»I’m from the place where the church is the flakiest … And nigguz been prayin’ to God so long that they’re atheist.«
– Jay-Z, Marcy
Im Ghetto, genau wie im Rest der Welt, machen Kleider Leute. Die Uniform des Polizisten, der Latex-Minirock der Hure, die Krokodillederschuhe des Zuhälters und die tief sitzende Jeans des Gangsters, die ihm fast vom Hintern rutscht. Sie alle lassen Rückschlüsse auf das Individuum zu, das sie trägt. Hier zählt das Erscheinungsbild. Wir schlenderten in Klamotten von FUBU, Adidas, Nike und Gucci durch die Korridore unserer kleinen Junior High School. Es gab keine Schlägereien mehr, weil andere uns wegen unserer altmodischen Kleidung beleidigten. Jetzt waren wir die Trendsetter. Auch die Mädchen behandelten uns jetzt anders. Sie fragten uns nun tatsächlich, ob wir sie zu Hause besuchen oder mit ihnen ins Kino gehen wollten, anstatt uns nur auszulachen, wenn wir sie anbaggerten. Die Kleidung machte den Unterschied.
Wir verhielten uns auch anders. In einer Gesellschaft, in der Wohlstand als Maßstab des Erfolgs gilt, kann Armut das Selbstbewusstsein und das gesamte Selbstwertgefühl angreifen. Ebenso kann ein wenig Reichtum das Selbstvertrauen gewaltig steigern. Meine Noten, die langsam auf dem Weg in den Keller gewesen waren, verbesserten sich erheblich. Ich hatte keine Angst mehr davor, mich im Unterricht zu melden und Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht verstand. Es machte mir nichts mehr aus, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Nicht mit 200 Dollar teurer Markenkleidung am Leib.
Mrs. Greenblade, die meine Verwandlung vom Klassenkasper zum Musterschüler als ihr Werk betrachtete, fing an, sich besonders für mich zu interessieren. Sie überzeugte mich, für die Schülerzeitung zu arbeiten, Leitartikel über die Schulpolitik sowie gelegentlich eine Buch- oder Filmbesprechung zu schreiben. Mir gefiel es zu schreiben, also las ich jeden Tag die Zeitung und scheute keine Mühen, alle Artikel, die ich schrieb, professionell klingen zu lassen, genau wie diejenigen im Philadelphia Enquirer. Ich genoss es, endlich für etwas anderes Anerkennung zu bekommen als nur dafür, ein durchgeknallter, hartgesottener Drecksack zu sein. Selbst wenn ich wusste, dass außer den Lehrern kaum jemand die Schülerzeitung las, außer natürlich, wenn gerade jemand ausgeraubt, verprügelt oder erschossen worden war. Die Kids hatten eben einen morbiden Geschmack.
Mrs. Greenblade versuchte sogar, mich zu überreden, auf meine Mittagspause zu verzichten, um ihren Journalismus-Kurs zu besuchen, aber da musste ich passen. Da ich bereits nach Unterrichtsschluss eine Stunde länger blieb, um an der Schülerzeitung zu arbeiten, war ich der Ansicht, dass sie mir in dieser Stunde alles beibringen konnte, was ich über Journalismus wissen musste. In der Mittagspause zogen ich und meine Jungs Trotteln das Geld aus den Tasche. Das wollte ich nicht aufgeben.
Auf Anraten der Lehrerin fing ich an, mir Notizen über meine täglichen Gedanken und Erfahrungen zu machen. Vieles von dem, was ich hier heute sage, stammt aus diesen Notizen. Es fällt mir schwer auseinanderzuhalten, wie viel davon wirklich passiert und wie viel davon nur Blödsinn ist. Als Schriftsteller fällt es einem immer schwer, die Dinge nicht auszuschmücken und die ganze Geschichte ist ohnehin ziemlich schwer zu glauben. Aber ich erzähle sie so ehrlich wie möglich.
Als ich in die achte Klasse kam, schlug meine Lehrerin mich für das Hochbegabtenprogramm vor, nachdem ich den Englischtest der Stufe 14 bestanden und damit bewiesen hatte, dass mein Englisch bereits auf College-Niveau war. Leider waren meine Ergebnisse in Mathe etwa um zwei Noten schlechter, als für einen Kandidaten meiner Altersstufe erforderlich, und ich wurde abgelehnt mit dem Ratschlag, meine Mathematikkenntnisse durch Nachhilfeunterricht zu verbessern.
