise zum ‚Träumer‘ erklärt wird. Typen dieser Gattung erwidern dann natürlich immer: „Das stimmt gar nicht!“ Anschließend beginnen sie eine lebhaft geführte Diskussion mit langen Argumentationsketten und Fallbeispielen, warum sie keiner dieser ‚Träumer‘ sind. Per Definition tun sie das natürlich im Geiste und glotzen den Ankläger dabei nur weiter unvermittelt an.
Ich komme mit meiner Rolle eigentlich ganz gut zurecht. Ich habe meinen Freundeskreis, der in der Größe ständig variiert, mit ein paar festen Bestandteilen, die immer bleiben. Einer dieser festen Bestandteile ist Paul. Genau genommen ist er der Festeste. Ich kenne ihn schon länger als mein halbes Leben.
Das behauptete ich zwar schon, als wir gerade mal eine Woche in der Schule nebeneinandersaßen, aber es kam mir wirklich so vor. Und mittlerweile stimmt es ja auch. Hat zwar Jahre gedauert, aber jetzt brauche ich mir keine Gedanken mehr um diese Lüge machen. Damals kam dieser Junge in die Klasse. Leicht struppige schwarze Haare, ausgefranstes T-Shirt und kurze lockere Hose. Standard eben. Alle tuschelten über den Neuen. Ich auch. Zwar nur mit mir selbst, aber trotzdem.
Quer durch den Raum traf sich unser Blick und wir führten unser erstes mentales Gespräch:
„Was für ein Haufen Schwachköpfe!“, verzog er das Gesicht und blickte sich um.
„Ja, da kann man nichts machen, die sind immer hier“, zuckte ich mit den Schultern.
„Ist neben dir noch frei?“, blickte er auf den Stuhl neben mir.
„Ja“, schob ich die Lippen leicht nach vorne, hob leicht beide Augenbrauen und deutete ein kaum wahrnehmbares Nicken an.
„Was dag…“, fing er an, die Augenbrauen fragend hochzuziehen.
„Nee nee, mach ruhig!“, behielt ich meinen Gesichtsausdruck bei und schüttelte leicht den Kopf.
„Super!“, grinste er und nickte einmal.
Wir wissen bis heute nicht, warum wir uns so gut verstehen, aber vermutlich muss man das auch gar nicht. Vielleicht ist es sogar die beste Voraussetzung für eine langanhaltende Freundschaft. Auf alle Fälle sind wir beide sehr froh, dass es so ist.
„Was machen Sie hier, Melanie?“, frage ich, um auszuloten, ob sie wirklich an einem Smalltalk interessiert ist.
Sie winkt ab: „Nennen Sie mich Mellie.“
Okay, also doch… mhh… und was soll ich jetzt davon halten? Sie sieht ja ganz süß aus, dunkelbraunes Kostüm, zierliche kleine Statur, ein paar Sommersprossen auf der hellen Haut und kurze braune Locken. Wir stehen an einem der zahlreichen Stehtische im Garten und nippen abwechselnd verlegen an unserem Begrüßungssekt. In meinem schwimmen kleine Dosenmandarinenstücke, in ihrem komischerweise nicht. Wenn man da die Wahl hatte, dann habe ich das zumindest nicht mitgekriegt, und sie wird mich jetzt aufgrund meiner Getränkewahl für einen weichen Cocktailtypen halten. Womit sie ja nicht ganz… ach hör endlich auf!
Paul gibt mal wieder einen seiner kleinen Empfänge für die ortsansässige Politprominenz. Welchen Zweck Villa und Grundstück sonst erfüllen, weiß ich nicht, zumindest ist es nicht sein Haus. Mittlerweile ist Paul zu einer richtigen kleinen lokalpolitischen Größe aufgestiegen. Kleine Größe, gibt es sowas überhaupt?
Politik war ja noch nie so mein Fall, aber ich geh trotzdem immer zu den Empfängen, weil Paul über fast alle Gäste spannenden Klatsch und Tratsch zu berichten weiß. Eigentlich interessiert mich das nicht, aber es ist irgendwie unterhaltsam. Ich merke mir auch nie was davon, um es weiterzutratschen, aber das sollte ich vielleicht auch lieber nicht.
