Samba für Frankreich
Roman
Aus dem Französischen
von Waltraud Schwarze
Inhaltsübersicht
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Anmerkungen
Informationen zum Buch
Über Delphine Coulin
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Vielleicht war dies das Ende. Der Polizeitransporter raste die Seine-Quais entlang, und er wusste nicht, wohin man ihn brachte. Irgendwas schepperte und krachte pausenlos gegen den Auspuff, und an jeder Kreuzung heulte die Sirene auf. Ein Sonnenstrahl ließ die Handschellen aufleuchten, die sie ihm angelegt hatten. All sein Reden hatte nichts genützt.
Sie hatten ihn verhaftet, obwohl er nichts getan hatte.
Um halb sieben an diesem Morgen hatte Samba sich vor der Polizeipräfektur angestellt. Er hatte über vier Stunden gestanden und gewartet, erst draußen vor den Absperrgittern, dann in der Eingangshalle, sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd, wie die Pferde es tun, um sich auszuruhen. Und mit ihm standen Männer und Frauen aus aller Herren Länder in der Schlange, während die Sonne allmählich höherstieg: Man hätte meinen können, dass die ganze Welt sich an diesem Julimorgen zu Beginn des neuen Jahrtausends in dieser historischen kleinen Straße im Zentrum von Paris verabredet hätte. Jeder betrat, wenn die Reihe an ihm war, das Gebäude durch eine der vor ihm liegenden Türen, aber nie sah man einen von ihnen wieder herauskommen. Es war, als hätten diese Mauern sie verschluckt.
Schritt für Schritt arbeitete sich Samba vor zu der Tür, hinter der er die Antwort erhalten würde, auf die er nun schon fünf Monate wartete, nicht gerechnet die vorausgegangenen zehn Jahre. Fünf Monate und zehn Jahre, in denen er, so schien ihm, nie aufgehört hatte, zu warten und zu laufen, zehn Jahre und fünf Monate, in denen er beharrlich einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte, auf einem Weg, der an seinem Haus im fahlen Licht eines frühen Morgens begonnen hatte, seine beiden Schwestern schliefen noch, als er von dort aufgebrochen war und, den Blick der Mutter im Rücken spürend, sich bemüht hatte, größer zu erscheinen, sicherer, würdevoller. Vielleicht würde sein Weg hier in der Polizeipräfektur von Paris endlich an ein Ziel gelangen. Er lebte seit über zehn Jahren in Frankreich und hatte nun seine Aufenthaltserlaubnis beantragt. Und wollte wissen, ob sie bewilligt worden war.
Über zehn Jahre, in denen er seine Mutter nicht mehr gesehen hatte.
Er dachte an all diese Jahre und an die langen Wochen der Reise davor, auf der er mehrere Male beinahe sein Leben gelassen hätte und andere an seiner Stelle umgekommen waren, auf dem Boden Afrikas, im Wüstensand oder auf dem Asphalt europäischer Städte. Wie ein schweigender Marsch war es gewesen, voller Hoffnung in manchen Augenblicken, wenn das Herz vor Erregung heftiger schlug und das Leben gleich schneller und leichter wurde ‒ aber auch voller Augenblicke grausamer Enttäuschungen, die ihn immer wieder niedergeschmettert hatten, bis die nächste Hoffnung am Horizont sichtbar wurde: Dann war er wieder aufgestanden, hatte alle Fasern seines Körpers gespannt und war aufs Neue losgelaufen. Die lange Zeit des Wartens schien vergessen, wieder hatte er an die Möglichkeit geglaubt, in Frankreich Fuß zu fassen und voranzukommen, bis ihn das Pech erneut traf und ihm allen Mut nahm, aber doch nie ganz den Glauben, dass es möglich sein könnte, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und sein Leben selbst zu bestimmen. Als er damals bei seinem Onkel in Paris eingetroffen war, hatte er sich gesagt, wenn ich bis hierhergekommen bin, dann werde ich endlich auch erfahren, warum ich auf der Welt bin. Und jedes Mal, wenn er an seiner Zukunft zweifelte, hatte der Onkel verständnisvoll genickt, um ihm Mut zu machen, und ihn so durchdringend angesehen, als würde er in seinen Gedanken lesen.
Damals wusste er noch nicht, dass die heldenhafte Reise, die er hinter sich hatte, am Ende weniger hart war als alles, was er nach seiner Ankunft in Frankreich erleben sollte.
Während er Schritt für Schritt vorrückte, im Rhythmus der sich öffnenden und wieder schließenden Tür, brachte ein kleiner Junge unmittelbar vor ihm die Schlange ins Stocken. Er wollte nicht mehr weitergehen. Verlegen lächelte die Mutter die Wartenden an, gleichzeitig sah sie angstvoll auf die roten Zahlen, die den jeweils nächsten Einlass anzeigten: Sie fürchtete, ihren Platz zu verlieren. Das Kind setzte eine trotzige Miene auf. Sie flüsterte ihm beschwichtigend etwas ins Ohr, aber ihr Sohn, der kaum älter als vier Jahre alt sein mochte, begann zu schluchzen und sich in seinem viel zu großen roten Pulli in alle Richtungen zu winden. Er musste Pipi machen. Samba bot der Mutter an, ihr ihren Platz in der Schlange zu halten. Sie lächelte dankbar und ging vertrauensvoll auf den Wachmann am Eingang zu. Der schüttelte den Kopf. Sichtlich nervös nahm sie daraufhin ihren Jungen bei der Hand und entfernte sich mit ihm ein paar Schritte von der Schlange. Als sie ihm auf dem Bürgersteig die Hosen herunterziehen wollte, in vollem Sonnenlicht und im Angesicht aller Wartenden, begann er noch verzweifelter zu weinen und klammerte sich unter Protest an seinem Hosenbund fest. Worauf die Mutter, der es peinlich war, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit all dieser Leute zu stehen, und voller Angst, sie könnte den Augenblick verpassen, wenn ihre Nummer aufgerufen würde, denn auch sie wartete bestimmt sehnlich auf eine Antwort des Präfekten, ihrem Kind mit energischen Bewegungen das Kleidungsstück herunterriss. Wütend schrie der Kleine auf. Amüsiert, mitleidig, auch genervt sahen die Umstehenden sich das Schauspiel an. Samba rückte unterdessen langsam weiter vor und auf die Tür zu, durch die man hineinging, aber nicht wieder herauskam. Unter schrillen Schreien versuchte der Kleine, sich die Hosen wieder hochzuziehen, und erklärte schluchzend, dass er gar nicht mehr müsse. Die Mutter kniff ihn in seinen kleinen Schwanz, schüttelte ihn, und endlich fielen ein paar Tropfen in den Rinnstein vor der Präfektur von Paris.
