Meiner Tochter Elke, die stets bei mir ist
Vorbemerkung
Tasiilaq, Ostgrönland, März 2013
»Robert, was machst du denn da?«
»Robert, Robert!«
»Robert, es ist Mitternacht, warum bist du nicht im Bett?«
»Ich bereite mich vor, Mamma. Das gehört zum Training, geh schlafen.«
»Und worauf bereitest du dich vor? Bist du verrückt geworden?«
»Das weiß ich nicht, Mamma, ich bereite mich eben vor. Ich möchte bereit sein.«
»Unser Sohn ist vollkommen verrückt«, sagt meine Mutter zu meinem Vater. Dann gehen sie beide weg, und ich bleibe auf dem Boden liegen, im Wohnzimmer unseres Hauses in Bozen.
Heute ist der Himmel wie blank gefegt. Ich schaue aus dem Fenster auf den Fjord, auf die kleinen roten Häuser, die sich eines hinter dem anderen vor meinen Augen verlieren. Ab und zu hört man eine Mutter mit ihrem Kind schimpfen, weil es auf dem Weg herumtrödelt, anstatt schnurstracks zur Schule zu laufen. Ansonsten liegt die Bucht von Tasiilaq still da. Heute Morgen ist das Licht wunderschön. Die lange Nacht liegt hinter uns, jetzt erwartet uns das, was das Volk der Inuit als einen einzigen Tag ansieht: der Polarsommer.
Ich fühle mich heiter, glücklich, im Frieden mit mir selbst. Die Kraft der Elemente erstaunt mich noch immer wie beim ersten Mal.
»Alles in Ordnung, Robertì? Brauchst du etwas?«, fragt ein Freund von draußen vor der Tür, während ich heißen Kaffee schlürfe.
»Ich komme gleich, einen Moment noch.«
Die Luft ist beinahe mild nach Wochen mit Temperaturen von minus dreißig Grad und heftigen Schneestürmen. Das Dach der Küche hat ein paar Löcher abbekommen, und die Warmwasserleitung im Bad ist geplatzt, aber im Großen und Ganzen hat das Haus es recht gut überstanden. Wieder geht ein Winter zu Ende. Es wird wärmer, das erkenne ich an der Farbe des Eises im Fjord und daran, dass die Boote aus dem Wasser aufzusteigen scheinen und kaum merklich vor- und zurückgleiten.
Es wird noch einige Zeit dauern, bis man aufs Meer hinausfahren kann. Am Ufer bereitet ein Jäger sich darauf vor, zu Fuß über das Eis zu gehen. Eine Gruppe Kinder umringt ihn und hilft ihm, alles Nötige auf seinen Schlitten zu laden.
An Tagen wie diesen liebe ich es, zum Hafen zu spazieren. Ich verlasse das Haus und treffe einen Freund, der sein neugeborenes Baby unter der Achsel hält, um es zu wärmen. Er kommt auf mich zu, legt seine Nase an meine und riecht daran, wie es hier üblich ist. Um die Seele zu spüren, sagen die Inuit.
Ich mache das Gleiche bei ihm.
»Hallo, Robertì, heute geht’s dir gut, das sehe ich«, verkündet er ganz fröhlich.
Er will besonders nett sein, denn er weiß, dass ich vor einigen Tagen auf der Schwelle meines Büros beinahe gestorben wäre, weil mich die Macht des Windes in den tiefen Schnee geworfen hatte. Ich lag einige Minuten vollkommen hilflos am Boden und war nicht in der Lage aufzustehen. »Robert Peroni, Abenteurer und Extrembergsteiger, stirbt nur wenige Meter von seinem Haus entfernt«, hätte in meinem Nachruf gestanden – und das hätte nach einem Leben, in dem ich viele Wüsten durchquert und hohe Berge bestiegen habe, doch reichlich absurd geklungen.
Heute bin ich fast siebzig; ich bin nicht mehr der Junge von einst und auch nicht der Mann, der mit vierzig beschlossen hatte, nach Grönland zu ziehen, ein neues Leben in einem Land zu beginnen, das ebenso unwirtlich wie wunderbar ist.
Meine Reise nähert sich dem Ende, das weiß ich, und während ich es mir in Erinnerung rufe, wird mir klar, wie sie begonnen hat: mit dem kleinen Jungen, der Ende der 1950er-Jahre unbedingt auf dem Boden des Wohnzimmers in diesem schönen Haus in Bozen schlafen wollte. Was ich ihm nicht einen Moment lang vorwerfen kann.
1 Wie ein Vater zu seinem Sohn
Es heißt, wenn man nicht als Kind mit dem Kajakfahren anfängt, lernt man es nie.
