Das Buch
Tessa Young ist attraktiv und klug. Und sie ist ein Good Girl. An ihrem ersten Tag an der Washington Central University trifft sie Hardin Scott. Er ist unverschämt und unberechenbar. Er ist ein Bad Guy. Er ist genau das Gegenteil von dem, was Tessa sich für ihr Leben wünscht. Und er ist sexy, gutaussehend und zieht Tessa magisch an. Sie kann nicht anders. Sie muss ihn einfach lieben. Und sie wird nie wieder die sein, die sie einmal war.
Die Autorin
Anna Todd ist die New York Times-Bestseller-Autorin der After-Serie. Sie war schon immer eine begeisterte Leserin und schrieb die Geschichte um Tessa und Hardin auf ihrem Smartphone auf Wattpad. Innerhalb kürzester Zeit wurde sie zur meistgelesenen Serie der Plattform. Die gedruckte Ausgabe wurde 2014 veröffentlicht, ist seitdem in über 30 Sprachen erschienen, verkaufte sich über 8 Millionen Mal weltweit und war in Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Anna Todd lebt gemeinsam mit ihrem Ehemann in Los Angeles. Mehr über die Autorin auf AnnaTodd.com, bei Twitter unter @imaginator1d, auf Instagram unter @imaginator1d und auf Wattpad unter Imaginator1D.
ANNA TODD
AFTER
passion
Roman
Band 1
Aus dem Amerikanischen
von Corinna Vierkant-Enßlin
und Julia Walther
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe AFTER (The After Series, Band I)
erschien bei Gallery Books,
a division of Simon & Schuster, Inc., New York.
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Copyright © 2014 by Anna Todd.
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency.
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Anne Tente
Kapitel 98 und Brief der Autorin: übersetzt von Nicole Hölsken,
redigiert von Rabea Güttler
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung von Shutterstock / Max Frost
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-16266-5
V014
www.heyne.de
Für meine Leser,
die von Anfang an dabei waren,
voller Liebe und Dankbarkeit.
Ihr seid mein Ein und Alles.
Das College schien immer so wichtig zu sein, als würde es über den Wert und die Zukunft eines Menschen entscheiden. Wir leben in einer Zeit, in der einen die Leute zuerst fragen, wo man studiert hat, bevor sie sich nach dem Nachnamen erkundigen. Von klein auf hat man mich richtig darauf gedrillt, mich um meine Ausbildung zu kümmern. Das wurde für mich irgendwann so wichtig, dass meine Arbeit schon fast an Besessenheit grenzte. Seit dem ersten Tag an der Highschool drehte es sich bei jedem Fach und jedem Projekt nur darum, ob ich es später aufs College schaffe. Und nicht auf irgendeins – nein, meine Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ich auf die Washington Central University gehen müsste, dieselbe Uni, an der sie selbst studiert aber keinen Abschluss gemacht hatte.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass es auf dem College nicht nur ums Studieren geht. Nie hätte ich gedacht, dass mir die Auswahl der Kurse fürs erste Semester nur wenige Monate später völlig unwichtig vorkommen würde. Ich war ganz schön naiv damals, und irgendwie bin ich es immer noch. Aber ich konnte ja nicht wissen, was mich erwartete. Die erste Begegnung mit meiner Mitbewohnerin war intensiv und seltsam, und die mit ihren wilden Freunden war noch komischer. Sie waren alle so anders als die Leute, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte. Ihr Aussehen schüchterte mich ein, und es verwirrte mich, dass ihnen Regeln und Strukturen egal waren. Ich machte schon bald bei ihrem Wahnsinn mit – und genoss es …
Und dann schlich er sich in mein Herz.
Von unserer ersten Begegnung an veränderte Hardin mein Leben, wie es kein Kurs je gekonnt hätte. Mein Leben ähnelte plötzlich den Filmen, die ich als Teenie angesehen hatte, und diese lächerlichen Geschichten waren auf einmal Realität für mich. Hätte ich irgendetwas anders gemacht, wenn ich gewusst hätte, was passieren würde? Ich bin mir nicht sicher. Ich würde diese Frage gerne mit einem klaren Ja oder Nein beantworten, aber ich kann es nicht. Manchmal bin ich einfach nur dankbar und verliere mich völlig in meiner Leidenschaft, sodass ich nicht mehr klar urteilen kann und nur ihn sehe. Dann wieder denke ich daran, wie weh er mir getan hat, spüre die Trauer um die Person, die ich mal war, wie einen Stachel, denke an die chaotischen Momente, in denen ich das Gefühl hatte, meine Welt steht Kopf – dann ist die Antwort nicht mehr so einfach, wie sie mal war.
Nur eins weiß ich ganz sicher: Mein Leben und mein Herz werden nie mehr so sein wie vorher. Nicht, nachdem Hardin hineingestürmt ist.
Gleich müsste mein Wecker klingeln. Ich liege schon die halbe Nacht wach, zähle die Fugen der Deckenverschalung und gehe in Gedanken meinen Stundenplan durch. Andere Leute zählen Schäfchen, ich plane. Meine Gedanken machen nie Pause, und auch der heutige Tag, der wichtigste in meinen achtzehn Lebensjahren, ist da keine Ausnahme.
»Tessa!«, höre ich meine Mutter von unten rufen. Stöhnend rolle ich mich aus meinem winzigen Bett. Ich stecke noch das Laken wieder zwischen Matratze und Bett und streiche es glatt, weil das der letzte Morgen ist, an dem ich das tun muss. Ab heute ist dieses Zimmer nicht mehr mein Zuhause.
»Bin schon auf!«, rufe ich zurück. Am Klappern der Küchenschränke merke ich, dass sie genauso aufgeregt und nervös ist wie ich. Ich habe einen richtigen Knoten im Magen, und auf dem Weg ins Bad wünsche ich mir, dass sich die Anspannung im Lauf des Tages legen wird. Mein ganzes bisheriges Leben habe ich auf den heutigen Tag hingearbeitet: meinen ersten Tag am College.
Seit Jahren fiebere ich auf diesen Moment hin. An den Wochenenden habe ich gelernt, um möglichst gut vorbereitet zu sein, während die anderen ausgingen, tranken – oder womit Teenager sich sonst eben gerne in Schwierigkeiten bringen. Ich nicht. Ich saß abends im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerfußboden und lernte, während meine Mutter mir nebenbei den neuesten Gossip erzählte und auf der Suche nach Beautytipps stundenlang den Shopping-Kanal laufen ließ.
