Eberhard Schiel
Der Hafen meiner Träume
Stralsund in den fünfziger Jahren
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel: Zwischenstation
2. Kapitel: Die neue Bleibe
3. Kapitel: Vorurteile
4. Kapitel: Originale
5. Kapitel: Die Leinwand ist meine Schultafel
6. Kapite:l Das neue Radio
7. Kapitel: Zeitungsschau mit einem Maikäfer
8. Kapitel: Besuch bei Tante Deti
9. Kapitel: Die Tote auf der Themse
10. Kapitel: Träume am offenen Fenster
11. Kapitel: Orchesterprobe im Schlafzimmer
12. Kapitel: Die Einsegnung
13. Kapitel: Die Schubladen in meinem Kopf
14. Kapitel: Mutters Haushaltstag
15. Kapitel: Mittelklasse in der Mittelschule
16. Kapitel: Winter auf dem Frankenteich
17. Kapitel: Die Bewerbung
18. Kapitel: Das Karussell dreht sich weiter
19. Kapitel: Die heilsame Wirkung des Wassers
20. Kapitel: Reifeprüfung
21. Kapitel: Das Trebelobjekt
22. Kapitel: Vom Schüler zum Lehrling
23. Kapitel: Urlaub im Zelt an der Ostsee
Epilog
Impressum neobooks
Ein wunderschöner Tag im September des Jahres 1954. Wir packen unsere Koffer und ziehen in die Stralsunder Lambert-Steinwich-Straße. Mutti strahlt über das ganze Gesicht. Hier wollte sie schon immer mal wohnen. Wenn sie früher mich früher an die Hand nahm und wir beide vom Hühnerberg über die Fährhofstraße in das Bürgermeister-Viertel einbogen, um dann gemeinsam weiter über den Weidendamm in die Stadt zu gehen, sagte sie, wie herrlich leben die Leute hier! Die haben sogar alle einen Vorgarten, und hinter dem Haus eine Terrasse und noch einen Gemüsegarten, und wir? Wir hausen seit Jahren in einem jämmerlichen Katen. Wann hört das endlich auf! Ab heute soll es nun alles anders werden. Wir steigen in eine höhere Liga auf, vergessen die Vergangenheit, und freuen uns auf die Zukunft, denn die Wohnung ist ausbaufähig. Mein Gedächtnis noch nicht. Es klammert sich an die Vergangenheit, hat das Schlechte auf dem Hühnerberg fast schon wieder vergessen, denkt nur an die tollen Spiele und die wilden Streiche, die man dort erlebt hat. Mutti fragt, Bübi, was ist los mit Dir? Sieh mal, jetzt brauchst Du nicht mehr im Winter über den kalten Hof aufs Plumpsklo. Wir haben jetzt Wasser-Spülung, Toilette auf dem Flur, das ist doch prima, oder? Ein besserer Trost fällt ihr nicht ein. Mir ist flau im Magen. Ich suche die neue Sanitär-Technik auf. Da sitzt man nun, bilanziert, rechnet mit Plus und Minus, Soll und Haben, Vorteilen und Nachteilen, so als ob man gerade den Kaufmannsladen öffnen würde. Man sieht wieder die Bilder vom Hühnerberg vor sich, die Freunde Dieter und Häse, Herbert und Volker und Peter, und die kleine Freundin Helga, und Lindi. Dieter stakt auf Stelzen wie ein Riese durch die Zwergen-Landschaft des holprigen Hühnerbergs. Wir machen Theater, veranstalten Roller-Rennen, lassen die Kugeln aus Ton, Glas und Stahl ins Loch an der Häuserwand rollen, klettern auf die Bäume des Friedhofs, bauen Zelte, kämpfen gegen imaginäre Feinde, spielen Fußball, streiten und lieben, weinen und lachen, und alles auf kindliche Art. Die Sehnsucht wächst in mir nach dem freien, ungezügelten Leben auf dem Hühnerberg. Was hat dagegen die