Bis das Ross im Himmel ist
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Umschlag-Gestaltung: Bruno Arn
Lektorat: Karin Schneuwly, Zürich
Satz: arsnova, Horw
e-Book: mbassador GmbH, Luzern
© 2014 Buchverlag Lokwort, Bern
Abdruckrechte nach Rücksprache mit dem Verlag
ISBN 978-3-906786-57-5
www.lokwort.ch
Meinem Vater
1
Der Bub macht immer noch einen weiten Bogen um das Ross. Wenn er die Haustür aufreisst und, den Schulsack auf dem Rücken und das Znünibrot in der Hand, auf den Vorplatz stürmt, erschrickt er jedes Mal, dass es schon draussen neben dem Eingang zur Werkstatt steht und sich die Strahlen der warmen Morgensonne in den goldig glänzenden Messingbeschlägen des Geschirrs spiegeln. Er bremst seinen Schwung und springt zur Seite. Obwohl er weiss, dass der stattliche Braune ihm nichts machen wird. Dass er nur hält, was er trägt, und nicht, was er verspricht zu sein. Das verrät die unschöne Naht, die an der Kehle beginnt und den Hals hinunter bis zur Brust und zwischen den Vorderbeinen verlaufend, mit groben Kreuzstichen gestochen, das Fell zusammenhält. Das Pferd steht unbeweglich, sein glasiger Blick ist starr in die Ferne gerichtet. Der Bub weiss, dass es tot ist, das Tier. So tot ist es, dass es nicht einmal einen Namen hat. Und er weiss, dass, wer tot ist, in den Himmel kommt. Das ist wenigstens das, was ihm das Mueti immer erzählt. Und das Gebet, das er manchmal, bevor er einschläft, vor sich hin murmelt:
«Lieber Herrgott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen.»
Nun steht es aber vor ihm, das Pferd. Hier auf der Erde und nicht im Himmel, und ist doch gleichwohl schon lang gestorben. Ob es vielleicht nicht genug fromm geworden ist? Können Tiere fromm sein? Fromm sein heisst brav sein. Das Ross, soweit er das beurteilen kann, ist sehr brav. Wenigstens, seit er es kennt.
«Wann kommt es denn in den Himmel, das Ross?»
«Wenn wir es nicht mehr brauchen.»
Also geht es darum, möglichst lang gebraucht zu werden, lernt der Bub.
Dunkel schimmert das gefettete Leder, das dem Pferd über den Rücken hängt, der Chomet, pechschwarz und blank um seinen Hals geschwungen, passt wie angegossen. Seit gestern trägt es wieder ein neues Geschirr, mit besonders vielen Zierelementen, Stickereien und buntem Filz. Ein Blickfang für die Passanten und beste Reklame für das Geschäft. Die kleinen Ohren des stolzen Braunen sind aufmerksam nach vorn gerichtet, und das Fell ist gestriegelt, als könne es noch einmal so glänzen wie zu Lebzeiten. So wird das Pferd den ganzen Tag lang stehen, ohne eine einzige Bewegung zu machen, die Hufe mit schwarzer Schuhwichse gesalbt und das Haarkleid mit der weichen Bürste auf Hochglanz poliert. Das macht der Lehrling jeden Frühling. Die Nüstern sind gebläht, und sogar Mähne und Schweif werden jeden Morgen durchgekämmt. Der Zaum ist nur zur Zierde da. Nicht, weil es da noch etwas zu zügeln gäbe. Gezügelt wird morgens bei Arbeitsbeginn und abends bei Ladenschluss. Und wenn es nötig ist, bei Wetterumschwung. Zwei Mann sind nötig, um den sperrigen Gaul, den ein Eisenskelett aufrecht hält und dessen Körper mit Gips gefüllt ist, zu bewegen.
Hinten, im Verkaufsladen, direkt neben dem Klavier der Grossmutter, ist sein Winterquartier. Während der wärmeren Jahreszeiten ist sein Stall in der Budigg, wo in diesem Fall kein Stroh den Boden bedeckt. Dieses Tier macht keinen Mist, braucht kein Futter und hält still ohne zu scharren und zu wiehern. Unbeweglich verbringt es die Nächte und all die vielen regennassen oder kalten Tage in der Werkstatt, die schönen Tage draussen auf dem Vorplatz.