Als die Zusage für meinen Studienplatz an der Washington Central University kam, war ich unendlich glücklich – und meine Mutter heulte vor Freude gefühlt mehrere Stunden lang. Irgendwie war ich schon stolz, dass sich die viele harte Arbeit gelohnt hatte. Ich war nicht nur vom College meiner Träume angenommen worden, sondern bekam aufgrund unseres geringen Einkommens genug Zuschüsse, dass ich nur einen kleinen Kredit aufnehmen musste. Ein einziges Mal, nur einen Moment lang, hatte ich überlegt, woanders als in Washington zu studieren. Doch als ich sah, wie alle Farbe aus dem Gesicht meiner Mutter wich und sie fast eine Stunde lang im Wohnzimmer auf und ab lief, versicherte ich ihr schnell, dass ich es nicht wirklich ernst gemeint hatte.
Sobald ich unter der Dusche stehe, entspannen sich meine verkrampften Muskeln etwas. Ich lasse das heiße Wasser auf meine Schultern prasseln und versuche, Ruhe in meine Gedanken zu bringen, was aber leider nicht wirklich funktioniert. Ich träume so lange, bis das warme Wasser nach Duschgel und Shampoo kaum noch reicht, um mir wenigstens die Unterschenkel zu rasieren.
Als ich mir ein Handtuch umwickle, ruft meine Mutter wieder nach mir. Weil ich weiß, dass sie nervös ist, verzeihe ich es ihr. Trotzdem nehme ich mir die Zeit zum Föhnen. Schließlich habe ich diesen Tag seit Monaten bis ins kleinste Detail geplant. Nur eine von uns beiden darf zum Nervenwrack werden, und damit nicht ich diejenige bin, muss ich mich genau an meinen Plan halten.
Meine Hände zittern, als ich den Reißverschluss meines Kleides schließen will. Ich hätte vermutlich etwas anderes angezogen, aber meine Mutter hat darauf bestanden. Endlich gewinne ich gegen den Verschluss und hole mir noch schnell meinen Lieblingspulli aus dem Schrank. Sobald ich angezogen bin, werde ich ruhiger, aber nur, bis ich einen kleinen Riss im Ärmel meines Sweaters entdecke. Ich werfe ihn aufs Bett und schlüpfe eilig in die Schuhe, weil ich weiß, dass meine Mutter mit jeder Sekunde, die vergeht, ungeduldiger wird.
Mein Freund Noah wird bald hier sein, um mitzufahren. Er ist ein Jahr jünger als ich, wird aber bald achtzehn. Noah ist toll, hat wie ich nur beste Noten, und – so aufregend! – er hat vor, nächstes Jahr auch zu mir an die WCU zu kommen. Wenn wir nur schon jetzt gemeinsam anfangen könnten, vor allem weil ich niemanden dort kenne. Aber Noah hat zum Glück versprochen, mich so oft wie möglich zu besuchen. Jetzt fehlt mir nur noch eine brauchbare Mitbewohnerin. Das ist schon alles, was ich will, und gleichzeitig das Einzige, was ich mit keinem Plan beeinflussen kann.
»Ther-eee-saaa!«
»Mutter, ich komm ja schon! Bitte schrei nicht so«, rufe ich auf dem Weg die Treppe hinunter. Noah sitzt meiner Mutter gegenüber am Tisch und starrt auf seine Armbanduhr. Sein blaues Poloshirt passt zu seinen hellblauen Augen, und die blonden Haare hat er mit Gel perfekt gestylt.
»Hey, College Girl!« Er steht auf und lächelt mich strahlend an. Er zieht mich an sich, und ich schließe den Mund, als ich sein intensives Aftershave rieche. Ja, damit übertreibt er es manchmal echt.
»Hallo.« Ich strahle ihn auch an, damit er nicht merkt, wie nervös ich bin, und binde meine dunkelblonden Haare zu einem Zopf.
»Liebling, die paar Minuten haben wir jetzt auch noch, dass du dir deine Haare richtig zurechtmachen kannst«, kommentiert meine Mutter.
Beim Blick in den Spiegel nicke ich. Sie hat recht. Heute sollte meine Frisur wirklich sitzen, und natürlich kann sie es nicht lassen, mich daran zu erinnern. Eigentlich hätte ich mir die Haare eindrehen sollen, so wie sie es gerne mag, als kleines Abschiedsgeschenk.
»Ich bring schon mal deine Taschen ins Auto«, bietet Noah an. Nachdem er mich schnell auf die Wange geküsst hat, verschwindet er mit dem Gepäck nach draußen, und meine Mutter folgt ihm.
Die zweite Runde Styling endet besser als die erste. Ein letztes Mal fahre ich mit der Fusselrolle über mein graues Kleid.
Als ich schließlich das Haus verlasse und aufs vollgepackte Auto zugehe, tanzen die Schmetterlinge in meinem Bauch wild herum, und ich bin froh, dass ich die zweistündige Fahrt über Zeit habe, sie zu verscheuchen.
Ich habe keine Ahnung, wie es auf dem College sein wird, und auf einmal kann ich nur noch an eins denken: Werde ich dort Freunde finden?
Ich würde gerne behaupten, dass die vertraute Landschaft auf der Fahrt durch Washington State mich beruhigt, oder dass sich ein Gefühl der Abenteuerlust in mir breitmacht. Stattdessen plane und organisiere ich die ganze Zeit wie besessen. Ich bekomme gar nicht richtig mit, wovon Noah eigentlich redet, aber ich weiß, dass er mich abzulenken versucht und sich für mich freut.
»Da sind wir!«, quiekt meine Mutter, als wir durch ein steinernes Tor auf den Campus einbiegen. Die eleganten alten Gebäude sehen genauso toll aus wie in den Broschüren und im Internet. Hunderte von Leuten stehen auf dem Gelände herum: Eltern, die ihre Kinder umarmen und sich mit einem Kuss von ihnen verabschieden, Grüppchen von Studienanfängern, von Kopf bis Fuß in WCU-Klamotten, und ein paar verloren wirkende Nachzügler. Die Größe des Campusgeländes schüchtert mich ganz schön ein, aber ich hoffe, dass ich mich nach ein paar Wochen hier zu Hause fühlen werde.
Meine Mutter besteht darauf, dass Noah und sie mich zur Einführungsveranstaltung begleiten. Sie schafft es tatsächlich, die ganzen drei Stunden über unentwegt zu lächeln, während Noah aufmerksam zuhört, ebenso wie ich.