Ich denke, Paul wird nie aus seiner Partei ausgeschlossen oder rausgeekelt werden mit solch explosivem Wissen in der Hinterhand. Verbrannt, am Seeufer gefunden, ohne Fingerabdrücke und Gebiss, ja, aber nie würden die ihn einfach so rauswerfen.
Melanie schaut mich fragend an. Ach Mist!
„Oh ja, ja…klar…also Mellie, was machen Sie hier?“
„Ich bin die Assistentin von Herrn Sommerfeld.“
„Ach so? Ich wusste gar nicht, dass Paul eine Assistentin hat.“
Normalerweise hätte ich von Paul erwartet, dass er mich fünf Minuten nach der Einstellung gleich ungebeten anruft und sowas sagt wie: „Du, ich hab jetzt ne Assistentin. Is’n richtiges kleines Mauerblümchen, also eher nichts für mich, aber vielleicht auch besser so, wenn du verstehst, was ich meine!“, wobei ich sein verschwörerisches Zwinkern aus der Stimme raus hören und den Ellenbogenstoß in meine Seite förmlich spüren kann.
„Sie kennen Herr Sommerfeld?“, fragt sie verdutzt.
„Ja klar. Das ist doch sein Empfang hier, oder nicht?“
Völlig ungewollt lache ich über meinen sehr schlechten Scherz. Sie lacht mit.
Stopp! Schnitt! Aus!
Resümee:
1. Sie stellt sich zu mir an den Tisch, obwohl er weit weg vom Geschehen ist und… ja und obwohl ich da stehe.
2. Sie sagt Dinge wie: „freut mich“ und „meine Freunde nennen mich…“
3. Sie lacht über Dinge, die ich sage, obwohl sie überhaupt nicht lustig sind.
Ohh Gott! Ich bin auf ihrem Radar und wurde vielleicht sogar schon fest als Ziel anvisiert!!!
Eigentlich toll, aber ein bisschen mulmig ist mir schon. Ich habe gerade eine längere Beziehung hinter mir und fühle mich etwas eingerostet, was das Flirten und überhaupt den Umgang mit weiblichen Wesen angeht. Als ich das Paul gegenüber neulich erwähnte, sagte er: „Ach, du warst doch noch nie richtig geölt!“
Hahaha! Vielleicht hat er sogar recht, ich weiß es nicht.
Immer noch die letzten Wellen ihres Kicheranfalls unterdrückend - ach komm, jetzt übertreib mal nicht - fragt sie: „Nein, im Ernst, woher kennen Sie Herrn Sommerfeld?“
„Wir kennen uns schon seit der Schulzeit. Lange her, alte Freunde, unterschiedliche Wege, aber irgendwie immer noch da“, fasse ich kurz zusammen.
„Sie verlieren ja nicht viele Worte, wie?“ Sie lächelt mich herzerwärmend an bei dieser Feststellung.
Ach Melanie, wenn du wüsstest.
Ich bereite mich gerade darauf vor, meinen Standardvers zur Introvertiertheit loszulassen, als Paul an unseren Tisch geschlendert kommt.
„Ah, Angelo! Da bist du ja. Du kennst also schon meine neue Assistentin Melanie“, sagt er und klopft mir dabei ziemlich stark auf den Rücken. Ich trinke gerade etwas und völlig unvorbereitet ob dieser Attacke rutschten mir einige kleine Mandarinenstücke in die Luftröhre. Zudem reißt es mich von der Schlagwucht getrieben nach vorne und ich kann gerade noch so verhindern, mir mit dem Glas mein Auge zu entfernen.