Auch wenn es bockstill und steif steht, dieses Tier, für den Bub ist und bleibt es ein Pferd, und Pferde sind die Tiere, vor denen er sich am meisten fürchtet. Gerade in einer Sattlerei sind Pferde nicht selten. Man solle ja nie hinter einem Ross durchgehen oder dahinter stehen bleiben, da es jederzeit ausschlagen könne, lehrt man ihn von klein auf. Was nicht nötig wäre, denn die Angst lässt ihn auch ohne Ermahnung Abstand halten. Auf manche lahme, breite Mähre – er solle doch nicht so tun, dürfe er sich doch wohl schon setzen. Und das solle einmal ein Sattler werden? Doch er will nicht. Er scheut die Pferde. Er sieht schliesslich oft genug, wie sie herumtanzen und sich aufbäumen, wie manchmal die Funken sprühen, wenn die Hufeisen über das Kopfsteinpflaster rutschen, dann, wenn der Vatter ein neues Geschirr anpassen und es dem Pferd auf den Rücken werfen will. Manchmal braucht es drei Männer, um solch ein wild gewordenes Tier zu bändigen. Dann holt der Vatter die Bremse aus der Schublade in der Budigg. Er muss die weiche Haut der Nüstern packen und die Seilschlinge, an der ein kurzer Holzstiel befestigt ist, darum herumdrehen, bis das Pferd sich aus Angst vor dem Schmerz an der empfindlichen Nase nicht mehr rührt, so dass endlich Mass genommen werden kann. Der Vatter ist da nicht zimperlich. Als Dragoner weiss er mit den Gäulen umzugehen. Doch der Bub ist sich manchmal nicht sicher, ob die Tiere nicht vielleicht ruhiger wären, schlüge der Vatter nicht einen gar so rauen Ton an.
Doch an diesem Morgen ist davon nichts zu vernehmen. Der Vatter sitzt bereits in der Werkstatt. Ausser dem Vogelgezwitscher und dem Klappern von Geschirr aus der Küche ist draussen nichts zu vernehmen. Oder hat nicht grad der Grossvater nach ihm gerufen? Wie der Blitz rennt der Bub ums Haus herum auf den oberen Hausplatz, wo der Grossvater seinen Stuhl an die hilbe Hauswand neben dem Rebenspalier unter dem Fenster zum Budiggli gerückt hat und die ersten Sonnenstrahlen des Tages geniesst. Trotz der frühen Wärme trägt er die alte geflickte Wolljacke, die seine steifen Glieder sommers wie winters vor der inneren Kälte bewahrt. Die müden, knochigen Hände halten sich am Spazierstock fest. Die Stirn ist sorgenvoll in Falten gelegt und der Blick auf etwas gerichtet, das niemand sieht ausser ihm. Rasieren mag er sich nicht mehr jeden Tag, die Augen werden immer schlechter, und die Hand führt die Klinge zittrig. Dafür sind sein weisser Schnauz und die immer noch dichten, borstigen Haare sauber gestutzt, die Schuhe blankgeputzt, und das Nastuch beult wie immer seinen rechten Hosensack.
«Hast du gerufen, Grossvater? Was machst?»
«Warten, Bub, warten.»
«Auf was denn, Grossvater?»
«Auf den Tod, Bub, auf den Tod. Und auf den Himmel.»
Wohl, weil niemand ihn mehr recht brauchen kann? Dem Bub fällt ein, wie sehr es der alte Mann beklagt, dass er nicht mehr behilflich sein kann bei der Zügelei des schweren Pferdes. Auch sonst steht er meistens nur im Weg herum. Er sei halt einfach nicht mehr nötig. Ums Haus herum, das Reindli ab zur Strasse hinunter rennt nun der Bub, hinein in die Budigg, wo der Vatter über die Arbeit gebückt an der Nähmaschine sitzt.
«Der Grossvater, er will sterben!»
«So ring wird nicht gestorben, nicht hier, nicht bei uns», ist die Antwort. Ohne den Blick zu heben, dreht der Vatter weiter an der Kurbel und konzentriert sich auf die gerade Naht. Und da es in der Werkstatt für ihn nichts weiter zu tun gibt und er, wenn er noch lange hier herumsteht, zu spät in die Schule kommt, macht er sich halt auf den Weg ins Dorf zum Schulhaus hin, der Bub, und wiegt sich in Sicherheit, dass der Grossvater noch da sein wird am Mittag, wenn er wieder heimkommt. Dass schon stimmt, was der Vatter sagt, weil ja immer stimmt, was der Vatter sagt. Denn wenn der Vatter sagt, etwas ist so und nicht anders, dann hat man ihm nicht zu widersprechen.