»Bevor wir uns wieder auf den Heimweg machen, würde ich gerne noch dein Zimmer sehen«, sagt meine Mutter, nachdem der offizielle Teil vorbei ist. »Nur um sicherzugehen, dass es dem Standard entspricht.« Ihr Blick wandert ziemlich missbilligend über das alte Gemäuer. Leider hat sie die Angewohnheit, an allem das Schlechte zu sehen. Um die Stimmung ein bisschen aufzulockern, lächelt Noah, und die Laune meiner Mutter wird besser.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass du jetzt tatsächlich aufs College gehst! Meine einzige Tochter, eine Studentin, die allein auf dem Campus wohnt.« Sie tupft sich geziert die Augen ab, um ihr Make-up nicht zu verwischen. Noah folgt uns mit meinen Taschen, als wir suchend durch die Gänge irren.
»Wir müssen zu B22 … jetzt sind wir im C-Flügel«, erkläre ich. Zum Glück entdecke ich in diesem Moment ein großes B an der Wand. »Hier entlang«, rufe ich, als meine Mutter in die entgegengesetzte Richtung losstürmen will. Ich bin froh, dass ich nur ein paar Klamotten, eine Decke und ein paar Lieblingsbücher eingepackt habe. Sonst müsste Noah noch mehr schleppen und ich nachher eine Menge auspacken.
»B22«, schnauft meine Mutter. Ihre Absätze sind zu hoch für die Strecke, die wir hier laufen. Am Ende eines langen Ganges stecke ich schließlich den Schlüssel ins Schloss der alten Holztür, und als sie sich knarrend öffnet, schnappt meine Mutter hörbar nach Luft. Das Zimmer ist ziemlich klein, mit zwei Betten und zwei Schreibtischen. Erst auf den zweiten Blick nehme ich wahr, was meine Mutter so geschockt hat: Die eine Hälfte des Zimmers ist tapeziert mit Musikpostern, von den Bands habe ich noch nie gehört. Die Gesichter sind gepierct und ihre Körper voller Tattoos. Auf dem Bett darunter liegt ein Mädchen mit leuchtend roten Haaren, die Augen dick mit schwarzem Eyeliner umrahmt, und bunten Tattoos auf den Armen.
»Hallo«, sagt sie und lächelt. Überraschenderweise finde ich ihr Lächeln irgendwie sympathisch. »Ich bin Steph.« Sie stützt sich auf die Ellbogen, wodurch wir ziemlich tief in den Ausschnitt ihres geschnürten Tops schauen können. Da ich merke, wie Noah ihre Brust fixiert, stupse ich ihn leicht an.
»H-hallo. Ich bin Tessa«, krächze ich nur. Meine guten Manieren sind plötzlich wie weggeblasen.
»Hi Tessa, nett dich kennenzulernen. Und willkommen an der WCU, wo die Zimmer winzig sind und die Partys gigantisch.« Ihr Grinsen wird breiter. Dann wirft sie lachend den Kopf in den Nacken, als sie unsere drei entsetzten Mienen sieht. Meiner Mutter steht der Mund offen, und Noah tritt etwas unsicher von einem Fuß auf den anderen. Steph steht auf, kommt zu uns herüber und umarmt mich zur Begrüßung. Einen Augenblick lang bin ich wie erstarrt, überrumpelt von ihrer Freundlichkeit, aber dann erwidere ich die Umarmung. Als Noah gerade mein Gepäck abstellen will, klopft es an der Tür. Irgendwie hoffe ich immer noch, dass das alles hier eine Art Witz ist.
»Herein!«, schreit meine neue Mitbewohnerin. Noch bevor sie den Mund zugemacht hat, geht die Tür auf, und zwei Typen kommen ins Zimmer.
Männer im Mädchenwohnheim, schon am ersten Tag? Vielleicht war Washington Central doch keine gute Entscheidung. Oder vielleicht hätte ich irgendwie versuchen sollen, im Vorfeld etwas über Steph herauszubekommen? Wenn ich mir die gequälte Miene meiner Mutter so ansehe, gehen ihre Gedanken wohl in dieselbe Richtung. Die Ärmste sieht aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.
»Hey, bist du Stephs neue Mitbewohnerin?«, erkundigt sich einer der beiden. Er hat seine blonden Haare nach oben gestylt, seine Arme sind bedeckt mit Tattoos und seine Ohrringe so groß wie Fünf-Cent-Münzen.
»Äh … ja. Ich bin Tessa«, bringe ich heraus.
»Ich bin Nate. Guck nicht so ängstlich.« Lächelnd berührt er meine Schulter. »Es wird dir sicher hier gefallen.« Seine Miene ist freundlich und offen trotz seiner eher ungewöhnlichen Erscheinung.
»Ich bin so weit, Jungs«, sagt Steph und schnappt sich eine große schwarze Handtasche vom Bett. Mein Blick wandert zu dem großen Typen im schwarzen T-Shirt, der an der Wand lehnt. Die dichten, lockigen braunen Haare hat er aus der Stirn gestrichen, und in Augenbraue und Lippe hat auch er Metall. Seine Arme sind tätowiert, und zwar so dicht, dass nicht ein Zentimeter Haut dazwischen zu sehen ist. Im Gegensatz zu Steph und Nate scheint er jedoch eher auf schwarz-weiß-graue Tattoos zu stehen. Er ist groß und schmal, und obwohl mir klar ist, dass ich ihn anstarre, kann ich einfach nicht wegblicken.
Ich warte darauf, dass er sich vorstellt wie sein Kumpel, aber er bleibt stumm, verdreht nur genervt die Augen und holt ein Handy aus der Tasche seiner schwarzen Jeans. Er ist definitiv nicht annähernd so freundlich wie Steph und Nate. Aber irgendwie ist er sehr viel anziehender, denn es fällt mir schwer, den Blick von seinem Gesicht zu lösen. Als ich merke, wie Noah mich komisch von der Seite ansieht, tue ich schnell so, als wäre ich schockiert vom Aussehen dieses Typen.
Denn so ist es doch, oder?
»Wir sehen uns sicher noch, Tessa«, ruft Nate mir zu, bevor die drei verschwinden. Zitternd atme ich aus. Die vergangenen paar Minuten als unangenehm zu bezeichnen wäre eine ziemliche Untertreibung.
»Wir besorgen dir sofort ein neues Zimmer!«, schimpft meine Mutter, sobald die Tür ins Schloss gefallen ist.
»Nein, das geht nicht«, seufze ich. »Ich komm schon klar«, versichere ich ihr und versuche, meine Nervosität nicht zu zeigen. Schließlich habe ich selbst auch keine Ahnung, wie das funktionieren soll, aber das Letzte, was ich will, ist, dass meine überfürsorgliche Mutter an meinem ersten Collegetag eine Szene macht. »Ich bin sicher, sie wird sowieso nicht viel da sein«, versuche ich, sie zu überzeugen, und mich selbst gleich mit.