Grönland und ich, wir haben uns gesucht und gefunden. Das weiß ich jetzt. Oft bemerken wir etwas ja erst, wenn uns jemand, vielleicht Jahre später, darauf aufmerksam macht. Plötzlich begreifen wir den Sinn unseres Handelns, der uns bis zu diesem Moment verborgen geblieben war.
Zu Beginn der 1980er-Jahre, als ich diese riesige Insel zum ersten Mal betrat, durchlebte das Volk der Inuit eine schwierige Phase des Übergangs zur modernen Zivilisation, um die es niemals gebeten hatte und nach der es sich auch nie gesehnt hatte, und ich fragte mich damals die ganze Zeit: »Was mache ich hier eigentlich?« Mit »hier« meinte ich nicht die Expedition ins arktische Eis, die mich hierher gebracht hatte, sondern ganz allgemein das Leben, das ich damals führte.
Nun, ich brauchte die Inuit einfach, und vielleicht war es umgekehrt genauso. Doch wir wussten nichts voneinander, und ich schwöre, eigentlich wollte ich zunächst überhaupt nicht nach Grönland.
»Was sollen wir denn da?«, raunzte ich das Team meines Sponsors missmutig an, als sie mir eine Expedition kreuz und quer durch Grönland vorschlugen, mehr als 400 Kilometer Fußmarsch am Stück: Damit würde man den bisherigen Rekord brechen.
»Sie machen einfach Ihre Arbeit, Herr Peroni. Neue Orte entdecken, neue Materialien testen. Wir haben unglaubliche Skier für Sie. Warten Sie nur, wenn Sie die einmal ausprobiert haben, werden Sie uns anflehen, wann es endlich losgeht«, versicherte man mir.
Bis dahin hatte ich mein Leben damit verbracht, den richtigen Durchstieg zwischen zwei Steilwänden zu finden und eine Route zu wählen, auf der ich wieder heil und gesund nach Hause zurückkehren würde, doch jetzt, mit Anfang vierzig, war ich etwas orientierungslos. Ich wusste nicht, wohin die Reise gehen sollte. Ich war es zwar gewohnt, den Kompass zu befragen, in den Sternen zu lesen, Gefahr allein am Geräusch des Schnees unter meinen Füßen zu erkennen, aber das Leben schien doch ein wesentlich holprigerer Weg zu sein. Und das war vollkommen neu für mich.
Die Aussicht auf Grönland fand ich wenig verlockend. Ich stellte es mir wie eine größere Version von Spitzbergen vor, dem Archipel im Nordpolarmeer, wo ich in den Sechzigerjahren gewesen war. Nach einer, nennen wir es mal, »spontanen Alpinphase«, in der ich ganz allein über meine Vorhaben entschieden hatte, war dies meine erste internationale Expedition gewesen.
Wir verbrachten damals fast zwei Monate auf der Inselgruppe. Das Team setzte sich überwiegend aus Alpinisten und Bergsteigern zusammen, unter den Teilnehmern war kein einziger Geograf oder Geologe: Wir mussten nichts untersuchen, alles, was man von uns verlangte, war, wie die Blöden zu marschieren und so viele Gipfel wie möglich zu besteigen. Jeder hatte seinen eigenen Schlitten mit allem Lebensnotwendigen dabei, vom Zelt für die Nacht bis hin zum Gaskocher, außerdem Taschenmesser und Lebensmittelkonserven.
Damals war ich Anfang zwanzig und ganz versessen aufs Skifahren: Die Vorstellung, jeden Morgen einen anderen Gletscher zu besteigen, Wände zu erklimmen und dann zu schauen, wie ich am besten wieder runterkam, ohne mir den Hals zu brechen, fand ich toll und aufregend. In Spitzbergen war alles neu für mich, auch die Tiere: Ich erinnere mich an einen Eisbären, der nur ein paar Meter vom Camp entfernt eilig vorübertrottete, und an die Walrösser, die sich prustend ins eiskalte Meer stürzten.
Doch jetzt, da der Sponsor so viel Druck machte – »Ihr müsst beweisen, dass man mehr als 400 Kilometer am Stück über das grönländische Inlandeis zurücklegen kann« –, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an einen ewig grauen Himmel, tief hängende Wolken und diese Feuchtigkeit, die einem bis in die Knochen drang.
»Ja, gut, ich überleg es mir«, antwortete ich, um weitere Diskussionen zu vermeiden. Doch ich wollte weniger Zeit schinden als auf freundliche Weise zu verstehen geben, dass ich nicht interessiert war.