2
Um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts, als die Geschichte der Sattlerei ihren Anfang nimmt und sich entlang der neu erstellten Hauptverkehrsachse zwischen Bern und Biel ein frisch errichtetes Haus ans nächste reiht, aufgefädelten Perlen gleich, in schnurgerader Ausrichtung, sich ausdehnend Richtung Nachbarort, Richtung Stadt, wird ans Sterben nicht gedacht. In dieser Zeit blickt man vorwärts, die Zukunft hat Aufwind. Der Ururgrossvater rührt mit der grossen Kelle an. Drei Geschosse sind geplant, die Geschäftsräume und vier Wohnungen, zudem ein Dachstock mit vier Mansarden. In den Hang hinein gebaut wird das Haus. Von unten, das heisst von der Strasse her, sind Werkstatt und Verkaufsladen, zwei klar voneinander abgetrennte Bereiche, optisch definiert durch die grossen Schaufenster und die breite Eingangstür zur Budigg, wie die Werkstatt seit Anbeginn genannt wird, ebenerdig über den Vorplatz zugänglich. Drei Platanen säumen die Strasse. Eine weise Entscheidung, die nahe Lage zur Verkehrsachse wird sich als gut erweisen für das Geschäft. Der Wohnbereich im ersten Stock ist von der Strasse her durch eine Innentreppe erschlossen. Wer den steilen Rain links um das Gebäude herum wählt, kommt über den Hausplatz ebenfalls ebenerdig in die Wohnung. Der Rain ist wichtig für den zukünftigen Handwerksbetrieb. So manche Kutsche und etliche andere Fahrzeuge stellt man hinter der Werkstatt ab, bis sie der Besitzer nach getaner Arbeit wieder abholt. Kutschenausstattungen und Autosattlerei werden wichtige Zweige des hier entstehenden Geschäfts. Der obere Hausplatz wird eingerahmt vom Haupthaus und der gegenüberliegenden Scheune, in der die kleine Werkstatt, die Wagenremise, der Schweinestall und die Waschküche inklusive Badewanne untergebracht sind. Der offene Dachboden dient als Lagerplatz für Heu und viele im Moment gerade nicht verwendete Utensilien und Gerätschaften aus der Sattlerei. Nichts wird entsorgt, und was aufgehoben wird, landet auf der Bühne. Wird irgendwann einmal seine neue Bestimmung und Verwendung finden. Was wie eine riesige verstaubte Unordnung anmutet, ist in Wahrheit Material- und Ersatzteillager. Glücklich, wer den Überblick wahren kann.
Schatten spendet der Kastanienbaum mitten im Hof, am Rand steht der Brunnen, Tränke und Lebensquell für den alltäglichen Gebrauch in der Werkstatt und im Garten. Dieser erstreckt sich weit nach hinten Richtung Pflanzblätz und Hofstatt, er ist eine Augenweide mit seinen unzähligen Blumenarten und den Beeten, welche Mengen an Gemüse und Obst zur Ernährung der immer grösser werdenden Familie liefern. Sie sind das Ergebnis von tagelanger unermüdlicher Arbeit der Frauen und Mädchen, die gebückt über der Erde beschäftigt sind und säen, setzen und stecken, ausdünnen, jäten und bschütten. Sie giessen die Pflanzen mit Hilfe der Batterie von Giesskannen und Eimern aus Blech, die gefüllt neben dem Brunnen parat stehen, damit das Wasser absteht und sich etwas erwärmen kann. Im hinteren Schopf schliesslich die Gartenwerkzeuge in sauberer Ordnung, die Kaninchenställe mit den Häse und dem Bock, alles Schweizerschecken, das Brennholz, gestapelt bis zur Decke, und die Velos mit dem Anhänger. Nicht zu vergessen der Hühnerhof mit auergattig Geflügel.
Der windgeschützte Hausplatz ist Treffpunkt für den Schwatz nach Feierabend und Spielplatz für die Kinder. Der Ort für Lachen, Geschrei und Gezeter. Vielfach ist es aber auch still im Hof. Strassenlärm gibt es nämlich noch keinen, so dass man bald das Ballmoosglöcklein, das ferne Münster, die Sirene der Sägerei oder die rangierenden Güterzüge vom Nachbardorf hört. So weiss man immer, je nachdem, wie der Wind grad geht, was es für Wetter geben wird. Vollkommen still wird es auch einige Male. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Man rückt eng zusammen, als vom Jura her Geschützdonner zu vernehmen ist und Scheinwerferstrahlen den Himmel nach Flugzeugen absuchen. An Leuchtraketen mag man sich auch noch erinnern, die amerikanische Flugzeuge auf der Suche nach Notlandeplätzen abfeuern.