Samba Cissé stieß einen erleichterten Seufzer aus. Die Mutter nahm ihren Platz vor ihm wieder ein und bedankte sich. Samba zwinkerte dem Jungen zu, der aber verbarg sein Gesicht schamvoll in seiner Armbeuge. Kurz darauf waren die beiden an der Reihe. Samba sah sie verschwinden.
Er war froh, als er seine Nummer aufleuchten sah, auch wenn er gleichzeitig ein etwas flaues Gefühl im Magen hatte. Er ging auf die vor ihm liegende Tür zu und klopfte. Eine Stimme befahl ihm einzutreten.
Das Büro war ein düsterer Raum mit einer hässlichen Deckenbemalung. Etwas unbeholfen setzte er sich auf den Stuhl gegenüber dem Beamten, der kaum von seinem Bildschirm aufsah. Umso eindringlicher schien das Porträt des Präsidenten der Republik ihn zu mustern, das hinter dem Bediensteten an der Wand hing. Leicht verunsichert erklärte Samba, dass er vor zehn Jahren, als er nach Frankreich gekommen sei, das erste Mal einen Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung gestellt habe. Damals hatte man ihm einen provisorischen Ausweis ausgestellt. Und stolz zeigte er das mit seinem Foto versehene Stück Pappe, das er immer bei sich trug.
Der Beamte schenkte ihm keinen Blick, so als hörte er gar nicht, was Samba sagte.
Darauf reichte ihm Samba die vor fünf Monaten erhaltene amtliche Bestätigung, dass er den Antrag gestellt hatte.
Der Mann nahm sie und las:
Samba Cissé, geb. am 16.02.1980 in Bamako, Mali.
In Frankreich eingereist am 10.01.1999.
Antrag gestellt am 01.02.2009.
Und Samba fügte hinzu, dass er nicht nur seit über zehn Jahren in Frankreich lebe, sondern auch seit fast ebenso vielen Jahren hier arbeite und Steuern zahle. Es hier noch einmal auszusprechen, schon das allein bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass er seine Aufenthaltsgenehmigung erhalten würde, denn er erfüllte ja nun endlich alle geforderten Voraussetzungen.
Der Mann runzelte die Brauen, die sehr lang waren, fast so lang wie seine Barthaare, und ihm Ähnlichkeit mit einem Foxterrier verliehen. Er hüstelte, und Staubpartikel flogen von den Aktenordnern auf in das bläuliche Licht seines Bildschirms.
Samba wurde heiß. Er warte nun seit fünf Monaten auf eine Antwort und sei hergekommen, um zu erfahren, ob inzwischen jemand die Zeit gefunden habe, sein Dossier zu lesen. Außerdem habe seine Mutter in Mali ihn gebeten, sie zu besuchen, weil sie krank sei. Und egal, ob das nun stimmte oder nicht, wenn sie so etwas sagte, dann musste sie ihn wirklich sehen. Er verhaspelte sich in seinen Erklärungen und begriff sehr wohl, dass den Beamten das alles nicht interessierte. Samba fasste sich. Also, er sei gekommen, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erbitten, damit er aus Frankreich ausreisen ‒ und vor allem auch wieder einreisen ‒ könne. Er sagte es fast entschuldigend. Und auf einmal wusste er nicht mehr, was er hier eigentlich sollte. Sein Hemd klebte ihm auf der Haut, in seinem Bauch gurgelte es, und die Sätze, die aus seinem Mund kamen, schienen nichts mehr zu bedeuten. Denn während er all das hastig herunterspulte, trommelte der Schnauzbärtige ungeduldig auf seinen Schreibtisch und sah angestrengt auf den Monitor, als wäre es der Computer, der mit ihm spräche.
Schweigen. Dann wandte sich der Beamte zu ihm um:
»Aber hier lese ich, dass Sie eine Antwort erhalten haben.«
Nein, sagte Samba überrascht, er habe nichts erhalten, und sein Rücken straffte sich kurz gegen die Stuhllehne.
Der Mann warf einen Blick auf seinen Bildschirm, dann sah er auf.
»Doch. Hier steht es. Sie haben vor zwei Monaten eine Antwort von der Präfektur erhalten.«
»Das muss ein Irrtum sein.« Samba rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Der Beamte bat um seinen Pass.
Er zog ihn aus seiner Brusttasche und reichte ihn ihm.
»Samba Cissé« stand auf der ersten Seite, gleich unter dem Foto. Er war stolz auf diesen Namen, den sein Vater ihm gegeben hatte. Ein Name, der pfiff wie ein Windstoß.
»Gut«, sagte der Beamte mit zufriedener Miene.
Und diesmal sah er Samba zum ersten Mal an, gewissenhaft verglich er das Passfoto mit seinem Gesicht, dann forderte er ihn auf, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Samba kam an der Menschenschlange vorbei, aus der er sich kaum fünf Minuten zuvor gelöst hatte, und fragte sich, warum man alle diese Leute im Stehen warten ließ, wenn es doch irgendwo einen Wartesaal gab.
Die Fenstervorhänge starrten vor Staub und Unbehagen. Auf einem niedrigen Rauchglastisch lagen ein paar Zeitschriften, auf den Titelseiten dasselbe Foto des Präsidenten der Republik wie in dem Rahmen, der über dem kleinen Schnauzbärtigen hing.
Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten kam dieser wenig später zurück. Samba Cissé wandte den Kopf: Der Vorgesetzte hatte keinen Bart, aber das gleiche Gesicht. Als er die beiden so nebeneinander sah, sagte er sich, die da draußen in der Warteschlange hatten alle das Gesicht des Unglücks, aus dem der beiden Beamten aber sprach die gereizte Amtsgewalt.
Alle Türen wurden geschlossen, und Samba wurde aufgerufen. Der Vorgesetzte erklärte ihm, dass er verhaftet sei, während der andere ihm schon die Handschellen anlegte.
Samba protestierte, er wollte es zunächst nicht wahrhaben. Er war im besten Glauben zur Präfektur gekommen, es war unfair, das auszunutzen, um ihn zu verhaften: Es handele sich um einen gewaltigen Irrtum, man solle ihm nur die Chance geben, die Sache aufzuklären. Aber es war, als hörten die beiden Männer gar nicht, was er sagte. Sie gaben ihm keine Antwort, ihre Gesichter verschlossen sich, als wären sie taub und blind, während er immer schneller sprach und immer lebhafter gestikulierte, ohne dass seine Worte auch nur die geringste Wirkung hatten.
Die Handschellen klickten.
Er rief um Hilfe, versuchte sich loszureißen, schlug gegen die Tür, redete, schrie, brüllte ‒ umsonst. Der Bärtige und sein Chef fesselten ihn zusätzlich mit Klebeband und führten ihn ab.
Als er in Handschellen an der Menschenmenge vorüberging, die vor dem Ausländerbüro wartete und ihn anstarrte, senkte er den Kopf wie ein Verbrecher.
In dem Moment bemerkte er den Jungen, der nun nicht mehr weinte. Das Kind sah ihn ernst an, es schien gar nicht zu spüren, dass seine Mutter es am Arm zupfte. Samba wandte den Blick ab. Nun verstand er die Scham des Kindes.
Am liebsten hätte auch er sein Gesicht verborgen.
Als Samba als knapp Neunzehnjähriger vor zehn Jahren nach Paris gekommen war, hatte er eine Wüste, ein Meer und vier Länder durchquert. Er war durch das Eingangstor der Rue Labat Nr. 4 gegangen und stand in einem düsteren Hof, von dem fünf oder sechs Aufgänge zu den oberen Etagen führten. Ratlos, welchen er nehmen sollte, fragte er zunächst einen alten Pakistaner mit struppigen grauen Haaren, der einen Moment überlegte und dann mit dem Finger in eine dunkle Ecke wies. Samba zögerte, da der Mann jedoch eifrig nickte, ging er in den Hausflur hinein, in dem der Putz von der Wand bröckelte, vermutlich nur noch von dem speckigen Papier gehalten, das darauf klebte, stieg ein paar Stufen hinauf, aber die Treppe führte nicht weiter als bis zur ersten Etage. Eine Tür öffnete sich zu einem verwahrlosten Raum, der hier und da noch Fetzen von rosa und weiß gemusterten Tapeten erkennen ließ: gespenstische Spuren von dem, was vielleicht einmal das Schlafzimmer einer Frau gewesen war. Samba war unheimlich zumute, er stieg die Treppe wieder runter. Unten angekommen, glaubte er in einem der Aufgänge sich etwas bewegen zu sehen und ging vorsichtig darauf zu: Ein kleiner Junge beobachtete ihn mit halb offenem Mund über einer Reihe abgebrochener Zähne.
»Kennst du einen Mann, der Lamouna Sow heißt?«
Das Kind drehte sich um und verschwand blitzschnell in einem der dunklen Korridore. Samba überlegte noch, ob er ihm folgen sollte, als plötzlich eine ganze Familie auftauchte: ein nur mit einer langen Hose bekleideter Mann, zwei Frauen, die jüngere von beiden mit einem Baby auf der Hüfte, und mehrere Kinder, unter ihnen der Junge mit dem zahnlosen Lächeln.
»Suchen Sie jemanden?«
»Meinen Onkel. Lamouna Sow.«
Der Mann zeigte auf eine Treppe, die nach unten führte. Aber sie befanden sich bereits im Erdgeschoss.
»Da runter?«
Die ältere der beiden Frauen, die noch weniger Zähne hatte als der kleine Junge, der sich in ihre Röcke geflüchtet hatte, nickte zur Bestätigung und riss die Augen weit auf. Der Mann grinste. Also ging Samba zögernden Schritts die Betonstufen hinunter, die zum Keller führten. Er befand sich auf einem Gang aus gestampfter Erde, der eine Reihe von Holztüren miteinander verband, die wohl schon mehrere Jahrhunderte gesehen hatten und, von der Zeit und der Feuchtigkeit angegriffen, langsam verrotteten. Er klopfte an die erste Tür, die nach einer kleinen Weile aufging.
Ein ganzes Stück unter ihm erschien das Gesicht seines Onkels Lamouna: ein erstauntes Gesicht von tiefdunkler Farbe, in dem kleine schwarze Augen funkelten. Er war der erste Verwandte, den er nach über einem Jahr wiedersah. Der Onkel erkannte ihn sofort, was ihm wie ein Wunder erschien nach all der Zeit, die er schon in Frankreich lebte. Samba wollte ihn umarmen, aber Lamouna war wirklich ein so kleiner Mann, dass sein Kopf sich dem Neffen in die Magengrube bohrte. Mein T-Shirt wird riechen, dachte Samba. Seine Haare waren verdreckt, seine Sachen klebten ihm seit Tagen auf der Haut, sein ganzer Körper war bis in die Zwischenräume der Finger mit einem feinen Film aus Schweiß und Schmutz überzogen. Darum machte er sich sanft von Lamouna los, wobei er sich den Kopf am Türrahmen stieß.
»Pass auf, Samba«, sagte der Onkel.
»Macht nichts, bin ich gewohnt«, erwiderte Samba und rieb sich den schmerzenden Schädel.