Lambert-Steinwich-Straße zu bieten? Gleichförmig aneinander gereihte Häuser aus Backstein, auf beiden Seiten. Wie mit der Schnur gezogen. Ein langweiliges Gelände, dazu völlig baumlos. Wer wohnt überhaupt in dieser Straße? Was sind das für Leute? Das interessiert mich schon. Ein Blick in Vaters Einwohner-Jahrbuch für 1937 gibt Auskunft, wer zu damaligem Zeitpunkt hier zu Hause war. Da hieß sie noch Hans-Rose-Straße. Hier sind sie, die kleinen und mittleren Beamten, der Justizangestellte Strötges, der Herr Postinspektor Albrecht, der Lehrer Knebusch, der Revisor Jenz, der Bankbeamte Nagel und der Kontrolleur Demmin, und wie sie sonst noch alle hießen. Für sie wurde das Gelände Mitte der 20-er Jahre aufbereitet, erst als Füllenwiese, dann Mülldeponie und ab 1926 Bauland. Einige der Erstbewohner sind noch in ihren alten Wohnungen anzutreffen. Man lernt sie bei der einen oder anderen Gelegenheit kennen, andere Hausbesitzer haben das Erbe der Väter angetreten. Auf jeden Fall stellen die Beamten immer noch das Gros der Bewohner dieser Straße. Komisch. Früher gehörten wir selbst zu diesem Menschenschlag, auf dem Hühnerberg wurden wir proletarisiert, und nun gerät der Rest meiner Familie wieder unter die Kleinbürger. Mir ist das gar nicht recht, auch überhaupt nicht lustig, von so viel strengen Leuten, von berufsmäßigen Kontrolleuren und Inspektoren umgeben zu sein. Man bildet sich ein, sie säßen hinter dem Fenster im dicken Rentnersessel und beobachten jeden deiner Schritte. Die Pensionäre haben doch sicher Langeweile, schielen gar mit großen Radaraugen in unsere Stube, was wir da so anstellen, wer weiß? Ich bin auf jeden Bürger dieses sorgfältig erbauten Backstein-Viertels erst einmal mißtrauisch eingestellt. Doch ohne Freunde geht es nun mal nicht. Man muß, völlig ungewohnt, Kompromisse machen. Also, junge Burschen von 13 Jahren, wo seid ihr? Fehlanzeige. Keine zu entdecken. Da fängt es schon an. Die Suche wird auf Eis gelegt. Beginnen wir bei unseren Wirtsleuten. Herr Leewe ist 1. Verkäufer bei Sack-Lange gewesen. Jetzt genießt er den Ruhestand. Ein ruhiger, friedfertiger Mensch. Er erzählt gern von seinen Erlebnissen aus dem Ersten Weltkrieg, wenn seine Frau in der Küche zu tun hat. Sonst steht er gewöhnlich unter der Fuchtel seiner Frau, wie Mutter es ausdrückt, aber ist sie außer seiner Reichweite, dann fängt er an zu erzählen. Ich höre ihm gerne zu. Er kann so wunderbar erzählen. Heute steht die Geschichte mit der ersten Patrouille auf seinem Programm:
“Ich habe den Weltkrieg an der Westfront mitgemacht. Eigentlich hatte ich mir geschworen nie eine Waffe in die Hand zu nehmen, aber als unser Kaiser diesen Krieg für unvermeidlich hielt, die Geistlichen ihn segneten und die Freiwilligen “Hurra!” schrien, da bin auch gern ins Feld gezogen. Was galt denn in dieser bewegenden Zeit noch ein Zivilist. Man wäre als Feigling abgestempelt worden. Und das wollte ich auf keinen Fall sein. Nun, ich gehörte einer Spezialeinheit an, war in Koblenz als Abhörfunker ausgebildet worden. Später lagen wir an der Westfront, in der Nähe von St. Quentin. Bisher hatte mich der Tod nur einmal kurz