Miriam Lanz
Perfekt
David Millers 1. Fall
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Perfekt
Impressum neobooks
Der graue Schleier des kalten Morgens hing über der Metropole und sammelte den Lärm der Menschen, Droschken und Kutschen unter sich. Trotz der frühen Stunde herrschte geschäftiges Treiben. Die Hauptstraßen waren mit gesichtslosen Menschen gesäumt, die im ewig gleichbleibenden Rhythmus ihrem Alltag nachgingen.
Zwei Jungen, kaum zehn Jahre alt, trotteten an der Themse entlang. Nur ihre kleinen, dürren Körper ließen vermuten, dass sie Kinder waren; ihre Augen bargen eine Anstrengung und Last schwer Arbeitender in sich und verbannten jeden Rest Kindheit aus ihren Gesichtern. Ihre alten Kappen waren zu groß und rutschten ihnen über die Augen. Ihre Hände hatten sie in die Hosentaschen gesteckt, die Köpfte waren gesenkt. Die Glieder der Kinder schmerzten und ihre Mägen knurrten, doch sie liefen wie menschliche Apparaturen ihren Weg zur Fabrik, in der sie jede Stunde des Tages verbrachten ohne nur einmal frische Luft atmen zu können.
Der kleinere der beiden Jungen, dessen Hose über seinem rechten Knie aufgerissen war, trat gegen einen Stein. Er rollte die Böschung hinunter zum Ufer der Themse. Als der Stein ins Wasser fiel, zuckte ein kurzes Lächeln über sein verhärmtes Gesicht.
Doch so schnell dieser ungewohnte Anflug von Kindlichkeit in ihm aufgekeimt war, so schnell verschwand er wieder.
Er blieb stehen und zog sich die große Kappe aus dem Gesicht.
"Was is' das denn?", fragte er langsam seinen Freund ohne sich ihm zuzuwenden.
"Was?" Der größere Junge war nur widerwillig stehen geblieben, trat aber - nachdem Neugier in ihm aufgeflammt war - näher heran.
"Na, das Ding? Das ist doch kein Holz, oder? Was is' das?"
"Keine Ahnung?", erwiderte der größere Junge und stieg die Böschung hinab.
Der Kleinere folgte ihm und beobachtete mit einer für ihn ungewohnten Spannung und Neugier wie sein Freund den Gegenstand aus den trüben Wasser der Themse fischte.
Als sich der größere Junge den Gegenstand besah, wobei er ihn in alle Richtungen drehte, weiteten sich seine Augen.
"Weißt du, was das is'?", fragte er langsam und ließ den Gegenstand wieder sinken. Sein Freund wich einen Schritt zurück und nickte.
"Das is' n Arm. Ein verdammter Arm!", rief er aus und hastete die Böschung hinauf. Er war noch nicht wieder oben, als ein uniformierter Polizist vor sie trat und die beiden Jungen mit strengen Augen musterte.
Der kleinere Junge stolperte nach hinten und rutschte die Böschung wieder hinunter.
"Was macht ihr denn da?", fragte der Mann. Als sein Blick auf das Objekt fiel, das der Größere aus der Themse gefischt hatte und noch immer in den Hand hielt, verstummte er. Mit großen Schritten eilte er zu den beiden Kindern, die nach hinten wichen.
"Wir haben nichts getan, Sir. Wir war'n das nich'", versicherte der Größere und versuchte den menschlichen Arm hinter seinem Rücken zu verstecken.
"Na, schon gut", meinte der Polizist und seine Stimme barg nur einen Hauch väterlichen Wohlwollens.
"Zeig mir das mal!" Er hielt dem Jungen die Hand entgegen. Ohne den uniformierten Mann anzusehen, übergab der Junge das Objekt.
Der Polizist wurde bleich, als er sich den fahlen, beinahe grünlich schimmernden Arm besah. Die Finger waren tiefblau angelaufen, die Nägel hatten sich teilweise gelöst.
"Wir war'n es nicht, Sir. Der trieb im Wasser. Wirklich, wir haben nichts getan."
Der Polizist reagierte nicht auf die Jungen und erst als die beiden Kinder die Böschung hinauf gehastet und verschwunden waren, löste er sich langsam aus seiner Starre.
Uniformierte Polizisten versuchten beinahe erfolglos den Fundort des Körperteils von den Schaulustigen abzuschirmen.