»Tut mir leid, dass du nicht ins Programm aufgenommen wurdest. Ich kann nicht fassen, dass sie dich abgelehnt haben. Du bist einer der klügsten Schüler, die ich je unterrichtet habe. Wenn du möchtest, veranlasse ich, dass dir jemand Nachhilfe in Bruchrechnung und Division gibt und dann probieren wir es in einigen Monaten noch einmal.«
»Nee, keinen Stress. Ich hab eh keinen Bock, mit diesen ganzen Computerfreaks rumhängen zu müssen.«
»Wie kommt es eigentlich, dass du so schöne Gedichte und Aufsätze schreiben und dich im Klassenzimmer so gewählt ausdrücken kannst, nur um im nächsten Moment wieder so eine primitive Sprache zu benutzen?«
»Im Unterricht wird es von einem erwartet, dass man ordentlich spricht. Ich meine, ich dachte, dass wir uns jetzt nur so unterhalten. Sie wissen schon, wie Freunde.«
»Ich will ja, dass du mit mir redest wie mit einer Freundin, Malik. Ich verstehe bloß nicht, warum du dich nicht immer intelligent ausdrücken kannst. Warum musst du so reden wie der Rest dieser unwissenden Heiden, obwohl du viel mehr im Kopf hast als sie?«
»Weil ich einer dieser unwissenden Heiden bin. Und wenn ich hier rausgehe, kehre ich in ihre Welt zurück. Und die gehören nicht zu der Sorte Mensch, die eine korrekte Ausdrucksweise zu schätzen weiß. Wenn ich rede, als ob ich mich für was Besseres halte, mache ich mir keine Freunde.«
»Und wenn du unter deinem Niveau sprichst, schon?«
»Wissen Sie, zu Hause korrigieren meine Mom und meine Grandma ständig meine Sprache. Sie wollen sicherstellen, dass ich dem weißen Mann keinen Anlass liefere, zu glauben, ich sei weniger intelligent als er, wenn ich älter bin und Vorstellungsgespräche habe oder an irgendeiner Elite-Uni lande. Mom will, dass ich mich unter den Besten verständlich machen und hochtrabende Reden schwingen kann. Sie lässt mich sogar das Wörterbuch lesen. Sie hat mal irgendeinen Professor sagen hören, man könne in wenigen Jahren zum klügsten Menschen der Welt werden, wenn man sich vornimmt, jeden Tag ein neues Wort zu lernen. Ich bin immer noch bei B. Wissen Sie, was ein Bête Noir ist? Die wörtliche Übersetzung ist ›schwarzes Tier‹, und es bedeutet einen Widersacher oder irgendetwas Abscheuliches. Solche nutzlosen Wörter schwirren mir haufenweise im Kopf herum. Wann zum Teufel glauben Sie, dass ich Bête Noir mal in einer Unterhaltung verwenden könnte? Aber ich lerne diesen ganzen Scheiß, damit meine Mom zufrieden ist. Letztes Jahr hat meine Grandma mir alle Comics weggenommen. Wissen Sie, was sie mich jetzt lesen lässt?«
»Was denn?«
»Wurzeln, African Genesis, Malcolm X. Die Autobiografie, das Hohelied Salomos, Native Son. Wenn sie ein Buch ausgelesen hat, gibt sie es mir, als gäbe es zwischen uns keinerlei Unterschied, und ich lese es dann bis zur letzten Seite durch. Vieles davon verstehe ich nicht, aber sie hilft mir. Ich habe dabei auch immer ein Wörterbuch griffbereit. Manchmal brauche ich Monate, um mit einem Buch fertig zu werden, aber ich lese es, weil meine Mom es so will. Ich habe diese Bücher schon gelesen, bevor ich den Mist gelesen habe, den ihr uns hier vorsetzt. Ich lese sie, weil ich nicht will, dass meine Grandma das Vertrauen in mich verliert. Sie glaubt, dass ich eines Tages etwas aus mir machen kann.«
»Das klingt doch toll. Es klingt, als wäre deine Großmutter eine sehr vernünftige Frau.«
»Ja, aber obwohl meine Mom und meine Grandma wissen, wie klug ich bin, sagt meine Mom mir immer, dass ich nie über die Köpfe meiner Leute hinweg reden soll. Wissen Sie, warum, Mrs. Greenblade? Warum sie mir das sagt?«
»Nein. Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht.«
»Weil ich nicht in der Welt der Bücher und der Poesie lebe. Ich lebe im verdammten Ghetto. Und wozu ist Sprache da, wenn nicht, um zu kommunizieren? Was nützen einem schöne Worte, die niemand versteht? Ich rede so mit Ihnen, weil dies die Sprache ist, die Sie verstehen. Aber auf der Straße benutze ich Slang, weil das die Sprache ist, die die Leute da draußen sprechen. Meine Mom hat mich gelehrt, dass die Sprache der Straße genauso komplex und schön ist wie das Englisch der Queen, und dass ich diese Sprache ebenso gut beherrschen soll wie die der Bücher, damit ich mit jedem kommunizieren kann. Verstehen Sie, Schwarze müssen in zwei Welten leben, in der weißen Welt der Gebildeten und in der Welt der Straße. Schnallen Sie das?«
»Ja, Malik, ich schnall’s. Deine Mutter ist sehr vernünftig und sie hat völlig recht. Vielleicht sollte ich selbst einmal ihren Rat beherzigen, hm?«
»Nee. Wenn Sie jemals ›Geht klar, Alter‹ oder so was sagen würden, würde ich, glaub ich, vor Lachen tot umfallen. Entweder das oder ich würde Ihnen eins aufs Maul hauen.«
Ich drehte mich um und wollte gehen. Die Mittagspause hatte vor zehn Minuten begonnen. Ich wollte mich so schnell wie möglich durch die Warteschlange drängeln, was futtern und mich dann mit Tank und Huey draußen auf dem Hof treffen.
»Malik?«
»Ja, Mrs. Greenblade?«
»Wäre es für dich in Ordnung, wenn ich dir ein paar der Bücher gebe, die ich gelesen habe?«
»Ja, das wäre ok.«
Mrs. Greenblade machte mich mit einigem Zeug vertraut, das die Art, wie ich die Welt betrachtete, für immer verändern sollte. Der Existenzialismus verlieh vielen Intuitionen, die bereits in mir heranreiften, einen Ausdruck. Intuitionen, die mir sagten, dass all dieses Leid vielleicht umsonst sei.
Von Camus las ich Der Fremde, Die Pest und Der Mythos des Sisyphos. Ich las einen Roman von Sartre namens Der Ekel. Ich verschlang Narziß und Goldmund und Siddharta von Hermann Hesse. Ich war fasziniert von Dostojewskis Traum eines lächerlichen Menschen und dem Roman, der die stärkste Wirkung auf mich hatte, Die Brüder Karamasow. So etwas wie diese Romane hatte ich nie zuvor gelesen. Sie waren voller Bosheit und Zynismus, voller wetternder Tiraden über die existenzielle Angst. Heute weiß ich, dass ich dafür noch nicht bereit war. Ich war überwältigt und beinahe am Boden zerstört angesichts der Offenbarungen, die diese Bücher mir brachten. Verzweifelte Fragen, Blasphemien, bei denen die Antworten nur zu immer neuen Fragen führten. Ein Schneeballeffekt, der in meinem Hirn eine Lawine auslöste. Die Fragen sausten mit steigender Geschwindigkeit und Wucht hin und her, bis ich das Gefühl hatte, den Verstand zu verlieren. Warum? Warum? Warum? Warum? Diese Bücher stellten meine ganze Welt auf den Kopf.