»Kommt gar nicht infrage. Wir tauschen sofort.« Das cleane Äußere meiner Mutter steht in krassem Gegensatz zu ihrem wütenden Gesichtsausdruck. Zwar hängt ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, aber ihre Locken sind immer noch perfekt in Form. »Du wirst dir nicht mit jemandem das Zimmer teilen, der einfach so Männer hereinlässt – und dann auch noch Punks!«
Ich sehe erst sie an, dann Noah. »Mutter, bitte lass uns einfach abwarten, wie es läuft. Bitte«, flehe ich. Ich will mir gar nicht ausmalen, was ein Zimmertausch in letzter Minute für ein Chaos verursachen würde. Und wie demütigend sich das anfühlen würde.
Meine Mutter lässt erneut den Blick durch den Raum schweifen, studiert Stephs Seite und schnaubt dramatisch, weil die Deko so dunkel ist.
»Na gut«, zischt sie schließlich zu meiner großen Überraschung. »Aber vorher werden wir beide uns noch miteinander unterhalten.«
Nachdem meine Mutter mich eine Stunde lang vor Gefahren wie Partys und männlichen Studenten gewarnt hat – mit Formulierungen, die Noah und mir gleichermaßen unangenehm sind –, ist sie endlich bereit zum Aufbruch. Nach der für sie typischen kurzen Umarmung und einem schnellen Kuss verlässt sie das Zimmer, um im Auto auf Noah zu warten.
»Du wirst mir fehlen, wenn ich dich nicht mehr jeden Tag sehe«, sagt er leise und nimmt mich in den Arm. Seufzend atme ich das Eau de Cologne ein, das ich ihm die letzten zwei Jahre zu Weihnachten geschenkt habe. Der Duft ist nicht mehr ganz so intensiv wie vorhin, und mir wird bewusst, dass ich Noahs Geruch und das Gefühl der Geborgenheit und Vertrautheit, das er mir vermittelt, vermissen werde, egal, wie oft ich mich immer über sein Aftershave beschwert habe.
»Du wirst mir auch fehlen, aber wir telefonieren ja jeden Tag«, verspreche ich, während ich mich an ihn schmiege und die Nase an seinem Hals vergrabe. »Ich wünschte, du wärst jetzt auch schon hier.« Noah ist bloß ein paar Zentimeter größer als ich, aber mir gefällt, dass er mich nicht so überragt. Meine Mutter hat früher immer behauptet, ein Mann würde mit jeder Lüge zwei Zentimeter wachsen. Da mein Vater ziemlich groß war, kann ich ihrer Logik nicht widersprechen.
Sanft berühren Noahs Lippen meinen Mund … und genau in diesem Moment höre ich es draußen auf dem Parkplatz hupen.
Lachend löst er sich von mir. »Deine Mom. Die hat echt ein gutes Timing.« Rasch küsst er mich auf die Wange und läuft mit einem »Ich ruf dich heute Abend an!« hinaus.
Ich bleibe alleine zurück und denke kurz über seinen eiligen Abgang nach. Dann fange ich an, meine Taschen auszupacken. Kurz darauf liegt ein Teil meiner Kleider gefaltet in einer der kleinen Kommoden, der Rest hängt ordentlich in meiner Schrankhälfte. Schon beim Anblick der vielen Ledersachen und Animal Prints daneben wird mir ein bisschen mulmig. Trotzdem siegt die Neugier, und ich streiche vorsichtig über ein Kleid, das aus einer Art Metallstoff zu bestehen scheint. Ein anderes ist so hauchdünn, dass es kaum existiert.
Weil ich langsam die Erschöpfung des langen Tages spüre, lege ich mich aufs Bett. Ein ungewohntes Gefühl der Einsamkeit steigt in mir auf. Irgendwie schade, dass meine Mitbewohnerin jetzt auch weg ist, egal wie unwohl ich mich mit ihren Freunden gefühlt habe. Vermutlich wird sie ständig unterwegs sein oder, schlimmer noch, dauernd Besuch bekommen. Warum bin ich nicht bei jemandem gelandet, der auch gerne liest und lernt? Vielleicht ist es eine gute Sache, dass ich den kleinen Raum oft für mich alleine habe, aber irgendwie habe ich bei alldem kein gutes Gefühl. Bisher ist das College nicht das, was ich erwartet oder mir erträumt hatte.
Aber ich bin ja auch erst seit ein paar Stunden hier. Morgen wird es besser. Bestimmt.
Ich nehme mir meinen Terminkalender und die Bücher und notiere mir die Seminare in diesem Semester sowie die Termine des Literaturzirkels, dem ich vielleicht beitrete. Ich bin mir zwar noch nicht sicher, aber ich habe ein paar Online-Bewertungen gelesen und will auf jeden Fall mal reinschauen, denn es wäre schön, ein paar Leute zu treffen, die das Gleiche interessiert wie mich. Ich rechne gar nicht damit, hier wahnsinnig viele Freunde zu finden. Es würde mir schon reichen, ab und zu mal mit jemandem essen gehen zu können.
Am nächsten Tag will ich in die Stadt, damit ich noch ein paar Sachen für mein Zimmer besorgen kann. Auch wenn ich nicht vorhabe, meine Seite so vollzustopfen wie Steph, hätte ich trotzdem gerne das eine oder andere, um den fremden Ort mehr zu meinem zu machen, ein bisschen mehr zu einem Zuhause. Dass ich noch kein Auto besitze, macht die Sache allerdings schwierig. Je früher ich mir eins zulege, desto besser. Genug Geld dafür habe ich, durch die Geschenke zum Schulabschluss und meine Ersparnisse vom Sommerjob in der Buchhandlung, aber ich weiß nicht, ob ich jetzt den Stress eines eigenen Autos gebrauchen kann. Ich darf alle öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, weil ich auf dem Campus wohne. Ich habe schon die wichtigsten Busverbindungen herausgesucht. Mit Gedanken an Stundenpläne, rothaarige Frauen und unfreundliche Männer mit Tattoos schlafe ich schließlich mit dem Terminkalender in der Hand ein.
Am nächsten Morgen liegt Steph nicht in ihrem Bett. Ich würde sie ja gerne besser kennenlernen, aber das könnte schwierig werden, wenn sie nie da ist. Vielleicht ist einer der Typen, mit denen sie losgezogen ist, ihr Freund? Ich hoffe für sie, dass es der Blonde ist.
Mit der Kosmetiktasche mache ich mich auf den Weg zu den Duschräumen. Die Duschsituation im Wohnheim wird mir bestimmt nicht so gut gefallen. Ich wünschte, jedes Zimmer hätte ein eigenes Bad. Na ja, wenigstens gibt es getrennte Duschen …
Dachte ich zumindest. Wie wohl jeder andere auch. Aber als ich vor der Tür stehe, sind darauf zwei Strichmännchen abgebildet, ein männliches und ein weibliches. Ihhh. Wie können die so was zulassen? Und wieso habe ich das bei meinen Recherchen zur WCU nirgends gelesen?
