Am Weihnachtsbaum die
Lichter brennen

24 ausgewählte Weihnachtskrimis
aus Berlin

edition karo, Berlin 2014

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet unter www.dnb.d-nb.de abrufbar.

AM WEIHNACHTSBAUM DIE LICHTER BRENNEN

24 ausgewählte Weihnachtskrimis aus Berlin

karo weihnachtskrimis, band 5

1. Auflage 2014 edition karo

im Verlag Josefine Rosalski, Berlin

www.edition-karo.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Katharina Joanowitsch, Hamburg

Grafiken und Fotos: © by-studio, © Gabriele Rohde, © Carola Schubbel

und © 3532studio – Fotolia.com

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 978-3-937881-26-3

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Angela Hüsgen

OH, DU WAHNSINNIGE

Jürgen Rath

SCHNEE IM GRUNEWALD

Katharina Joanowitsch

ZUCKERSÜSS

André Hau

DIE HEIMSUCHUNG

Nora Lachmann

HUMMER THERMIDOR

Albrecht Piper

STILLE NACHT IN DER TROMMEL

Gitta Mikati

ALT-TEGEL, ENDSTATION!

Lothar Berg

ROHE WEIHNACHTEN

Barbara Gantenbein

STILL RUHT DER SEE

Christian Bartel

AN WEIHNACHTEN GEHÖRT DER MANN IN DIE FAMILIE

Brigitte Hähnel

DIE STIMME DES BRODELNDEN BLUTES

Manfred Bohn

STROMTOD

Amrei Thieß

DER JÄGER VON KÖPENICK

Markus Jerg

EIN MANN, EIN MORD

Regine Kölpin

WENN DIE LETZTE KERZE BRENNT ...

Michael von Swiontek

HEILIGABEND BEIM ABFISCHER

Sandra Roszewski

BLUTPERLEN

Reinhard Georg Starzner

LECKERMÄULCHEN

Regine Röder-Ensikat

GIER

Sunil Mann

GÄNSEHAUT

Sarah N. Masur

WIE RUDOLPH SEINE ROTE NASE VERLOR

Julia Werner

ZUFALL HAT KEIN HERZ

Petra Nouns

AUS AUSPUFFHÖHE FÄLLT EIN KOBALTBLAUES LICHT HERAB

Axel Bussmer

DIE SACHE MIT DEN FABERGÉ-EIERN

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

Spannende Weihnachten!

Eine Fülle von zum Teil preisgekrönten Berliner Weihnachtskrimis ist in letzten zehn Jahren in der editon karo erschienen. In unserem Jubiläumsjahr 2014 haben wir hiervon 24 Kriminalgeschichten ausgewählt, die mit skurriler Phantasie und hintergründigem Humor davon erzählen, was einem alles im Kreise seiner Lieben zur Weihnachtszeit zustoßen kann.

So gibt es für jeden Tag bis zum Frohen Fest spannende Abende voller kaltblütiger Vorhaben und giftiger Naschereien. Unterm festlich geschmückten Weihnachtsbaum ist es nicht in allen Häusern froh und friedlich, manch ein Besucher kommt mit etwas ganz anderem als hübschen Geschenken und herzlicher Stimmung.

In Spandau verschwindet ein Mädchen, in Berlin-Tiergarten gleich mehrere, im Grunewald gibt es tief verschneite, sehr einsame Wege, und einigen Weihnachtsmännern geht es auch an den Kragen.

Eine allein lebende Gattin wird heimlich von einem zufälligen Nachbarn beobachtet, im KaDeWe sind ein Schwerenöter und eine geheimnisvolle Schöne miteinander verabredet, und ein Mörder macht in ganz Berlin die schönsten Weihnachtsmärkte unsicher.

Josefine Rosalski

ANGELA HÜSGEN

Oh, du Wahnsinnige

„Hast du schon das Neueste vom Weihnachtsmarktmörder gehört?“ Rudi vom Bratwurststand hält die Tageszeitung auf Armeslänge und schüttelt imaginäre Bluttropfen heraus.

„Klar, Rudi, meine Ohren sind groß wie die eines afrikanischen Elefanten“, rufe ich zu ihm herüber.

„Der soll mal hier aufkreuzen. Wir schnappen ihn uns und kassieren die Belohnung. Dann machen wir zwei Hübschen uns ein paar nette Tage auf Malle.“

Als ob ich mit dem dicken Rudi nach Mallorca oder sonst wohin fahren würde. Der alte Jahrmarktcasanova versucht schon die ganze Woche mit mir anzubandeln – wie jedes Jahr. Immer richtet er es so ein, dass er seinen Stand neben meinem hat. Ich hab schon dran gedacht, bei einem anderen Markt anzuheuern, aber als gebürtige Spandauerin ist dieser mir der liebste. Meine Bude steht auf dem Rathausvorplatz mit Blick aufs Rathaus. Früher bin ich dort mit Moni Paternoster gefahren. Das Ein- und Aussteigen in den offenen Fahrstuhl haben wir bis zum letzten Augenblick hinausgezögert. Am größten war der Nervenkitzel, wenn wir das Schild „Achtung, hier aussteigen!“ missachteten und durch den unbeleuchteten Keller fuhren oder den Dachboden. Mein Herz galoppierte und beruhigte sich erst, wenn wir wieder das Licht der Rathausflure erblickten.

„Hast du schon eine Theorie?“, unterbricht Rudi meine Gedanken.