Ein junger Mann mit haselnussbraunem, zerzaustem Haar, das ein Bowler zu bändigen versuchte, schob sich grob durch die Menge. Ein untersetzter, kleinerer Mann folgte ihm.
Die Polizisten traten respektvoll zur Seite und ließen die beiden Männer passieren.
Der untersetzte Mann - Inspektor John Dawson - blieb beim Anblick des bleichen, wie eine Artrappe wirkenden, Leichenteils abrupt stehen und suchte nach dem Blick eines in die Jahre gekommenen Polizisten, der seine Bestürzung nicht verbergen konnte.
Der jüngere Mann war bleich geworden; seine Augen waren in fassungslosem Entsetzen auf den abgetrennten Arm gerichtet.
„Ihr verdammten Schweine! Das ist eure Schuld! Verdammte Bastarde!“, schrie ein bärtiger Mann plötzlich auf und spuckte vor Inspektor Dawson auf den Boden. Er hatte sich durch die Menge geschoben und wurde nur durch die Sperre der Polizisten davon abgehalten, auf den untersetzten Inspektor loszugehen, dem der Ekel deutlich anzusehen war.
„Smith, schafft ihn weg!“ Ein großer, hagerer Mann in dunkler Polizeiuniform nickte knapp und griff nach dem Oberarm des Unruhestifters.
Der junge Sergeant David Miller starrte noch immer auf den grässlich aufgedunsenen Arm. Der Oberarmknochen war deutlich zu erkennen, die weißen Hautfetzen legten die Vermutung nahe, dass der Arm grob, gewaltsam abgetrennt worden war.
Doch nicht die deutlichen Anzeichen des barbarischen Aktes, der durch die vielen dunklen Flecken noch verstärkt wurde, die über dem Arm verteilt und Zeuge der sagenhaften Kraft des Verantwortlichen waren, ließen David stocken.
Er trat näher an die Extremität heran und zog ohne den Blick von ihr zu nehmen sein Taschentuch aus der Hosentasche.
Als er damit nach dem Arm griff, sog sich der dünne Stoff voll Nässe und David spürte deutlich die weiche, kalte Haut, die unter seiner leichten Berührung nachgab.
Direkt unter dem Handgelenk auf der Innenseite des Arms und auf den Hautfetzen am Oberarm zeichneten sich beinahe schwarze Flecken ab, die auf den ersten Blick wie weitere Verletzungen aussahen. Bei näherer Betrachtung stellte David allerdings fest, dass es sich um Tätowierungen handelte. Die eine oberhalb der Handfläche war etwa daumengroß - ein verschlungener Schriftzug, wie ein Emblem, doch die Tinte wirkte auf dem aufgeschwemmten Arm verwischt, undeutlich.
"Miller, was in Gottes Namen, tun Sie da?" Dawson musterte den Sergeant mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch, beinahe angewidert.
Erst nach einigen Sekunden reagierte David, erhob sich und hielt seinem Vorgesetzten das Leichenteil entgegen.
"Sagen Sie, haben Sie sich den Arm eigentlich angesehen?"
"Was gibt es da zu sehen? Ein abgetrennter Arm, wie wir ihn in den vergangenen Wochen schon häufiger gefunden haben. Vermutlich stammt er von einer Frau."
"Sicher bezweifle ich nicht Ihren Scharfsinn, aber offensichtlich ist das ein und andere Ihrem so scharfen Blick wohl entgangen. Wenn Sie sich vielleicht bemühen wollen, einen Blick hierauf zu werfen?"
David deutete auf das sonderbare Emblem.
"Dies ist eine Tätowierung. Interessanter als diese zweifelhafte Verschönerung ist allerdings der Rest der Tätowierung, den wir hier erkennen." Er nahm Dawson den Stift aus der Hand und hob damit die Hautfetzen an, auf denen die Tätowierung zu erkennen war.
Dawson musterte Miller fragend. Ein hochmütiges Lächeln erschien auf Davids Lippen.
"Die Zeichnung muss sich ganz ohne Frage auf dem Torso fortsetzen."
Der Blick seines Vorgesetzten war noch immer fragend.
"Mag sein. Deshalb wissen wir aber noch lange nicht, wer die Frau - geschweige denn ihr Mörder- war!"
"Sir, nichts liegt mir ferner, als Ihnen zu widersprechen", Dawson schnaubte bei dieser Bemerkung; einige Polizisten, die das Gespräch aufmerksam verfolgten, lachten auf. „Doch ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eine Frau, deren Körper mit diesen fragwürdigen Verschönerungen überzogen ist, niemandem bekannt war. Besonders, wenn man bedenkt, dass das Gewerbe, welchem sie mit aller Wahrscheinlichkeit nachging, nicht gerade für seine Keuschheit bekannt ist."