Was mir früher ein aufregendes Ziel erschienen war – auf unerforschte Berge zu steigen, Gipfeln einen Namen zu geben, die vielleicht noch nie zuvor jemand erreicht hatte –, entpuppte sich jetzt als eine Falle. Ich kam mir wie eine dressierte Maus vor, die sich ihr Stückchen Käse verdiente, indem sie im Käfig auf und ab lief. »Was hat das alles für einen Sinn?«, fragte ich mich.
Die letzten Expeditionen hatten einen schalen Nachgeschmack hinterlassen: übermächtige Sponsoren, eine neue Generation von Expeditionsteilnehmern, die immer mehr Athleten und immer weniger Bergsteiger waren, Geldgeber, die konkrete Ergebnisse verlangten, und eine nach außen hin zwar partnerschaftliche Atmosphäre, die jedoch sofort verflog, sobald einer der Teilnehmer sich selbst beweisen wollte. Und ich mittendrin, um Frieden zu stiften. Ich war das alles so leid.
Ich war nicht mehr der junge Peroni, der um jeden Preis Rekorde aufstellen musste. Ich hatte immer meine Kollegen kritisiert, die eine gewisse Sammlermentalität an den Tag legten – jetzt der Achttausender hier, dann eine unerforschte Wüste dort und danach vielleicht eine Polardurchquerung –, aber inzwischen war auch ich in diesem Räderwerk gefangen. Sobald man eine Expedition abgeschlossen hatte, galt es sofort eine neue zu finden, die noch spektakulärer, noch extremer war, ganz so, wie es die Sponsoren liebten, die sich davon einen guten Werbeeffekt versprachen. Das alles war aus ihrer Sicht vollkommen logisch: Sie konnten glänzen. Aber ich? Ich wollte Forscher sein, stattdessen war ich kaum mehr als ein Vertreter in Sachen Extremsport.
Als ich so bei mir zu Hause auf dem Sofa saß, fragte ich mich, wie ich bezüglich Grönland entscheiden sollte. Sollte ich gehen, oder war nun der Moment gekommen, mit allem Schluss zu machen?
Was hatte ich denn für Alternativen? Zu Hause bleiben, Anzugträger werden und ein etwas normaleres Leben führen?
Ich hatte mich zu sehr an mein Dasein gewöhnt: Jahrelang hatte ich als Abenteurer gelebt und gutes Geld damit verdient; die Unternehmen rissen sich darum, mir immer neue Aufgaben anzubieten. Man kann das jetzt eitel oder dumm nennen, aber mir gefiel dieses Image: mit von Wind und Sonne gegerbter Haut von einem großen Abenteuer zurückzukommen, erfüllt vom Gefühl der eigenen Kraft und Geschicklichkeit, etwas, was man nur draußen in der freien Natur erwerben kann.
Wenn ich jetzt damit aufhörte, würde ich all denen recht geben, die sagten: »Robert, werd endlich erwachsen, du hast eine Frau und eine Tochter … Wann hörst du endlich auf, den Helden zu spielen?« Ich hatte über zwanzig Jahre lang intensiv gelebt und mir nicht vorstellen können, dass dieses Dasein irgendwann seinen Sinn verlieren könnte. Was wird aus einem Entdecker, wenn es für ihn nichts mehr zu entdecken gibt?
Ich wusste nicht mehr, wo ich stand. Doch die Sponsoren der Grönlandexpedition wussten sehr wohl, wie sie mich packen konnten: Dieser Rekord, so hatte man mir oft genug versichert, sei eigentlich gar nicht zu brechen, bei den Temperaturen dort könne niemand länger auf sich gestellt überleben. Und da meldete sich in mir wieder der alte Robert: Wenn alle behaupteten, die längste Strecke, die man auf dem grönländischen Inlandeis überleben könne, seien 400 Kilometer, dann mussten wir mindestens tausend schaffen. Und somit war das Ganze wieder zu einer Herausforderung geworden.
»Ich weiß schon, wen ich dabeihaben möchte«, erklärte ich ein paar Tage später den Organisatoren.
»In Ordnung, wir sind bereit, wir erwarten dich.«
Der Typ am anderen Ende der Leitung wirkte nicht sonderlich überrascht, dass ich meine Meinung geändert hatte. Wie fast alle damaligen Extremkletterer war auch ich ein »Junkie«. Zwar nur nach Adrenalin, aber trotz allem süchtig. Und er wusste das.
Noch in derselben Woche hatte ich alles geplant, das Team zusammengestellt, sämtliche Details über das Land zusammengetragen und die Route ausgewählt. Und dann brachen wir auf.