Er glaubte, sie würden nun an die Erdoberfläche zurückkehren, musste jedoch bald erkennen, dieses nahezu lichtlose Kellerloch war die Wohnung seines Onkels: zwei kleine Räume mit schmalen horizontalen Fenstern, die auf den Asphalt des Hofes hinausgingen, ein durchgesessenes Sofa, ein Fernseher, zwei Kochplatten, ein alter Kühlschrank, ein rotes Resopaltischchen, zwei Stühle mit Sitzen aus Strohgeflecht, eine verbeulte Matratze. Wäsche trocknete auf einer Leine, die sich über die gesamte Länge der Wohnung spannte, und verstärkte den ohnehin muffigen Geruch. Alles war blitzsauber, aber hier und da war die Wandfarbe verschimmelt und ließ unter großen grünlichen Aureolen den nackten Zement erkennen. Dennoch war Samba nicht enttäuscht. Er war so froh, endlich angekommen zu sein, hier, im Schoß seiner Familie.
Ein schwaches Lächeln erhellte Lamounas Gesicht, das faltig und mager geworden war im Vergleich zu den Fotos, die seine Mutter von ihm besaß. Er trug ein verwaschenes Hemd und eine dunkle Anzughose, sein dürrer Hals ragte aus einem viel zu weiten Kragen. Es machte ihn verlegen, dass sein Neffe sah, dass er in keinem anständigen französischen Haus wohnte, sondern in einem Kellergeschoss, in das kaum Licht drang. Samba bemerkte das Flackern in seinen Augen, die Angst, er könnte Fragen stellen, und er wollte doch nicht lügen müssen. Er hatte noch nicht begriffen, dass der junge Mann längst wusste, dass das Leben nicht so einfach war, wie er geglaubt hatte. Vom Hof her hörte man gedämpft Schreie und Musik. Samba wusste nicht recht, was er tun sollte, er wagte nicht, dem Onkel in die Augen zu sehen. Er hatte seine kleine Sporttasche auf den Boden gestellt und wartete reglos, ohne etwas zu sagen, ohne zu lächeln, unsicher und verwirrt. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Die langen Jahre der Abwesenheit hatten eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufgerichtet, die schwer zu überwinden war; das Reden fiel ihnen beiden nicht leicht.
»Also, dann wollen wir erst mal was essen!«, meinte Lamouna plötzlich lebhaft.
Er holte mehrere Teller aus dem Kühlschrank, sie waren in durchsichtige Folie eingeschlagen, die sich mit einem Geräusch wie ein Flüstern öffnete, dazu verschiedene kleine, in Aluminiumfolie eingewickelte Päckchen, die er nacheinander öffnete. Lamouna hielt sich sehr gerade, sein Körper war steif geworden in dem ständigen Bemühen, sich auszulöschen, in der vertikalen Diskretion von Menschen, die es gewöhnt sind, andere zu bedienen. Sein Gesicht dagegen hatte nichts Unterwürfiges und er selbst eine natürliche Eleganz in der Art, wie er einen Gegenstand in die Hand nahm oder auch den Arm seines Neffen berührte, damit er ihm zuhörte. Mit seinen feingliedrigen Händen, deren Nägel geriffelt waren wie Muscheln, wickelte er alle Speisen sorgsam aus. Samba kannte diese Gesten und auch die sichtliche Befriedigung, die es dem Onkel bereitete, ihm eine Freude zu machen: Seine Mutter, die kleine Schwester von Lamouna, hatte ganz dieselbe Art. Lamouna zauberte Reis und Nudeln auf den Tisch, Fisch und Fleisch und ein bereits geschnittenes Baguette, dazu Butter, so weich und glatt wie die Haut eines jungen Mädchens, und am Ende sogar noch ein Steak, das in der Pfanne rauchte und bis zum nächsten Morgen den Modergeruch der Wohnung durch den Duft von Gebratenem verdrängte. Lamouna arbeitete in einem Restaurant in der Nähe der Bastille, und die Chefin erlaubte ihm, übrig gebliebene Speisen, die sie den Gästen am nächsten Tag nicht mehr anbieten konnte, mit nach Hause zu nehmen. Darunter waren Dinge, die Samba noch nie gesehen hatte, wie Wurstaufschnitt oder Cornichons, und wenn er anfangs auch etwas misstrauisch war, so fischte er sich schließlich doch die eine oder andere Köstlichkeit von den Tellern, mischte die Aromen, berauschte sich an diesem Überfluss und mochte seinen Augen wie auch seinem Gaumen nicht trauen. Gierig verschlang er gebuttertes Brot, hauchdünne Scheiben rohes Rindfleisch, das mit duftenden grünen Blättchen belegt war, mariniertes Gemüse und kalte Kartoffeln, selbstvergessen lutschte er Knochen ab und saugte das Mark aus ihnen heraus und war so sehr in den Akt der Nahrungsaufnahme vertieft, dass er zwischendurch kaum einmal Atem holte. Lamouna, der selbst sehr bescheiden aß, sah ihm andächtig zu und beeilte sich, den Teller seines Neffen wieder zu füllen, sobald er leer war.
»Iss nur, Junge, iss.«
Erst als Samba das Gefühl hatte, dass sein Magen sich vor Wonne dehnte, und er erschöpft aufatmete wie nach einer großen körperlichen Anstrengung, lehnte er sich behaglich in seinem Stuhl zurück. Lamouna servierte ihm zum Abschluss einen sehr kräftigen Käse, der auf der Zunge mit einem leichten Brennen zerging. Voller Stolz fügte er hinzu:
»Wir haben denselben Lieferanten, weißt du, wie die Troisgros.«
Beinahe hätte Samba gefragt, wer diese »drei Dicken« denn seien, aber er war nicht sicher, ob der Onkel es wüsste. Die Bemerkung hörte sich aus seinem Munde auch eher an wie irgendwo aufgeschnappt, darum sagte er lieber nichts und tauchte das gebogene Messer noch einmal in die köstliche weiche Masse des Käses, dessen wie mit Asche bestäubte Kruste sich auch zwischen den Fingern wie etwas unendlich Kostbares anfühlte. Er labte sich. Schlemmte. Schwelgte.