„Nein, du Nervensäge“, sage ich so leise, dass er es nicht hören kann und konzentriere mich auf mein Wechselgeld. Um diese Uhrzeit sind erst wenige Besucher auf dem Weihnachtsmarkt. Das Wetter ist trübe, aber mild. Ich trage trotzdem meine wärmsten Stiefel, denn ich hasse kalte Füße. Von der Angina bis zur Blasenentzündung habe ich mir auf den Märkten schon alles geholt, weshalb ich meinen Job gelegentlich verfluche. Aber da ich mich nicht von schlechtgelaunten Chefs rumkommandieren lassen will, nehme ich es in Kauf.

„Die Sache mit dem Finger ist ja schon gruselig“, meint Rudi.

„Vielleicht ist der Mörder Fleischer wie du“, stichle ich.

Er droht lachend mit dem Zeigefinger, dann legt er die erste Ladung Rostbratwürste auf den Grill und ich setze die Popcornmaschine in Gang. Seit letzte Woche auf dem Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt der erste Mord passiert ist und inzwischen noch ein zweiter, sehe ich mir die Besucher genauer an. Am Wochenende kommen viele Familien. Die Kinder haben verklebte Münder von Zuckerwatte und kandierten Äpfeln, die Eltern sind gestresst und streiten sich, weil einer zu viel Geld ausgibt oder dem Sprössling Zuckerwatte kauft, obwohl der davon zappelig wird. Dann gibt es die Paare ohne Kinder. Die langweilen sich miteinander, dafür geben sie viel Geld aus für handgestrickte Wollsocken, geschnitzte Holzfiguren und gläserne Christbaumkugeln. Meist trinken sie becherweise Glühwein und schlagen sich die Bäuche voll – und geben dann noch mehr Geld für Weihnachtsgeschenke aus. Eine besondere Kundschaft sind die einzelnen Männer. Wie verirrte Schafe trotten sie über den Markt. Von ihren Frauen verlassen, wünschen sie sich nichts sehnlicher als nervende Kinder und ein verschwenderisches Weib an ihrer Seite.

Keiner von ihnen ist der Weihnachtsmarktmörder, beschließe ich und halte Ausschau nach dem besonderen Besucher. Es muss ein Einzelner sein, einer der zuschlägt, wenn das Gedränge am dichtesten ist und nur noch die Lichterketten den Markt erleuchten. Wie sollte es ihm sonst gelingen, jemandem ein Skalpell ins Herz zu jagen und dann noch den Mittelfinger abzuschneiden, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.

„Sicher ist es eine Frau“, ruft Rudi munter und erntet Zustimmung von einem betagten Herrn mit Stirnglatze, der sich gerade einen dicken Streifen Senf auf seine Wurst schmiert.

„Welche Frau schneidet denn einem Toten Körperteile ab, außer vielleicht ...“ Jetzt geht meine Fantasie mit mir durch. Doch Rudi und sein Kunde sind sich einig; nur eine Frau kann so hinterhältig sein, jemandem rücklings das Herz zu durchbohren.

„Vielleicht sind’s auch zwei, jeder hat ein Skalpell, dann geht es ratzfatz.“

„Zwei Frauen, genau!“ Die Männer nicken zufrieden.

Vor meiner Bude haben sich inzwischen ein paar Halbwüchsige eingefunden. Die sind mir als Kunden ja nicht so angenehm. Sie haben wenig Geld, entscheiden sich ständig um und mosern über alles und jedes. Außerdem muss man aufpassen, dass sie nicht klauen.

Das Gequatsche der Männer geht mir langsam auf den Geist. Wenigstens ist Rudi eine Weile beschäftigt, so kann ich mich aufs Verkaufen konzentrieren und auf die Frage, warum in drei Teufels Namen der Mörder den Finger an den höchsten Tannenbaum hängt. Auf dem Rixdorfer Markt hat er ihn demonstrativ in fast zwei Meter Höhe in eine prächtige norwegische Tanne gehängt. Das ist doch pervers! Ich taxiere die vorbeischlendernden Besucher. Wenn er hier vorbeigeht, werde ich ihn erkennen, davon bin ich überzeugt. Für Wahnsinnige hab ich einen Blick; menschliche Abgründe, Verbrechen aus Leidenschaft, es gibt nichts Spannenderes.

„Machen Sie mir jetzt endlich meine Zuckerwatte?“, nörgelt das stark geschminkte Mädchen mit den toupierten Haaren vor meinem Tresen.

„Immer mit der Ruhe, habt’s ja mordsmäßig eilig alle miteinander. Wohl noch ’n Date mit dem Weihnachtsmarktmörder.“

Das hat gesessen. Die Gesichtszüge der Toupierten entgleisen und ihre gepiercte Freundin tippt sich an die Schläfe. Ohne Zuckerwatte suchen sie das Weite.

Himmel, ich vergraul mir noch die Kunden. Der Alte bei Rudi isst jetzt schon die zweite Wurst und lässt sich Details von den beiden Mordfällen berichten. Jetzt schlendern zwei Polizisten heran und Rudi ist sofort wieder auf Kundenfang.

„Na, zwei knackige Würstchen? Da klappt’s gleich besser mit der Verbrecherjagd.“

Eins muss man ihm lassen, die Kunden anbaggern kann er. Prompt bleibt die Polizei, dein Freund und Helfer, stehen und kauft sich ’ne Wurst.

„Was meinen Sie, wird der Weihnachtsmarktmörder wieder zuschlagen?“, fragt Rudi die Uniformierten.