Ich gehe schnell an den halb nackten Frauen und Männern vorbei zu einer freien Duschkabine und schließe den Vorhang, bevor ich mich ausziehe. Es dauert viel zu lang, bis warmes Wasser kommt, und die ganze Zeit über habe ich Angst, jemand könnte den dünnen Duschvorhang aufziehen, der meinen nackten Körper vor den anderen da draußen verbirgt. Niemand scheint sich daran zu stören, dass hier halb nackte Männer und Frauen herumlaufen. Bisher ist das Collegeleben wirklich sehr seltsam – dabei ist erst der zweite Tag.
Die Duschkabine ist winzig, mit einer kleinen Ablage für meine frischen Kleider und kaum genug Platz, die Arme auszustrecken. Automatisch muss ich an Noah und zu Hause denken. Als ich mich zerstreut umdrehe, stoße ich mit dem Ellbogen an die Ablage und befördere alle meine Klamotten auf den nassen Boden, wo das Wasser sie komplett durchweicht.
»Das glaub ich nicht!«, stöhne ich leise und drehe hektisch die Dusche ab. Das Handtuch um den Körper gewickelt, packe ich den Haufen schwerer, vollgesogener Kleider und eile den Gang hinunter zu meinem Zimmer, in der Hoffnung, dass mich niemand sieht. Mit zitternden Fingern schließe ich auf und atme erleichtert auf, als ich die Tür hinter mir zugezogen habe.
Bis ich mich umdrehe und den seltsamen Tattoo-Typen mit den braunen Haaren auf Stephs Bett liegen sehe.
»Äh … wo ist Steph?« Ich versuche, selbstbewusst zu klingen, aber meine Stimme ist eher ein Quieken. Ich kralle die Finger in den weichen Frotteestoff des Handtuchs und kontrolliere, ob es meinen nackten Körper auch wirklich bedeckt.
Der Typ sieht mich an. Zieht die Mundwinkel ein wenig hoch, sagt aber er kein Wort.
»Hast du mich gehört? Ich habe gefragt, wo Steph ist.« Ich versuche, dieses Mal etwas höflicher zu klingen.
Sein Lächeln wird breiter, und schließlich murmelt er: »Weiß nicht.« Dann schaltet er den kleinen Flachbildfernseher auf Stephs Schränkchen ein. Was macht der überhaupt hier? Hat der kein eigenes Zimmer? Ich beiße mir jedoch auf die Zunge.
»Okay? Könnest du vielleicht … rausgehen oder so, damit ich mich anziehen kann?« Es scheint ihm noch nicht aufgefallen zu sein, dass ich in ein Handtuch gewickelt bin. Oder vielleicht interessiert es ihn einfach nicht.
»Jetzt bilde dir bloß nicht ein, dass ich dir dabei zuschauen will«, spottet er, dreht sich auf die Seite und hält sich die Augen zu. Sein starker britischer Akzent war mir bisher gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich weil er es noch nicht für nötig gehalten hatte, mit mir zu sprechen.
Da ich mir unsicher bin, wie ich auf seine dreiste Bemerkung reagieren soll, schnaube ich bloß wütend und gehe zu meiner Kommode hinüber. Vielleicht ist er ja schwul. Was seine Aussage mit dem Nichtzuschauen erklären würde. Entweder das, oder er findet mich nicht attraktiv. Eilig ziehe ich Slip und BH an, gefolgt von einer schlichten weißen Bluse und khakifarbenen Shorts.
»Hast du’s bald?«, will er wissen. Da reicht es mir.
»Könntest du vielleicht noch ein bisschen unhöflicher sein? Ich habe dir nichts getan. Was ist dein Problem?!«, keife ich viel lauter als beabsichtigt, aber an seiner überraschten Miene gemessen haben meine Worte den gewünschten Effekt.
Einen Augenblick lang starrt er mich schweigend an. Und während ich noch auf seine Entschuldigung warte … fängt er an zu lachen. Sein Lachen ist tief und wäre eigentlich schön, wenn er selbst nicht so unangenehm rüberkäme. Tiefe Grübchen erscheinen in seinen Wangen. Ich komme mir wie eine komplette Idiotin vor und habe keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll. Normalerweise gehe ich Konflikten aus dem Weg, und dieser Typ scheint der Letzte zu sein, mit dem ich einen Streit anfangen sollte.
Die Tür öffnet sich, und Steph stürmt herein.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin, ich hab so einen krassen Kater«, verkündet sie theatralisch, während ihr Blick zwischen uns beiden hin und her wandert. »Sorry, Tess, ich hab ganz vergessen dir zu sagen, dass Hardin noch vorbeikommt.« Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Ich hatte ja gehofft, dass Steph und ich uns miteinander arrangieren würden, vielleicht sogar so etwas wie Freundinnen werden könnten, aber bei den Freunden und den langen Nächten bin ich mir nicht mehr so sicher.
»Dein Freund ist echt dreist.« Die Worte sind raus, bevor ich mich bremsen kann.
Steph blickt zu dem Typen hinüber. Dann fangen beide an zu lachen. Wieso machen sich alle über mich lustig? Das nervt langsam ganz schön.
»Hardin Scott ist doch nicht mein Freund! Also nicht so!« Steph verschluckt sich fast vor Lachen. Als sie sich beruhigt hat, sieht sie diesen Hardin streng an. »Was hast du zu ihr gesagt?« Dann zu mir: »Hardin hat eine, sagen wir mal, ungewöhnliche Art zu kommunizieren.«
Na, wunderbar. Das heißt ja wohl so viel wie: Hardin ist von Natur aus unverschämt. Der Engländer zuckt mit den Schultern und zappt auf einen anderen Kanal.
»Heute Abend gibts ’ne Party. Da solltest du mitkommen, Tessa«, meint Steph.
Jetzt bin ich an der Reihe mit Lachen.
»Partys sind nicht so mein Ding. Außerdem muss ich noch einige Sachen für meinen Schreibtisch und die Wände hier besorgen.« Ich sehe zu Hardin hinüber, der natürlich so tut, als wären wir gar nicht da.
