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ISBN 978-3-218-00949-2
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Gemälde von Andreas Stasta
Lektorat: Paul Maercker
Satz und typografische Gestaltung: Sophie Gudenus
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Wut?
Wut als Programm
I Fallbeispiel: Die vernichtende Wut des Herrn A.
I Fallbeispiel: Und der Krieg wütet fort
Wut im Bauch
I Fallbeispiel: Die arme Haut
Wut – und sonst nichts mehr
I Fallbeispiel: Der Anständige
I Fallbeispiel: Der Hochanständige
Junge Wut
I Fallbeispiel: Die Opfer-Täter-Umkehr
Wut und der Gerechte
I Fallbeispiel: Was kränkt, macht krank
Nachwort
Literatur
FÜR GERLINDE
Danke für unsere wut-freie Freundschaft
Wut ist, gelinde gesagt, unangenehm, und zwar sowohl für den, der sie empfindet als auch für den, den sie trifft. Wir kennen die blinde Wut, die kalte Wut, die ohnmächtige Wut, wir sind außer uns vor Wut, könnten heulen vor Wut, sehen rot vor Wut. Wir belächeln aus sicherer Distanz den Mann, der wutschnaubend blindwütig herumläuft, hüten uns aber tunlichst, ihm in die Quere zu kommen.
Wir schreiben der Wut ungezählte Adjektive zu, assoziieren damit die Farbe „Rot“, aber wir denken sie, im Unterschied zum eher männlich belegten Begriff Aggression, zumeist nicht einem bestimmten Geschlecht zugeordnet: Die Gleichberechtigung, vielerorts fragliche Realität, hier ist sie verwirklicht. Hier steht der Wüterich einträchtig neben der unvergleichlichen Wut der geschmähten Frau, die in der Hölle nicht ihresgleichen findet.
Dafür gibt es zumindest einen denkbaren Grund: Wut ist eine von mehreren menschlichen Basisemotionen, ist also Teil der conditio humana und Teil unseres ureigenen Verhaltensrepertoires. Trotzdem rechnen wir es uns als zivilisatorische Leistung an, die Wut nicht auszudrücken, zu zeigen oder gar auszuleben: Wut ist geächtet, wer wütet, hinterlässt vielleicht einen Schaden, aber mit Sicherheit einen schlechten Eindruck. Die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz schlägt sich unter anderem auch in einer umfangreichen Ratgeberliteratur nieder: 99,9% aller verfügbaren Buchtitel zum Thema Wut befassen sich mit deren Nicht-Ausleben. Beschrieben werden Strategien, mit „negativen Emotionen“ gelassen umzugehen oder sich nur über Veränderbares zu ärgern, offenbar in der Annahme, der Wut ginge eine bedachte Entscheidung voraus. Die Wut wird interpretiert als Indiz fehlender Selbstakzeptanz: Nur wer sowieso über einen eher schwachen Selbstwert verfügt, ist so leicht angreifbar, dass er wütend werden kann. Empfohlen wird, sich die eigene Unvollkommenheit einzugestehen, auf dass man die der anderen (die uns wütend macht) besser ertrage, sich zu vergegenwärtigen, dass Wut die Welt nicht verändert, den Auslöser nicht ernst zu nehmen (ein eher fragwürdiger Rat: den anderen nicht ernst zu nehmen ist wohl ein besonderer Ausdruck von Geringschätzung, der zurecht minder freundliche Reaktionen hervorrufen dürfte), statt eines Wutanfalls Sport zu treiben (wohl ebenfalls nicht immer praktikabel) oder die Wut auf einen Zettel zu bannen und diesen dann zu vernichten. Alle durchaus wohlmeinenden Empfehlungen vermitteln mehr oder weniger subtil die Botschaft, dass die Welt ohne Wut ein wesentlich besserer Ort wäre und dass es von einem reifen, anständigen Menschen erwartet werden könne, sich von Wut zu befreien: das, was buddhistische Mönche nach langen, von Meditationsübungen erfüllten Jahren zustande bringen, wäre, entsprechenden Willen vorausgesetzt, schon nach der Lektüre eines kleinen Büchleins möglich. Schande über den, der es nicht schafft: offenbar fehlt ihm die erforderliche Reife.