Er musste wohl über eine Stunde gegessen haben, und endlich sprudelten nun auch die Nachrichten von der Familie aus ihm heraus. Lamouna lauschte auf jedes Wort, sein Lachen klang wie ein Wasserfall, und seine Augen verengten sich vor Glück zu schmalen Schlitzen. Sambas Stimme schwebte über dem Tisch, er sprach von ganz alltäglichen Dingen und erzählte alle Einzelheiten, die ihm nur einfielen, so unbedeutend sie auch waren, denn jede kleine Begebenheit zauberte ein Leuchten auf Lamounas Gesicht.
»Trink doch auch ein bisschen«, mahnte der Onkel.
Ein Blatt Minze schwamm auf dem Wasser der Karaffe. Gerade wollte Samba sich bedanken, als ihm der Atem stockte: Ein Bild stand plötzlich vor seinem inneren Auge und bannte ihn wie eine Erscheinung.
Er sah eine Ebene aus weißem Sand ‒ es war nicht der Sand der Wüste, wo er so gelitten hatte, eher ein Meeressand mit salziger Luft, ein Sand von einem Weiß, das nicht blendete und doch ein helles Licht aussandte, mehr Mond- als Sonnenlicht. Er begriff nicht, woher dieses Bild kam.
Ein sehr großer, sehr hagerer Mann stand dort in der Ferne, der einzige vertikale Bezugspunkt in der weißen Ebene. Seine Gesichtszüge konnte er nicht erkennen. Seine Silhouette hatte die Unschärfe eines Traums, und seine Schritte waren lautlos.
Es war ein flüchtiges stummes Bild, es glich ein wenig den Träumen, die er sich als Kind ausgedacht hatte, wenn sein Blick den am Himmel ziehenden Wolken folgte. Und es verschwand so schnell, wie es gekommen war, im Dämmerlicht der Kellerwohnung.
Er sah Lamouna mit großen Augen an, wagte aber nicht, etwas zu sagen. War es die Müdigkeit, oder war es die Magie dieses ihm unbekannten Landes? Kam es daher, dass er endlich einmal satt war nach einer langen Zeit des Hungers, die, so schien ihm, Monate gedauert hatte? Oder war es die Gegenwart seines Onkels, die Erinnerungen in ihm weckte, von denen ihm gar nicht bewusst war, dass er sie bewahrt hatte? Gab es ein Meer in diesem Traumbild? Er erinnerte sich nicht, aber es gab einen Himmel, nur dass er auch ihn nicht orten konnte.
Die Vision war verschwunden. Samba dachte nicht mehr daran. Auf einmal empfand er so etwas wie Glück.
»Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe«, sagte er schließlich.
»War es schwer?« Lamouna sah ihn prüfend an.
»Nein«, sagte Samba, und sein Onkel spürte, dass er log.
Samba schwieg darüber, dass er nicht, wie man ihm geraten, die Metro genommen hatte, denn als er auf dem Bahnsteig stand, hatte er das Gefühl, alle Welt würde ihn anstarren, angefangen bei einer jungen Frau mit eiskalten blauen Augen. Er krümmte den Rücken und zog den Kopf zwischen die Schultern, als wäre es sein großer Körper mit den zu langen, zu dünnen Gliedern, der die junge Frau stören könnte. In Marokko und später in Spanien hatte er sich irgendwie unsichtbar gefühlt, denn obwohl seine Erscheinung ihn auch dort eindeutig als Ausländer ausgewiesen hatte und er nicht zu übersehen gewesen war, hatte doch niemand durch irgendein Zeichen zu erkennen gegeben, dass man seine Existenz wahrnahm. Aber hier, an diesem Abend in Paris, war es anders, die geringste seiner Bewegungen schien die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf ihn zu lenken, und mehr denn je fühlte er sich ungeschickt in jeder seiner Gesten. Achte auf die Kontrollen, hatte man ihm eingeschärft, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln und ganz besonders, wenn du gerade erst angekommen bist. Hört doch bitte auf, mich so anzustarren, dachte er inständig und hoffte, sein Flehen würde verstanden werden, aber dann bemerkte er zwei Jugendliche, die sich gerade in diesem Moment zu ihm umdrehten. Er schwitzte. Er sah auf seine schmutzigen Hände. Die Jungs gingen auf ein rothaariges Mädchen zu, das ihnen ein paar Münzen gab.
Als der Zug vor ihm hielt, entdeckte Samba sein Spiegelbild im Wagenfenster und hinter ihm zwei Frauen, beladen mit Plastikbeuteln, die lebhaft miteinander sprachen, vielleicht über ihn. Die eine drängte sich an ihm vorbei und riss mit resoluter Geste die Tür auf, und beide Frauen betraten den Wagen gerade in dem Augenblick, als die Türen sich bereits wieder schlossen. Ein Mann sah ihn von jenseits der Scheibe ruhig an, während der Zug davonfuhr. Samba war auf dem Bahnsteig stehen geblieben.
Er war wieder nach oben gegangen, auf die Straße, und hatte tief Luft geholt, dann war er zu Fuß weitermarschiert, fragte ab und zu nach dem Weg, aber niemand verstand ihn. Ein junges Paar lachte sogar, als er sich erkundigte, wie er zur Rue Labat käme. Danach hatte er nicht wieder zu fragen gewagt, und so war er gelaufen und gelaufen, wie er es seit Monaten schon getan hatte. Er war immer weiter nach Norden gegangen, bis er schließlich vor dem Haus in der Rue Labat Nr. 4 stand, im 18. Pariser Arrondissement.
Er war hineingegangen in ein Labyrinth aus Korridoren voll aufgebrochener Briefkästen, und wie bei einer chaotischen Schnitzeljagd hatte er sich durchgefragt, um seinen Onkel zu finden, bis er auf den zahnlosen kleinen Burschen stieß und auf jene verborgene Tür im Keller, als er schon glaubte, dass Lamouna längst nicht mehr hier wohnte und er wieder einmal allein und verloren wäre.
Einen Augenblick später hatte ihn dieser Onkel willkommen geheißen und ihm seinen Schädel in die Magengrube gedrückt.
»Du wirst sehen, wir werden es gut miteinander haben.«
Und das klang wie eine neue Hoffnung für beide.