Ich las sie fieberhaft, und jedes bereitete mir ebenso viel Schmerz, wie es mich reizte. Als ich ein Kapitel der Brüder Karamasow mit dem Titel Empörung las, hatte ich meine verstörendste und erschreckendste Erleuchtung. Eine der Hauptfiguren des Romans, Iwan Karamasow, sprach dort eine der kraftvollsten Anklagen gegen das Christentum aus, die ich je gelesen hatte.
Er beschrieb in anschaulichen Einzelheiten die Leiden eines kleinen Mädchens, das von seinen Eltern gequält und gezwungen worden war, auf einem Abort zu schlafen, und die eines kleinen Jungen, der von Jagdhunden zerrissen worden war, und er fragte, was für ein göttlicher Plan das sei, der auf dem Leid kleiner Kinder beruhe. Iwan Karamasow wollte mit einem solchen Plan nichts zu tun haben. Keine ewige Harmonie war es wert, dass Unschuldige leiden müssten, und jeder Gott, der so etwas zuließe, sei ungerecht. Der Preis sei zu hoch. »Lieber bleibe ich rachelos bei meinem ungerechten Leid und in meinem unstillbaren Zorn …«, rief er, statt zu akzeptieren, was er als die »überteuerte Eintrittskarte« ins Paradies bezeichnete; lieber das, als an den grausamen Plänen eines ungerechten Gottes teilzuhaben.
Ich bewahrte das Buch in meiner Gesäßtasche auf und las wieder und wieder darin. Nicht das ganze Buch, nur dieses eine Kapitel, so lange, bis die Seiten herausfielen.
Ich hatte immer an die Güte Gottes geglaubt, obwohl meine gesamte Erfahrung dagegensprach. Alles Schreckliche, das ich in unserem Viertel gesehen hatte, schlug dem Glauben und der Vorstellung einer weisen und wohlwollenden Gottheit ins Gesicht, und trotzdem glaubte ich daran, weil es das war, was man mir beigebracht hatte. Mir war nicht einmal klar gewesen, dass es überhaupt eine Option war, nicht zu glauben. Aber jetzt wusste ich es. Es gab Ungläubige, und kein Blitz hatte sie erschlagen. Ich hatte es nachgeprüft. Eine Saat des Zweifels war in mir gesät worden und selbst die Existenz Gottes war für mich fragwürdig geworden. Mrs. Greenblade war es vielleicht nicht klar, aber indem sie mich zum Nachdenken und zum Hinterfragen meines Glaubens brachte, indem sie mich diesen innerlich zerrissenen, europäischen Autoren und Philosophen aussetzte, die an nichts zu glauben schienen, verdarb sie mich vielleicht stärker als alles, was ich auf der Straße erlebt hatte. Ironischerweise waren es die Worte eines Predigers in der Kirche meiner Mom, die meinem Glauben den tragischsten Stich versetzten.
Nach dem Vorfall auf dem leeren Grundstück hatte ich angefangen, mit meiner Mom und meiner Großmutter in die Kirche zu gehen. Ich kann nicht behaupten, dass ich heroische Anstrengungen unternommen hätte, mich an die Zehn Gebote zu halten, jedenfalls nicht, wenn es bedeutete, meine Jungs im Stich zu lassen. Aber ich versuchte, für die Dinge, die ich getan hatte und noch tun würde, durch Gebete Wiedergutmachung zu leisten.
Ich trug meinen besten Anzug; sanftes Grau, zweireihig, mit Nadelstreifen, dazu eine schwarze Krawatte und ein schwarzes Einstecktuch. Trotz der Proteste meiner Mutter trug ich ein kleines Platin-Kruzifix im linken Ohr. Damals hatten wir kein Auto, also gingen wir die siebeneinhalb Häuserblocks zu Fuß zu der gewaltigen, 200 Jahre alten Baptistenkirche. Wegen der vorzeitigen Arthritis in Grandmas Knien kamen wir nur im Schneckentempo voran.
Grandma trug einen riesigen, violetten Hut mit einer großen, weißen Schleife, der zu ihrem violett-weißen Kleid passte. Mom trug ein eng anliegendes, blaues Kleid, das bis zum Hals reichte, mit einem Rückenausschnitt fast bis zum Arsch. Sie hatte einen schwarzen Schal umgelegt, um in dem Partykleid respektabler auszusehen, doch das bewahrte sie nicht vor Grandmas bösen Blicken. Ihren Kopf zierte ein zum Kleid passender blauer Pillbox-Hut; an den Füßen trug sie schwarze, hochhackige Schuhe und eine schwarze Handtasche. Wie immer war sie die hübscheste Frau in der Gemeinde und fiel sowohl durch ihre beeindruckende Größe und Schönheit als auch durch ihre Garderobe auf, die man fast schon als skandalös bezeichnen konnte. Neidisches Geflüster und missgünstige Blicke folgten uns, als wir zu unseren Plätzen gingen.
Wir hatten drei Lieder, zwei Predigten und eine Passage aus dem elften Kapitel des Briefs an die Hebräer hinter uns, als der Chor sanft eine Melodie zu summen begann, die ich kannte: »Jesus ruft meinen Namen«. Reverend Thoroughgood wies uns an, Kapitel 42 des Buchs Hiob aufzuschlagen. Es war der Abschnitt, in dem Gott Hiob »vierzehntausend Schafe, sechstausend Kamele, tausend Joch Rinder und tausend Esel« schenkte und außerdem »sieben Söhne und drei Töchter«. Dann segnete er Hiob mit einem langen Leben von 140 Jahren, damit er »seiner Kinder und Kindeskinder, vier Geschlechter« ansichtig werden konnte. All das tat er, nachdem Hiob sich geweigert hatte, Gott zu verfluchen, obwohl dieser ihn von der Fußsohle bis zum Scheitel mit bösartigen Geschwüren bedeckt und einen Sturm geschickt hatte, der all seine Kinder tötete, nachdem er all seine Diener, sein Vieh und seinen Wohlstand verloren hatte, um eine Wette gegen den Teufel zu gewinnen. Die Wette bestand darin, dass Hiob ihn weiterhin lobpreisen würde, ganz gleich, welch grausamen, sadistischen Scheiß er ihm auch antäte.
