Titel der Originalausgabe: The Five Levels of Attachment
Copyright © 2013 by Don Miguel Ruiz Jr.
Originally published by Hierophant Publishing, San Antonio, TX, USA
Don Miguel Ruiz Jr.: |
Übersetzung: Frances Hoffmann |
Fünf Stufen in die Freiheit |
Lektorat: Hendrik Bönisch |
Projektmanagement: Marianne Nentwig |
Umschlaggestaltung: KleiDesign |
© Lüchow in J. Kamphausen |
Layout/Satz: Wilfried Klei |
Mediengruppe GmbH, Bielefeld 2014 |
Druck & Verarbeitung: |
info@j-kamphausen.de |
Westermann Druck Zwickau GmbH |
www.weltinnenraum.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2014
ISBN Printausgabe: 978-3-89901-815-8
ISBN E-Book: 978-3-89901-907-0
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und
sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe
sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
SCHAMANISCHE WEISHEITEN
FÜR EINE MODERNE WELT
Vorwort von
Don Miguel Ruiz
Übersetzung aus dem Amerikanischen
Frances Hoffmann
WIDMUNG
Für alle, die ich liebe
Sowohl unter Einzelnen als auch zwischen
den Nationen gilt: Die Rechte des anderen
zu respektieren, bedeutet Frieden.
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Vorwort von Don Miguel Ruiz |
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Einführung |
1 |
Betrachtungen zu Wahrnehmung und Potenzial |
2 |
Zum Verständnis des Persönlichen Traums und des Traums des Planeten |
3 |
Wissen und Anhaftungen |
4 |
Die Fünf Stufen der Anhaftung |
5 |
Stufe eins: Das Authentische Selbst |
6 |
Stufe zwei: Präferenz |
7 |
Stufe drei: Identität |
8 |
Stufe vier: Verinnerlichung |
9 |
Stufe fünf: Fanatismus |
10 |
Der größte Dämon |
11 |
Sich durch die Stufen der Anhaftung bewegen |
12 |
Die eigenen Geschichten und Annahmen entdecken |
13 |
Welche Rolle spielen Anhaftungen in Konflikten? |
14 |
Die eigenen Emotionen respektieren |
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Nachwort |
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Danksagungen |
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Über den Autor |
Mein ältester Sohn, Don Miguel Ruiz jr., gehört einer neuen Generation von Künstlern an, den Tolteken, die die Lebensweise unserer geliebten Menschheit transformieren.
Mein Sohn hat einen Großteil seines Lebens damit verbracht, im Stillen dagegen aufzubegehren, wie andere Menschen ihr Leben gestalten, und sich damit viele Urteile und Meinungen gebildet. Es war ihm nicht bewusst, dass sein Verhalten diese Urteile und Meinungen zu Anhaftungen werden ließ und seine emotionalen Reaktionen zunehmend heftiger wurden.
Einmal führte er ein Gespräch mit seiner Großmutter – ein Gespräch, das sein Leben für immer verändern sollte. Während dieses Gespräches half ihm seine Großmutter, eine Heilerin, die Anhaftungen zu verstehen, die sie an die Rituale hatte, mit deren Hilfe sie ihre Patienten heilte. Im Austausch mit seiner Großmutter erkannte mein Sohn sein eigenes Spiegelbild und konnte seine eigenen Anhaftungen sehr deutlich wahrnehmen. Und so fand seine Rebellion schließlich ein Ende.
Obwohl noch einige Jahre vergehen mussten, ehe er diese Erfahrung in Gänze in sein Leben integrieren konnte, entschloss er sich letztendlich, seine Erkenntnisse in einem Buch zu teilen. Dieses Buch heißt Fünf Stufen in die Freiheit und es ist dazu bestimmt, das Leben von Millionen von Lesern zu transformieren. Es ist sehr einfach, einheitlich und leicht verständlich geschrieben.