Bevor sie sich zu einer Antwort hinreißen lassen, betrachten sie nachdenklich ihre Würste, beißen vorsichtig hinein und kauen gründlich. Schließlich sagt der ältere, ein gemütlicher Typ mit Bauch und grauen Schläfen: „Schätze, der hinterlässt seine Duftmarke auf jedem Weihnachtsmarkt der Stadt.“

„Dann ist unser Geschäft im Eimer“, sagt Rudi und da muss ich ihm ausnahmsweise recht geben, denn wer wird sich noch auf einen Weihnachtsmarkt trauen, wenn er damit rechnen muss von einem Skalpell durchbohrt und außerdem von einem seiner Mittelfinger getrennt zu werden. So ein Mörder ist Gift fürs Geschäft.

„Wie wär’s mit gebrannten Mandeln?“ Ich zwinkere dem dicken Polizisten zu. Nach der Wurst noch was Süßes, da kann er nicht widerstehen. Der jüngere liebäugelt mit einem Lebkuchenherz, eins mit der Aufschrift ‚Bin dein Sugarbaby‘.

Doch sein Kollege schüttelt den Kopf. „Wir sind im Dienst, Holger!“

So geht der Nachmittag dahin und der Markt füllt sich. Sogar der laute und geschäftige Rathausvorplatz, der so wenig von der heimeligen Atmosphäre an der Nicolaikirche hat, wird verzaubert von weihnachtlicher Musik, dem Glanz der Lichterketten und einer stattlichen Brandenburger Tanne. Die Gesichter der Besucher entspannen sich; wärmende Becher voller Glühwein in den Händen, stehen sie bei Rudi Schlange – und auch mein Geschäft floriert.

Plötzlich dreht Rudi sein kleines Radio lauter und lauscht angestrengt. Dann ruft er: „Der Weihnachtsmarktmörder, er hat wieder zugeschlagen.“

Die Menschen vor seinem Stand drängen näher heran, um ja alles mitzubekommen. Sie flüstern, drehen sich um, als stehe der Mörder schon hinter ihnen. „Wo denn?“, fragt einer.

„An der Gedächtniskirche, vor einer Stunde, die Polizei ist noch vor Ort“, übersetzt Heinz das Gebrabbel im Radio.

„Und der Finger?“, fragt eine gepflegte ältere Dame mit einem lüsternen Glitzern in den Augen.

„Der hängt im Baum.“

Das scheint die Leute besonders aufzuregen. Als sei die Tatsache, dass dem Opfer nun ein Finger fehlt, schlimmer als sein Ableben an sich. Da man aus dem Radio nicht mehr erfahren kann, zerstreut sich die Menge bald wieder. Ratlose Menschen schütteln die Köpfe, zucken die Achseln und sehen sich immer wieder um. Das selige Weihnachtslächeln ist von ihren Gesichtern verschwunden. Jetzt, wo der Weihnachtsmarkt Feindesland geworden ist, zieht es sie heim in die Sicherheit ihrer Neubauwohnungen.

„Diesmal ist das Opfer eine Frau“, stellt Rudi verwundert fest. „Verstehst du das? Welches Motiv haben die?“

„Ich hab keinen Schimmer. Vielleicht Rache oder Habgier?“, rätsle ich. „Ist es das nicht meistens?“

„Man müsste mehr über die Opfer wissen“, sinniert eine angesäuselte Frau und beißt in ihren kandierten Apfel.

Ihr Mann, ein schmächtiger Typ mit blutunterlaufenen Augen, nuschelt: „Einsperren, alle einsperren!“ Wen genau er einsperren will, geht in seinem betrunkenen Lallen unter. Die Frau verdreht peinlich berührt die Augen und schiebt ihren Mann weiter. Der Abend endet ohne weitere Zwischenfälle.

Am nächsten Tag erscheinen die beiden Polizisten wieder. Da wir gute Sicht auf die Tanne vor dem Rathaus haben, sozusagen Logenplätze, sollen wir auf besondere Ereignisse und verdächtige Personen achten. Das mache ich eh die ganze Zeit. Beim Verkauf hab ich auf Autopilot geschaltet und alle meine Antennen auf Mördersuche gerichtet. Es liegt eine merkwürdige Spannung in der Luft. Äußerlich wirkt der Markt unverändert. Die Menschen essen, trinken und kaufen wie immer. Doch dicht unter der weihnachtlichen Fassade lauert Panik, das kleinste Ereignis kann sie hervorbrechen lassen. Rudi hat sein Radio laut gestellt und wirft mir abwechselnd besorgte und aufmunternde Blicke zu. So schlecht ist er vielleicht gar nicht, denke ich und grinse ihm vage zu. Er scheint das als Liebeserklärung aufzufassen, denn er strahlt mich an und seine Lippen formen das Wort Malle.

„Nicht in diesem Leben!“, rufe ich ihm zu.

Aber das scheint ihn nicht zu beeindrucken.

Aus den Augenwinkeln nehme ich plötzlich eine Bewegung an der Tanne wahr. Ich bin wie elektrisiert. Dort geschieht etwas. Vielleicht ein Mord? Auf einmal herrscht Geschiebe und Gedränge um den Weihnachtsbaum herum. War das ein Schrei?

„Rudi!“ Ich zeige auf die Tanne.

Ein kurzer Blick, dann springt der korpulente Mann wie ein junger Jaguar aus seiner Bude heraus und rast zum Baum. Welch ein Durcheinander! Menschen stieben auseinander wie eine Herde Antilopen, wollen fliehen, andere, von Sensationslust getrieben, versuchen näher heranzukommen.