»Und selbst als Hiob gedemütigt darniederlag und nur noch Armut und Krankheit kannte, weigerte er sich, Gott zu verfluchen, und Gott belohnte ihn mit dem Doppelten dessen, was er zuvor besessen hatte«, intonierte der Reverend mit tiefer, hallender Stimme, gefolgt von unzähligen »Amen« und »Preiset den Herrn« aus der Kirchengemeinde.
»Wenn Gott euch also auf die Probe stellt, wenn euer Strom oder eure Heizung abgestellt wird, weil ihr die Rechnung nicht bezahlen könnt, gerade dann solltet ihr Gott am lautesten preisen!«
»Amen!«
»Preiset den Herrn!«
»Wenn ihr euren Arbeitsplatz verliert und kein Geld mehr für Essen habt, wenn eure Lieben auf der Straße ermordet werden oder Drogen, Alkohol und Verbrechen zum Opfer fallen, wenn euch eure Gesundheit verlässt, dann ist die Zeit gekommen, Gott zu danken!«
»Ja, oh Herr!«
»Preiset seinen Namen!«
»Wenn euer Nächster euch misshandelt und missbraucht, preiset ihn!«
»Preist Jesus!«
»Danke, oh Herr!«
Es war Irrsinn, vollständiger und absoluter Irrsinn. Ich wollte am liebsten aufspringen und schreien:
»Wovon redet ihr Leute überhaupt, verdammte Scheiße noch mal? Sich bei dem Mistkerl bedanken, der all diesen Schmerz verursacht hat? Bei einem beschissenen Gott, der keinen Finger rührt, um unser Elend, unsere Tragödien und Katastrophen zu beenden, in der Hoffnung, dass er es irgendwann einmal alles besser machen wird? Und wenn er eure Leiden kuriert, nachdem ihr beschissene Wochen, Monate oder Jahre lang gelitten habt – na und? Hätte er sie nicht von vornherein verhindern können? Und hat denn im Ghetto schon jemals einer eine Entschädigung für sein Leid erhalten, ganz egal wie stark sein Glaube war?«
Es war Wahnsinn, aber ich behielt meine Gedanken für mich.
»Erinnert euch inmitten eurer Not einfach daran, dass Gott lediglich euren Glauben auf die Probe stellt. Sobald er die Echtheit eures Glaubens und eurer Frömmigkeit erkannt hat, wird er euch von ihr befreien. Und so, wie Hiob für seine Überzeugung belohnt wurde, sollt auch ihr das Doppelte dessen erhalten, was ihr zuvor besessen habt, Brüder und Schwestern. Denkt daran, es ist alles ein Teil seines Plans.«
Blödsinn!, dachte ich. Ich scheiß auf Gottes Plan!
Die ganze Gemeinde hing dem Reverend an den Lippen und sprang auf, um den lieben Gott zu preisen. Sogar Mom und Grandma streckten die Hände in die Luft und riefen nach Jesus, doch ich saß da und kochte vor stillem Zorn, während die Worte Iwan Karamasows in meinem Geist widerhallten.
»Das ist es nicht wert. Der Preis ist zu hoch.«
Ich war wütend, dass Gott die Menschen solchen Qualen aussetzte, nur um die Tiefe ihres Glaubens zu testen. Wenn Gott alles wusste, warum musste er dann überhaupt jemanden auf die Probe stellen? Dann wüsste er doch längst, wer sie bestehen würde und wer nicht. Es schien mir grausam, launisch, selbstbezogen und egoistisch zu sein. Dieser Gott, den alle so liebten, schien einige der abgefucktesten menschlichen Eigenschaften zu besitzen. An diesem Tag begann ich, alle Vorstellungen zu hinterfragen, die ich je von Gott gehabt hatte. Ich begann mich zu fragen, ob Gott uns eigentlich wirklich liebte.
Ich konnte nicht verstehen, warum wir uns bei dem Großen Aufpasser bedankten, der uns in der Sklaverei festhielt. Warum wir ihm für die Kraft dankten, die uns die Peitschenhiebe ertragen ließ. Ich dachte an all die Male, die ich Grandma hatte sagen hören, dass wir gesegnet seien, Essen auf unserem Tisch zu haben, und fragte mich, ob wir dann in den vielen Nächten, wenn wir hungrig zu Bett gehen mussten, verdammt seien. Ich fragte mich, ob wir auch in den Nächten gesegnet waren, wenn wir wach lagen und hörten, wie die großen Kanalratten in den rissigen, von Wasserflecken übersäten Wänden und Zimmerdecken herumhuschten, und wir uns nicht trauten, unsere Hände oder Füße aus dem Bett hängen zu lassen, weil eine der Ratten uns vielleicht im Schlaf einen Finger oder einen Zeh abbeißen könnte. Weil wir Schiss hatten, dass die ganze Decke herunterkommen und uns unter sich begraben könnte. Ich fragte mich, ob wir gesegnet waren, wenn wir im Küchenschrank nichts zu essen finden konnten, was nicht von Maden befallen war. Ob ich all die Male gesegnet gewesen war, wenn ich alte Klamotten hatte auftragen müssen, die mir kaum passten.
Ich stand auf und verließ die Kirche.
»Malik! Malik! Wo zur Hölle willst du hin? Was tust du?«
»Ich geh nach Hause. Das hier ist alles Schwachsinn.«
»Was hast du gesagt?«, rief Grandma entsetzt.
»Dieser Prediger erzählt nur Blödsinn. Ich hab genug davon.«
Ich ging, während mir alle entgeistert hinterherstarrten.