gestreift, als ich in der Stadt aus einem Bücherladen kam und plötzlich Granatfeuer einsetzte. Der Tod grüßte mich und ich grüßte zurück. Das war es. Danach alles wie bisher. Ein Tag glich dem anderen. Eine gewisse Eintönigkeit machte sich breit. Wir vertrieben uns die Langeweile, so gut es eben im Stellungskrieg ging. Ich fertigte einen Kalender an, Bilderrahmen aus Pappe, Lichtschalter aus Draht. Sogar ein dreibeiniges Gestell für einen Topf zum Aufwärmen des Kaffees. Ja, selbst ein Kaffeesieb aus Konservendosen, und ein Dame-und Mühlespiel. Und dann schrieb ich fast jeden Tag einen oder mehrere Briefe, an zu Hause, und an die Freunde, die im Osten standen, an meinen Verein. So vergingen die Tage. Man glaubte schon, der Krieg hätte uns vergessen. Dann kam die Angst wie ein schleichendes Gespenst auf mich zu. Ich kehrte gerade von einem Gang durchs Dorf zur Kompagnie zurück. Es war Abenddämmerung. Alles schien wieder so hübsch ruhig zu werden. Ich freute mich schon auf einen flotten Skatabend mit meinen Kameraden. Da lief mir unser Kompanieführer Maier über den Weg. Er musterte mich mit einem geringschätzigen Blick, fragte mit arroganter Stimme: “Leewe, trauen Sie sich zu, heute Nacht auf Patrouille zu gehen? Aber sicher ist das nichts für Sie. Sie sind doch Schneider von Beruf. Da haben Sie gleich die Hosen voll, waa?” Er lachte über seinen billigen Witz. Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpaßt. Statt dessen salutierte ich vor meinem Vorgesetzten. Ich meldete: “Soldat Leewe für Patrouille bereit, Herr Leutnant!” Leutnant Maier machte ein verdutztes Gesicht. Er sagte: “Leewe, Sie gehen auf Patrouille? Also, gut, nehmen Sie Müller und Schneider mit. Der Tommy macht uns Kummer. Er ballert mit seiner Artillerie wie verrückt. Soll auch in unserem Abschnitt irgendwo auf der Lauer liegen. Kundschaften Sie das aus!” Ich fragte: “Kann ich noch kurz eine Abschiedskarte an meine Mutter schreiben, falls...” Leutnant Maier genehmigte mir zehn Minuten. Ich setzte mich hin und schrieb sinngemäß:
Liebes Mütterchen! Trotzdem ich sonst Gegner des Freiwillig melden gewesen bin, habe ich mich doch entschlossen heute eine Patrouille mitzumachen. Ich sage mir, wenn mir eine Kugel bestimmt ist, dann ist es ja ganz gleich, wann ich sie erhalte. Hat der Herrgott die Absicht, mich nach dem Kriege gesund heimzuführen, dann kann ich heute Abend auch ruhig mitgehen. Einer muß ja doch mit, und bisher habe ich immer gekniffen. Da ich ja nicht weiß, was mir bevorsteht, will ich noch einige Zeilen schreiben. Wenn ich fallen sollte, was Gott verhüten möge, klage nicht um mich. Du hast ja noch vier Kinder, denen Du Dich um so mehr widmen kannst. Ich gehe gefaßt nach vorn. Wenn ich fallen sollte, und dies ist möglich, laßt mich in die Heimat überführen. Es wird Euch selbst sehr lieb sein, wenn ihr mein Grab pflegen könnt. Mein Sparkassenbuch liegt noch auf der Kasse. Die 200 Mark habe ich mit Sammeln von Messing, Kupfer und Munition verdient. Dies Geld ist die Grundlage für die Kosten der Überführung. Wenn ich in Gefangenschaft gerate, danket Gott, daß er mich gnädig beschützt.