»Nun komm schon … es ist doch nur ein einziger Abend! Du bist jetzt schließlich auf dem College – da wird eine Party schon keinen großen Schaden anrichten«, versucht sie mich zu überreden. »Aber warte mal, wie willst du überhaupt in die Stadt kommen? Ich dachte, du hast kein Auto?«
»Ich nehme den Bus. Außerdem kann ich nicht mitkommen – ich kenne doch niemanden.« Woraufhin Hardin wieder leise lacht. Also verfolgt er unsere Unterhaltung zumindest so weit, dass er sich über mich lustig machen kann. »Ich wollte lesen und mit Noah skypen.«
»Samstags den Bus zu nehmen ist keine gute Idee! Da ist er viel zu voll. Hardin kann dich ja mitnehmen, wenn er nach Hause fährt … oder, Hardin? Und heute Abend kennst du immerhin schon mal mich. Komm doch einfach … bitte!« Dramatisch faltet sie die Hände.
Ich kenne sie gerade mal einen Tag. Sollte ich ihr da vertrauen? Die Warnung meiner Mutter zum Thema Partys schießt mir durch den Kopf. Steph wirkt eigentlich total nett, auch wenn ich sie nur kurz erlebt habe. Aber eine Party?
»Ich weiß nicht … und, nein, ich will nicht, dass Hardin mich zum Shoppen fährt«, antworte ich.
Das scheint Hardin sehr zu amüsieren, denn er rollt auf Stephs Bett hin und her und sagt trocken: »O nein! Dabei hatte ich mich schon so darauf gefreut.« Sein Tonfall ist so sarkastisch, dass ich am liebsten ein Buch an seinen Lockenkopf werfen würde. »Lass gut sein, Steph, die Kleine kommt heute nicht mit«, meint er lachend. Sein Akzent ist so unüberhörbar, dass der neugierige Teil von mir – der zugegebenermaßen ziemlich groß ist – Hardin gerne gefragt hätte, wo er herkommt. Ein anderer Teil von mir würde diesem selbstgefälligen Typen gerne beweisen, dass er falschliegt.
»Obwohl, warum eigentlich nicht. Ich bin dabei«, sage ich so zuckersüß wie möglich. »Klingt, als könnte es ganz witzig werden.«
Während Hardin ungläubig den Kopf schüttelt, umarmt mich Steph und quietscht vor Freude.
»Super! Das wird cool!«, meint sie. Ich hoffe sehr, sie hat recht.
Ich bin froh, als Hardin endlich abzieht, damit Steph und ich über die Party reden können. Ich brauche mehr Details, damit ich mich entspannen kann, und dabei hilft seine Anwesenheit kein bisschen.
»Wo ist die Party denn? Kann man da hinlaufen?« Ich versuche, locker zu klingen, während ich meine Bücher ordentlich ins Regal räume.
»Um genau zu sein, ist es eine Verbindungsparty, in einem der größten Verbindungshäuser hier.« Mit weit geöffnetem Mund trägt Steph noch eine Extraschicht Wimperntusche auf. »Das liegt nicht auf dem Campus, deshalb holt Nate uns ab.«
Ich bin froh, dass es nicht Hardin ist, auch wenn mir klar ist, dass er da sein wird. Irgendwie ist die Vorstellung, bei ihm mitzufahren, unerträglich. Warum ist er so unhöflich und abweisend? Er sollte dankbar sein, dass ich ihn nicht gleich abschreibe, bloß weil er seinen Körper mit Tattoos und Löchern verunstaltet hat. Okay, vielleicht verurteile ich ihn schon etwas, aber zumindest zeige ich es ihm nicht. Ich bin wenigstens höflich, obwohl wir so unterschiedlich sind. Bei mir zu Hause sind Tattoos und Piercings nicht normal. Ich musste mir immer die Haare kämmen, die Augenbrauen zupfen und dafür sorgen, dass meine Kleidung sauber und gebügelt ist. So ist es nun mal.
»Hast du mich überhaupt verstanden?«, unterbricht Steph meine Gedanken.
»Äh, tut mir leid … was?« Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich schon wieder über ihn nachdenke.
»Ich habe gesagt, wir sollten langsam anfangen, uns anzuziehen. Du kannst mir dabei helfen, mein Outfit auszusuchen.«
Die Kleider, die sie aus dem Schrank holt, sind so was von unpassend, dass ich mich immer wieder umschaue, ob nicht irgendwo eine Kamera versteckt ist und gleich jemand herausspringt und sagt, dass alles nur Spaß war. Bei jedem einzelnen Teil zucke ich förmlich zusammen, was Steph zum Lachen bringt. Offensichtlich amüsiert sie das.
Das Kleid – nein, der kleine Stofffetzen, für den sie sich schließlich entscheidet, besteht aus einem schwarzen Netzoberteil, durch das ihr roter BH hindurchleuchtet. Ein blickdichter schwarzer Slip verhindert, dass man den Rest auch noch sieht. Das Kleid reicht ihr kaum bis zu den Oberschenkeln, aber sie zieht es trotzdem dauernd hoch, um mehr Bein zu zeigen, und dann wieder runter, damit der Ausschnitt tiefer wird. Ihre Absätze sind mindestens zehn Zentimeter hoch. Ihre feuerroten Haare steckt sie zu einem wilden Beehive auf, sodass ihr einzelne Locken bis auf die Schultern fallen. Ihre Augen sind mit noch mehr blauem und schwarzem Kajal umrandet als zuvor.
»Haben die Tattoos eigentlich wehgetan?«, frage ich sie, während ich mein rotbraunes Lieblingskleid aus dem Schrank ziehe.
»Das erste irgendwie schon, aber nicht so schlimm, wie man meinen würde. Es ist, als würde dich immer wieder eine Biene stechen«, meint sie schulterzuckend.
»Das klingt ja schrecklich.« Steph lacht. Mir kommt der Gedanke, dass sie mich vielleicht genauso seltsam findet wie ich sie. Dass es uns beiden ähnlich gehen könnte, ist irgendwie tröstlich.
Mit offenem Mund starrt sie mein Kleid an. »Das willst du aber nicht wirklich anziehen, oder?«
Ich streiche mit der Hand über den Stoff. Es ist mein schönstes Kleid, mein Lieblingskleid, und ich habe sowieso nicht sonderlich viele. »Was stimmt damit nicht?« Ich will mir nicht anmerken lassen, wie verunsichert ich bin. Der kastanienbraune Stoff ist weich, aber trotzdem fest, so ähnlich wie der von Hosenanzügen. Der Kragen schmiegt sich um meinen Hals, und die Ärmel enden knapp unter den Ellenbogen.
»Nichts … es ist nur so … lang«, meint Steph zögerlich.
»Es geht mir gerade bis übers Knie.« Ich weiß nicht, ob sie merkt, wie beleidigt ich bin, aber aus irgendeinem Grund will ich ihr das nicht zeigen.
»Es ist hübsch. Aber für heute vielleicht ein bisschen zu formell. Du könntest dir ja was von mir ausleihen«, schlägt sie ernsthaft vor. In mir zieht sich alles zusammen bei der Vorstellung, mich in eines ihrer winzigen Teile zu quetschen.