Dieses Buch wird dir dabei helfen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie deine Anhaftungen deine Realität erschaffen und wie dein Glaubenssystem sämtliche Entscheidungen deiner Lebensgeschichte für dich getroffen hat. Es wird dir ebenfalls dabei behilflich sein, zu erkennen, wie du deine Identität auf den Meinungen und Urteilen der Menschen um dich herum aufbaust. Don Miguel Ruiz jr. legt offen, wie sich unsere Überzeugungen zutiefst mit unserer Identität oder dem, was wir zu sein glauben, verbinden und so zu unserer persönlichen Wahrheit werden. Aus dieser Überzeugung, die Wahrheit zu kennen, gehen wiederum alle unsere Anhaftungen und unsere emotionalen Reaktionen hervor.
Er erklärt uns außerdem, dass die Anhaftung an unsere Überzeugungen unsere Wahrnehmung verzerrt, wodurch wir diese so anpassen, dass sie schließlich mit unserem übrigen Glaubenssystem übereinstimmt. Durch diese Erkenntnis verstehen wir problemlos, wie wir uns unseren eigenen Aberglauben erschaffen und möglicherweise sogar zu fanatischen Marionetten unserer eigenen Anhaftungen werden.
Er hilft uns, zu erkennen, dass uns unsere Anhaftungen, obwohl wir in der Gegenwart leben, von einer Vergangenheit träumen lassen, die gar nicht mehr existiert, eine Vergangenheit voller Reue und Dramatik. Unsere Anhaftungen nehmen uns auch mit in eine Zukunft voller Ängste, die ebenso wenig existiert, mit dem Resultat, dass wir uns nicht mehr sicher fühlen.
Indem er erläutert, dass sich unsere Anhaftungen in fünf unterschiedliche Stufen der Intensität einteilen lassen, lehrt er uns, wie wir Zugang zu jeder beliebigen Anhaftung an eine bestimmte Überzeugung erlangen können. Dabei verweist er darauf, dass der Großteil der Weltbevölkerung auf den Stufen drei und vier, Identität und Verinnerlichung, verharrt.
Wie du sehen wirst, macht Don Miguel Ruiz jr. unmissverständlich deutlich, welchen Einfluss unsere Anhaftungen auf die Entscheidungen haben, die wir treffen, während wir unsere eigene Lebensgeschichte gestalten, und wie diese Anhaftungen uns von der Wirklichkeit fernhalten. Er gibt dir auch äußerst effektive Werkzeuge an die Hand, die dir dabei helfen können, den Umgang mit den Stufen der Anhaftung und den daraus resultierenden emotionalen Reaktionen zu verbessern. Eine solche Verbesserung spiegelt sich auch in der Interaktion mit den Menschen in unserer Umgebung wider, insbesondere mit denen, die uns nahestehen.
Dieses Buch hat definitiv das Zeug zu einem Klassiker – ein Buch, das du mit Sicherheit immer wieder lesen wirst.
Alles ist aus Licht gemacht. Wir sind die Sterne und die Sterne sind wir. Wenn wir das sehen, sind all unsere Sinne wahrhaftig offen und es besteht keine Notwendigkeit mehr, die Welt zu interpretieren. In diesem Augenblick steht uns unser volles, grenzenloses Potenzial zur Verfügung. Nichts verstellt uns mehr den Weg …
Mein Vater, Don Miguel Ruiz, ist Lehrer und Arzt im Ruhestand und verbrachte viele nachdenkliche und transformierende Jahre damit, unsere toltekischen Traditionen so zu interpretieren, dass sie sich mit der Welt, in der wir heute leben, in Einklang bringen lassen. Die Tolteken waren Frauen und Männer des Wissens und lebten vor Tausenden von Jahren in einem Gebiet, das heute als Südzentralmexiko bekannt ist. Auf Nahuatl1 bedeutet Tolteke „Künstler“ und nach unserer Lehre bildet das Leben selbst die Leinwand für unsere Kunst. Ich lernte die toltekische Lebensweise durch die mündlichen Überlieferungen meiner Familie kennen, die (nach Aussage meines Ururgroßvaters väterlicherseits, Don Exiquio) direkt von den Adlerkriegern der Tolteken abstammt. Meine Großmutter, Madre Sarita, hat mir dieses Wissen übermittelt.
Wir bezeichnen uns nicht nur aufgrund unserer Abstammung als Tolteken, sondern auch weil wir Künstler sind. Das Leben ist unsere Leinwand, und Aufgabe unserer Tradition ist es, diesem Leben Lektionen zu erteilen, die uns dabei helfen, unser Meisterwerk zu erschaffen.