Das erste Bild, das ich von Grönland im Kopf habe, ist das meines Teams, wie es gerade unser Lager errichtet. Meine Sinne sind geschärft, ich spüre wieder die übliche Erregung, die mich ein paar Tage vor dem Aufbruch überkommt. Es hat mir immer Spaß gemacht, die Einzelheiten zu studieren, alle Risiken abzuwägen und dann, sobald wir aufgebrochen sind, zu spüren, wie sich mein Körper und mein Geist auf die Aufgabe einstellen und sämtliche anderen Sorgen vorübergehend beiseitegeschoben werden.
Während wir noch mit den Zelten beschäftigt sind, legt ein Mann, ein Jäger, mit seinem Boot an. Er begrüßt uns nicht, gibt nicht zu erkennen, dass er uns bemerkt hat, er setzt sich einfach wenige Meter neben unser kleines Lager. Ich erinnere mich sehr gut an ihn, denn bis zu diesem Moment bin ich noch nie einem Inuit begegnet: Er ist höchstens 1,45 Meter groß, ein wenig rundlich, mit asiatischen Gesichtszügen.
Wir schauen zu ihm hin und warten darauf, dass er uns irgendwie ein Zeichen gibt: Auf dieser riesigen, ebenen Fläche an einem kleinen Fjord sind nur wir und er, niemand sonst. Es ist wie bei einer Gipfelbegegnung – es gehört sich einfach, dass man etwas sagt, wenigstens einen Gruß austauscht. Aber es passiert nichts, der Mann schaut hinaus aufs Meer, und wir schauen auf ihn, ziemlich penetrant, als müssten wir seine Aufmerksamkeit gewinnen.
»Robert, du bist hier der Chef, geh hin und rede mit ihm«, schlägt einer aus dem Lager vor.
»Ich weiß nicht, der sitzt da so ruhig …«, entgegne ich.
Das Merkwürdige ist, dass er ostentativ aufs Meer hinausschaut, als wolle er uns damit zu verstehen geben, unsere Anwesenheit sei ihm völlig egal. Ich weiß zu dem Zeitpunkt sehr wenig über Grönland, aber noch weniger weiß ich über seine Bewohner.
»Los, jetzt geh schon hin und sag, wer wir sind«, beharrt mein Kumpel.
Das Meer ist ziemlich ruhig, und vor uns schwimmen große Packeisstücke und glitzernde Eisberge vorbei, deren Spitzen aus der Wasseroberfläche ragen.
Ich nähere mich dem Mann langsam und bleibe einige Meter vor ihm stehen. Ich werfe einen Blick auf das Motorboot aus Fiberglas. Auf dem Boden liegt ein großkalibriges Jagdgewehr. Natürlich hat der Mann mich längst bemerkt, aber er schaut weiterhin in eine andere Richtung. Als ich noch etwas näher komme, steht er auf, geht zum Boot, macht das Tau los und fährt davon. Merkwürdig, denke ich, während ich kopfschüttelnd zu meinen Gefährten zurückgehe.
»Was hat er zu dir gesagt?«, fragen mich die anderen.
»Nichts, er ist einfach weggefahren«, antworte ich und konzentriere mich wieder auf das, was noch zu erledigen ist.
Vierundzwanzig Stunden später sehen wir plötzlich am Ende des Fjords eine Reihe kleiner Boote auftauchen. Sie legen an, und gleich darauf stehen mehrere Leute vor uns, die uns wohl begrüßen wollen. Auch der Mann vom Vortag ist mit dabei, diesmal schaut er uns sogar an. Wir sind sehr freundlich, aber eine Verständigung ist schwierig, daher lächeln wir viel und reden wenig. Sie gestikulieren, reden und lächeln auf eine Art, die ich noch nie gesehen habe; die Inuit sind etwas eigenartig, doch keineswegs unsympathisch. Ich glaube, das Gleiche dachten sie auch über uns: Anfang der Achtzigerjahre hatte man in Ostgrönland bestimmt erst wenige Touristen gesehen. Es ist die kälteste Gegend der Insel, da hier die Polarströme entlangfließen, während an der westlichen Küste das Klima vom Irmingerstrom gemildert wird, einem Ausläufer des Golfstroms.
Unsere Besucher beobachten uns neugierig und beginnen, sich mit uns anzufreunden: Wir essen zusammen und spielen Fußball, einige jüngere Inuit spielen Gitarre, und die Frauen fordern uns zum Tanzen auf.
Am Abend, nachdem wir am Ufer die Boote verabschiedet haben, bemerken wir, dass ein Junge zurückgeblieben ist. Vielleicht war er irgendwo herumgelaufen oder eingeschlafen; wie auch immer, sie haben ihn dagelassen, und wir haben keine Boote, um ihn ins Dorf zurückzubringen.