"Und was gedenken Sie nun zu tun? Mit dem Arm spazieren laufen und die Leute danach fragen?" Dawson schnaubte verächtlich.
"Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund, hochgeschätzter Inspektor!", entgegnete Miller trocken. Das Grinsen erstarb auf dem Gesicht des Älteren, als David zu den Schaulustigen trat, die von den Polizisten nur mit Mühe zurückgedrängt werden konnten.
Bereits als Constable war David Miller nicht nur ob seiner scheinbar angeborenen Intuition und seines Scharfsinns sondern besonders ob seines beißenden Zynismus und seiner Ironie aufgefallen und seit er, Dawson, sich in der Position seines Vorgesetzten befand, wurden die Bemerkung, die dieser ehrgeizige junge Mann von sich gab, immer beißender und rieben an John Dawsons Nerven.
Auch bei seinen letzten Kommentaren war der provozierende Unterton in seiner Stimme nicht zu überhören.
Miller stand inzwischen vor einigen anzüglich bekleideten Frauen und versoffenen Männern, die zweifelsohne aus demselben Stadtteil kamen.
Die Frauen waren angewidert zurückgetreten und allen Menschen stand der Ekel deutlich ins Gesicht geschrieben.
„Guten Morgen, meine Damen.“ David bemühte sich möglichst höflich zu klingen. Allerdings stellte Dawson fest, dass der Spott in seiner Stimme nicht zu überhören war.
Die Frauen starrten ihn abfällig an.
„Ihr unfähigen, faulen Mistkerle! Der Teufel soll euch holen!“, kreischte eine junge Frau hysterisch, machte einen Schritt auf ihn zu und hob - wie um ihm zu drohen - die Arme.
Davids erster Impuls war, ihr eine Ohrfeige zu geben.
Stattdessen musterte er die Frauen herablassend und hob langsam den abgetrennten Arm. Die Hand sackte nach hinten und gab den Blick auf die aufgequollene Tätowierung frei.
„Meine Damen, dass Ihr Gezeter nichts weiter als höchstens eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung nach sich zieht, ist Ihnen bekannt? Wenn Sie aber nur für einen Augenblick Ihr Augenmerk auf diese Tätowierung richten und mir - auch wenn es Ihnen vermutlich sehr schwer fallen wird - zuhören könnten, besteht die Möglichkeit dem Täter näher zu kommen. Sie können selbstverständlich auch einfach wieder Ihrem Gewerbe nachgehen und darauf warten, dass auch Sie einen netten Besuch erhalten. Das liegt ganz bei Ihnen. Und Sie müssen bedanken, zumindest in Ihrem Tod würden Sie einmal interessant für mehrer Männer zur gleichen Zeit werden."
Miller erhielt vernichtende Blicke der Frauen zur Antwort und lächelte herablassend.
Schließlich räusperte sich eine ältere Frau, die im Laufe der vergangenen Jahre all ihre Attraktivität verloren hatte.
"Also sagen Sie uns, was wir tun können."
"Ich hoffe, Ihnen liegen die Worte nicht allzu bitter auf der Zunge", der Sergeant grinste provokant. "Wie Sie sehen, hat diese Frau eine Tätowierung hier am Arm", er deutete auf das Emblem, "und noch eine weitere, die zweifelsfrei in den Torso übergeht. Die Frage ist nun, kennen Sie eine Person, die über derart viele Tätowierung verfügt?"
Die Prostituierten warfen nur einen kurzen Blick auf den Arm und sahen sich dann vielsagend an.
"Meinen Sie, ich kenne alle Weiber in Whitechapel?", blaffte ihn die alte Nutte an.
"Ach, und ihr Harem - ob wie auch immer sie ihre Verbünde nennen - kennen sie wohl auch nicht? Na dann warten wir lieber noch, bis sich die Zahl der Nutten weiter reduziert hat. Vielleicht können Sie mir dann etwas mehr sagen!"
David schnipste nach einem uniformierten Kollegen, drückte dem Mann den Arm in die Hand; dann zog er sein Zigarettenetui aus der Jackettasche und musterte die Frauen.
„Für wen halten Sie sich?", stieß eine der jüngeren Frauen aus.