Aber noch ist es friedlich. Noch werden im Steingärtlein, einer Sammlung von kunstvoll drapierten Tuffsteinen am Börtli unterhalb des Gartenhags, der den Hausplatz vom Blumengarten trennt, umwachsen von Polstern aus bunten Blümchen, jeden Frühling die Zwerge frisch gestrichen und die kleinen Holzchalets, die den Winter in der Scheune zubringen, aufgefrischt. Der Kies in den Gartenwegen wird im Herbst zusammengerecht und mit der Garette ans Trockene gefahren, um ihn im neuen Jahr wieder zu verteilen. Sparsam und mit Sorgfalt geht man um mit allem, was einem lieb und eigen ist. Wer einmal so viel geschafft und geschaffen hat und einen so stattlichen Hausstand sein eigen nennen kann, scheut keinen Aufwand, dies alles zu hegen und zu halten. Schön ist es geworden, das mächtige Haus mit den gesägten Holzarbeiten im Dachgiebel, der Fassade mit den Schindeln und dem Fundament aus massivem Sandstein, seine Sonnenseite, das Sonntagsgesicht, den Ankömmlingen aus der Stadt zuwendend. Das lässt sich sehen, so lässt es sich leben und arbeiten.
Die Arbeit, auch die wird zur Schau gestellt, in den beiden grossflächigen Fenstern zur Strasse hin. Hier liegen Stoff und Lederarbeiten in der Auslage, hängen Staatsriemen und Kuhglocken. Ein aufgepolstertes Sofa oder ein fein genähtes Zaumzeug. Gutes Handwerk hat goldenen Boden, und solange die Zeiten gut sind, wird davon Gebrauch gemacht.
Der Grossvater ist ein tüchtiger Mann. Hat ein florierendes Geschäft von seinem Vater, und der wiederum von dem seinigen, übernehmen dürfen, und er hat es weiter zur Blüte gebracht. Es ist die Zeit, in der man Pferde hat, und Grossvater hat alles, was es dafür an Zubehör braucht. Er stattet die Kutschen aus, näht und flickt Verdecke. Fertigt Geschirre an nach Mass, seien sie für die Arbeit auf dem Feld oder solche, die vor der Chaise etwas hermachen sollen. Halfter, Zäume und Riemen, Sättel und Gurten, die Fuhrleute und Pferdehalter wissen, an wen man sich wendet. Hier entsteht Qualitätsware, und der Name der Sattlerei ist weitherum bekannt. So leistet sich der Grossvater eines Tages den Luxus und lässt sich ein Ross ausstopfen. Das Angebot macht ihm ein Bekannter, der einen kennt, der einen kennt, der im Naturhistorischen Museum arbeitet. Für einmal wird die Grossmutter übergangen und nicht um Rat gefragt. Die hätte abgelehnt, die Idee als dummes Zeug verworfen. So wird sie vor die Tatsache gestellt, als der Braune dann auf dem Vorplatz steht, ein Ausstellungsmodell erster Güte, das mit Stolz präsentieren kann, was in tagelanger Handarbeit in der Werkstatt entsteht. Noch besser als am Holzbock lässt sich an ihm Mass nehmen, wenn nach einer besseren Lösung für die Zugvorrichtung gesucht wird. Eine Schneiderbüste für Pferdebekleidung sozusagen. So töipelet die Grossmutter dann nicht lang und trägt ihren Surnibu nur wenige Tage zur Schau, der sich zwar nicht gross von ihrem Alltagsgesicht unterscheidet, das man weitherum nur allzu gut kennt und das sich vor allem durch ihr schmallippiges Schweigen auszeichnet.