»Was machen wir denn jetzt?«, frage ich die anderen.
Es ist August und noch sehr hell, aber der Tag geht zu Ende. Es ist bereits spürbar kälter, und der Junge hat bloß Turnschuhe an den Füßen und keine Jacke über dem T-Shirt.
»Was ist passiert? Warum bist du hiergeblieben?«, frage ich ihn.
Da wird mir klar, dass er mich nicht versteht: Er beobachtet aufmerksam meine aufgeregt herumfuchtelnden Hände wie jemand, der so etwas noch nie in seinem Leben gesehen hat, aber er begreift meine Besorgnis nicht. Ich versuche, ihm etwas zum Anziehen zu geben, aber das lehnt er ab, und auch zu essen will er nichts. Jetzt ist er derjenige, der versucht, etwas mit Gesten mitzuteilen, doch ich verstehe bloß, dass es für ihn kein Problem gibt und er schon irgendwie klarkommen wird.
Ich bin empört. »Wie zum Teufel kann so etwas passieren?«, mache ich mir bei meinen Gefährten Luft. »Wie kann man einen Jungen an einem Ort wie diesem hier einfach vergessen?«
Ich rege mich auf, doch in Wirklichkeit verwirrt mich etwas. Komisch, er ist viel zu ruhig. Ich sage einem von meinen Leuten, dass er auf ihn aufpassen soll.
Eine halbe Stunde später kommt er zu mir und sagt, der Junge sei verschwunden.
»Warum habt ihr ihn gehen lassen? Seid ihr verrückt?«, fahre ich meine Leute an. »Ist euch nicht klar, wie gefährlich das ist?«
Sie erklären mir, dass sie den Jungen nur für einen Moment aus den Augen verloren hätten, und gleich darauf sei er auch schon oben auf dem Hügel gewesen und dann hinter einem Felsen verschwunden.
»Aber da ist doch ein Gletscher. Wie soll er das schaffen?«
Ich frage mich, wie er sich allein auf den Weg machen konnte, schließlich hatte er mindestens zwölf Stunden Fußmarsch über den Schnee vor sich, nur im T-Shirt und mit Turnschuhen und ohne irgendwelchen Proviant. Wir müssen ihm nach. Während ich noch alles organisiere, um ihn einzuholen, sehe ich in der Ferne wieder die Boote.
»Und was passiert jetzt?«, frage ich meine Leute.
»Das ist merkwürdig, die kommen wohl zurück.«
Wütend gehe ich den Inuit entgegen. Ich erkläre ihnen, dass der Junge bereits fort sei und dass er den ganzen weiten Weg über den Schnee allein zurücklege.
Die Inuit schauen mich an und lachen dann laut los.
»Habt ihr verstanden, was ich gerade gesagt habe?«, frage ich immer wütender und versuche, mit Gesten erst den Jungen, dann den Berg, die Turnschuhe und das T-Shirt zu beschreiben. Kurz gesagt, ihnen klarzumachen, dass es wirklich nicht komisch ist. Als Antwort lachen die Männer erst recht los.
»Und außerdem hat er nichts zu essen dabei«, füge ich noch hinzu.
»Für einen Tag?«, fragt mich einer der Männer, was die anderen erneut zum Lachen bringt.
»Aber er hat doch bloß Turnschuhe an, und er muss über zwei Gletscher.«
»Ach, das ist doch kein Problem«, sagt ein anderer.
Sie lachen. Oder besser, sie lächeln. Sie machen sich nicht lustig über mich, sie verstehen nur nicht, warum ich mich so aufrege.
»Gut, also dann gibt es keinen Grund zur Sorge, okay. Aber jetzt nehmen wir trotzdem die Boote und fahren ihm hinterher. Ich lasse den Jungen nicht allein«, beharre ich.
Die Männer verstehen, dass ich erst wieder Ruhe gebe, wenn der kleine Inuit in Sicherheit ist.
Wir verlassen die Zelte, steigen in die Boote und fahren am Ufer entlang in der Hoffnung, ihn zu entdecken. Ich verwende mein Fernglas, sie schauen mit bloßem Auge, aber man kann sehen, dass sie nur Ausschau halten, damit ich zufrieden bin.
Wir fahren um die ganze Halbinsel herum, dann macht mich einer von ihnen auf einen winzigen Punkt aufmerksam, der sich oben auf dem Gipfel bewegt.
Ich fange an zu schreien, und sie tun es mir nach. Schließlich bemerkt uns der Junge, bleibt stehen und schaut nach unten. Sie bedeuten ihm, er möge herunterkommen, und ich erschrecke wieder: Es ist der absolute Wahnsinn, diesen steilen Eiskanal mit Turnschuhen hinabzusteigen.