Die toltekische Tradition ist keine Religion, sondern entspricht eher einer Lebensweise, innerhalb derer das große Meisterwerk darin besteht, in Glück und Liebe zu leben. Sie umschließt den Geist, während sie die Meister aller Traditionen auf der Welt ehrt. Die ganze Mühe dient nur einem einzigen Zweck: glücklich zu sein, das Leben zu genießen und uns an den Beziehungen zu unseren Liebsten zu erfreuen, angefangen bei der Beziehung zu uns selbst.
Ich begann meine Ausbildung in der Familientradition mit 14 Jahren in San Diego, Kalifornien. Meine 79-jährige Großmutter, Madre Sarita, war meine Lehrerin und gleichzeitig das spirituelle Oberhaupt unserer Familie. Sie war eine Curandera, eine Heilerin, die den Menschen in ihrem kleinen Tempel in Barrio Logan, einem Stadtteil von San Diego, durch die Kraft ihres Glaubens an Gott und an die Liebe beistand und half. Da mein Vater Schulmediziner war, konnte ich durch die Gegenüberstellung dieser beiden Formen des Heilens unsere Tradition aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.
Ich war mir der Kraft der Worte meiner Großmutter bewusst, lange bevor ich ihre wahre Bedeutung durchdrungen hatte. Ich wurde auch Zeuge von Ereignissen, die andere nur als „Magie“ beschreiben würden, die bei uns jedoch eine Form der Alltäglichkeit annahmen; Wunderheilungen standen bei Madre Sarita auf der Tagesordnung. Dennoch fühlte ich mich stark zur Außenwelt hingezogen – es gefiel mir, mit meinen Freunden rumzuhängen und einfach so zu sein wie alle anderen auch. Ich war zwischen der toltekischen Welt meiner Familie und der Mainstream-Gesellschaft, geprägt von Schule und Freunden, hin- und hergerissen und rang ständig um eine Möglichkeit, meine Erfahrungen einerseits zu verbinden und sie gleichzeitig aber auch voneinander zu trennen.
Obwohl sie kein Englisch sprach, hielt meine Großmutter im ganzen Land Predigten und Vorträge. So begann meine Ausbildung damit, dass ich die Vorträge meiner Großmutter aus dem Spanischen ins Englische übersetzte. Jahrelang stolperte ich ungeschickt über ihre Worte hinweg und meine Großmutter sah mich dann immer nur an und lachte.
Eines Tages fragte sie mich, ob ich eigentlich wüsste, warum ich so stolperte. Ich fand darauf alle möglichen Antworten: Du redest zu schnell, du lässt mir keine Zeit, mit dir mitzuhalten, für manche Worte gibt es keine unmittelbare Übersetzung … Sie sah mich einen Augenblick lang nur schweigend an und fragte dann: „Benutzt du das Wissen oder benutzt das Wissen dich?“
Ich sah sie perplex an. Sie sprach weiter: „Wenn du übersetzt, versuchst du, meine Worte durch etwas auszudrücken, was du bereits kennst und von dem du meinst, dass es wahr ist. Du hörst mich nicht; du hörst nur dich selbst. Stell dir vor, du würdest das jeden Augenblick deines Lebens tun. Wenn du das Leben betrachtest und es übersetzt, während es an dir vorüberzieht, kommst du gar nicht dazu, es zu leben. Wenn du aber lernst, dem Leben zuzuhören, wirst du die Worte immer genauso formulieren können, wie sie zu dir kommen. Dein Wissen muss zu einem Werkzeug werden, das dir dabei hilft, dich im Leben zurechtzufinden, aber du musst es auch weglegen können. Lasse nicht zu, dass dein Wissen alles übersetzt, was du erlebst.“
Ich nickte, aber erst Jahre später dämmerte mir allmählich, worüber meine Großmutter da eigentlich gesprochen hatte. Unser ganzes Leben lang schildern oder kommentieren wir ständig das, was wir tun, sagen, sehen, anfassen, riechen, schmecken und hören. Wir sind geborene Geschichtenerzähler, treiben ständig die Handlung voran und verpassen dabei Millionen von Nebenhandlungen, die sich ganz von selbst entwickeln. So als kosteten wir einen Schluck Wein und fingen gleich an zu kommentieren: „Er ist ein wenig trocken; zweifellos gut gereift, aber man schmeckt die Rinde. Hab schon besseren getrunken.“ Anstatt einfach die Freuden und die Aromen des Weines zu genießen, fangen wir an, den Geschmack zu analysieren, ihn zu zerpflücken und in einen Kontext und eine Sprache zu zwängen, in dem und der wir uns auskennen. Und während wir damit beschäftigt sind, verpassen wir das, was eigentlich gerade geschieht.