Ich hatte gerade den Schlußpunkt unter den theatralischen Brief gesetzt, da klopfte mir Wachtmeister Grünberg auf die Schulter. Er sagte: “So, Leewe, los komm, es ist soweit.” Ich kroch aus dem Unterstand. Draußen war die Luft frisch, und der Mond blinzelte mich durch eine dicke Wolke an. Ich besprach die Patrouille mit Grünberg und Kotte. Unterdessen ging der Mond unter. Einer unserer Posten machte: “Psst! Da vorn hat sich was bewegt.” Ich sah scharf in die Richtung und glaubte etwas Dunkles wahrzunehmen. Der Tommy etwa? Wir krochen, das Gewehr bereit, sehr vorsichtig aus dem Graben. Das Schwarze wurde deutlicher, aber auffallend dünn. So dünn können selbst die Tommys nicht sein, dachte ich. Es handelte sich um einen Holzpfahl. Wir mußten uns halblinks halten. Wir traten leise auf. Das Gras war feucht und raschelte nur ein wenig. “Nur keine schlenkernden Bewegungen machen”, flüsterte Kotte. “Dann entdecken Sie uns.” Wir gingen weiter. Den oberen Rand des Waldes sah ich schon deutlicher gegen den Himmel. Deshalb duckte ich mich langsam und kroch dann auf allen Vieren. Dort schien etwas zu sein. Das Ding vor mir war zu niedrig für einen Soldaten. Ich war auf zwei Schritt heran. Es war sehr dunkel. Ich griff zu. Hatte eine Schlafdecke mit einem Tornister darunter erwischt. Mitten in die Stille hinein ratterte plötzlich ein Maschinengewehr. Dann ein zweites, ein drittes. Wir gerieten unter Beschuß. Wachtmeister Grünberg und Unteroffizier Kotte krochen in ein Granatloch. Ich ging zurück, gelangte zu weit nach links, kam vor ein Stacheldraht-Verhau, rief unsere Parole, schrie in die Nacht hinein: “Dünaburg!” Die Antwort überraschte mich. Jemand fragte: “Who are you?” Ääh, der Tommy? Ich antwortete spontan: “Oh, oh”, und lief so schnell mich meine Beine tragen konnten. Die nachgesandten Kugeln verfehlten ihr Ziel, man hatte das Objekt zu hoch im Visier angesetzt. “Schießen können die auch nicht”, murmelte ich vor mich hin. Aber wo waren meine Kameraden abgeblieben? Ich irrte weiter durch den dunklen Wald, suchte hier, und suchte da, stolperte und fluchte, kam noch zweimal zwischen beide englischen Verhaue, wurde wieder befeuert, meine Brille ging verloren, die Hose war zerrissen, die Uniform über und über mit Lehm verschmiert, und zu guter Letzt hätten meine eigenen Landsleute um ein Haar noch zur Begrüßung eine Handgranate auf mich geworfen, doch dieses Mal stimmte die Parole: “Dünaburg”. Am nächsten Tag erhielt ich das E.K. I, wegen besonderer Tapferkeit vor dem Feind. Ich stand mit Stolz erfüllter Brust vor meinem Leutnant. Er heftete mir den Orden an die Uniform. “Gut gemacht”, knirschte er durch die Zähne. Auch mein Kamerad Müller klopfte mir auf die Schulter. Alle waren so nett zu mir. Ach ja, und das muß ich Euch auch noch erzählen, fuhr Her Leewe fort.
Doch dazu kam er nicht mehr. Es klopfte an unsere Wohnungstür. Frau Leewe stand im Türpfosten, stemmte die dicken Hände wie ein Korporal in die Hüften und zischte: “Erzählst Du wieder Deine ollen Kamellen aus dem Ersten Weltkrieg. Hör auf damit. Das interessiert Frau Schiel doch gar nicht. Komm lieber mal mit in den Keller und repariere den Lichtschalter. Ich hocke da mit der Taschenlampe, und Du, Du spielst hier oben den Helden!” Oh, mit Frau Leewe war kein gutes Kirschen essen. Ihr Mann wagte nicht zu sagen: “Na, dann bis zum nächsten Mal!” Mit allen hatte er seinen Frieden geschlossen, nur mit seiner eigenen Frau ging das nicht. Aber das waren nur so seine Gedanken im verborgenen Winkel der Gefühle. Wieder auf dem Boden der Tatsachen stehend, gibt er uns artig die Hand, geht