„Hilfe!“, schreit einer. „Mörder!“

Da sind auch schon ein paar bis an die Zähne bewaffnete Polizisten zur Stelle. Sie sehen aus, als seien sie von irgendeinem Sondereinsatzkommando. Sofort sperren sie das Gebiet um die Tanne herum ab. Ich kann Rudi nicht mehr sehen; hoffentlich ist ihm nichts passiert. Meinen Stand kann ich nicht im Stich lassen, schließlich hab ich eine Menge verführerische Näschereien in der Auslage. Nach ein paar Minuten taucht er endlich wieder auf.

„Was war denn?“

Er schüttelt den Kopf. „Kein Mörder, nur ein Besoffener, der in den Weihnachtsbaum gefallen ist. Die Polizei hat ihn mitgenommen.“

Für seinen sportlichen Einsatz schenke ich ihm eine Tüte gebrannte Mandeln und er gibt mir eine Rostbratwurst aus. Den Weihnachtsmarktbesuchern dagegen scheint der Appetit vergangen zu sein, deshalb bleibt mein Nachbar auf seinen restlichen Bratwürsten sitzen und ich schließe meine Bude früher als sonst. Für das verbleibende Weihnachtsgeschäft sehe ich schwarz.

Am nächsten Tag schlägt das Wetter um, es fängt an zu schneien. Es ist jedes Jahr erstaunlich, wie die weißen Flocken die Stimmung auf dem Weihnachtsmarkt verändern. Plötzlich wird es beschaulich und feierlich. Die Menschen sind weniger hektisch; statt sich gegenseitig zu beschimpfen, wenn sie im Gedränge steckenbleiben, wünschen sie einander frohe Weihnachten. Fast könnte es Frieden sein auf Erden, wenn es nicht Kriege und Naturkatastrophen gäbe, Hunger und Seuchen und natürlich den Weihnachtsmarktmörder.

Der Vorfall vom gestrigen Abend scheint vergessen zu sein. Das Weihnachtsgeschäft verläuft ungestört, nur die beiden Polizisten patrouillieren gemächlich durch die Budengassen. Rudi und ich sind froh, dass die Kunden doch noch kommen. Drei Mal hat der Mörder schon zugeschlagen: das erste Mal auf dem Rixdorfer Markt, dann auf dem Markt vor dem Charlottenburger Schloss und gestern an der Gedächtniskirche.

„Gibt’s Neues vom Weihnachtmarktmörder?“, ist inzwischen eine beliebte Gesprächseröffnung bei den Kunden.

In den Medien sind die Morde natürlich ein großes Thema und die Frage nach dem Motiv beschäftigt nicht nur die Polizei. Bei den Opfern handelt es sich um eine junge Frau und zwei ältere Männer. Alle waren sie allein auf den Märkten unterwegs, aber das ist auch die einzige Gemeinsamkeit.

„Vielleicht wählt er seine Opfer zufällig aus“, schlage ich Rudi vor, doch der hebt die Arme wie ein Prediger, der auf Erleuchtung hofft.

In drei Tagen ist Weihnachten. Ich werde wieder allein sein, denn meine einzige Tochter lebt mit ihrem Mann in Amerika. Weder sie noch ich haben genug Geld, um uns regelmäßig zu besuchen. Im Winter muss ich jedes Jahr knapsen. Da käme mir eine Belohnung gerade recht.

Für sachdienliche Hinweise zur Ergreifung des Weihnachtsmarktmörders wird eine Belohnung ausgesetzt, haben sie im Fernsehen gesagt. Statt mit Rudi nach Mallorca, würde ich nach Cleveland fliegen.

Rudi bringt mir ein Glas Glühwein.

„Ausnahmsweise“, sag ich und proste ihm zu.

„Was machste eigentlich an Weihnachten?“, fragt er.

„In der Badewanne liegen und warten bis es vorbei ist.“

„Hast du nicht ’ne Tochter?“

„In Ohio.“

„Vielleicht könnten wir ja zusammen ...“

„Nicht nach Mallorca!“

„Wir wollen nicht stören, aber vielleicht könnten sie uns eine Zuckerwatte machen.“

Mein Gott, hab ich mich erschrocken. Vor meinem Stand steht ein Paar um die sechzig, die sich so ähnlich sehen, dass es nur Zwillinge sein können oder Eheleute, die ihr ganzes Leben miteinander verbracht haben. Beide strahlen gediegene Unscheinbarkeit aus. Das einzig Auffällige an ihnen ist der Umstand, dass sie Zuckerwatte wollen, da der normale Zuckerwattekunde unter dreißig ist. Mir fällt Harry, mein blasser, rothaariger Ex ein, der sich nach fünfzehn Jahren Ehe von mir wegen einer farblosen, mickrigen Blondine getrennt hat. Ich muss mich auf die Zuckerwatte konzentrieren, die inzwischen XXL-Format erreicht hat.

„Sie können es sich erlauben.“ Ich reiche den schlanken, hoch gewachsenen Senioren die Zuckerwattestäbchen. „Vermutlich haben Sie nicht mal Diabetes.“

„Um Himmelswillen, nein! Wir halten uns fit“, sagt der Alte mit verschlagenem Grinsen.

„Mit Wandern“, ergänzt die Frau und steckt ihre Nase in die klebrige Watte.

Ich schaue ihnen nach, bis sie in der Menge verschwinden. Auch Rudi beobachtet sie. Er lächelt mich an, als er meinen Blick bemerkt. Im Grunde ist er ein anständiger Kerl, nur abspecken müsste er und die dummen Sprüche lassen.