Hustend halte ich mich am Tisch fest und röchele: „Is schon… okay… hab mich… schon… als Karl… vorgestellt.“
„Och, schade!“ Er macht ein bedröppeltes Gesicht und wendet sich an Melanie: „Ich gebe ihm in Gesellschaft gerne rassige südländische Namen, weil ich denke, dass ‚Karl‘ bei den Ladys nicht sehr gut ankommt.“
Melanie lächelt ihren Boss verlegen an. Sie ist wohl noch nicht so lange bei Paul, sonst könnte sie mit solchen Phrasen schon umgehen. Es muss ihr nach den ersten Eindrücken von uns beiden unglaublich vorkommen, dass wir Freunde sind und das auch noch seit so langer Zeit. Verständlich, geht uns selbst ja auch immer wieder so.
Ich erhole mich langsam von meinem Hustenanfall, den Paul gekonnt ignoriert hat, was er damit bekundet, dass er mir noch mal freundschaftlich auf den Rücken klopft. Diesmal bringt es mich, aufgrund besserer Vorbereitung, nicht wieder so sehr aus dem Gleichgewicht.
„Ja, ich sehe ja auch total nach einem Francesco oder Juan aus“, erwidere ich etwas bissig.
„In der Tat, das stimmt!“, lacht Paul. Wäre er der Weihnachtsmann, würde er sich jetzt seine Wampe halten, den Kopf in den Nacken werfen und ein lautes „Ho Ho Ho“ lachen. So ähnlich lacht Paul, nur ist es eher ein „Ha Ha Ha“ und eine Wampe hat er auch nicht. Wenn er sich gerade wieder besonders lustig findet, schlägt er sich dabei auch mal selbst auf die Schenkel, auf den Tisch oder eben mir auf den Rücken.
„Also, ich seh schon, ich bin hier überflüssig“, sagt Paul und wendet sich zum Gehen.
„Wann hältst du deine Ansprache?“, frage ich, um ihn noch etwas länger hier zu behalten. Mit Paul zu reden, ist vertrautes Terrain. So kann ich Sicherheit sammeln.
Man könnte meine Gesprächigkeit auch in einer Graphik festhalten, die mit steigender Gesellschaft quasi exponentiell zunimmt, in bekannter Gesellschaft sogar noch wesentlich verstärkt. Aber im Gespräch mit jemandem alleine, sogar bei Freunden, ist sie auf ihrem Tiefpunkt.
Paul weiß das, aber er will mich wohl ins kalte Wasser werfen und sagt nur: „In ca. einer Stunde, ich muss noch meine Runde drehen, alle begrüßen und die neuesten News aufsaugen.“
Ich hasse es, wenn er „neueste News“ sagt. Es ist ein dämliches Wortpärchen, aber er benutzt es gerne, ich glaube, nur um mich zu ärgern.
Er schenkt mir noch ein einäugiges Zwinkern mit einem zweideutigen Lächeln und verschwindet wieder im Trubel weiter vorne am Haus. Eigentlich ist es noch viel zu früh für diese freundschaftliche ‚Ich lass euch jetzt mal allein’-Geste, aber Paul findet, die passt immer. Vermutlich würde er das auch machen, wenn mich eine alte Dame an der Bushaltestelle nach der Uhrzeit fragt. Eventuell flüstert er mir dann noch unauffällig Sachen ins Ohr wie „Ran da!“, „Knickie Knackie“ und bedenkt mich wieder mit diesem Zwinkern. Leider glaubt Paul, dass die Frauen das nie mitkriegen, was sie aber in den meisten Fällen doch tun.
„Ich glaube, Herr Sommerfeld interpretiert da was falsch“, sagt Melanie und lächelt mich schüchtern an.
Ich bin nicht in der Lage einzuschätzen, ob ihre süße Schüchternheit gespielt ist oder nicht. Gott, bin ich hilflos!
Ich meine, niemand kann in Frauen lesen wie in einem Buch, aber bei mir reicht es nicht mal für ein Post-it, geschweige denn für ein paar lose zusammengeheftete Blätter. Für mich sind Frauen wie das berühmte ‚Buch mit sieben Siegeln‘, nur dass das Buch bei mir noch in einer Kiste in einer Kiste in einer Kiste verschlossen auf dem Grund des Mariannengrabens liegt. Nicht mal Houdini würde da rauskommen.