An diesem Tag begann ich, die Bibel zu lesen. Ich versuchte, alles zu vergessen, was die Leute mir über Gott erzählt hatten, und sie ganz unvoreingenommen zu lesen. Ich wollte herausfinden, was die Bibel wirklich sagte, und nicht das, was andere darüber behaupteten. Jedes Wort, das ich las, erschütterte meinen Glauben noch stärker. Am schlimmsten war, dass die Bibel die Sklaverei duldete.
»Der Herr gab diese Antwort: Zwei Völker sind in deinem Leib, zwei Stämme trennen sich schon in deinem Schoß. Ein Stamm ist dem andern überlegen. Der Ältere muss dem Jüngeren dienen. Genesis 25:23.«
Ich dachte an all diese White-Power-Gruppen, die sich auf die Bibel beriefen, die ihre Vorurteile rechtfertigen würde, und ich war schockiert, als ich wieder und wieder feststellen musste, dass die Bibel genau das tat. Sie sagte unverhohlen, dass die Christen die heidnischen Völker versklaven sollten. Ich fand es absurd, dass die Schwarzen, die dieses Schicksal ereilt hatte, ausgerechnet den Gott anbeteten, der die Rechtfertigung für ihr trauriges Los geliefert hatte. Ich konnte nicht anders, als meinen Respekt für die Angehörigen meiner eigenen Rasse teilweise zu verlieren. Es war, als ob sie alle blind wären.
Trotz all des Bittens und Betens der Schwarzen, und trotz der Millionen von Dollar, die sie in die Klingelbeutel der Kirchen fallen ließen, schien Gott das Ghetto zu meiden wie die Pest. Jeden Tag kamen dort Kinder ums Leben, und jeden Tag wurde den Gottesfürchtigen ihr Hab und Gut genommen, obwohl keiner von ihnen in seinem Glauben auch nur im Geringsten ins Wanken kam. Und nicht ein einziges Mal hatte ich gesehen, wie ihnen auch nur ein einziger Ochse geschenkt worden wäre, geschweige denn 1000. Kein einziges Schaf. Kein einziges Kamel. Nichts. Und trotzdem glaubten sie weiter an Gott. Es war, als hätte Gott Besseres zu tun, als sich im Ghetto mit einem Haufen armer, hilfloser Nigger abzugeben. Er war zu beschäftigt damit, einen Stepptanz vor den Weißen aufzuführen, die in hübschen, sauberen Stadtvierteln mit weißen Lattenzäunen und 40.000 Dollar teuren SUVs lebten.
In meiner Vorstellung nahm Gott bald die Gestalt eines gewöhnlichen Kriminellen und Betrügers im Ghetto an, der sich an den verzweifelten Hoffnungen und der Naivität der Unterschicht bereicherte. Andererseits hatte die Tatsache, dass die Leute sich hier gegenseitig umbrachten, ihn vielleicht abgeschreckt, überhaupt zu uns zu kommen. Auf seine Boten und sogenannten »irdischen Diener« traf das mit Sicherheit zu. Sie konnten es kaum erwarten, wieder in ihre großen, glänzenden Lincolns und Cadillacs zu steigen und in die Vorstädte zurückzubrausen, sobald alle Spenden gezählt und die Schäfchen beschwichtigt waren. Natürlich wäre das Viertel nicht so eine feindselige Umgebung gewesen, wenn Gott sich mehr darum gekümmert hätte.
Nach der Predigt des Reverends verbrachte ich viele schlaflose Nächte damit, meine abgenutzte, eselsohrige Ausgabe der Brüder Karamasow zu lesen und Verbindungen zwischen dem Buch und meinem Leben herzustellen. Ich las das Buch Hiob und versuchte den Inhalt zu akzeptieren. Ich wollte meinen Glauben wiederfinden, aber es gelang mir nicht. Ich hatte immer Hiobs unglaubliche Verkündigung im Kopf: »Er mag mich töten, ich harre auf ihn.« Wie konnte er das sagen? Und warum? Warum schikanierte Gott jemanden, der ihn so innig liebte, bloß um Satan zu beweisen, wie groß Hiobs Liebe war? Wie konnte er all den Wohlstand, den er zerstört, und die Kinder, die er getötet hatte, einfach durch eine doppelte Menge an Gütern ersetzen und glauben, dadurch das sinnlose Leid, das er Hiob hatte erdulden lassen, wiedergutzumachen? Ich fand es extrem grausam und gefühllos, die Kinder eines Menschen zu töten und dann zu sagen: »Oh, keine Sorge. Ich gebe dir doppelt so viele Kinder als Ersatz.« Ich fragte mich, ob es das war, was Gott durch den Kopf ging, wenn er sah, wie kleine, schwarze Kinder auf den Straßen erschossen wurden? Aber wenn schwarze Kinder ermordet wurden, wenn uns unser Besitz und unsere Gesundheit genommen wurden, obwohl wir nie auf Gott geflucht hatten, bekamen wir nicht einmal 40 Morgen und ein Maultier dafür geschenkt.
Ich kann nicht sagen, wie oft ich mich in den Schlaf geheult habe, während ich mich fragte, was wir verbrochen hatten, dass Gott uns so hasste.
Ich stellte mir Gott als weißen Geschäftsmann vor, der aus einem dieser turmhohen Bürogebäude in der Innenstadt auf das Ghetto herabblickt, unnahbar und unangreifbar, und sich fragt, wie er aus unserem Elend noch mehr Profit schlagen konnte. Für mich war Gott ein Weißer und er hasste uns genauso, wie alle anderen Weißen es auch taten.
Meine Mom fing an, mit diesem Moslem auszugehen, der mir weißmachen wollte, Gott sei ein Schwarzer. Zuerst lachte ich ihm ins Gesicht, doch er blieb beharrlich. Er sagte, wir seien Gottes auserwähltes Volk, das seine Wurzeln im Stamm der Shabazz habe. Ich weiß, dass er mich dadurch aufzubauen versuchte. Ich bin sicher, meine Mutter hatte ihm von meinem Ausraster in der Kirche erzählt und dass ich gesagt hatte, ich wolle nie wieder dorthin gehen. Doch Moms neuer Lover erreichte nur, dass ich noch angepisster war. Wenn Gott ein Schwarzer war, warum zum Teufel tat er dann nichts, um den Schwarzen aus dem Elend zu helfen?