„Heute hole ich mir eine Erkältung“, verkünde ich bibbernd.

„Ich bin Arzt und Krankenschwester in einer Person. Musst mich nur anrufen.“ Jetzt fängt er wieder an.

Ich halte besser die Klappe.

Am Abend leg ich mich in die Badewanne, aber es nützt nichts mehr. Ich verfluche alle Weihnachtsmärkte der Welt.

Am nächsten Morgen weckt mich mein Radiowecker mit der Nachricht: „ ... Weihnachtsmarktmörder geschnappt. Es handelt sich um die Eheleute Elvira und Erwin T. Beide haben die Morde gestanden.“

Ein Ehepaar! Da sieht man wieder mal, was die Ehe aus den Leuten macht. Nach dem Frühstück pummle ich mich dick an und hole mir die Tageszeitung.

„Killersenioren gefasst!“, lautet die Schlagzeile und darunter prangt ein Riesenfoto. Ich traue meinen Augen nicht. Es sind die durchtrainierten Alten, die gestern bei mir Zuckerwatte gekauft haben. Mit meiner Menschenkenntnis scheint es nicht weit her zu sein.

Ich überfliege den Artikel: Grausiger Fund im Schlafzimmer – Abgetrennte Körperteile in Einweckgläsern. Ehepaar schweigt zum Tatmotiv. Ein Polizeisprecher teilt mit, es bestehe ein Anfangsverdacht, dass das Paar in den illegalen Handel mit menschlichen Zellen und Geweben involviert sei.

„Unglaublich!“, sage ich zur Zeitungsfrau.

„Dabei sehen die ganz harmlos aus. Man kann eben nicht reingucken in die Menschen“, antwortet sie und beißt in ihr Wurstbrötchen.

„Vermutlich steckt Habgier dahinter. Wie viel man wohl für so einen Finger bekommt?“

Die Zeitungsfrau grinst. „Vielleicht wollten sie ihre Rente aufbessern. Man hätte sie länger arbeiten lassen sollen.“

„Die waren einfach noch zu fit, um den ganzen Tag auf der faulen Haut zu liegen.“

Auf dem Weg nach Hause beschließe ich, mich wieder ins Bett zu legen.

Ich werde die Schlechtigkeit der Welt betrauern und mit meiner Tochter telefonieren. Vielleicht rufe ich auch Rudi an. Einen Krankenpfleger brauche ich nicht, aber nach den Feiertagen könnte er mit mir Schlittschuh laufen gehen. Das hab ich seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gemacht.

JÜRGEN RATH

Schnee im Grunewald

Es klingelte. Schrill und lang. Walther schreckte hoch. Wer das wohl ist? Die mobile Pflege? Nee, so früh kommen die nicht.

Er blickte zum Radiowecker, musste ganz nahe herangehen, weil er die Brille nicht fand. – Was, schon zehn Uhr? Wie die Zeit vergeht. Ich hab’ doch gerade noch hingeschaut, da war’s acht. Was ist denn passiert in den letzten zwei Stunden?

Er blickte an sich hinunter. Ach ja, er hatte das Unterhemd und die Unterhose angezogen, letztere sogar richtig herum. Gar nicht schlecht in einer so kurzen Zeit. Andere in seinem Alter liefen den ganzen Tag im Schlafanzug umher.

Wieder klingelte es, genauso schrill, aber viel anhaltender. Walther tapste zur Tür. Durch die Milchglasscheibe erkannte er die Umrisse eines kleinen Mannes. „Ach nein“, brummte er, „der Herr Schwiegersohn. Was will denn dieser Affe hier?“ Aufreizend langsam drehte er die drei Schlüssel herum und löste die Sperrvorrichtung an der Tür. „Was willst du?“

„Guten Morgen, Opa. Ich will dich abholen.“

„Opa? Ich geb dir was mit ‚Opa‘! Ich bin nicht dein Opa. Und Enkel habe ich auch nicht, ihr habt ja keine hinbekommen.“

„An mir hat es nicht gelegen“, antwortete der Mann scharf.

Walter tastete mit den Händen an der Kommode entlang, riss das Telefon herunter, es störte ihn nicht. In der Küche strich er über die Arbeitsplatte, wieder polterte es. Das war die Brille, jetzt lag sie im Spülbecken. Endlich konnte er Harald deutlicher erkennen mit seinem schmalen Kopf, der langen Nase und dem fliehenden Kinn.

Ekelhafter Kerl! Wie konnte sich meine Tochter nur in so ’ne halbe Portion verlieben? Und dann hat se auch noch sein Namen angenommen: Birgit Terpe, Kreuzberger Adel. Der schreibt sich ja jetzt mit ’nem Akson irgendwas: Terpé. Macht ihn aber auch nicht größer. Terpeee!

„Ich habe dich nicht hergebeten.“

„Ich will dich abholen. Bald ist Weihnachten.“

„Weihnachten? Jetzt schon?“

„Ich habe wieder einen Heimplatz bekommen. Kurzzeitpflege, nur über die Feiertage.“

Walther fröstelte in seinem Feinripp-Trägerhemdchen. Er rieb sich über die schlaffen Armmuskeln.