folgsam in den Keller und werkelt dort ein wenig herum, um sich abzulenken. Dafür übernimmt nun Frau Leewe in unserer Stube das Kommando. Sie erteilt meiner Mutter die Order, wann sie bei ihr in der Küche kochen darf und wann nicht, wo die Wäsche aufzuhängen ist, wie lange Besuch empfangen werden kann, und dergleichen. Ein Wort reibt sich am anderen. Mutter ist auch nicht auf den Kopf gefallen, hat Haare auf den Zähnen, und so wird der Krieg, den Herr Leewe gerade abrupt beenden mußte, nun unter Frauen mit anderen Mitteln fortgesetzt. Und mein Bruder, in Gedanken ganz wo anders, greift in diesem Wortgefecht Mutter nicht unter die Arme, so daß Frau Leewe triumphierend sagen kann: “Noch bestimme immer noch ich, was in meinem Haus geschieht!” Mit diesen gewaltigen Worten knallt sie die Tür zu. Die dicke Luft droht nun über uns Brüder zu kommen. Mutti, in ihrer Rage, sagte eine Vokabel in falschem Englisch. Wölfi verbessert sie. Das ist zu viel. Ring frei zur ersten Runde! Meine Heimerzieherin tritt kampfentschlossen in den Ring. Warum sie ausgerechnet gegen einen gestandenen Boxer antreten will, ist mir schleierhaft. Jedenfalls rennt sie an unserem kantigen Tisch hinter Wölfi her, um ihn zu versohlen. Er geht mit 20 Jahren an den Start, Mutter zählt 52 Lenze. Ein ungleiches Duell. Beinahe hätte sie den jungen Boxer doch erwischt, aber ich werfe mich dazwischen. Die Ohrfeige, die mich nur streift, hat eher moralischen Wert als daß sie als körperliche Strafe verstanden werden kann. Frau Schiel sinkt stöhnend in ihren Lehnstuhl. Der Angriff hat sie völlig erschöpft. Ihr bleibt die Puste weg, sie ist in einem bemitleidenswerten Zustand. Trotzdem muß Muttis ungebührliches Verhalten gegenüber meinem leiblichen Bruder bestraft werden. Ich denke mir eine empfindliche Rache aus. Wie wäre es, wenn man sie durch eine künstlich erzeugte Erkältung in Unruhe versetzen würde. Ich lege mich trotzig zu Bett, mit dem Rücken zur kalten Außenwand, ziehe heimlich mein Nachthemd aus und wünsche mir eine Krankheit. Was darf`s denn sein? Etwa eine leichte Lungenentzündung oder eine schwere Grippe. Über die Erfüllung dieses Wunsches und deren Folgen noch ein wenig nachdenkend, schlafe ich ein. Am nächsten Morgen will ich unbedingt mit starken 40 Grad Fieber aufwachen. Es klappt nicht. Bei einer ersten Messung zeigt das Thermometer leider nur 37,2 Grad an. Ich bin ohne Befund. Die Bestrafung fällt aus, der Friede läßt nicht lange auf sich warten, wir amüsieren uns über unsere eigene Dummheit, die uns Frau Leewe eingebrockt hat. Mein Bruder scheint auch nicht nachtragend zu sein. Er ist nur sichtlich überrascht worden, als Mutti zu einem Mittel griff, welches sie nie zuvor angewandt hatte und auch in Zukunft nicht mehr anzuwenden gedenkt. Zum äußeren Zeichen eines befriedeten Familienlebens gehört bei uns immer ein Gesellschaftsspiel. Sonst spielten wir meist “Mensch-Ärger-Dich-Nicht”, aber zu meinem 12. Geburtstag hatte ich ein neues Würfelspiel erhalten, das erst seit kurzem in den Handel gekommen war. Es heißt:”Gute Fahrt durch unser deutsches Vaterland!” Jeder Teilnehmer nimmt sich einen Kleinwagen aus Plaste, ohne Motor, und setzt ihn an den Start, zur Fahrt von Berlin nach München. Dann wird gewürfelt, wie beim “Menschi”, und entsprechend der Zahl rückt der rote, gelbe, blaue oder rote Wagen einige Felder vor. Herrlich, wir haben zwar nur sehr entfernte Verwandte im Westen, die uns auch nie einladen, aber nun lernen wir, ohne Fernsehen, doch noch den anderen Teil Deutschlands kennen. Mutti führt das Rennen an, dicht gefolgt von Schwester Inge. Mein