Ich lächle also nur etwas dämlich zurück und sage: „Ja, scheint so.“
Ihr Lächeln verschwindet. Ups. Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich habe ihr zugestimmt und das war anscheinend nicht richtig.
„Das sollte jetzt nicht heißen, dass…“, versuche ich es zu retten, weiß aber nicht, wie der Satz weitergehen soll.
„… also… ich finde Sie sehr nett… und alles… .“
Ihr Lächeln verfinstert sich noch weiter. Vielleicht sollte ich’s mit der Wahrheit probieren. Und bevor ich meine Zunge daran hindern kann, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, höre ich mich sagen: „Wissen Sie, Melanie… ich kann nicht so gut mit Frauen… und so… .“
„Was sind denn ‚und so‘?“, fragt sie mich mit hochgezogener Augenbraue, fängt dann aber zum Glück wieder an zu lächeln und sagt: „Für dich übrigens immer noch Mellie“
Ich bin verwirrt. Damit war jetzt das ‚Du‘ eingeleitet oder wie?
„Ja… ähh… und ich immer noch Karl. Hehe. Also, tut mir leid, alles wieder in Ordnung?“
„Was tut dir denn leid?“, fragt sie.
Was für eine Folter. Ich wünsche mir kurz, doch an den Mandarinenstückchen erstickt zu sein. Vielleicht sollte ich einfach unauffällig einen zweiten Versuch starten.
Doch was soll’s, wo ich nun schon einmal mit der Ehrlichkeit angefangen habe: „Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, aber ich hielt es für eine gute Idee, mich zu entschuldigen.“
Sie grinst. „Schon okay. Manno, man Karl, wer hat dich denn so verunsichert?“
Ich halte das für eine rhetorische Frage und antworte nicht. Das würde sowieso zu längeren, mindestens ein Buch füllenden Ausschweifungen ausarten. Stattdessen trinke ich nur leicht verlegen einen Schluck Sekt. Sie gibt sich anscheinend damit zufrieden.
Sag was! Na los! Lass dir irgendwas einfallen!
Sie kommt mir zuvor, indem sie den angefangenen Smalltalk einfach fortsetzt: „Was machst du beruflich, Karl?“
„Ich schreibe für eine kleine regionale Zeitung. Nichts Großes, hab auch kein bestimmtes Fachgebiet.“
„Oh, das ist ja spannend!“
Eigentlich nicht, aber ich kann mich gerade noch davon abhalten, ihr das zu sagen. Sie freut sich doch so. Vielleicht ist es ja gar nicht mal schlecht, wenn sie mich für einen tollen Sensationsreporter hält. Ich sollte mir ein paar reißerische Geschichten einfallen lassen, wo ich schon überall war und über was ich alles berichtet habe.
„Erzähl doch mal ein paar Geschichten, wo du schon überall warst und über was du so berichtet hast!“
Mist! Denk, denk, denk! Denk nach, verdammt!
Okay, zum Ausdenken bin ich viel zu nervös, also wieder die Wahrheitsnummer.
„Ich war mal ein paar Wochen in Irland und hab über die dortige Technikindustrie berichtet.“ Wow, Kracherstory!
„Aha, das klingt ja spannend“, erwidert sie ehrlich interessiert, glaub ich, und stützt ihren Kopf auf die Fäuste wie ein kleines Kind, das dem Opa bei seinem spannenden Seemannsgarn zuhört.
Na dann pass mal auf, wenn dir das schon gefallen hat, wird dich das hier umhauen: „Im Grunde ging es darum, wie die Unternehmen dort strukturiert sind, wie sie mit ihren Mitarbeitern umgehen usw. Sollte was für den Wirtschaftsteil werden und die Firmen hierzulande inspirieren. Tja, das sollten sie wohl jetzt nicht mehr tun, wie?“
Ich lache. Sie lacht. Ich merke, dass sie nicht verstanden hat, warum ich lache, und pro forma mal mitlacht. Na Mädel, so wird das aber nichts in der Politik, du solltest dich schon etwas besser informieren.