Ein wenig später, es war mittlerweile Abend geworden, und sie hatten alles, was von ihrer üppigen Mahlzeit übrig geblieben war, sorgsam in den kleinen, an den Ecken schon leicht angerosteten Kühlschrank zurückgeräumt, drückte Lamouna ihm ein Tuch in die Hand und begann schweigend das Geschirr zu spülen. Teller für Teller reichte er seinem Neffen, der sie abtrocknete. Dann nahm er das feucht gewordene Tuch und hängte es ebenso sorgfältig auf die Wäscheleine.
»Ich gehe jetzt arbeiten«, sagte er mit einem Lächeln. »Ruh du dich aus. Du kannst dich hier wie zu Hause fühlen.«
Samba stellte keine Fragen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Dann breitete der Onkel ein bunt geblümtes flauschiges Betttuch auf der Couch aus und ging aus dem Haus.
Samba schlief auf der Stelle ein und wachte erst am Nachmittag des nächsten Tages wieder auf: Seine Ruhe war nur unterbrochen worden durch einen schlaftrunkenen kleinen Imbiss, bei dem er verschlang, was Lamouna für ihn im Kühlschrank zurückgelassen hatte.
Während des Schlafs nahm er undeutlich Lamounas Kommen und Gehen wahr. Manchmal beugte er sich über ihn, und dann hatte Samba das Gefühl, als wäre die Mutter da und beobachtete ihn still in dem Glauben, er schliefe tief und fest. Sogleich schlummerte er selig und voller Vertrauen wieder ein. Er wollte gar nicht mehr aufwachen. Manchmal, so schien ihm, war es Nacht, manchmal Tag ‒ die horizontalen kleinen Fenster ließen kaum genauere Schlüsse zu. Allein die Temperatur im Raum, die im Lauf des Tages ein wenig anstieg, oder auch ein Geruch wie von Regen deuteten auf die Zeit und das Wetter hin. Zum ersten Mal seit langer Zeit wachte er wieder bei vertrauten Geräuschen auf ‒ beim Geschrei der Frauen im Hof, der Musik, die aus den Wohnungen der darüberliegenden Etagen drang, der Stimme des Onkels, der am Morgen leise vor sich hin summte, während er sich seinen Tee aufgoss. Seit über einem Jahr war er jeden Morgen als Fremder aufgewacht ‒ hochgescheucht, in Städten ohne Bezugspunkte, wo kein bekanntes Gesicht ihm je begegnete, kein vertrautes Licht ihn anzog. Hier endlich, eingehüllt in das flauschige Tuch mit den großen Blumen, spürte er die Nähe eines Menschen, dessen diskrete Anwesenheit seinen Schlaf sacht streifte, damit er umso tiefer wieder in ihm versinken konnte. Diese Augenblicke sollten ihm als einige der süßesten seines Lebens in Erinnerung bleiben.
Zehn Jahre später, während der Polizeitransporter ihn immer weiter von der Rue Labat und jenem ersten Abend in Paris entfernte, fürchtete er vor allem eins: dass man ihn zurückschickte, ohne dass er die Zeit gehabt hätte, das zu erreichen, weshalb er hergekommen war. Noch nie war er seinem Ziel so nahe gewesen ‒ und nun bewegte er sich in großer Geschwindigkeit wieder von ihm fort. Vielleicht war dies das Ende seines Abenteuers in Frankreich. Vielleicht fuhren sie ihn auf direktem Wege nach Roissy, um ihn in das nächste Flugzeug nach Mali zu setzen. Durch die Gitterstäbe sah er die jahrhundertealten Häuser von Paris und die hellen Steine seiner Ufermauern vorüberziehen, er sah den Fluss, der über Hunderte von Kilometern zum Atlantischen Ozean floss, demselben Atlantik, der auch an die Küsten Afrikas brandete; vielleicht würde man ihn dahin zurückbringen, in sein »Herkunftsland«. Sie machten zu Recht einen Unterschied zwischen »Herkunftsland« und »Land« schlechthin – sein Land war seit zehn Jahren Frankreich, mochte es ihnen passen oder nicht. Sie konnten über das Territorium entscheiden, wo er in Zukunft leben würde, aber an seiner Vergangenheit konnten sie nichts ändern.
Durch die Gitterstäbe sah er die Seine dahinfließen, und er erinnerte sich. Nach vier gescheiterten Versuchen war es ihm endlich gelungen, nach Europa zu gelangen. Er hatte eine Zeit in Spanien gearbeitet, und dann hatte er, fast ohne auszuruhen, eine letzte Reise gemacht, von Almería nach Paris, aus dem Süden Spaniens in den Norden von Frankreich, nur darauf bedacht, zu überleben. Ganz selten hatte er ein paar Minuten innegehalten, um in den Himmel zu sehen, in die Wolken, die sich hier zu anderen Formen türmten. Und nachdem er aus dem Bus gestiegen war, der ihn auf seiner letzten Etappe hierhergebracht hatte, endlich allein, endlich frei, war er ein letztes Mal gelaufen, an diesem Fluss und diesen alten Häusern entlang. Seine Schuhe waren staubig und zerlöchert, aber der Himmel leuchtete gelb, die Häuserwände strahlten im Licht der untergehenden Sonne, er war in Paris, im Zentrum der Welt. Er wusste, dass es vielleicht nicht von Dauer sein würde, und doch war er glücklich, hier zu sein, und das machte jenen Augenblick noch kostbarer.
Zehn Jahre später war er immer noch geblendet von diesem Licht auf den Quais.
Selbst hinter Gittern, selbst noch mit Handschellen an den Gelenken liebte er Frankreich.
Er war ein Patriot.
Als die Türen des Gefangenentransporters aufgingen, vielleicht aber auch, weil er die hohen Bäume des Bois de Vincennes sah, das Grün überall um diese grauen Mauern, wo er sich verstecken könnte, versuchte er zu fliehen. Er rannte auf das Gitter zu, zum Park hin, ins Weite ‒ vielleicht würden sie ihn nicht kriegen, vielleicht würden sie auch nicht schießen, vielleicht könnte er ihnen so entkommen ‒, aber er wurde sofort wieder eingefangen und abgeführt. Und sah in ein paar müde Gesichter, die zu sagen schienen, hier kommst du nicht raus, es sei denn zurück in die Hölle.