„Heimplatz? Ich brauche keinen Heimplatz. Ich wohne hier.“

„Im Heim wirst du gut betreut über die Feiertage. Letztes Jahr warst du sehr zufrieden damit.“

„Ich brauche keine Betreuung. Ich komme allein zurecht.“

Harald packte ihn unvermittelt am Handgelenk und zerrte ihn in den Flur hinaus. „Schau her! Die mobile Pflege hat diese Schilder an die Türen geklebt. Hier: ‚WC‘, da: ‚Wohnzimmer‘ und dort: ‚Schlafzimmer‘.“

Was die alles an meine Türen schreiben. Ob ich denen das erlaubt hab? „Warum steht das da?“

„Weil du verwirrt bist. Du findest dich nicht mehr allein zurecht.“

Der kleine Mann kam ihm näher, schnupperte mit angeekeltem Gesicht.

„Außerdem riechst du nach Pipi.“

„Ich rieche überhaupt nicht nach Pipi!“

„Nein, du riechst nicht, du stinkst bestialisch.“

Höflichkeit musst du noch lernen, Junge. „Du brauchst nicht so zu schreien, ich höre sehr gut.“

Das war gelogen. Er hörte nicht mehr gut, jedenfalls nicht auf dem rechten Ohr. Nur noch 20 Prozent, hatte der Ohrenarzt gesagt. Dafür höre ich auf dem anderen Ohr viel besser, hatte er dagegen gehalten. Ich kann die Flöhe husten hören, wahrscheinlich habe ich dort 200 Prozent. Ich kann nur bis 100 Prozent messen, mehr geht nicht, hatte der Arzt gesagt.

„Wir müssen los“, drängte Harald, „soll ich dir beim Anziehen helfen?“

„Fass mich nicht an!“

Es dauerte. Endlich war Walther angezogen. Doch noch konnten sie nicht losgehen, der Zahnersatz war verschwunden. Gemeinsam suchten sie. Sie fanden das Gebiss in der Bio-Tonne.

„Schmeckt nach Rosenkohl“, sagte Walther.

„Also los jetzt!“

Walther wollte etwas erwidern, der Zahnersatz fiel auf die untere Zahnreihe. „Ich geh nicht mit einem klappernden Gebiss auf die Straße.“ Er nahm es aus dem Mund, leckte es sorgfältig ab, tropfte Haftcreme auf die Gaumenplatte, setzte das Gebiss wieder ein, wartete. „Frag mich was.“

„Können wir jetzt los?“

Walther strahlte. „Jetzt klappert es nicht mehr.“

„Wo steht dein Auto“, fragte Walther, als er vor der Tür stand.

„Ich habe um die Ecke geparkt. Hier ist ja nie etwas frei.“

Walther schaute die Straße hinunter. Da stand nur der Wagen von dem Nachbarn.

Der Weg zum Auto war beschwerlich. Dass die Gehwegplatten so stümperhaft verlegt sind, ich komm ja kaum über die Kanten weg. Ich wünsche niemandem meine Zuckerfüße. Im Auto nahm er seinen Stock zwischen die Beine und lehnte sich erschöpft zurück.

„Seit wann brauchst du einen Stock?“, fragte Harald, während er sich in den Verkehr einreihte.

„Ich brauche keinen. Den nehme ich nur aus taktischen Gründen mit.“

„Taktische Gründe?“

„Ja, doch. Wenn ich beim Bäcker in der Schlange stehe und mich auf den Stock stütze und laut stöhne, dann lassen die mich fast immer vor.“

Der Mann schaute anerkennend. „Du bis ja ein ganz Abgebrühter!“

„Nützt mir leider nicht viel. Wenn ich dann vorne stehe, habe ich meist vergessen, was ich will.“

Sie fuhren den Kaiserdamm entlang, Walther betrachtete die vorbeiziehenden viktorianischen Häuser.

„Wohin fahren wir?“

„Nach Wilmersdorf. In den Grunewald.“

Grunewald? Da war ich doch immer mit meinen Eltern. Auf ’m Teufelsberg, zum Schlittenfahren. „Im Grunewald gibt es kein Altersheim!“

„Doch, gibt es. Wann warst du das letzte Mal im Wald?“

„Muss schon ein paar Tage her sein.“

„Eben.“

Am Messegelände blickten beide zum Funkturm hin.

„Du hast was vergessen“, sagte Harald.

„Was vergessen?“

„Hier flötest du doch immer den alten Werbespruch: ‚Wir sehen uns wieder, unterm Funkturm, in Berlin’.“ Er versuchte, seiner Stimme den piepsigen Klang der damaligen Sprecherin zu geben.

„Den Spruch verkneif ich mir inzwischen. Ist ja keiner mehr da, den ich wiedersehen will.“ Außer Birgit natürlich. Meine Birgit! „Warum ist Birgit nicht mitgekommen?“

Harald war so überrascht, dass er das Steuer verriss. Von der Nebenspur hupte es empört. Dann hatte er das Auto wieder unter Kontrolle.

„Ach, weißt du, die wartet im Heim. Da muss einiges an Papierkram erledigt werden.“

Walther grübelte. Es gab so viele Gänge in seinem Gehirn, so viele Verzweigungen, alle angefüllt mit Erinnerungsmüll, welcher Gang war der richtige? Und dann diese Quergänge, die brachten alles durcheinander. In einem der dunklen Gänge sah er Birgit als kleines Mädchen mit Zöpfen, in einem anderen war ein schrecklicher Autounfall, alles voller Blut! Hatte dieser sonderbare, unaufgeklärte Unfall etwas mit seiner Tochter zu tun? Oder war das jemand anderes?