David lächelte gönnerhaft und ließ die Asche achtlos auf den nassen, aufgeweichten Boden rieseln, bevor er erneut das Wort ergriff.
"Sie müssen Ihre Situation einmal von dieser Seite betrachten: Je mehr von Ihnen Besuch von unserem speziellen Freier bekommen, desto mehr bleibt für die Übrigen. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag." Er grinste beinahe süffisant und wandte sich um.
"Sie verdammter Dreckskerl! Sie haben keine Ahnung!", stieß die junge Frau aus und stürzte keifend auf ihn zu.
"Sie sollten bedenken, meine Dame: wenn Sie auf mich losgehen, werden Sie festgenommen und die charmanten Herren, denen Sie in der Haft begegnen, werden Ihnen mit Sicherheit keinen Penny für Ihre Dienste zahlen!"
Die junge Frau funkelte ihn kalt an, ließ sich aber widerstandslos von zwei weiteren Damen wegführen.
Ein amüsiertes Lächeln huschte über Davids Lippen, als er ihnen nachsah, dann wandte er sich seinem Vorgesetzten zu.
"Miller, es sind zwar nur Bordsteinschwalben, aber Sie sollten dennoch etwas an sich halten. Ihr Verhalten wirft kein besonders gutes Licht auf die Polizei."
"Wenn mein Verhalten dem Ruf der Polizei ernsthaften Schaden zufügt, sollten wir beide zuerst einen Floristen aufsuchen, um Trauerkränze für die hinscheidende Ordnung zu ordern und uns anschließend auf die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz begeben."
Dawson schüttelte nur den Kopf - er war es leid, diesen arroganten Mann zu maßregeln. Bemühung dieser Art schienen bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt.
David warf das glimmende Ende seiner Zigarette in die Themse, rieb sich die Hände, um sie zu wärmen und vergrub sie schließlich in die Taschen seines Mantels. Die übrigen Polizisten warteten bereits in den beiden Kutschen von Scotland Yard.
David hatte gerade in seinem Stuhl Platz genommen und zog sich vorsichtig die zierliche Tasse mit Schwarztee heran, als Dawson vor seinen Schreibtisch trat.
"Ich möchte, dass Sie hinunter in die Gerichtsmedizin gehen und Dr. Brown fragen, ob er irgendwelche Fortschritte gemacht hat."
David riss die Augen auf und zog ruckartig an der blaugemusterten Untertasse, sodass die dunkle Flüssigkeit über den Tassenrand schwappte.
"Wie bitte?"
"Miller, ich darf Sie darauf hinweisen, dass ich Ihr Vorgesetzter bin und Sie daher meinen Anordnungen Folge zu leisten haben", erklärte er mit ungewöhnlich scharfer Stimme.
Miller hob beschwichtigend die Arme und erhob sich.
"Lieber Inspektor, Sie sollten in Ihrem Alter etwas vorsichtiger sein.
Ein hoher Blutdruck - und ich bin sicher, dass der Ihre sehr hoch ist - kann ohne weiteres zu einem Schlaganfall führen und ich würde es sehr bedauern, Sie ins Gras beißen zu sehen, ganz besonders weil Sie dann nicht mehr miterleben könnten, wie ich Sie einhohle." Ein beinahe bösartiges Grinsen umspielte Davids Lippen.
Mit einer glimmenden Zigarette zwischen den Lippen und die Hände in den Jacketttaschen, stapfte er die Stufen hinunter in den Keller des Gebäudes, der der Gerichtsmedizin zur Verfügung stand. Er wusste, dass ihn seine schnelle und böse Zunge einmal in Teufels Küche bringen würde - das wurde ihm beinahe täglich von älteren Kollegen versichert - doch er konnte nur schwer an sich halten.
Die hohen Räume, die in einem sterilen Weiß gestrichen waren und Gewölbedecken hatten und so an eine unterirdische Kapelle erinnerten, erschienen Miller wie aus seinen Alpträumen entsprungen. Bisher hatte er es weitgehend vermieden, die Gerichtsmedizin aufzusuchen. Die Räume waren kalt; so kalt, dass David für einen kurzen Augenblick fest damit rechnete, dass sein Atem seine Lippen in weißen Schwaden verlassen würde.
Die Türen der einzelnen Räume waren zur Hälfte aus Milchglas, sodass dahinter nur die schemenhaften Umrisse der Gerichtsmediziner und Assistenten zu erkennen waren.
ü