Das ist ein einfaches Beispiel dafür, wie wir das Leben ständig kommentieren – wir erklären es und, was noch wichtiger ist, wir rechtfertigen und bewerten es. Anstatt jede Erfahrung als das anzunehmen, was sie ist, erschaffen wir eine Geschichte um sie herum, damit sie auch ja mit unseren Überzeugungen übereinstimmt. Bei den Vorträgen von Madre Sarita musste ich meine eigenen Gedanken vollständig abstellen, denn wenn mein Geist ständig Kommentare abgab, konnte ich ihre eigentliche Botschaft nicht vermitteln. Durch diese einfache Veranschaulichung zeigte mir meine Großmutter, dass wir, wenn wir die Welt stets nur durch die Filter unserer vorgefassten Meinungen betrachten, das eigentliche Leben verpassen. Mit viel Übung lernte ich schließlich, meine Augen zu verschließen, die Welt außerhalb meines Kopfes ebenso auszusperren wie die Stimme des Wissens in meinem Kopf und letztendlich jedes einzelne Wort, das über ihre Lippen kam, akkurat zu übersetzen.
Nicht immer fällt es uns leicht, über unsere Filter – unser gesammeltes Wissen und unsere Überzeugungen – hinauszublicken. Wir haben immerhin Jahre benötigt, sie in unterschiedlichem Maße zu festigen – und wir fühlen uns sicher mit ihnen. Alles, woran wir anhaften, kann irgendwann unsere künftigen Erfahrungen prägen und unsere Wahrnehmung all dessen, was sich jenseits unseres Vokabulars abspielt, stark einschränken. Wie die Scheuklappen bei einem Pferd schränken unsere Überzeugungen, denen wir anhaften, unser Blickfeld ein, und das wiederum limitiert auch die von uns wahrgenommene Ausrichtung unseres Lebens. Je stärker der Grad unserer Anhaftung, desto weniger sind wir imstande zu sehen.
Wir können uns die ganze Bandbreite an Überzeugungen, denen wir anhaften, vorstellen wie eine einzigartige Melodie, die sich stetig in unserem Geiste wiederholt. Gewissermaßen versuchen wir ständig, unsere Melodie – nämlich die, an deren Klang wir gewöhnt sind – anderen Melodien überzustülpen, ohne überhaupt zu bemerken, dass es sich hier gar nicht um unsere Melodie handelt, manchmal noch nicht einmal um die Melodie, die wir eigentlich spielen wollen. Wenn wir immer nur das spielen, was wir bereits kennen, und niemals dafür offen sind, all den anderen Liedern, die uns umgeben, zu lauschen, dann lassen wir zu, dass wir von unserer Anhaftung an diese eine Melodie beherrscht werden. Versuche stattdessen einmal, den anderen Melodien, die noch erklingen, zu lauschen. Vielleicht hast du ihnen ja etwas hinzuzufügen, eine Harmonie zum Beispiel oder eine Basslinie, und schau, wohin die Musik dich trägt. Indem du die Anhaftung daran, wie die Melodie deiner Meinung nach sein sollte, loslässt, öffnest du dich dem Potenzial, ein ganz einzigartiges und wunderschönes Lied aus dir selbst heraus zu erschaffen oder ein Zusammenspiel mit anderen Melodien zu kreieren.