Die Grossmutter ist halt eine von den Mehrbesseren. Eine aus gutem Hause und von weit her. Die ihre besonderen Qualitäten ihr Leben lang durch ihren gebürtigen Dialekt hervorheben muss, damit auch ja alle merken, dass sie nicht bloss eine Hiesige ist. Dass sie eigentlich etwas Besseres verdient hätte. Der Bub schaut, dass er ihr nicht im Weg ist. Sie hat selten ein gutes Wort für die Kinder, die ja doch nur alles durcheinanderbringen. So ist er nur in ihrer Wohnung im oberen Stock, wenn die Grossmutter ausser Haus ist oder in der Küche hantiert und er derweil beim Grossvater nebenan im überheizten Stübli sitzen darf. Die Grosseltern bewohnen eine Küche mit riesigem Holzherd zum Heizen und Kochen, das Stübli, daneben eine gute Stube, die seines Wissens nie benutzt wird, und ein Schlafzimmer. Über den mächtigen Betten hängt ein Bild vom Heiland, der über das Wasser schreitet. Da hätte er, der Bub, noch lange davorstehen mögen, als er sich einmal in diese fremdeste aller Kammern im Haus verläuft, auf der Suche nach einer jungen Katze, die ihm entwischt ist, und er den Mund nicht mehr zubekommt vor lauter Staunen. Kaum dass seine Nase über die hohe Fuessete der Bettstatt reicht. Als er die Grossmutter in der Küche rumoren hört, gleitet er rasch unter das Bett und wartet, bis sich die furchteinflössende Frau mit den dunklen Röcken, die bis zum Boden reichen, in die untere Wohnung aufmacht. Das laute Herzklopfen vermischt sich mit ihrem harten Schritt. Durch die Tür kann er einen kurzen Blick auf ihre Fussspitzen erhaschen, als sie vorübereilt. Also hat sie doch Beine, denkt er erstaunt.
So findet ihn die Schwester, die den Auftrag hat, auf ihn aufzupassen, weil das Mueti alle Hände voll zu tun hat. Der Vatter ist im Dienst, sagen sie wieder. Was das heisst, weiss der Bub nicht. Er fragt auch nicht, weil die ernsten Gesichter, die das sagen, nicht so aussehen, als möchten sie gefragt werden. Er sei sowieso viel zu vorwitzig, meint die Grossmutter.
Seit seinem dritten Monat ist er nicht mehr das friedlich im Schlaf vor sich hin lächelnde Bündel, das nach dem Trinken zufrieden und ruhig in seiner Wiege liegt. Wie man ihn auch wickelt und bindet, legt oder hält, er windet sich und zuckt, ballt die kleinen Fäuste und schreit, bis er blau anläuft. Immer scheint er hungrig zu sein, will aber dann doch nicht recht trinken. Das Mueti legt ihn an und wieder ab und ist recht ratlos. Das ist bei den Meitschi doch ganz anders gewesen. Die haben getrunken und geschlafen und wieder getrunken, nicht so wie dieser kleine Bub. Seine Präsenz ist unüberhörbar, und vor allem nachts, wenn er das ganze Haus wachhält, will sich niemand mehr so recht an ihm freuen. Nicht länger wird er von Arm zu Arm gereicht und von allen als herziges Buebli, das so sehr willkommen ist und erst noch so gut riecht, ans Herz gedrückt. Jetzt reicht man ihn weiter, weil man nicht mehr weiterweiss, wenn er schreit und schreit und immer lauter wird.
Das habe man jetzt von dieser Pantscherei. Die Grossmutter sieht sich in ihrem rechthaberischen Urteil einmal mehr bestätigt. Es bewähre sich halt eben nicht, wenn man ein Bébé dauernd göimelet und herumtrage. Das habe sie sich doch von Anfang an gedacht. Und hat sich wohl darum auch nicht recht an dem Neugeborenen freuen können wie alle anderen. Oder vielleicht auch nur, weil sie es nicht gerne sieht, wenn andere im Mittelpunkt stehen, und seien sie noch so klein. Jetzt sei er halt bereits verwöhnt und verweichlicht, der Kleine, das habe man ja kommen sehen. So ein bisschen gränne habe öppe noch keinem geschadet. Gesunde, starke Lungen gebe denk das, und damit ist für sie das Thema erledigt und sie aus der Pflicht. Beteiligen tut sie sich in keiner Weise am Aufwand, der betrieben wird, um dem Kindlein das Dasein etwas zu erleichtern. Das Mueti erledigt die Haushaltung und das Kochen mehr oder weniger einhändig, weil ihr der Bub, der nur schläft, wenn er geschaukelt wird, schwer im Arm liegt, oder sie den Stubenwagen unermüdlich hin und her schiebt. Zum Glück ist da die zehn Jahre ältere Schwester, die nach der Schule übernehmen muss. Und so kommt es, dass der Bub seine Nachmittage schon früh mehr unterwegs als daheim verbringt, denn die Schwester schleipft ihn einfach überall hin mit, wo sie auch gerade hingeht. Denn sie hat keine Lust, wegen ihm auf ihre Kameradinnen und die Spiele zu verzichten. Schliesslich geht es der Freundin, der Eleonore, gleich. Die hat sogar zwei dabei. Das sind aber nicht ihre Geschwister. Es sind Bauernkinder aus der Nachbarschaft, die sie gegen ein kleines Entgelt hütet.