Wenige Sekunden später sehe ich den Jungen, der inzwischen den engen, rutschigen Abhang herabgekommen ist und sich offensichtlich ganz wohl dabei fühlt. Er gleitet über den Neuschnee, ab und zu sinkt er ein, läuft jedoch gleich weiter.
Ich schaue die Männer an, so wie Menschen mit Flugangst die Stewardess beobachten: um zu erkennen, ob es Anlass zur Besorgnis gibt. Doch ich sehe nur ihr Lächeln, mit dem sie sich darauf einstimmen, ihn gleich aufzuziehen. Der Junge kommt zu uns, er wirkt nicht verärgert und geht fröhlich auf die Scherze der anderen ein.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
»Los, komm mit. Unser Dorf ist ganz in der Nähe«, sagt einer von ihnen.
In der Ferne höre ich schrecklichen Lärm. Es ist zwei Uhr in der Nacht, man sieht rein gar nichts, keine Häuser, und ich begreife nicht, was das sein könnte. Wenig später wird mir klar, dass es die Hunde sind: Ihr Gebell zerreißt die Stille und den Zauber der unberührten Natur. Der Mond scheint auf die Gletscher und auf unsere Gesichter, denen man die Erschöpfung nach diesem endlos scheinenden Tag deutlich ansieht.
Nachdem wir eine Klippe umschifft haben, sehen wir die Tiere endlich, die aufgeregt herumspringen, um ihre Herrchen zu begrüßen.
»Iss mit uns«, lädt mich einer der Inuit ein.
»Ich will dir meine Familie vorstellen«, sagt ein anderer.
Wir essen Robbenfleisch und etwas Fisch, Heilbutt. Wir machen Scherze, ohne uns wirklich verständigen zu können, dann legen wir uns zum Schlafen auf den Boden.
»Warum habt ihr den Jungen dort zurückgelassen?«, frage ich am nächsten Morgen meinen Gastgeber.
Der Wind heult heftig ums Haus, es ist kalt, mindestens zehn Grad kälter als am Vortag. Vielleicht ist der Sommer schon zu Ende.
Der Mann lächelt, zeigt auf die Gletscher vor uns, auf die Eisbrocken auf der Wasseroberfläche und auf einen Seevogel, der auf der Suche nach Beute über unsere Köpfe fliegt.
Dann schaut er mich an, wie um zu fragen: »Und, hast du es jetzt verstanden?«
»Nein«, denke ich, starre ihn weiter an und warte auf eine Antwort, die nicht kommt.
Ich kehre ins Lager zurück, es gibt einiges zu organisieren. Gleich zu Beginn der Expedition bereitet die Kälte uns Probleme: Die Temperatur sinkt plötzlich, und wir kommen auf dem Eis nur langsam vorwärts. Oft schaffen wir kaum zehn Kilometer am Tag und schlafen am Abend völlig erschöpft in unseren kleinen Zelten ein. Überall herrscht blendendes Weiß, wir fühlen uns winzig in dieser Weite, die Stimmung schwankt extrem zwischen Euphorie über die außergewöhnliche Landschaft und der Angst, es nicht zu schaffen. Es ist fast unmöglich, den nächsten Tag zu planen: Das Wetter wechselt ständig, und die Bedingungen sind oft gegen uns. Selten begegnen wir jemandem. Ab und an stoßen wir auf kleine Gruppen von Jägern mit sehr einfachen Schlitten, wir tauschen einen kurzen Gruß aus und setzen unseren Weg fort.
Plötzlich muss ich wieder an den Jungen denken, und ich verstehe, dass an einem Ort wie diesem die erste Regel lautet: überleben. Genau das wollten ihm die anderen beibringen. Sie hatten nicht beschlossen, ihn zurückzulassen; er hatte einfach herumgetrödelt, und so fuhren sie eben schon mal los.
»Einer fehlt«, hat vermutlich jemand gesagt, als sie an Bord gingen.
Worauf ein anderer wohl antwortete: »Na ja, der schafft das schon, fahren wir.« Das war nicht das etwas böse »Du wirst schon sehen, was du davon hast!« meiner Kindheit, mehr ein »Es ist zu seinem Besten«. Und irgendwann beschlossen sie, dass die Prüfung vorbei sei, und kehrten um, um ihn zu holen.