Eine der ältesten schriftlichen Auseinandersetzungen mit dem Thema der Wut stammt von Seneca, einem brillanten Stilisten und Rhetoriker des ersten Jahrhunderts, der es als Erzieher und später als Redenschreiber von Kaiser Nero zu hohem Ansehen, großem Wohlstand und umfangreichem Einfluss brachte, sein Leben aber schließlich doch glücklos beschloss: Er wurde von Nero der Teilnahme an einer Verschwörung bezichtigt und zum Selbstmord gezwungen, den er zur emotionslos-rationalen, freien Entscheidung umdeutete: „Wenn die eine Todesart mit Folterqualen verbunden ist, die andere einfach und leicht, warum sollte ich mich nicht an die letztere halten?“ Schon zuvor war sein Leben oftmals in Gefahr gewesen: Nachdem er Erstickungsanfälle, Neid, Missgunst und Ränke mehrerer Kaiser und Höflinge überlebt, dem nicht sonderlich sanftmütigen und besonnenen Nero mit seiner Schrift über die Milde („De clementia“) gehuldigt und die von Nero ermordete Agrippina, natürlich nach ihrem Ableben, in einer anderen Schrift verspottet hatte, beteiligte er sich noch an der Vertuschung dieser Ermordung von Neros Mutter, bis er sich unter dem Eindruck zunehmend ungünstiger klimatischer Bedingungen vom Hof zurückzog und der Frage nach dem ethisch und moralisch richtigen Sozialverhalten widmete. Fernab realer Macht war es offenbar einfacher, über das Rechte zu philosophieren. In seinen Ausführungen orientierte sich Seneca an den griechischen Philosophen der Stoa, die sich so wie Aristoteles, Epikur, Plutarch und praktisch jeder relevante Erforscher menschlicher Befindlichkeiten und Bedingtheiten mit der Wut befasst hatten. Unterschieden wurde von den Stoikern zwischen einer (relativ objektiven) Erkenntnis, die einen Sachverhalt als gut oder übel bewertet, und einer Haltung, die dieser Erkenntnis folgt, also dem subjektiven Drang, zu reagieren, und gegebenenfalls der Handlung, die als beurteilende Zustimmung zum Drang gedeutet wird und auf dem „Wollen“ beruht. Gelebte Wut wäre demnach eine überdachte Zustimmung zum Drang. Ein primär unkontrollierbarer, den Betroffenen überschwemmender Affekt wurde sowohl von den Stoikern als auch von Seneca verneint. Nur die Vernunft könne sich für einen unkontrollierbaren Geisteszustand entscheiden, könne ihn daher jedenfalls auch verhindern, was sie tunlichst erledigen sollte: Eine vernunftmäßige Entscheidung für die Wut wurde von Seneca kategorisch abgelehnt. In seiner fast erstaunlich neuzeitig anmutenden Position identifizierte Seneca die Wut als etwas Krankes, Schädliches, Ungesundes und Auszumerzendes und sparte in seiner Schrift „De ira“ nicht mit Beispielen für die Abscheulichkeit dieser Emotion: „Die übrigen Affekte haben ja noch etwas Ruhiges und Friedliches an sich. Dieser hier ist ganz Erregung und Drang, rasend vor unbändigem Verlangen nach Schmerzen, Waffen, Blut, dem Scharfrichter, einem Verlangen, das keineswegs menschlich ist… daher haben weise Männer die Wut als kurze Geisteskrankheit bezeichnet.“ In dem Teil seiner Schrift, den er der Behandlung von Wut und Zorn widmete, beschrieb er sein eigenes Vorgehen, um sich diese unerwünschten Emotionen vom Leib zu halten. Bei der allabendlichen Reflexion des Tages gehe er die Ereignisse durch und ziehe Lehren daraus: „Bei der Diskussion hast du dich zu sehr ereifert. Lass dich von nun an nicht mehr mit denen ein, die keine Ahnung haben… Bei dieser Ermahnung hast du dir zu viele Freiheiten herausgenommen. Achte in Zukunft nicht nur darauf, ob das, was du sagst, wahr ist, sondern auch darauf, ob derjenige, dem du es sagst, die Wahrheit ertragen kann. Ein guter Mensch freut sich über Ermahnung, die Schlechtesten reagieren besonders abweisend auf jemanden, der sie anleiten will. Bei einer Feier haben dich spöttische Bemerkungen, die dir wehtun sollten, getroffen. Denk daran, dass der enge Kontakt mit primitiven Menschen zu meiden ist.“