Bruder hat gleich Schwierigkeiten am Start. Zu allem Unglück gerät er bald auf das Sonderfeld 49: “Dresden, berühmte Stadt an der Elbe (Zwinger). Nimmt einen Tag freiwillig am Wiederaufbau der Stadt teil. Zweimal aussetzen!” - Er schmunzelt. Ich weiß, warum. Vor etlichen Wochen hat er in Prerow als Betreuer des Pionierzeltlagers “Kim Ir Sen” eine fesches Mädel aus Dresden kennengelernt. Sie schreiben sich schon, machen Pläne für die Zukunft. Wahrscheinlich wird er nach dem Studium dort hinziehen, wie ich der Korrespondenz entnehme. Ein Foto von Christine habe ich auch entdeckt. Sie sieht aus wie Lieselotte Pulver in dem Film “Ich denke oft an Pirotschka”. Mutti darf anscheinend noch nichts von Wölfis erster Liebe erfahren. Sie ist nicht eingeweiht worden. Das ist auch gut so, sonst glaubt sie womöglich noch, die Dresdnerin will ihr den besten Kader in unserer Familie wegschnappen. Jedenfalls wird Mutter aus seinem geheimnisvollem Lächeln nicht schlau. Während mein Bruder also aus gutem Grund gerne aussetzt, um am Wiederaufbau seines zukünftigen Wohnsitzes teilzunehmen, fahre ich wie ein Ausweisfahrer im mittleren Abschnitt des Feldes mit. Dann ändert sich das Bild. Der Große wird schneller, Inge fällt zurück. Wir liegen jetzt Heck an Heck. Mutti sieht ihre Verfolger schon im Rückspiegel. Sie dreht noch einmal auf, volle Pulle, will unbedingt als Erste über die Zonengrenze, ist schon in Bayern, und da passiert es. Sie würfelt eine Sechs, muß ihr Auto auf das Sonderfeld 54 schieben, wo geschrieben steht: “Hof, hat zu viel Kulmbacher Bier getrunken und darf nicht weiterfahren. (Alkoholverbot für Kraftfahrer) Mutti schimpft wie ein Rohrspatz. Sie sagt: “So ein Quatsch, ich trinke überhaupt keinen Alkohol, schon gar kein Bier, höchstens mal ein Gläschen Wein, aber das ist auch schon alles. Und da kommen die Bayern mir mit solch einem Vorwurf.” Oh, unsere Mutter ist in Harnisch. Wölfi versucht sie zu besänftigen, bloß nicht schon wieder einen Streit vom Zaune brechen. Er erklärt ihr die Verkehrsregeln, obwohl er passionierter Fußgänger ist und nie, auch nicht eine Sekunde lang, ein fremdes Fahrzeug in Gang gebracht hat. Er ist eben ein Theoretiker. Er meint: “Muttchen, die Regeln haben nicht wir erfunden. Die sind hier so, das ist auch nur ein Spiel, wir können dich nicht weiter in der Spur lassen. Du mußt ausscheiden.” Halb sieht Mutti das ein, wagt dennoch einen letzten Einwand. Sie sagt: “Na, schön, wenn ihr nicht mehr mit mir spielen wollt, bitte schön, aber eines begreife, wer will. Warum werde ich ausgerechnet durch das Kulmbacher Bier rausgeworfen. Mir wäre ein Stralsunder Bier lieber gewesen.” Da schalte ich mich ein: “Ja, denkst Du im Ernst, Mutti, die Bayern trinken unsere Brühe. Da haben selbst unsere Leute arg mit zu tun. Das schmeckt doch wie Jauche.” Inge, die bisher ganz ruhig auf das Brett schaute, möchte nun auch einen Beitrag zur Diskussion leisten. Sie wendet ein: ”Wenn ihr nicht gleich weiter macht, ziehe ich meinen Mantel an und gehe nach Hause.” Schwesterchen hat das nicht so gemeint. Sie hält nämlich den Würfel in der Hand. Ihr Gesicht läuft puterrot an. Da ist noch was zu machen, denkt sie. Und tatsächlich, am Ende gewinnt erneut unsere Inge. Das nervt. Immer gewinnt die große Schwester. Sie braucht bei der Aufbau-Lotterie, in der Ossenreyer, nur zwei Lose aus der Glastrommel nehmen, und räumt glatt den Hauptgewinn ab. Hier eben auch. Boshaft sage ich vor mich hin: “Glück im Spiel, Pech in der Liebe”. Das ist ganz schön gemein, aber gemeine Gedanken kommen irgendwann über jeden Menschen, behaupte ich