Und ich begreife noch etwas: Keiner von ihnen hatte uns schief angesehen, die wir hier mit unserer Hightechausrüstung auftauchten, um uns als Helden aufzuspielen wegen etwas, was für sie ganz normaler Alltag ist. Wir benutzten ihr Land wie einen Vergnügungspark, und sie haben uns herzlich empfangen. Wir dagegen hatten ihr Verhalten sofort verurteilt, dabei war das, was so streng und vielleicht ein wenig grausam erscheinen mochte, die wichtigste Lektion, die ein Vater seinem Sohn beibringen konnte: wie man in der Welt überlebt, egal, wie diese aussehen mochte.
Meine Reise nach Grönland hatte gerade erst begonnen.
2 In den Wäldern geboren
»Robert, bitte, wir sind auf zweitausend Meter Höhe, es ist kalt! Die haben gesagt, dass wir im Stall schlafen können.«
»Warum sollten wir? Im Wald geht es doch auch.«
»Aber es ist kalt.«
»Wir müssen nur ein paar Zweige sammeln. Und außerdem haben wir eine Decke.«
»Hör schon auf, lass uns umkehren. Wir bedanken uns bei denen und schlafen in ihrem Stall.«
»Ich werde da nicht hingehen, von mir aus kannst du das ja machen.«
»Nein, Robert, ich lasse dich doch nicht im Wald allein. Du bist verrückt.«
»Du wirst schon sehen, der Wald wird uns beschützen.«
Ich habe lange nicht mehr an dieses Erlebnis gedacht und lache sehr, als einer meiner Jugendfreunde, der mich in Tasiilaq besucht, mich daran erinnert. Wenn ich auch recht isoliert lebe, wissen doch alle, wo sie mich finden, und so sehe ich die alten Bergsteigerfreunde aus Bozen öfter, als sie sich untereinander treffen, obwohl sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt wohnen.
Damals waren wir so um die fünfzehn. Wir wollten eine schöne Wanderung durch die Südtiroler Berge machen und hatten eine Decke in den Rucksack gepackt für den Fall, dass wir es nicht rechtzeitig zurückschafften. Als wir bei Einbruch der Dämmerung an einem Hof vorbeikamen, fragte mein Freund, ob wir im Stall schlafen könnten, und die Bauersleute stimmten zu und wollten uns auch noch ein Stückchen Käse schenken.
Ich aber blieb unerbittlich: Wir mussten im Wald schlafen, denn wo wäre sonst das Abenteuer? Mein Freund hätte mich am liebsten verprügelt.
Stattdessen sagte er bloß: »Robert, du bist verrückt«, während er die Zweige für die Nacht zusammenklaubte.
Ich bin in den Bergen geboren, auf dem Rittner Hochplateau in Südtirol, 1944. Meine Eltern waren Stadtleute, die vor den Bomben des Zweiten Weltkriegs aus Bozen geflüchtet waren. Damals gab es noch keine Straße, die den Ritten mit der Provinzhauptstadt Bozen verband, und man konnte ihn nur über eine Zahnradbahn erreichen, die sich langsam den Berg hinaufkämpfte.
So eine Fahrt dauerte anderthalb Stunden, daher blieben wir Kinder immer mit unserer Mutter am Ritten oben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich öfter als einmal im Jahr in die Stadt gekommen wäre. Mein Vater dagegen pendelte regelmäßig zwischen Bozen, wo er arbeitete, und den Bergen hin und her. Dort oben erschien uns die Stadt ganz weit weg. Wir waren auf einem sehr einfachen Hof untergebracht, und die Bauern dort schienen noch genauso zu leben wie ihre Eltern und die Eltern ihrer Eltern vor ihnen. Man bestellte das Land, man ging jagen und schlug Holz, um Brennstoff zu haben oder um Werkzeug und Spielzeug daraus herzustellen. Ich glaube, meine Eltern wollten zunächst nur kurz bleiben, doch als der Krieg vorbei war, beschlossen sie, dass der Ritten ein guter Ort für mich und meine Geschwister war.
Diese Kindheit hat mich für mein ganzes späteres Leben geprägt. Dass ich unter der Sonne groß geworden bin, hat meine späteren Entscheidungen beeinflusst; hätte ich immer in Bozen gelebt, wäre ich ein anderer Mensch geworden. Wenn ich zum Beispiel heute einen Freund in Deutschland oder Italien anrufe und frage, wie denn bei ihm das Wetter sei, bekomme ich immer die Antwort: »Warte, ich schau mal kurz nach.«
Wie bitte?
Meine Freunde achten oft gar nicht aufs Wetter, sie wissen nicht, ob es regnet oder windig ist. Sie arbeiten, essen, sitzen am Computer, schauen fern – und da spielt es keine Rolle, wie das Wetter draußen ist. Für mich dagegen war es immer wichtig, im Freien zu sein und zu schauen, wie es am Horizont aussah.