Ich dachte an all die schwarzen Spießer, die ich kannte: die Doktoren, Anwälte, Geschäftsleute und Politiker, die erst schöne Worte machten, damit die Schwarzen ihnen halfen, ihre Position zu sichern und sich abwandten, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Sie hielten die größtmögliche Distanz zu den Leuten, die sie zu dem gemacht hatten, was sie waren. Ich dachte an all die großen Abzocker und Zuhälter, die Gangster und Dealer, die der schwarzen Gemeinde das Blut aussaugten und ihre eigenen Brüder und Schwestern mehr ausbeuteten als jeder Weiße. Wenn Gott schwarz war, dann war er einer dieser Spießer-Nigger, die über ihrem Erfolg vergessen hatten, woher sie kamen. Irgendwie war die Vorstellung eines verräterischen, angepassten Nigger-Gottes noch schlimmer als die eines rassistischen weißen Gottes.
»Aber es ist nicht Gott, der das alles tut. Es ist dieser Betrüger, dieser blauäugige Teufel, den Dr. Yaccub erschaffen hat, um den Urmenschen, den asiatischen, schwarzen Menschen zu quälen. Er ist es, der uns das Leben zur Hölle macht, dieser weiße Teufel.«
Da war sie wieder, diese Beschreibung des weißen Mannes als Teufel. Scheinbar glaubten all diese Moslem-Typen diesen Scheiß. Aber mich überzeugte das nicht. Wie bei allen rassischen Verschwörungstheorien wurde den Weißen auch hier zu viel Einfluss zugeschrieben. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie sie so listig und gewieft hätten sein können, die Schwarzen für so lange Zeit in der Scheiße sitzen zu lassen. All der Dreck, den Scratch in unserem Stadtviertel anstellte, hätte mehr als ausgereicht, die meisten Arschlöcher glauben zu lassen, dass er der Satan persönlich sei. Ich war jedenfalls fest davon überzeugt, dass er böse war. Aber ich konnte mich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, dass alle Weißen so waren. Und selbst wenn dieser Scheiß wahr gewesen wäre, war Dr. Yaccub, der die Weißen erschaffen hatte, doch auch von Gott erschaffen worden, sodass es letztlich doch alles Gottes Schuld war. Davon abgesehen tat er offensichtlich einen Scheiß dafür, die Situation zu verbessern.
Ich hörte auf, an Gott zu glauben. Ich war überzeugt davon, dass das Leben der Schwarzen, vor allem meines, bloß irgendein grausamer Scherz war. Bald fing ich wieder an zu saufen und zu kiffen. Mit den Schlägereien hatte ich nie aufgehört, doch selbst das wurde nun noch schlimmer. Immer öfter schwänzte ich die Schule. Mrs. Greenblade versuchte, mich wieder auf den rechten Weg zu bringen, aber ich hatte jegliches Interesse an der Schule und an allem anderen verloren. Es war sowieso alles sinnlos.
»Was ist mit dir los, Malik? Es lief doch so gut bei dir. Ist zu Hause alles in Ordnung? Brauchst du jemanden zum Reden? Du bist zu klug und hast zu viel Potenzial, um alles hinzuschmeißen. Wenn du so weitermachst, muss ich dich vielleicht durchfallen lassen«, redete die übergewichtige Lehrerin mittleren Alters flehend auf mich ein. Sie sah aus, als finge sie gleich an zu flennen.
»Tun Sie, was Sie tun müssen. Ist mir wurscht.«
»Malik, bitte. Kannst du mir nicht einfach erzählen, was los ist?«
»Erinnern Sie sich noch an das letzte Buch, das Sie mir gegeben haben, das von Jean Paul Sartre? Das Sein und das Nichts hieß es, glaube ich. Sie haben es mir gegeben, nachdem ich Ihnen von meinen Gedanken über Gott und die Schwarzen erzählt hatte.«
»Ja?« Sie schien erleichtert zu sein, dass ich mich öffnete. Ich nehme an, sie glaubte, dass ich ihr damit eine Chance gäbe, mir auszureden, was immer ich mir da in den Kopf gesetzt hatte.
»Ich muss zugeben, viel habe ich davon nicht verstanden. Aber ich glaube, er wollte sagen: Wenn es keinen Gott gibt und das Leben keinen Sinn hat, dann gibt es keine Regeln, keine Beschränkungen. Ein solcher Mensch ist so frei, wie er es sich selbst gestattet. Ich glaube, das meinte er mit dem Begriff einer absurden Freiheit. Wenn das Leben absurd ist, dann steht es uns frei, Bedeutung zu schaffen, unsere eigene Bestimmung festzulegen. Alles ist möglich.«
»Ja, das ist genau, was er meinte. Ich wollte, dass du siehst, dass deine Rasse oder deine ökonomische Situation dich nicht daran hindern müssen, das zu werden, was du sein möchtest.«
»Ja, das hab ich kapiert. Aber wenn das Leben keine Bedeutung hat, dann kann es für unser Handeln keine Grenzen geben, und das bedeutet auch, dass es keine Beweggründe zum Handeln gibt. Wenn alles bedeutungslos ist, dann gibt es nichts, was uns zurückhält, aber auch nichts, was uns antreibt. Und was soll dieser Scheiß denn für eine Freiheit sein? Es ist, als wenn man ein Kind in einen Süßwarenladen stellt, ihm aber vorher die Geschmacksnerven entfernt. Die Tatsache, dass das Leben bedeutungslos ist, bewirkt, dass ich überhaupt nichts tun will. Aber man kann im Leben nicht nichts tun, und alles, was man tut, führt zu Konflikten – in diesem Viertel ganz besonders. Konflikte führen zu Schmerz, und dieser Schmerz führt zu der Frage: ›Wofür zum Teufel leide ich eigentlich?‹ Und Sartres Antwort darauf ist: ›Für nichts.‹ Das ist wirklich beschissen, Mann. Bei all dem Scheiß, den wir erleben, sollte es doch irgendwas bedeuten. Es sollte mehr wert sein.«
»Malik, das verstehst du falsch. Es gibt vieles auf der Welt, das zu tun sich lohnt. Das ist doch nur die Sichtweise eines einzelnen Mannes.«
»Aber er hat recht. Vielleicht gibt es etwas Erstrebenswertes auf der Welt, aber nicht in meiner. Und all dieses Gesülze von Freiheit hin oder her: Meine Welt ist doch die einzige, die ich jemals kennen werde.«
Und das war so ziemlich mein letzter Schultag. Die meisten Dinge hatte ich mir selbst beigebracht. Ich beschäftigte mich weiter mit Philosophie, was nur dazu führte, dass ich noch deprimierter wurde. Bei niemandem gab es etwas, an das zu glauben sich lohnte. All die Philosophen waren bloß Feiglinge und Lügner, die Angst hatten, der Wahrheit ins Auge zu sehen oder sie nicht aussprechen wollten, um sich nicht unbeliebt zu machen. Niemand kannte die Wahrheit und niemand schien überhaupt noch auf der Suche nach ihr zu sein. Ich gab alles auf, bis auf meine Freunde.