Was uns hier über die Jahrtausende anweht, ist eine profunde Grandiosität, die alles abwertet, was Wut auslösen könnte, möglicherweise ein probates Mittel, um sich nicht in Rage zu versteigen, sicher aber keines, um andere als gleichwertige Kommunikationspartner zu betrachten, und möglicherweise eine gute Methode, anderen zu einer gehörigen eigenen Wut-Erfahrung zu verhelfen. Thomas Babington Macaulay (1800–1859), britischer Historiker und Politiker, erklärter Gegner der Sklaverei und offenbar kein Anhänger von Seneca („to read him straightforward is like dining on nothing but anchovy sauce“ – Seneca sei wie ein Abendessen, das ausschließlich aus Sardellensauce besteht), formulierte seine Kritik an diesen lebens- und erfahrungsfremden Empfehlungen pointiert, indem er Senecas Verdienste in Sachen Wut mit denen des ersten Schuhmachers verglich und dabei eindeutig dem Schuhmacher den Vorzug gab: „Es mag sein, dass es schlimmer ist, zornig zu sein als nasse Füße zu haben. Aber Schuhe haben schon Millionen von Menschen vor nassen Füßen bewahrt, während wir unsere Zweifel haben, ob Seneca jemals einen Menschen davor bewahren konnte, zornig zu sein.“
Aristoteles beschreibt den Zorn als jenes der elf Grundgefühle, in dem die Reaktion auf eine zu Unrecht erlittene Kränkung zum Ausdruck kommt. Zorn ist reaktiv, das heißt er entsteht nicht von allein, sondern als unsere höchstpersönliche Antwort auf eine Verletzung unserer höchstpersönlichen Überzeugungen. Dabei ist es zweitrangig, ob es sich um Überzeugungen uns selbst oder die Welt betreffend handelt, ausschlaggebend sind das Gefühl von Unrecht und das Bedürfnis nach Vergeltung. Aristoteles konnte dem Zorn, weil er auch tapfer machen könne, einiges abgewinnen (so wie Francis Bacon, der dem Zorn die Fähigkeit zuschrieb, langweilige Menschen geistreich zu machen, der ihn aber andererseits als Charakterschwäche beschrieb, was sich an der Gruppe der laut Bacon hauptsächlich von ihm Betroffenen deutlich zeige: Kinder, Weiber, Greise, Kranke). Andererseits war er ihm doch nicht so ganz geheuer: „Es lässt sich nämlich beobachten, dass der Zorn in gewissem Grad auf die Stimme sachlicher Reflexion hört, aber sie nicht richtig hört.“ Er verglich ihn mit zwar willigen, aber voreiligen Dienern: „Noch ehe sie alles gehört haben, was man ihnen sagt, laufen sie schon und bringen dann den Auftrag durcheinander; oder wie bei den Hunden: wenn draußen ein Geräusch ist, bellen sie und schauen gar nicht, ob es ein Bekannter ist. So stürmt der Zorn wegen der ihm eigentümlichen Hitzigkeit und Übereiltheit zur Vergeltung; dabei hat er zwar etwas gehört, aber das Gehörte mit dem tatsächlichen Auftrag verwechselt. Denn Reflexion und Einbildungskraft“, schließt Aristoteles, „zeigen uns an, dass uns etwas Verletzendes oder Geringschätziges angetan ist – worauf der Zorn gleichsam zu dem Schluss kommt, dass so etwas bekämpft werden müsse, und sofort in Wallung gerät.“ Platon zählte den Zorn (und im Übrigen auch die Hoffnung) zu den schlechten Ratgebern.