»Danke, Steph, das ist nett. Aber ich ziehe das hier an.« Mit diesen Worten schalte ich meinen Lockenstab ein.
Als schließlich meine Haare perfekt gelockt über den Rücken fallen, befestige ich links und rechts noch eine Klammer, damit sie mir nicht in die Stirn hängen.
»Möchtest du was von meinem Make-up haben?«, erkundigt sich Steph. Ich werfe noch einen Blick in den Spiegel.
Meine Augen wirken immer ein bisschen zu groß für mein Gesicht, aber ich verwende höchstens etwas Wimperntusche und Lipbalm.
»Vielleicht etwas Eyeliner?«, schlage ich vorsichtig vor.
Lächelnd reicht Steph mir drei Eyeliner: einen violetten, einen schwarzen und einen braunen. Unentschlossen, ob ich braun oder schwarz nehmen soll, spiele ich damit herum.
»Violett würde toll zu deinen Augen passen«, behauptet Steph, doch ich schüttle lächelnd den Kopf. »Sie sind wirklich außergewöhnlich – wollen wir tauschen?«, scherzt sie.
Aber Steph hat wunderschöne grüne Augen. Weshalb sollte sie überhaupt daran denken, mit mir zu tauschen? Mit dem schwarzen Stift ziehe ich auf Ober- und Unterlid einen möglichst dünnen Strich, und Steph lächelt stolz.
Als ihr Handy vibriert, schnappt sie ihre Clutch. »Nate ist da«, sagt sie. Ich streiche mir das Kleid glatt und schlüpfe in meine flachen weißen Toms, die Steph zwar kritisch beäugt, aber nicht kommentiert.
Nate hat direkt vor dem Gebäude geparkt. Aus den offenen Fenstern dröhnt lauter Hard Rock. Als ich mich vorsichtig umsehe, stelle ich fest, dass uns alle anstarren. Also senke ich rasch den Kopf, und als ich wieder aufblicke, entdecke ich Hardin auf dem Beifahrersitz. Hmpf!
»Ladys«, begrüßt uns Nate.
Hardin mustert mich unverhohlen, als Steph und ich hinten einsteigen. »Theresa, du weißt aber schon, dass wir auf eine Party gehen und nicht in die Kirche?« Im Seitenspiegel sehe ich, dass er breit grinst.
»Nenn mich bitte nicht Theresa. Ich bevorzuge Tessa«, warne ich ihn. Woher weiß er überhaupt, dass ich so heiße? Theresa erinnert mich immer an meinen Vater, deshalb mag ich es nicht.
»Aber gerne doch, Theresa.«
Ich verdrehe die Augen. Dann beschließe ich, dass dieses Hin und Her reine Zeitverschwendung ist.
Also starre ich während der Fahrt stattdessen aus dem Fenster und versuche, die laute Musik auszublenden. Nate parkt schließlich an einer befahrenen Straße, die von großen, identisch aussehenden Häusern gesäumt wird. Obwohl der Name der Burschenschaft in großen schwarzen Buchstaben auf der Mauer prangt, kann ich ihn nicht richtig lesen, weil Efeuranken diese Seite des riesigen Gebäudes vor uns überwuchern. Wie es sich offenbar für eine typische Verbindungsparty gehört, hängen überall Toilettenpapierstreifen aus dem Fenster, und der Lärm passt auch.
»Wie viele Leute sind da denn?«, frage ich erschrocken. Auf dem Rasen vor dem Haus stehen jede Menge Leute mit roten Bechern in der Hand. Einige tanzen, einige liegen im Gras herum. Das hier ist eindeutig eine Nummer zu groß für mich.
»Volles Haus, beeil dich«, antwortet Hardin beim Aussteigen und knallt die Autotür hinter sich zu. Vom Rücksitz aus beobachte ich, wie mehrere Leute Nate mit High Five und Handschlag begrüßen, Hardin jedoch ignorieren. Was mich überrascht, ist, dass ich außer Hardin, Nate und Steph niemanden mit Tattoos entdecken kann. Vielleicht finde ich hier heute Abend ja doch noch ein paar Freunde.
»Kommst du?« Lächelnd öffnet Steph die Autotür und hüpft raus.
Ich nicke, mehr zu mir selbst, und streiche nach dem Aussteigen schnell noch einmal mein Kleid glatt.
Hardin ist bereits verschwunden, was ich toll finde, denn vielleicht muss ich ihn dann für den Rest des Abends nicht mehr sehen. In Anbetracht der vielen Menschen ist das sogar ziemlich wahrscheinlich.
Ich folge Steph und Nate in das volle Wohnzimmer, wo mir jemand einen roten Becher reicht. Als ich mit einem höflichen »Nein danke« ablehnen will, ist es schon zu spät, und ich habe keine Ahnung, wer ihn mir gegeben hat. Also stelle ich ihn auf einen Tisch und gehe mit den beiden anderen weiter durchs Haus, bis wir zu einigen Leuten kommen, die um eine Couch herumstehen. Dem Aussehen nach zu urteilen sind es vermutlich Freunde von Steph, denn sie haben auch alle Tattoos. Leider hockt Hardin auf der rechten Sofalehne, aber ich vermeide es, ihn anzusehen, als Steph mich der Gruppe vorstellt.
»Das ist Tessa, meine neue Mitbewohnerin. Da sie gestern erst hier angekommen ist, wollte ich dafür sorgen, dass sie an ihrem ersten Wochenende an der WCU Spaß hat.«
Einer nach dem anderen nickt mir zu oder lächelt mich an. Sie wirken alle total freundlich, abgesehen von Hardin natürlich. Ein ziemlich gut aussehender Kerl mit olivbraunem Teint schüttelt mir die Hand. Sie ist zwar kühl von seinem Getränk, aber sein Lächeln dafür warm. Ich glaube, etwas Metallisches an seiner Zunge aufblitzen zu sehen, aber bevor ich mich vergewissern kann, hat er den Mund auch schon wieder geschlossen.
»Ich bin Zed. Was studierst du denn?«, erkundigt er sich. Ich merke, wie sein Blick über mein weites Kleid wandert, doch er grinst nur leicht und sagt nichts.
»Englisch«, erwidere ich stolz und lächle. Hardin schnaubt, aber ich ignoriere ihn einfach.
»Super«, meint Zed. »Ich interessier mich für Blumen.« Weil er lacht, lache ich kurz mit.
Blumen? Was soll das denn?
»Magst du was trinken?«, fragt er mich, bevor ich mich weiter nach den Blumen erkundigen kann.