Huey, Tank und ich gingen nun fast jede Nacht in die Innenstadt, ins Stadtzentrum in der South Street, um weißen Jungs ihre Kohle oder ihre Klamotten abzuknöpfen, falls diese teuer genug aussahen. In dieser Zeit wurde ich zum ersten Mal verhaftet.
An einem Samstagabend waren wir in der South Street und ziemlich mies drauf. Es waren nur noch drei Nächte bis Halloween und etwa zehn Minuten bis Mitternacht. Es waren bereits viele Leute in Kostümen unterwegs. Verfrühte Halloween-Feiernde mischten sich unter die Freaks und Spinner, die das Dutzend Häuserblocks zwischen dem Hafen und der U-Bahn-Station in der Broad Street bevölkerten. Die South Street war Philadelphias Version des Greenwich Village oder der Haight Ashbury Street. Leute aus aller Herren Länder, mit allen sexuellen Neigungen und alternativen Lebensstilen, stolzierten in exotischer Aufmachung die Straße entlang. Von Straßenschlägern bis zu Transvestiten, von Punks bis zu Zuhältern gab es keine Gruppe, die hier nicht in der ein oder anderen Form vertreten gewesen wäre. Selbst die Vorstädter aus New Jersey und der Main Line drängten sich auf den Bürgersteigen und machten Schnappschüsse von den kulturellen Kuriositäten des Stadtlebens.
Je näher Halloween rückte, desto seltsamer wurde es auf der South Street. Zwischen der Seventh und der Front Street standen an jeder Ecke nervös und angespannt wirkende Polizisten, denen klar war, dass ihnen die Leute zahlenmäßig und wahrscheinlich auch hinsichtlich ihrer Bewaffnung überlegen waren. Aufstände in der South Street waren in Philadelphia fast schon Tradition. Sie waren so sehr an der Tagesordnung, dass darüber kaum noch in den Nachrichten berichtet wurde, außer jemand war getötet worden oder so. Doch zwischen Eighth Street und Broad Street gab es einen anderthalb Kilometer langen Abschnitt, wo das Martin-Luther-King-Denkmal stand und auf dem kein einziger Polizeibeamter zu sehen war. Dort war die Straße dunkel; es gab viele kaputte Laternen und verlassene Mietshäuser. Jede Seitenstraße, an der man vorbeikam, war eine potenzielle Todesfalle. Und wer dumm genug war, die South Street an irgendeiner Stelle zu verlassen, selbst wenn er schon bis zur Front Street gekommen war, der forderte sein Glück heraus.
Wir standen zu dritt vor dem Drugstore an der Fifth, Ecke South, und beobachteten die Schlampen, Nutten und naiven jungen Vorstadtzicken, die vorbeispazierten. Die Vorstadtmädchen waren sogar noch leichter herumzukriegen als die Schlampen aus dem Viertel. Man konnte fast sehen, wie ihnen die Texte der Rap-Songs durch den Kopf gingen, wenn sie uns mit großen, erwartungsvollen Augen anschauten. Im Drugstore stand ein 1,80 Meter großes, rothaariges Mädchen und grinste mich an. Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Sie war so verdammt süß! Ich wusste, dass Huey herummeckern würde, wenn ich mit so einer blassen Schlampe vögelte, aber alles, woran ich dachte, war, meinen Schwanz in ihr zu versenken. Scheiß auf die Politik. Innen sind sie alle rosa.
Meine Augen wanderten über ihren Körper und ich zitterte vor Geilheit. Ihre Brüste waren enorm. Ich vermutete, dass ihre Körbchengröße irgendwo in der Mitte des Alphabets einzuordnen war. Ihr Hintern war prall und stramm, mit ebenso großem Muskel- wie Fettanteil, und auch ihre Hüften waren breit. Dafür war ihre Taille umso schmaler und sie hatten einen absolut flachen Bauch.
»Yo, Tank.«
»Was los, Alter?«
»Siehst du die rothaarige Schneeflocke da im Laden? Ich wette, die kriege ich noch heute Nacht rum.«
»Oh Mann, ist die geil. Glaubst du echt, du schaffst das?«
»Scheiße, alles, was ein schwarzer Mann braucht, um eine weiße Schlampe flachzulegen, sind ein großer Schwanz und das richtige Auftreten.«
»Ja, und ein bisschen Selbsthass«, mischte Huey sich ein und zog ein angewidertes Gesicht.