Zorn begründet gewissermaßen die abendländische Kultur. Die Ilias, das älteste Meisterepos der europäischen Literatur, wächst aus dem Boden des Zorns (wobei hier Zorn und Wut nicht präzise getrennt werden können): „Singe den Zorn, oh Göttin, des Peleiaden Achilleus“, so beginnt eine Erzählung, die das anschwellende, rasende Wüten zum Thema hat, das schließlich in einer umfassenden „humanitären Katastrophe“ in sich zusammenbricht. Achill, das altgriechische Äquivalent des heutigen Lionel Messi, raubt Chryseis, die Tochter des Chryses, der, wie sich später herausstellen wird, unangenehmer Weise ein Apollopriester ist und daher über beste Kontakte zu höheren Instanzen verfügt. Bei der Aufteilung der Beute beansprucht dann aber Agamemnon die Chryseis mit der Autorität seines Heerführertums. Achill geht zwar nicht ganz leer aus (er bekommt die Trojanerin Briseis), aber als der Vater von Chryseis seine Tochter zurückerbitten will und, nach anfänglicher Ablehnung und Schmähung durch Agamemnon, seine Beziehungen spielen lässt (was etliche Griechen über eine von Apollo geschickte Seuche das Leben kostet), bleibt Agamemnon nichts anderes übrig, als klein beizugeben. Nun braucht er, nicht zuletzt um sein Gesicht nicht völlig zu verlieren, Ersatz und nimmt Achill die Briseis wieder weg, was diesen rasend macht; in kalter Wut beschließt er, nicht mehr an den Schlachten teilzunehmen, was wiederum fatale Folgen für die griechischen Kriegsresultate zeitigt. Erst als sein Freund Patroklos vom designierten Thronerben Trojas, Hektor, erschlagen wird (und Agamemnon ihm wohl aus Staatsräson die Briseis zurückgibt) nutzt er seine Wut etwas produktiver (für die Sache der Griechen) und macht Hektor den Garaus. In seiner Rage schleift er die Leiche tagelang übers Schlachtfeld, bis der alte Vater des Hektor ihn um die Reste seines Sohnes bittet. Erst jetzt fällt die Wut in sich zusammen. Zorn, Wut überall, als unabdingbarer Motor des Geschehens, als Hauptmovens der Akteure, bis zu einem breit angelegten, schrecklichen Ende. „Life is a tale full of sound and fury, (…) signifying nothing“: Shakespeares Macbeth hatte zwar sicher nicht die Ilias im Sinn, als er seine existenzielle Verzweiflung kundtat, passend wäre sie aber auch hier allemal.
In der christlichen Theologie zählt der Zorn zu den sieben Todsünden, ist also eine besonders schwerwiegende Sünde, durch die „ein Mensch bewusst und frei Gott und sein Gesetz sowie den Bund der Liebe, den dieser ihm anbietet, zurückweist, indem er es vorzieht, sich selbst zuzuwenden oder irgendeiner geschaffenen und endlichen Wirklichkeit, irgendeiner Sache, die im Widerspruch zum göttlichen Willen steht.“ („Reconciliatio et Penitentia“, Apostolisches Schreiben, Johannes Paul II, 1984). Das solcherart einzementierte Zorn-Verbot ist wohl auch die Basis mancher „typisch katholischen Konfliktlösung“, wie Jörg Franz Müller die Konfliktarrangements nennt, die „vorzugsweise im christlich sozialisierten Milieu inszeniert“ werden (Lebende Seelsorge 2/2002). Dazu zählt er neben der ideologisierten Selbstlosigkeit (die er als falsche Bedürfnislosigkeit entlarvt), der probaten Lustfeindlichkeit (wenn ich ein Gefühl bekomme, habe ich schon verloren), der übermäßigen Normabhängigkeit (in bewundernd gefügiger Achtung unterwirft man sich allzu gern der heiligen Ordnung und erkauft sich Sicherheit auf Kosten einer größeren Autonomie) und der allmächtigen Willensspiritualität (wenn man nur wirklich will, kann man alles, wenn