In diesem Buch werde ich dich die Fünf Stufen der Anhaftung lehren. Dabei handelt es sich um Wegweiser, um abzuschätzen, wie stark du deinen eigenen Ansichten anhaftest oder wie offen du für andere Meinungen und Möglichkeiten bist. Je höher die Stufe der Anhaftung, desto unmittelbarer verbindet sich die eigene Identität, das „Wer ich bin“, mit dem Wissen oder dem „Was ich weiß“.
Das Wissen und die Informationen, die wir aufnehmen, werden von unseren Erzählern – den Stimmen unserer Gedanken, die über das Richtig und das Falsch jeder unserer Handlungen und all unserer Gedanken befinden – verdreht und korrumpiert. Wenn wir so sehr an etwas glauben, dass wir unser Bewusstsein für unser Authentisches Selbst in all den Geschichten und Kommentaren unserer inneren Erzähler verlieren, erlauben wir dadurch unseren vorgefassten Meinungen, unsere Entscheidungen für uns zu treffen. Darum ist es entscheidend, dass wir uns bewusst werden, in welchem Maße wir mit jeder einzelnen unserer Meinungen verhaftet sind. Durch Bewusstheit können wir uns die Macht zurückerobern, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen.
Ich hoffe, du wirst dieses Buch dazu nutzen, für dich selbst zu ermessen, wie stark du an den verschiedenen Glaubenssätzen und Ideen in deinem Leben anhaftest, denn sie gestalten deine Wirklichkeit, deinen Persönlichen Traum und leisten auch einen Beitrag zur kollektiven Wirklichkeit und zum Traum des Planeten. Erst durch eine solche tiefe Selbsterkenntnis wirst du dich davon befreien können, deiner Leidenschaft nachzujagen und stattdessen dein volles Potenzial entfalten. Es liegt ganz bei dir!
Unsere Ansichten erschaffen unsere Wirklichkeit. Wenn wir in unseren Überzeugungen feststecken, wird unsere Wirklichkeit starr, unbeweglich und bedrückend. Wir sind dann an unsere Anhaftungen gebunden, denn wir haben die Fähigkeit verloren, zu erkennen, dass wir uns jederzeit entscheiden können, uns von ihnen zu befreien.
Wenn wir uns im Spiegel anschauen, hören wir im Geiste oft sofort eine Schilderung dessen, was wir gerade sehen, eine Definition unseres Selbst in Form einer Identität, die auf unseren „Vereinbarungen“ – also den Gedanken und Glaubenssätzen, denen wir einmal zugestimmt haben – basiert. Diese Identität ist aus einer Reihe ideologischer Glaubenssätze erwachsen, die wir im Laufe der Zeit durch unsere Familien, unsere Kultur, Religion, Bildung, Freunde usw. angesammelt haben. Und diese Glaubenssätze sind verkapselt in ein einziges System, das sich im Abbild eines physischen Lebewesens spiegelt – in meinem Fall ein Lebewesen namens Miguel Ruiz jr. mit Ansichten, die für mich einzigartig sind.
Jede einzelne meiner Vereinbarungen steht für eine Anhaftung, die ich mir im Laufe meines Lebens selbst erschaffen habe. Wenn ich in den Spiegel schaue, nehme ich mich beispielsweise folgendermaßen wahr:
Ich bin
•Miguel
•ein Tolteke
•ein Nagual (spiritueller Führer)
•ein mexikanisch stämmiger Amerikaner
•ein Mestize
•ein Ehemann
•ein Vater
•ein Autor
und so weiter …
Diese Aufzählung von Selbstdefinitionen ist mein Spiegelbild, und wenn ich mich genauer betrachte, höre ich auch die Aufzählungen meiner Vereinbarungen und die Bedingungen, die zu meinem Inbegriff für Selbstakzeptanz geworden sind. Meine Gedanken fungieren dabei als Erzähler meiner Anhaftungen, meines Glaubenssystems.
In mein Selbstbild projiziere ich die Werte und Eigenschaften, die meine Überzeugungen widerspiegeln. Je stärker ich an meinen Überzeugungen festhalte, desto schwieriger wird es, mich selbst als den zu sehen, der ich in diesem Augenblick gerade bin, und desto weniger bin ich frei, das Leben aus einer unverbrauchten Perspektive heraus zu betrachten, und entscheide mich aus diesem Grund vielleicht für einen anderen Weg. Wenn meine Anhaftungen noch intensiver und stärker verwurzelt sind, verliere ich das Bewusstsein für mein eigenes Authentisches Selbst, da es von den Filtern meines Glaubenssystems verschleiert wird. In der toltekischen Tradition nennen wir das Smokey Mirror, den Rauchigen Spiegel – der Rauch hindert uns daran, unser Authentisches Selbst zu erkennen.