Plötzlich schreckte er hoch. „Ich habe keinen Schlafanzug dabei. Und keine Zahnbürste.“

Harald blickte konzentriert nach vorne. „Keine Panik! Ist alles hinten im Kofferraum.“

Die Straße schwenkte nach Süden. Auf der Avus wechselte Harald auf die linke Spur und trat das Gaspedal durch. Der Wagen heulte auf, die Landschaft raste an Walther vorbei.

„Eine riesige Kiste fährst du“, sagte er. „Sieht reichlich teuer aus.“

Der Mann fuhr liebevoll über das Lenkrad, seine Augen funkelten. „Ein tolles Auto, nicht wahr? 240 PS, 16 Ventile. Hast du die phantastische Beschleunigung gespürt? Dieses Auto habe ich mir schon immer gewünscht.“

„Kannst du dir so etwas überhaupt leisten? Du bist doch immer pleite.“

„Kümmere dich um deine Sachen, Alter!“ Harald schaute zornig herüber. Doch dann lächelte er selbstgefällig. „Ich arbeite gerade an einem großen Projekt. Bin fast am Ziel. Dann fließen die Gelder.“

Erzähl mir was, das glaubt doch keiner. Aber was kümmert mich das. Ich hab’ mein Häuschen. Und mein Geld auf der Bank. Das wird Birgit erben. Hoffentlich gibt sie dem Versager nichts ab.

Sie verließen die Avus am Hüttenweg, fuhren jetzt durch den Wald. An einer Biegung schwenkte der Mann in einen schmalen Pfad ein. Hier, zwischen den Bäumen, war es fast dunkel.

Kein Schnee! Das würde den Dezember heller machen. Als Kind hatte ich immer Schnee an Weihnachten. Immer! Aber es ändert sich ja so viel in der letzten Zeit. Er schloss die Augen.

Irgendwas stimmt hier nicht. Ein Altersheim im Grunewald, sehr merkwürdig. Und im letzten Jahr soll ich auch schon im Heim gewesen sein, kaum zu glauben. Doch, jetzt erinner ich mich. Wie war das noch gleich? Da gab’s einen Aufenthaltsraum. Vorhof zur Hölle hab’ ich den genannt. Nur alte Frauen im Saal, welk und zerknittert wie weggeworfenes Papier. Quatschten den ganzen Tag immer über das Gleiche, ihre Krankheiten, du meine Güte. Da gab’s auch welche, die hingen nur in ihren Rollstühlen rum und rührten sich nicht. Und dann war da die eine, die stieß ständig so ’nen durchdringenden Schrei aus, da konnte man das Fürchten kriegen. Mich hat’s nicht gestört, ich hab’ ja immer nur aus dem Fenster geschaut.

Er betrachtete die Bäume. Nach Altersheim sah es hier nicht aus.

War ich wirklich dort? Oder hab ich nur Karl besucht? Warum kann ich mich nicht erinnern?

Über diesen Gedanken schlief er ein. Und träumte. Er saß im Zug, der durch die Nacht raste. Plötzlich wurden die Gleise enger, der Wald rückte näher, der Zug sprang aus den Schienen, er rumpelte und schwankte über die Schwellen. Rumpeln war ganz schlecht für seine Blase. Er musste zur Toilette, doch die Tür war abgeschlossen. Er ging auf und ab, kniff die Beine zusammen, dachte an eine trockene Wüste, das half immer. Endlich ging die Tür auf. Er schaffte es gerade noch auf die Brille, dann stöhnte er erleichtert auf.

Der Wagen rollte auf eine Lichtung. Walther schlug die Augen auf. Es war warm im Wagen, die Heizung funktionierte gut. Und doch fühlte er sich unwohl. Er schaute an sich herunter. Über der Hose und den Beinen hatte sich ein großer, dunkler Fleck ausgebreitet. Der war warm und nass.

„Ich habe mir in die Hose gemacht.“

Harald fuhr konzentriert, suchte offenbar den Weg. Plötzlich trat er auf die Bremse.

„Was hast du gemacht?“

„Pampers vergessen!“

Mit einem Satz war Harald aus dem Wagen. Er rannte auf die andere Seite, riss die Tür auf, schaute ungläubig. Dann griff er nach dem alten Mann, riss ihn vom Sitz, stieß ihn mit dem Kopf gegen den Holm.

Beide schauten auf den großen Fleck, der sich auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hatte. Im Fußraum hörten sie es tropfen.

„Mein Auto!“, schrie Harald. „Mein schönes, neues Auto. Gerade eingefahren und schon ruiniert. Ich halt das nicht aus!“ Er fuchtelte mit den Fäusten vor Walters Gesicht herum. „Dafür wirst du bezahlen, du verkalkter Trottel. Ich hätte nicht übel Lust, dich zusammenzuschlagen.“

„Vielleicht können wir es auftupfen?“

„Auftupfen? Bist du nicht bei Trost? Das stinkt noch jahrelang!“ Der Mann stapfte vor dem Wagen hin und her, weißer Atem stand vor seinem Gesicht. Er hatte das Kinn drohend vorgereckt und stieß wütende Flüche aus.

Walther tastete sich mit dem Stock über den unebenen Waldboden zum Heck des Wagens. Legt Birgit nicht immer eine Rolle Küchenkrepp in den Kofferraum? Für alle Fälle, hat sie gesagt. Wenn man Apfelsinen gegessen hat oder mal in die Büsche muss. Er fingerte am Kofferraumdeckel herum. Sie war nicht aufzukriegen, diese merkwürdige Klappe. Das war früher praktischer, da gab es einen Griff, den musste man nur drehen. Er fuhr mit seiner Hand an der Kante entlang, auf der Suche nach einem versteckten Griff. Plötzlich sprang die Heckklappe auf, fast hätte sie ihm die Brille von der Nase gerissen. Er schaute in den Kofferraum. Der war leer. Keine Küchenrolle da, nur eine Zeitung. Das geht auch, die saugt gut. Als er die Zeitung hochnahm, lag da eine Pistole.