So wurde Samba unrechtmäßig eingebuchtet im Zentrum für Abschiebehaft Vincennes, bekannter unter dem Namen CRA 2 ‒ was sich »crade«1 aussprach, wie witzig, das hätte von ihm stammen können.
Er war im Recht.
Er versuchte sich zu beruhigen, während er im Gang zwischen zwei Polizisten saß: Hier würde er bestimmt jemanden sprechen, der ihn verstand. Er schüttelte leicht den Kopf, beschimpfte sich insgeheim als Idioten und beschloss zu warten, bis er sich angemessen erklären ‒ und erhobenen Hauptes hier wieder rausgehen könnte. Er schwieg, biss die Zähne zusammen, wartete auf den Augenblick, wenn sie ihn endlich würden reden lassen, und dachte über die Sätze nach, die er zu seiner Verteidigung sagen würde. Sie wirbelten ihm im Kopf herum und nährten seinen Zorn und seine Selbstsicherheit.
Aber gleichzeitig schnürte die Angst ihm den Magen zu. Sie hatten ihm seinen Pass weggenommen. Das einzige Dokument, das seine Identität bewies, das einzige, auf dem sein Name stand, Samba Cissé, war eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung, die längst abgelaufen war. Jetzt, wo die Polizei im Besitz seines Passes war und mit Sicherheit wusste, dass er Malier war, stand seiner Ausweisung nichts mehr entgegen. Sie würden ihn zum Flughafen bringen, und in ein paar Stunden käme er in Bamako an, mit rein gar nichts in den Händen, ohne einen Cent in der Tasche, nicht mal mit einem Hemd zum Wechseln oder gar einem Geschenk. Er wäre für alle ein Versager. Und seine Mutter würde sich für ihn schämen.
Zehn Jahre seines Lebens waren in wenigen Stunden zu nichts zerronnen. Eine schreckliche Reise und viele Jahre Arbeit waren in Rauch aufgegangen.
Man führte ihn in das Büro eines Chefs. Schon wieder ein Chef. Chef wovon und wie er hieß, erfuhr Samba nicht. Dabei verlangte man von ihm ständig, dass er sich vorstellte und irgendwelchen Unbekannten in Uniform sein Leben erzählte, aber nie stellte einer dieser Männer sich ihm vor. Hatten sie keine Namen?
Er fühlte, wie sein Herz heftiger schlug. Endlich würde er sich rechtfertigen können. Der ganze Irrtum, dessen Opfer er war, würde sich aufklären. Er war aus freien Stücken zur Präfektur gekommen, um eine Auskunft zu erhalten, sich nach dem Stand seines Antrags zu erkundigen, denn diesmal, so glaubte er, würde er endlich seine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Er wollte niemandem etwas Böses, er wollte nur regulär arbeiten dürfen. Noch meinte er sich verteidigen zu können. Noch glaubte er an die Macht der Worte.
Aber der »Mann aus Vincennes«, wie Samba ihn taufte, begann als Erster zu reden. Er sprach sehr gesetzt und mit traurigem Gesichtsausdruck und versuchte ihm zu erklären, warum man ihn inhaftieren werde. Seine samtweiche, schmächtige Stimme stand in merkwürdigem Gegensatz zu seiner Boxerstatur. Er schien seiner nicht sehr sicher zu sein und kannte sich vermutlich auch nicht in allen Gesetzen richtig aus: Es gab so viele, und sie waren so komplex. Vielleicht wusste im Grunde ja niemand wirklich, warum Samba hier war.
Er schob seine Finger unter seine Schenkel, um das Zittern seiner Hände zu verbergen, und wog immer wieder sorgfältig die Worte ab, die er sagen würde, um sich zu retten. Es mussten andere Worte sein als bisher, denn alle, die er seit heute Morgen gesagt hatte, hatten nichts genützt. Er sah aus dem Fenster, gewiss, um sich zu konzentrieren, vielleicht aber auch, um die Ereignisse dieses Tages noch einmal Revue passieren zu lassen. Er sah sich, wie er in vollem Vertrauen zur Präfektur ging, ohne zu ahnen, dass er geradewegs in einen Alptraum lief. Er dachte an das Ausländerbüro, an den Bullen, der ihm die Handschellen angelegt hatte, an den, der ihn in den Gefangenentransporter gestoßen hatte, an die beiden, die neben ihm saßen, während das Auto in hohem Tempo über die lichtüberfluteten Quais der Seine raste.
An all das dachte er, als der Beamte erklärte:
»Jetzt werden Sie mir sagen, dass Sie nicht nach Hause zurückkehren wollen.«
Und Samba erwiderte mit einem feinen Lächeln:
»Im Gegenteil. Aber es kommt darauf an, was man unter meinem Zuhause versteht.«
Der Beamte reagierte nicht. Er sah nicht mal streng aus, eher deprimiert. Samba gluckste, schluckte sein Lachen jedoch schnell hinunter. Der andere kratzte sich nervös den Unterarm, scheinbar ohne es zu bemerken, dann knöpfte er, ebenso abwesend, seine Manschette auf und sagte seufzend:
»Ich weiß. Niemand will gezwungen werden. Aber Sie haben kein Recht hierzubleiben. Wir können nicht alle Welt aufnehmen, das wissen Sie genau. Sie haben eben kein Glück gehabt. Man wird Sie abschieben.«
Samba stammelte, dass sie das nicht dürften. Aber der Mann erwiderte in scharfem Ton, dass es eine Anweisung gebe, die jeden Beamten seiner Behörde ermächtige, einen Ausländer vorläufig festzunehmen, wenn dieser nicht im Besitz gültiger Papiere sei.