»Äh, nein danke. Ich trinke keinen Alkohol.« Zed versucht, sein Lächeln zu verbergen.
»Typisch Steph, eine verwöhnte Prinzessin mitzuschleifen«, murmelt ein zierliches Mädchen mit pink gefärbten Haaren.
Ich versuche so zu tun, als hätte ich nichts gehört. Verwöhnte Prinzessin? Ich bin weder verwöhnt, noch eine Prinzessin, aber ich habe hart dafür gearbeitet und viel gelernt, um dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin, und seit mein Vater uns verlassen hat, schuftet meine Mutter wie eine Blöde, um mir eine gute Zukunft zu ermöglichen.
»Ich geh mal an die frische Luft«, sage ich, denn ich will unbedingt ein Drama vermeiden. Solange ich hier noch nicht mal Freunde habe, will ich mir keine Feinde machen.
»Soll ich mitkommen?«, ruft Steph mir hinterher.
Ich schüttle den Kopf und steuere auf die Tür zu. Ich hätte nicht herkommen sollen. Stattdessen könnte ich jetzt gemütlich im Pyjama im Bett liegen und ein Buch lesen. Ich könnte mit Noah skypen, der mir unheimlich fehlt. Selbst schlafen wäre besser, als hier draußen mit ein paar Betrunkenen, die ich noch nicht einmal kenne, herumzusitzen. Ich beschließe, Noah zu schreiben. Da es der ruhigste Ort zu sein scheint, gehe ich zum Rand des Vorgartens hinüber.
Ich vermisse dich. Bisher ist das College nicht so toll. Dann setze ich mich dort auf die Steinmauer und warte. Ein paar Mädels, die ganz schön voll sind, laufen kichernd vorbei, wobei sie fast über ihre eigenen Füße stolpern.
Noah antwortet fast sofort: Warum denn nicht? Ich vermiss dich auch, Tessa. Ich wünschte, ich wär bei dir. Bei seinen Worten muss ich lächeln.
»Scheiße, sorry!«, lallt eine Männerstimme neben mir. Eine Sekunde später spüre ich, wie kalte Flüssigkeit vorne mein Kleid durchnässt. Der Typ stolpert wieder und hält sich an der Mauer fest. »Meine Schuld, echt«, murmelt er und setzt sich.
Schlimmer kann diese Party nicht mehr werden. Zuerst bezeichnet mich dieses Mädchen als verwöhnt, und jetzt ist mein Kleid voll von irgendeinem Alkohol und was immer sonst noch – es stinkt echt. Seufzend mache ich mich mit meinem Handy in der Hand auf den Weg nach drinnen, um ein Badezimmer zu suchen. Im überfüllten Flur probiere ich jede Tür aus, aber keine gibt nach. Ich will gar nicht erst darüber nachdenken, was die Leute in den Zimmern dahinter treiben.
Schließlich setze ich meine Suche nach einem Bad im ersten Stock fort. Endlich lässt sich eine der Türen öffnen. Leider ist es kein Badezimmer, sondern ein Schlafzimmer und – noch unerfreulicher – eins, in dem Hardin quer über dem Bett liegt, während das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren rittlings auf ihm sitzt und ihn küsst.
Sie dreht sich um und sieht mich an, doch ich stehe da wie festgewachsen. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, zischt sie.
Hardin setzt sich unter ihr auf. Seine Miene ist ausdruckslos – weder amüsiert noch peinlich berührt. Wahrscheinlich tut er so was dauernd. Wahrscheinlich ist er daran gewöhnt, beim Sex mit irgendwelchen Frauen erwischt zu werden.
»Äh … nein. Tut mir leid, ich … ich bin auf der Suche nach einer Toilette. Jemand hat seinen Drink über mich geschüttet«, erkläre ich hastig. O Mann, ist das peinlich! Als sie anfängt, Hardins Hals abzuknutschen, sehe ich schnell weg. Die zwei scheinen gut zusammenzupassen. Beide tätowiert, beide dreist.
»Noch was? Such weiter!« Sie verdreht die Augen. Ich nicke, verlasse eilig das Zimmer und lehne mich einen Moment lang mit klopfendem Herzen an die geschlossene Tür. Bisher macht das College wirklich keinen Spaß. Ich kann einfach nicht fassen, dass eine Party wie diese irgendwie toll sein soll. Statt weiter nach einem Badezimmer zu suchen, beschließe ich, mich lieber in der Küche sauber zu machen. Auf gar keinen Fall will ich noch mal eine Tür öffnen und zugeknallte, hormongesteuerte Collegestudenten im Bett erwischen.
Die Küche ist nicht schwer zu finden, aber es ist die Hölle los, weil hier in Eimern mit Eiswürfeln der Alkohol steht. Türme aus Pizzaschachteln stapeln sich auf der Arbeitsplatte. Um an ein Papierhandtuch zu kommen und es nass zu machen, muss ich um eine Brünette herumgreifen, die gerade ins Spülbecken kotzt. Als ich mit dem Tuch über mein Kleid reibe, bleiben kleine weiße Fussel auf dem nassen Fleck kleben, was es nur noch schlimmer macht. Ich stöhne frustriert.
»Na, amüsierst du dich gut?«, erkundigt sich Nate, der neben mir auftaucht. Ich bin erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Noch dazu lächelt er mich freundlich an.
»Nicht wirklich … wie lange dauern denn solche Partys normalerweise?«
»Die ganze Nacht … und den halben nächsten Tag.« Er lacht, als ich ihn anstarre. Wann wird Steph wohl gehen wollen? Hoffentlich bald.
»Warte!« Langsam bekomme ich Panik. »Wer fährt uns eigentlich zurück?«, will ich von ihm wissen, da mir auf einmal seine blutunterlaufenen Augen auffallen.
»Weiß nicht … du kannst mein Auto nehmen, wenn du willst.«
»Das ist sehr nett, aber das geht nicht. Falls ich einen Unfall habe oder man mich anhält und ich Minderjährige im Auto habe, die getrunken haben, bekomme ich ziemlichen Ärger.« Ich kann mir das Gesicht meiner Mutter nur zu gut vorstellen, wenn sie mich gegen Kaution aus dem Knast holt.
»Ach was, es ist ja nicht weit – nimm einfach meinen Wagen. Du hast ja nicht mal was getrunken. Ansonsten musst du halt hierbleiben, oder ich kann mal rumfragen, ob irgendjemand –«
»Nein, nicht nötig. Ich kümmere mich selber drum«, kann ich gerade noch sagen, bevor jemand die Musik voll aufdreht und so ziemlich alles in Bässen und Gejohle untergeht.
Meine Entscheidung, auf diese Party zu gehen, kommt mir immer dämlicher vor, je später es wird.