mal. So, das Spiel ist aus, der Sieger gekürt, nun schalten wir das Radio ein. Aus unserem alten Kasten ist nicht viel raus zu holen, aber die Konsum-Sender kriegen wir. Gemeinsam gehen wir auf Empfang. “Da lacht der Bär”, recht lustig. Eine Unterhaltungs-Sendung. Etwas Musik, ein paar Späße, und dann wieder Musik. Inge gefällt die Sendung. Sie sagt: “Schade, doch es wird schon dunkel. Ich muß los. Immer, wenn es bei Euch gemütlich wird, dann ist die Zeit rum. Ja, sie hat kein eigenes Radio, und niemanden, mit dem sie sich ärgern kann beim Gesellschaftsspiel. Darum besucht sie uns häufig. Ist ja nur ein kurzer Weg bis zur Karl-Marx-Straße.
Ja, das Intermezzo in der Lambert-Steinwich-Straße Nr. 15 ist schnell zu Ende. Etwa nach einem dreiviertel Jahr ziehen wir in die gegenüberliegende Nr. 6. Im zweiten Stock gibt es zwei kleine Zimmer, die an Junggesellen vermietet sind, an einen Eisenbahner und an einen Werftarbeiter und eine junge, schwangere Frau wohnt auch noch dort. Deswegen ist unser neues Domizil ausbaufähig, weil wir warten, daß der eine oder andere endlich heiratet. So nach und nach ziehen sie dann tatsächlich aus, und wir machen uns dort breit und breiter. Den ersten Arbeitseinsatz vergesse ich nie. Unsere ganze Mannschaft, Mutti, Wölfi, Inge und ich, bewaffnen uns mit Spänebällchen und schrubben abwechselnd mit dem linken oder rechten Fuß über die Dielen.Kurze Pause. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, öffne das Mansardenfenster der Schlafstube und schaue in die Gärten, halte Ausschau nach Vögeln und Spielkameraden. Gleich rechts, ein Haus weiter, sitzen zwei Jungens und ein Mädchen an einem Gartentisch. Sie lachen und streiten. Ich kann es nicht genau erkennen, aber es sieht so aus als würden sie mit Karten spielen, vielleicht Quartett. Unter einem Vorwand schleiche ich mich aus der Wohnung, renne auf den Hof, rüber zu den Kindern und frage, was sie gerade spielen. Ein blondgelockter Junge zeigt mir sein Blatt. Abbildungen von Schmetterlingen, also doch Quartett. Ich stelle mich vor, sie sagen ihre Namen auf, Peter, Uwe und Ilse. Im Handstreich drei Kameraden erobert, und drei sind mehr als man für die ersten Stunden in einer fremden Umgebung erwarten darf. Mehr ist zunächst nicht drin. Ich sehe schon den graumelierten Haarschopf meiner Mutter im schmalen Fensterrahmen. Gleich wird sie mitten in das muntere Vogelgezwitscher hinein nach mir rufen. Laut und vernehmlich, damit alle Bewohner des Viertels es hören können: “Komm` sofort hoch! Wie haben hier oben genug zu tun!” Na, dann, schrubben wir eben weiter den Fußboden. Mutti schwitzt, Wölfi stöhnt und Inge gönnt sich ab und zu eine Pause, in dem sie ihre Brille putzt. Wie gesagt, wir wohnen nicht in der Beletage, sondern unter dem Dach, was mit zunehmendem Alter des Hauses verheerende Folgen haben wird. Doch zunächst sind wir optimistisch, voller Tatendrang. Wir haben zwei Zimmer, ein winziges Klosett, eine Küche, in die schon bald eine Etagen-Zentralheizung eingebaut werden soll, im Flur einen Ausguß mit Wasserhahn, in dem halben Zimmer vor der eigentlichen Wohnung eine Wasch-Kommode mit einem riesigen Spiegel. Auf der dicken Marmorplatte steht eine Waschschüssel und ein Krug aus Steinzeug. Ersatz für ein Badezimmer. Die Wäsche kocht Mutti auf dem Gasherd, im größten Emaille-Topf unseres Haushalts. Bettwäsche und alles schwere Zeug bringe ich zur Wäscherei Pech. Wir richten uns ein. Zuerst das Wohnzimmer. Alles auf Teilzahlung, das rote Sofa mit den zwei Sesseln, anschließend ein neuer Tisch, ein Bücherbord und irgendwann auch ein neues Radio.