Samba Cissé schrie:
»Aber ich wusste doch nicht, dass sie nicht mehr gültig waren!«
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Mann im Befehlston und schlug mit den Händen so heftig auf die Kante seines Schreibtischs, der seine Existenzberechtigung war, dass seine Fingerspitzen weiß wurden. Samba hatte eine trockene Kehle, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er fuhr sich mit dem Ärmelaufschlag übers Gesicht, befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge, fasste sich und sagte etwas sanfter:
»Ehrlich, wenn ich gewusst hätte, dass meine Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt worden ist, wäre ich nicht hergekommen.« Er zog ein zweimal gefaltetes Dokument aus seiner Brusttasche, ein zwanzig Zentimeter großes kartoniertes Papier mit einem Passfoto, auf dem er, vertrauensvoll lächelnd, in seinem Fußballtrikot zu sehen war ‒ dem Trikot eines Siegers. Er hielt es dem Beamten hin. »Sehen Sie, als ich herkam, hat man mir diese vorläufige Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt, gültig für sechs Monate. Ein Mal hat man sie mir erneuert, und danach nichts mehr. Ich lebe seit zehn Jahren hier, ich arbeite, zahle meine Steuern, meine Sozialabgaben.«
»Und darf man wissen, als was Sie gearbeitet haben?«, fragte der Mann aus Vincennes. Er sprach in der Vergangenheitsform und mit verächtlichem Überdruss in der Stimme.
»Als Reinigungskraft und als Hilfsarbeiter auf dem Bau.«
Der Beamte kreuzte ein Feld an.
»Reinigungskraft steht nicht auf der Liste«, fügte er in fatalistischem Ton hinzu.
Samba Cissé wusste, dass im Dezember 2008 eine Liste mit dreißig Berufen herausgekommen war, mit denen man eine Aufenthaltsgenehmigung erlangen konnte. Reinigungskraft gehörte nicht dazu. Hilfskraft in einer Mülltrennanlage, Handlanger, Fabrikarbeiter auch nicht. Nur sehr qualifizierte oder wenig bekannte Berufe bildeten diese Liste. Samba schämte sich, dass er gezwungen war, Beschäftigungen nachzugehen, die sich sein Vater nie für ihn hätte vorstellen können, der so stolz darauf gewesen war, dass sein Sohn das Gymnasium besuchte, und nur eins hoffte: dass er sein Abitur machen würde.
»Ich kenne meine Rechte«, sagte Samba. »Meine Tätigkeit steht nicht auf der Liste, aber ich bin seit über zehn Jahren in diesem Land, und im Interesse meines Lebens und dem meiner Familie kann man mich nicht einfach ausweisen.«
Da endlich hob der Beamte interessiert den Kopf von seinem Blatt: »Dann erzählen Sie mal.«
Sie ist noch ganz klein, die meerblaue Schildkröte, aber sie spürt, dass es kühler wird, und schlüpft hinaus in die Nacht. Der Sand ist noch immer feucht, obwohl schon seit mehreren Stunden Ebbe ist. Die Wellenkämme, die das Mondlicht und das Funkeln der Sterne reflektieren wie ein hundertfaches Augenzwinkern, senden ihr ein Leuchtzeichen, das sie ruft und leitet.
Dann wird der Boden plötzlich ein wenig wärmer und beweglich. Ihre Paddel, mit denen sie vorwärtsrobbt, halten inne, ihr Hals reckt sich, der Kopf geht nach rechts und nach links. Eine rotbraune Maulwurfsgrille mit flaumigem Körper und durchsichtigen Flügeln hat eben ihre Beine in ein noch nicht ausgebrütetes Ei geschlagen.
Langsam kriecht die Schildkröte weiter. Andere nehmen den gleichen Weg und hinterlassen dieselben Spuren wie sie auf dem Strand. In Zickzacklinien arbeiten sich die kleinen dunklen Silhouetten auf dem hellen Sand vor.
Plötzlich taucht hechelnd ein Hund auf, wirbelt Sand hoch, spielt mit einer von ihnen, die sich unter ihrem Panzer zu verschanzen versucht, doch vergeblich: Schon hat er sie verschlungen. Die anderen Tiere rennen weiter, sie können nicht zurück und streben deshalb so schnell wie möglich dem Ozean zu.
Blinzelnd taucht die kleine meerblaue Schildkröte ins Wasser. Es schmeckt salzig, weich gleitet es über ihren blauen Panzer, auf dem fünf sternförmig verlaufende weiße Linien leuchten, die ihre Wölbungen und die Anordnung ihrer Glieder unterstreichen und ihr Ähnlichkeit mit einem Schiffsrumpf geben.
Hat sie erst einmal die offene See erreicht, taucht sie in die Fluten ein und lässt sich von der Strömung tragen. Sie entkommt den Kraken, dem weißen Hai, den Fischernetzen, den Meeresvögeln, den Haken an den Angelschnüren, dem im Wasser treibenden Unrat. Bunte Plastiktüten könnte sie für Quallen halten, aber sie beachtet sie nicht und setzt ihre Reise fort.
Sie taucht in die Tiefe und sieht sich weiter um. Sie hört den Gesang eines Delphins und manchmal auch das Prusten eines Wals. Das Wasser ist kälter hier, aber ihr Panzer schützt sie.
Mit kraftvollen Stößen ihrer Paddel bewegt sie sich vorwärts, verschlingt Algen, kleine bunte Fische, lilafarbene Seeigel und rote Schalentiere, die unter ihren spitzen Zähnen knacken.
Deswegen nämlich ist sie hier: um sich zu ernähren.
Sie legt Tausende Kilometer zurück, folgt Meeresströmungen und Magnetfeldern. Sie zählt die Zeit. Und immer weiter geht ihr Weg. Schließlich schwimmt sie gegen den Strom, wendet sich nach Osten, in Richtung auf Westafrika und den Äquator, der die Erde in ihrer Mitte teilt. Ihre Reise dauert Jahre, und nichts hält sie auf.
Sie ist jetzt zwei Meter lang und einen Meter breit und wiegt Hunderte Kilo. Sie begegnet einem seltsamen kleinen Schiff, es liegt schwer im Wasser und kommt nur langsam vorwärts, viel langsamer als sie.
Sie schwimmt an ihm vorbei, eilt weiter durch die Ozeane nach Norden, und in den Nächten lässt sie sich von den Sternen leiten.