Merkwürdig, ’ne Pistole im Auto. Ist dieser Mensch jetzt unter die Jäger gegangen? Nein, Jäger schießen mit Gewehren. Vielleicht ist er im Sportverein. Doch dürfen die ihre Pistolen ins Auto legen?

Walther nahm die Waffe. Sie war schwerer als vermutet, er hatte noch nie eine Pistole in der Hand gehabt. Im letzten Krieg war er noch zu klein und danach wollte niemand etwas von Pistolen wissen.

Vorne im Wagen rumpelte es. Harald fluchte gotterbärmlich. Es sah aus, als wollte er den Beifahrersitz nach draußen zerren.

Plötzlich fühlte sich Walther am Hals gepackt. „Lass die Knarre liegen, Tattergreis! Du könntest dich verletzen.“

Walther entwand sich dem Griff. Er blickte auf die Waffe, warf sie dann in den Kofferraum zurück, wo sie bis zur Rückenlehne schlidderte. „Hast du immer eine Pistole im Kofferraum?“

„Normalerweise nicht, du Trottel. Ich könnte in eine Verkehrskontrolle kommen. Aber heute brauche ich sie.“

„Wozu?“

Der Mann schaute ihn kalt an. „Um dich zu erschießen, natürlich.“

Walther lehnte sich gegen das Heck des Autos. „Ach, ja?“

Erschießen hat was mit Tod zu tun: Mein Tod, das unbekannte Wesen. Ein schöner Satz, wo habe ich den nur gelesen?

Sein Blick schwenkte über die Lichtung. Vielleicht gar nicht so schlecht, hier zwischen den Bäumen zu sterben. Soll ja recht schnell gehen mit ’nem Loch im Kopf. Auf jeden Fall besser, als im Altersheim totgepflegt zu werden. Aber leider liegt kein Schnee, mit Schnee würde ’s mir besser gefallen. „Wieso willst du mich erschießen?“

Die gelassene Reaktion beunruhigte den Mann. Er reckte den Kopf nach links und rechts, spähte durch die Bäume.

„Weil ich dich beerbe. Du glaubst doch nicht, dass ich dein Geld und dein Haus für die Pflege draufgehen lasse. Dein Geld gehört mir!“

„Nein, mein Geld gehört Birgit.“

„Birgit ist schon lange tot.“

Hatte ich doch Recht! Sie ist tot, gestorben beim Autounfall. Oder doch nicht? Welcher Gang ist der richtige? So viel verschüttet. Ist sie nicht an Brustkrebs gestorben?

„Mein Geld bekommst du nicht“, sagte Walther kühl. „Das habe ich dem Roten Kreuz vermacht.“ Stimmt das? Hab ich ’n Testament gemacht? Na egal, er soll noch ’n bisschen zittern um den Lohn der Arbeit.

Harald Terpé zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Die Hälfte steht mir gesetzlich zu. Das reicht.“ Er drängte Walther unsanft zur Seite. Dieser stieß dabei heftig mit dem Kopf gegen die geöffnete Klappe. Das schmerzte.

Harald beugte sich in den Kofferraum, um nach der Pistole zu greifen.

Ich will noch nicht in die Kiste. Ich will erst sterben, wenn es schneit. Ich möchte mit Schnee bedeckt sein.

Harald Terpé kam nicht an die Pistole ran, sie lag zu weit hinten. Er beugte sich weiter in das Auto hinein. Walther schaute interessiert zu, eine Hand auf der blutenden Stelle am Kopf, die andere an der Klappe. Der Mann verlor den Halt auf dem nassen Waldboden, er hing halb drinnen, halb draußen und strampelte mit den Füßen.

Walther schüttelte ungläubig den Kopf. Ein wirklich dummer Mensch, dieser Terpé. Wie kann einer nur so stümperhaft arbeiten? Ist wohl sein erster Mord. Er zog an der Klappe. Nach einem leichten Widerstand fiel sie schwer nach unten.

Aus dem Kofferraum kam ein Aufstöhnen, dann ein wüster Fluch. Der Mann drückte von unten gegen das Blech. Er schaffte es, mit dem Rücken nach draußen zu kommen.

Walther lehnte sich jetzt mit seinem Gewicht auf die Klappe, das war nicht wenig. Er wollte hinaufsteigen, doch es gelang ihm nicht. Erst als er die Beine und den Rücken seines Schwiegersohns als Stütze benutzte, konnte er sich auf das Heck des Wagens setzen. Mit mäßigem Interesse schaute er auf den Mann hinunter, dessen Kopf im Kofferraum steckte und dessen Hals von der Metallkante immer mehr zusammengequetscht wurde. Die Hände hatte er noch aus dem Kofferraum bekommen, doch die wischten nur fahrig durch die Luft.

Walther wartete, bis sich der Mann nicht mehr bewegte. Vorsichtshalber blieb er danach noch eine Weile auf der Kofferraumklappe sitzen und schaute in den Wald. Schließlich kletterte er herunter. Er blickte zu Boden. Wo sie hergekommen waren, konnte er an den Reifenspuren erkennen. Schwer auf seinen Stock gestützt, machte er sich auf den Rückweg.