So sind die Kindswägen inmitten der Kinderschar an der Hauptstrasse kein seltenes Bild und auch nichts Aussergewöhnliches für die Anwohner. Das Weinen der Säuglinge vermischt sich mit dem Lachen und Geschrei der spielenden Kinder. Solange das alles draussen geschieht und nicht in den Häusern, soll es allen recht sein. Punkt drei Uhr hat sie sich daheim blicken zu lassen, die Schwester. Der Bub bekommt die Brust. Dann wieder um sieben. Man solle einen strikten Plan einhalten, empfiehlt der Doktor, der zu Rate gezogen wird und das sich windende und krümmende Kindlein gründlich untersucht und nichts finden kann. Die Krämpfe würden sich dann schon wieder legen. Daheim verschwindet das Mueti mit dem Bruder im Schlafzimmer, und es vergeht keine halbe Stunde, ist er satt und frisch gewickelt, und sie können auch schon wieder los. Die Zeit reicht gerade für die Hausaufgaben.
Auch als der Sommer den Frühling ablöst und die Tage noch länger und wärmer werden und sich der Bub schon längst an sein Erdenleben gewöhnt hat und aus ihm ein ganz gewöhnlicher und pflegeleichter Säugling geworden ist, behält man die gäbige Gewohnheit bei. Die grosse Schwester hat, wo sie auch steht und geht, den Kinderwagen dabei und neu auch die Portion Brei, die das Brüderchen am Nachmittag bekommt. So ist man viel unabhängiger. Die ganzen langen Sommerferien über ist er mehr unter Kindern als daheim bei der Mutter, und vom Wagen aus erlebt er seine ersten grossen Planspiele und Schnitzeljagden zwischen verfeindeten Banden. Mit Kreide an die Hauswand oder mit dem Finger in den Staub, überallhin werden Pläne gezeichnet, und darin wird eingetragen, wo der König versteckt ist und wo sich der Schatz befindet. Es gilt den Plan zu finden und dann den Schatz. Wer schliesslich den gegnerischen König fängt, hat gewonnen. Das dauert oft den ganzen Tag, so weitläufig ist das Gelände der Hauptstrasse entlang. Damit es gerecht zu und her geht, werden die zwei Kinderwagen auf beide Gruppen verteilt. So haben alle den gleichen Klotz am Bein. Doch die Kleinsten, deren Geplapper, Gekreisch und Weinen eigentlich nur verstummt, wenn sie endlich eingeschlafen sind und man den Wagen dann in einem sicheren Versteck zurücklassen kann, sind nicht das einzige Erschwernis bei den Spielen. Die beiden alten Bernhardinerhunde, welche die Kinder mit müden Augen und treuherzigem Blick verfolgen, während sie sabbernd an einem Knochen kauen, und der frei herumstreunende Esel von den Metzgersleuten, der im ungünstigsten Moment hinter einer Mauer die Kinderschar entdeckt und mit seinem markerschütternden Geschrei den Ort des Rückzugs verrät, gehören genauso dazu. Und es kommt vor, dass die Grösseren die Zeit vergessen oder das Kind in seinem Wagen, oder wo sie diesen abgestellt haben. Verloren gegangen ist er nie, der Bub, gefunden worden einige Male. Mit der Muttermilch und dem Früchtemus wird ihm von klein auf die Zugehörigkeit zu diesem Revier an der Hauptstrasse eingeflösst. Und was so früh geprägt wird, das hält ein Leben lang.