Was diesen Anhaftungen ihre Stärke verleiht, ist die bedingte Liebe. Anstatt dich, wenn du in den Spiegel blickst, als den- oder diejenige/n zu akzeptieren, der oder die du in diesem Augenblick bist, wirst du dir wahrscheinlich sagen, warum du in deiner gegenwärtigen Form inakzeptabel bist und was du zu tun hast, um von dir selbst akzeptiert zu werden: Ich muss diesen Erwartungen entsprechen, um meine eigene Liebe zu verdienen.
Der Wunsch, jenen makellosen Zustand zu erreichen, der mir durch die archetypischen Vorgaben meiner Vereinbarungen vor Augen gehalten wird, verzerrt mein Spiegelbild noch stärker. Ich fange an, mich nach den Vorgaben meiner Vereinbarungen, die inzwischen die Bedingungen für meine Selbstakzeptanz bilden, zu bewerten und zu beurteilen. Ich entwickle ein System von Belohnung und Strafe, um mich darauf zu trainieren, diesem archetypischen Modell gerecht zu werden; das bezeichnen wir in der toltekischen Tradition als Domestizierung.
Das wichtigste Werkzeug zur Selbstdomestizierung ist die Selbstbewertung. Mit meinem archetypischen Modell dessen, was „Ich bin Miguel“ für mich bedeutet, erkenne ich beim Blick in den Spiegel all die angeblichen Makel und Unzulänglichkeiten und schon nimmt die Domestizierung ihren Lauf:
•„Ich bin nicht schlau genug.“
•„Ich bin nicht attraktiv genug.“
•„Ich besitze nicht genug.“
•„Mir fehlt es an diesem oder jenem.“
usw.
Die Selbstbewertung sitzt genau dort, wo die Selbstakzeptanz gern sein möchte. Manchmal gewöhnen wir uns so sehr an unsere Anhaftungen an diese negativen Überzeugungen und Selbstbewertungen, dass wir sie gar nicht mehr als Beurteilungen wahrnehmen. Wir akzeptieren sie als Teil dessen, wer wir sind. Doch in der Basis sind unsere Selbstbewertungen nur die Folge dessen, wie wir im Grunde unseres Wesens zu uns selbst stehen – ob wir uns akzeptieren oder ablehnen.
Von all den Überzeugungen, von denen es sich zu lösen gilt, ist diese die wichtigste: Löse dich von der Anhaftung, die dir vorgaukelt, du müsstest irgendeinem Bild der Vollkommenheit entsprechen, um glücklich zu sein. Und dabei geht es nicht nur um Äußerlichkeiten; dazu gehören auch unsere Denkweise, unsere Philosophie, unser spirituelles Streben und unser Platz in der Gesellschaft. All diese Dinge bilden die Rahmenbedingungen für unsere Selbstakzeptanz. Wir glauben, wir müssten unseren eigenen Erwartungen entsprechen, um unserer eigenen Liebe würdig zu sein – tatsächlich aber müssen wir erkennen, dass diese Erwartungen lediglich Ausdruck unserer Vereinbarungen sind, nicht Ausdruck unserer wahren Natur.
Ironischerweise geschieht es oft gerade in den Augenblicken, in denen wir in der Lage wären, unsere tatsächliche Wahrheit zu erkennen – nämlich wenn wir mit unserem Spiegelbild konfrontiert werden, egal ob in einem Spiegel oder draußen in der Welt –, dass die Stimmen der Erzähler am lautesten sind. Ich kenne Menschen, mich selbst eingeschlossen, die sich weigerten, sich selbst im Spiegel zu betrachten, weil die Selbstbewertungen ohrenbetäubend lärmten. Es ist nahezu unmöglich, einer Illusion gerecht zu werden – und das gilt für Teenager ebenso wie für Erwachsene.
nicht