man bloß in der rechten Weise kämpft, erreicht man das reine Ziel) auch das verinnerlichte Aggressionsverbot: „Ein Netz von aggressionshemmenden Fluchtmechanismen entsorgt einem voreilig die Wut, ohne dass sie einen bewussten Ausdruck findet“. Als Ergebnis macht er vielerorts eine subtile Streitlust aus, gepaart mit einem konfliktscheuen Harmonisierungsbemühen, was er als „Leifheit-Methode“ (alles unter den Teppich kehren – aber dann über den verdeckten Haufen stolpern) abqualifiziert. Zorn ist in dieser Sicht der Dinge ein göttliches Prärogativ, der „Zorn Gottes“ ein zwar geläufiger, aber dennoch schwer fassbarer und schwer erklärbarer Begriff: Gott, der es ja nicht nötig hätte, der vor allem nie die Kontrolle über sich verliert und in göttlicher Gelassenheit verharrt, verliert sich im Zorn und handelt gewaltsam. Lactantius, einer der Kirchenväter, legitimierte den zornigen Gott mit der Notwendigkeit der Machtdemonstration: „Nimm dem König seinen Zorn, dann wird ihm nicht nur keiner mehr gehorchen, sondern man wird ihn sogar von seiner Höhe stürzen“. Theologen erklären uns diesen Zorn als Metapher für göttliche Gerechtigkeit, mit der zuallerletzt am „dies irae“, am Tag des Zorns, der zugleich der Jüngste Tag ist, Übeltäter (gelassen und erhaben) bestraft werden. Dabei kann zumindest der alttestamentarische Gott durchaus nachsichtig sein mit dem Zornigen: Im Exodus (Ex 2: 11-12) geht Moses hinaus zu seinen Brüdern, sieht ihren Frondienst und nimmt wahr, dass ein Ägypter einen seiner hebräischen Brüder schlägt. Daraufhin schaut er sich nach allen Seiten um und als er sieht, dass keiner da ist, erschlägt er den Ägypter und verscharrt ihn im Sand. Wenn auch im Dienst der Großen Sache (Gerechtigkeit), so scheint die Reaktion doch etwas heftig und würde Moses aus heutiger Sicht nicht unbedingt für eine Führungsposition prädestinieren; Gott sieht das offenbar anders und beruft Moses als denjenigen, der das auserwählte Volk anleiten und in die Freiheit führen, der sogar die in Stein gemeißelten Regeln des Zusammenlebens in Empfang nehmen darf. Qualifiziert hat Moses sich dafür zwar nicht mit moralischer Skrupelhaftigkeit und bedächtigem Abwägen, aber mit Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit.
Senecas Schrift, betitelt „De ira“, wurde sowohl mit „Über den Zorn“ als auch mit „Über die Wut“ übersetzt, was die Frage nach der Unterscheidung der beiden Begriffe aufwirft. Zorn zielt jedenfalls auf etwas Großes, ein großes Unrecht, eine unerträgliche Zumutung, und er hat ein gutes Gewissen, weiß er sich doch im Recht. Seine ehrenvolle Aufgabe, dieses Recht gegen offenkundiges Unrecht zu verteidigen, macht ihn groß und „gerecht“ und verbindet ihn mit der Moral, was die Sache nicht einfacher macht: Moral ist immer wieder definitorischen Veränderungen unterworfen und bisweilen arg subjektiv, was die Gerechtigkeit seines Agierens leicht in Selbstgerechtigkeit umschlagen lassen kann. Wolfgang Sofsky, deutscher Soziologe und Autor, streut dem Zorn Rosen: „Die Zeit des Zorns beginnt mit einer Verärgerung, die sich nach und nach zu einer grundlegenden Missstimmung ausweitet. Die Kraft der Gedanken wird zum Werkzeug des Zorns. Er behält sein Ziel im Auge, verfolgt es bis zum bitteren Ende. Im Gegensatz zur Wut, die sich selbst erschöpft, hat der Zorn einen definitiven Schlusspunkt. Er ist erreicht, wenn der Bösewicht bestraft, der Feind für immer geschlagen ist. Zorn erstrebt kein friedliches Ende und keinen gütlichen Ausgleich.“