»Alter, jetzt fang nicht wieder damit an. Muschi ist Muschi. Manche haben halt einen flacheren Arsch und glattere Haare als andere, aber wenn man drinsteckt, fühlen sie sich alle gleich an.«
»Woher zum Teufel willst du das wissen? Du hast deinen Schwanz doch noch nirgendwo drin gehabt, außer vielleicht in Yolandas fettem Arsch!«
»Fick dich, Mann. Ich kriege jede Menge Muschis. Guck einfach zu, wie ich diese süße weiße Schlampe klarmache.«
Aber Huey hatte recht. Ich war noch nie mit einer Weißen zusammen gewesen und weiße Leute jagten mir immer noch etwas Angst ein. Deshalb machte ich sie so gerne fertig. Es half mir, meine Angst zu überwinden, dass ich bei einem von ihnen im Kühlschrank landen würde, wie einer von Jeffrey Dahmers Schwuchtelfreunden. Aber die Schlampe im Drugstore war zu schön, als dass eine Kleinigkeit wie die Vorstellung, zerhackt in einer Kühltruhe zu enden, mich hätte abschrecken können.
Ich ging in den Drugstore und nahm dadurch Huey die Möglichkeit, etwas zu entgegnen. Die Schneeflocke sah auf und lächelte, als ich hereinkam. Sie war definitiv fällig.
»Du siehst aus, als bräuchtest du einen Gangster in deinem Leben«, sagte ich, als ich hinter sie trat, wobei ich meine sowieso schon raue Stimme zu einem tiefen Grollen werden ließ. Ich beugte mich nah genug an ihr Ohr heran, dass sie meinen heißen Atem im Nacken spüren konnte.
Ich wusste, dass weiße Mädchen an schwarzen Männern besonders unsere unverhohlene Sexualität und Geradlinigkeit mochten. Zumindest glaubte ich, dass es das war, was sie an uns mochten. Vielleicht war es auch einfach gerade in Mode, mit Niggern zu vögeln.
»Ach ja? Wie kommst du darauf?«
»Weil es Mitternacht an einem Samstag ist, und statt dass jemand mit dir Liebe macht, der für den Schatz zwischen deinen Schenkeln töten oder sterben würde, stehst du hier herum und kaufst Snapple und so’n Scheiß.«
Sie lachte.
»Ja, und was hätte mir ein Gangster zu bieten, was mir nicht jeder andere Mann auch bieten könnte?«
Sie legte es darauf an, und da ich bisher so direkt gewesen war und es offenbar funktionierte, beschloss ich, weiter den Verführer zu spielen.
»Tja, ein Checker wie ich würde dich so behandeln, wie du es verdienst. Wie eine Königin oder Göttin.« Und dann spielte ich meine Trumpfkarte aus: »Oder eine Hure.«
Einen Moment lang starrte sie mich ungläubig an, als ob sie überlegte, ob ich es ernst meinte oder nicht und darauf wartete, dass ich lachen und sagen würde, es sei nur ein Scherz gewesen. Aber ich starrte ihr in die Augen, als ob ich es vollkommen ernst meinte. Um meinen Standpunkt noch deutlicher zu machen, musterte ich sie langsam von Kopf bis Fuß, als wollte ich gleich im Drugstore über sie herfallen. Schließlich lächelte sie und schien eine Entscheidung zu treffen.
»Wie heißt du, Baby?«
»Christina.«
»Wo wohnst du?«
»Ich und meine Mom wohnen gleich gegenüber, über dem Buchladen.«
Dann fügte sie hinzu: »Meine Mom ist das ganze Wochenende nicht zu Hause.«
Sie war etwa 17 und ich wusste, dass sie dachte, ich wäre in ihrem Alter. Mit 14 war ich bereits 1,88 Meter groß und hatte eine Stimme wie Barry White. Aber ich hatte noch nicht viel Erfahrung mit Mädchen. Das, was ich mit Yolanda tat, war zu diesem Zeitpunkt noch das, was echtem Sex am nächsten kam. Und ich sah immer noch Scratchs Gesicht vor mir, sobald ich eine weiße Person anschaute. Obwohl ich diesen ganzen muslimischen Scheiß über die Weißen als Teufel nicht wirklich glaubte, machten sie mir immer noch Angst. Trotzdem, ich wollte diese weiße Schlampe ficken.
»Gib mir deine Adresse. Ich komm heute Nacht vorbei.«
»Du hast es aber eilig! Woher soll ich wissen, dass du nicht irgendein Psycho bist oder so?«
»Tja, das kannst du nicht. Aber ich geb dir mein Wort, dass dir gefallen wird, was ich mit dir anstelle.«
»Na, du bist mir ja ein kranker Sack. Ich mag dich.«
Ich konnte es nicht fassen. Wie dumm konnte eine Frau nur sein? Eine Schwarze hätte mir schon längst die Leviten gelesen und wäre wahrscheinlich schon mit einem Teppichmesser auf mich losgegangen, um mir das Gesicht zu verunstalten. Weiße Mädchen lebten in einer völlig anderen Welt. Gewalt war ihnen so fremd, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnten, von ein paar Niggern, denen sie auf der South Street begegneten, verprügelt oder vergewaltigt zu werden. Für sie bestand das Leben nur aus Spiel und Spaß. Aber so viel Lust ich auch hatte, ihr das Gegenteil zu beweisen und ihre Welt auf den Kopf zu stellen, war es nicht mein Ding, Frauen wehzutun. Eine Muschi zu bekommen war mir viel wichtiger, als irgendetwas zu beweisen. Yolanda hatte es mir schon mit der Hand und mit dem Mund besorgt, aber davon abgesehen war ich immer noch Jungfrau und begierig darauf, dass sich das endlich änderte.
»Meine Freunde warten auf mich. Wir haben noch was zu erledigen. Gib mir deine Nummer, dann treffen wir uns später.«
Sie schrieb mir ihre Nummer und Adresse auf und reichte mir den Zettel. Als ich ihn nehmen wollte, hielt sie meine Hand fest.
»Hast du wirklich vor, mich anzurufen? Nimm meine Nummer nur, wenn du wirklich Lust hast.«
Scheiß drauf.
»Ja, wir sind dabei.«
Ein Schauer überlief mich, als hätte ein Geist meinen Weg gekreuzt. Ich beachtete es nicht.
»Was sollen wir tun?«