Den kurzen Weg zum Freund, schön auf dem Trottoir immer geradeaus, macht er allein, kaum dass er auf den eigenen Beinen stehen kann. Dass er mit der Fingerspitze das Lütti fast nicht erreicht, ist weniger schlimm als die Mühe, die er anfänglich hat, das richtige Haus zu finden. Die drei weissen Wohnhäuser an der Strasse sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Die Zahlen kennt er noch nicht, aber bald hat sich ihm das Schriftbild der blauen Hausnummer eingeprägt, so dass er den richtigen Hauseingang wiedererkennt. Es ist eine andere Welt beim Freund daheim. Dort riecht es nach Waschpulver und Schokoladenkuchen. Die Mutter hat eine Nähmaschine in einem eigens dafür eingerichteten Stübli, dort steht auch das Bügelbrett mit dem Glettyse und wird gar nie weggeräumt. Gegessen wird in der Wohndiele, und in der guten Stube stehen dicke Fauteuils um ein dreibeiniges Tischchen, auf dem immer Bücher liegen. Immer andere. Auf dem Buffet an der Wand steht eine Vase mit frischen Blumen. Bei ihnen daheim stehen die Blumen im Garten. Das käme niemandem in den Sinn, sie mit in die Stube zu nehmen. Der Vater ist meistens ausser Haus. Weil er eben in der Stadt arbeite, erklärt der Freund. Da müsse er schon früh auf den Zug und käme erst zum Znacht wieder heim. Mehr noch zu staunen gibt aber die Toilette mit Wasserspülung. Die benutzt er bei seinen Besuchen immer als erstes, nur um das Badezimmer, einen eigenen Raum nur für Brünndli und Wanne, betreten zu dürfen und dem Rauschen des Wassers zu lauschen, das sich aus dem hohen Spülkasten ergiesst, wenn er an der Kette zieht. Das erste Mal ist er erschrocken und hat gemeint, über ihn ergiesse sich ein Wasserfall. Dem Freund kommt das artig vor, dass sein Besuch aufs WC muss, noch bevor sie irgendein Spiel anfangen. Seine Mutter aber, die schmunzelt hinter ihrer Nähmaschine.
Daheim ist man häufig auf der Suche.
«Du sollst dich nicht immer verstecken. Schon gar nicht hier oben.»
«Ich habe doch nur das Büüssi gesucht.»
Leider ist die Zeit vorbei, als er sich vom Vatter ein Glöcklein an einer dünnen Schnur um den Hals hat hängen lassen, damit er nicht verloren gehe und man immer wisse, wo er stecke, der Kleine, der oft viel schneller verschwunden ist, als er wieder auftaucht. Die Aufgabe, auf ihn aufzupassen, ist keine einfache, und schon gar nicht, wenn man sich lieber um die Puppen kümmern würde. Die sind gäbiger in der Handhabung. Zwar verstellt man Löcher und Abgänge mit Brettern. Und doch fällt er prompt ins Kellerloch, bleibt reglos liegen und sieht in der Ferne nur noch dieses grelle Licht, so als müsse er in Kürze sterben. Dabei ist es nur die untergehende Sonne, die ihn blendet. Dennoch muss die andere Schwester, die zwei Jahre ältere, in den Saustall. Das ist das gängige Strafmass. Der zufallende Metallriegel, ein halber Tag Dunkelheit und kein Abendessen. Hätte sie nur besser auf ihn achtgegeben. Aber seit er im Stubenwagen an einem Erst-August-Abzeichen schier erstickt ist, ist sie, die zwei Jahre Ältere, an allem schuld, was ihm passiert. Schaluus sei sie halt, meint die Verwandtschaft.
An jedem Mittag sitzt man gemeinsam zu Tisch. Eltern, Kinder und Grosseltern, dazu manch anderer Hausbewohner. Da finden sich schon zehn bis zwölf Personen ein, je nachdem, wer sich gerade in den ungeheizten Mansarden eingemietet hat und wie viele Gesellen und Lehrlinge in der Werkstatt tätig sind. Die Störschneiderin oder eine Wäscherin ist ebenfalls nicht selten. Es hat immer genug für alle. Trotz der harten Zeit und der Knappheit überall. Trotz der rationierten Lebensmittel und der mageren Ausbeute an Marken. Das Mueti schafft es, mit dem knappen Haushaltsgeld alle satt zu machen. Dem Garten sei Dank, und den Tieren. Und der harten Arbeit der Mutter tagtäglich. Nie muss jemand hungrig vom Tisch. Das Gebet vor dem Essen müsste ihr gebühren und nicht dem lieben Herrgott. Der schickt das Gemüse und die Eier nicht vom Himmel.