Der Ritten ist ein wunderbarer Ort. Ich kehre manchmal dorthin zurück, wenn ich in Italien bin. Es hat sich viel verändert, doch die Natur ist immer noch dieselbe, die Wiesen, die Hügel, die Almen. Ich habe dort oben eine wundervolle Zeit verbracht. Mein Bruder und ich vermissten Bozen oder das Stadtleben nicht.
Wir waren ständig mit den Bauernkindern zusammen, trieben uns in den Heuschobern herum, halfen bei den Kühen, spielten hinter den Heuballen Verstecken oder tranken frisch gelegte Eier aus. Wir wussten, was wir essen konnten, von welchen Beeren wir Bauchweh bekamen und welche am leckersten waren.
Im Gegensatz zu den Kindern von heute hatten wir keine Termine oder festen Pläne: Wir wachten morgens auf, und jeder Tag erschien uns neu und anders, selbst wenn wir nichts anderes machten, als über die Wiesen zu rennen, auf Bäume zu klettern oder die Hühner zu füttern.
Ich verbrachte Stunden im Wald, oft auch allein. Für mich war das wie eine Zuflucht, ein verwunschener Ort. Ein wenig wie für die Urzeitmenschen, die im Wald lebten, weil es dort Tiere, Beeren, Pilze, Holz und alles andere gab, was man zum Überleben brauchte. Der Wald war die Seele des primitiven Menschen, und als Kind spürte ich das. Sicher machte ich mir das nicht mit diesen Worten bewusst, aber die Vorstellung, dass mir zwischen den Bäumen nichts geschehen konnte, hat mich immer begleitet.
Die Kindheit auf dem Ritten hatte großen Einfluss auf viele Ereignisse in meinem Erwachsenenleben. Wenn jemand mich fragt, wie ich meine Freunde auswähle, vor allem auch die Leute für meine Expeditionen, kann ich keine Liste mit Einzelheiten herunterbeten: Wichtig ist bloß, dass diese Menschen draußen unter der Sonne gelebt haben. Wer aus der Stadt kommt, hat andere Erwartungen. Jede Blume ist für ihn ein Wunder, er neigt dazu, die Natur zu idealisieren, und ist gerührt, wenn er dem ewigen Eis von Grönland gegenübersteht. Ein Bauer dagegen gibt jedem Ding das richtige Gewicht: Er liebt seine Umgebung und lebt im Einklang mit ihr, er kennt sie, aber er verniedlicht sie nicht. Und das tue ich auch nicht. Ich bin Realist: vielleicht auch ein wenig Romantiker, wenn man so will, aber immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Ich war sechs, als wir wieder in die Stadt zurückkehrten, um das zu beginnen, was unser normales Leben sein sollte, mit einer guten Ausbildung und einer glänzenden Karriere. Anfangs fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen, denn es gab so viele Autos, so viele Straßen und so viele Menschen. Meine Eltern unternahmen alles Erdenkliche, um uns, sooft es ging, in die Natur zu bringen, denn sie sahen, wie wir in der Stadt, fern von den Wiesen und dem Landleben, litten. Den Sommer und alle Ferien verbrachten wir auf dem alten Bauernhof, wo wir wieder mit unseren Freunden spielen konnten. Wie wir waren sie jedes Mal um einige Zentimeter gewachsen. Mit ihnen gingen wir dann wieder in den Stall, um die frisch gemolkene Milch zu trinken, und saßen stundenlang in den Baumwipfeln, um uns zu unterhalten.
Das war ein ganz anderes Leben als in der Stadt, wo sich alles um die Schule drehte. Das wahre Leben war für uns immer in den Bergen. Das schöne Wort Heimweh bezeichnet den Schmerz, den man verspürt, wenn man fern von zu Hause ist. Ich glaube, ich leide an einem »Naturweh«: Ich kann einfach nicht allzu lang darauf verzichten, an der frischen Luft zu sein, und je ursprünglicher meine Umgebung ist, desto glücklicher bin ich.
So mit zwölf, dreizehn machten mein Bruder und ich uns dann allein in die Berge auf. Zunächst mit den Skiern, dann mit Bergsteigerausrüstung, und mit sechzehn unternahmen wir die ersten richtigen Klettertouren. Wir brachten uns das Klettern fast alleine bei und trainierten zusammen, bis er, der ein paar Jahre älter ist als ich, irgendwann beschloss, das Ganze als Freizeitsport zu betrachten, während ich eine Profilaufbahn anstrebte und in gewisser Weise vom Risiko besessen war.