Die Tischordnung ist klar, ebenso die Sitten. Beim Essen wird nicht geredet. Schon gar nicht, wenn die Nachrichten kommen. Die Welt ist in Aufruhr, und das geht nicht unbemerkt an den Dorfbewohnern vorbei. Da wird Anteil genommen, jedoch erst später in der Werkstatt oder nach Feierabend kommentiert.
Vorbei ist bald die Mahlzeit. Die Schwestern haben Küchendienst, und für den Bub hält der Nachmittag einiges an Verheissungen parat. Zum Beispiel Muetis Velo, das Mondia mit dem geschwungenen Lenker und dem Netzli über dem Hinterrad, damit der Rock nicht in die Speichen kommt. Heute nicht im Schöpfli eingeschlossen, steht es am Brunnen. Die Mittagszeit ist günstig. Niemand achtet sich, was er so treibt, der Bub. Er merkt nicht, wie die Mutter ihn durch das Küchenfenster im Blick hat. Ihr wachsames Auge und die schützende Hand hält sie unauffällig über ihn, ist erstaunlicherweise oft zur Stelle, wenn er sich wehtut.
Der Sattel ist zwar viel zu hoch, aber beim zweiten Versuch kann er sich bereits eine Runde lang oben halten, bevor er das Gleichgewicht verliert und kippt, sich das Knie aufschlägt und aufhört, bevor die Hose auch noch reisst. Das wäre das grössere Unglück als der Blätz am Knie. Er stellt das Velo an seinen Platz zurück und klopft sich den Staub vom Hosenboden. Das Blut wäscht er sich am Brunnen ab. Niemand wird etwas merken, bis er es endlich kann, das Velofahren, und den anderen vorführen wird, was er heimlich geübt hat, so denkt er. Das Mueti wird Überraschung mimen. Den Stolz wird sie nicht zu spielen brauchen.
Es dauert heute lange, bis der Grossvater endlich seine Mittagsstunde beendet. Im Stübli auf dem Kanapee legt er sich immer nach dem Essen eine Weile auf den Rücken, die Hände über dem dicken Bauch gefaltet. Die Augen fallen ihm zu, und bald ertönt ein heiseres Schnarchen. Lässt man ihm diese heilige Zeit der Ruhe, ist er den ganzen Nachmittag über gut bei Laune und aufgeräumter Stimmung. Dann nimmt er den Buben, der im Hof bereits auf ihn wartet, bei der Hand, und gemeinsam betreten sie das Budiggli, wo sich der alte Mann an seine Arbeit macht. Zwar hat er keine Pflichten mehr dem Geschäft gegenüber, der Vatter trägt ihm aber trotzdem den einen oder anderen Auftrag zu, weniger, um ihn zu beschäftigen, als vielmehr, weil er weiss, dass der Grossvater einen Grund braucht, um in seine kleine Werkstatt zu kommen. Der Bub ist bei weitem nicht der einzige, der der Grossmutter aus dem Weg geht. Ihre übellaunige Natur und ihre Unzufriedenheit sind keine gute Gesellschaft. Der missbilligende Blick kritisiert jedes Tun. Und gibt man sich noch so Mühe, recht machen kann man es ihr nicht. Überall findet sie etwas auszusetzen. Wie sie dann von oben herab schauen kann. Was nicht schwierig ist, bei ihrer Körpergrösse. Sie überragt sogar den Grossvater um eine Handbreit und wirkt mit ihrem riesigen Bürzi auf dem markanten Kopf noch einmal mächtiger. Auch punkto Körperfülle kann sie es mit ihrem Mann aufnehmen. Ein stattliches Paar, währschaft und solid. Gut genährt, ein Zeichen, dass es einem gut geht, dass man es sich leisten kann. Nur das Lächeln, das hat sich vor langer Zeit aus ihrem Gesicht verabschiedet. Die Züge sind hart geworden. Nicht nur, weil es sie hart ankommt, dass nicht mehr sie hier im Haus das Sagen hat, seit das Mueti das Zepter über Haus und Garten übernommen hat. Da ist der Grossvater anders. Der geniesst die Freiheit, sich sein Tun frei einteilen zu können. Der muss nicht mehr auf Termin liefern und unter Druck arbeiten, bis tief in die Nacht hinein, damit ein Auftrag am nächsten Tag fertig wird. Er weiss die Sattlerei bei seinem Sohn in den besten Händen, den guten Namen hat sie ja behalten. Der bürgt für Qualität.