Allmählich, so ganz allmählich, mündet meine Trauer um den Hühnerberg in eine Quelle der Freude, die man hier den Frankenteich nennt. Es zieht Ruhe und Geborgenheit in unsere Herzen ein. Allein, wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Hausbesitzerin, eine Frau Halter, ist aus Altersgründen ganz legal zu ihren Kindern an den Rhein gezogen. Und Frau Dr. Grahl, von der man sagte, sie sei stets sehr nett und freundlich aufgetreten, hat auch das Weite gesucht. Als wollte man die Zuzügler dafür bestrafen, setzt die Kreisleitung der SED nun einen der ihren in das gemachte Nest. Er heißt Ehlers. Ausgestattet mit einer eher beschränkten Bildung, tritt er wie ein Kriegskommissar der Roten Armee auf. In der Hansa-Oberschule wirbt Ehlers für die Kasernierte Volkspolizei, stellt die Frage, ob die Schüler für den Frieden oder für den Krieg seien, und falls sie den Frieden vorziehen würden, müßten sie ihn auch mit der Waffe in der Hand verteidigen. Über die Feinde des Friedens wäre allerdings noch an höherer Stelle zu reden und zu entscheiden. Eine unverblümte Drohung. Argumentation aus der untersten Schublade, primitiver geht es nun wirklich nicht. Der Mann hat in seinem unverschlossenen Schrank seine Dienstwaffe deponiert. Die beiden Jungens spielen damit, bedrohen meinen Bruder, der erstattet Anzeige. Im angetrunkenen Zustand will Ehlers Rache schwören, wird beinahe tätlich, aber unser familieneigene Schutzmann der BSG Lokomotive, Sparte Boxen, hat ihn sofort im Griff, und die Anzeige greift auch nach Ehlers. Er wird abgelöst. Wir trauern ihm keine Träne nach.
Ein neuer Mieter zieht in seine Wohnung. Man schickt uns als Nachbarn nun gleich den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Stralsund, den Genossen Berg. Man ahnt nichts Gutes. Mutti sagt, jetzt werden wir wohl noch alle in die Partei gehen müssen. Na ja, sagte ich, die nehmen doch keine Minderjährigen, und Papa war ja bei den Braunen, und dann müßten sie dich ja auch erst umerziehen, weil Papa dich vielleicht politisch beeinflußt haben könnte. Den einzigen von uns, den sie sich schnappen werden, wird unser Großer sein, weil der studieren will. Als Mann vom Rundfunk muß er sowieso. Das ist da Pflicht bei dem Verein. Er kann schließlich nicht reden wie ein Bürgerlicher im öffentlichen Sender. Dein Sohn, Mutti, braucht zunächst politisches Rüstzeug, bevor er auf die Leute losgelassen wird. Dafür haben sie ja auch ein Rüsthaus. Bezirksparteischule heißt das, glaub` ich. Aber beim Studium verabreichen sie ihm auch schon jede Menge Politik. Mutti winkt ab. Ich soll endliche Ruhe geben. Du machst mich noch ganz verrückt mit deinen Redensarten, sagt sie. Wenn Du groß bist, kannst Du so mit mir reden, nicht jetzt. Ich ziehe mich zurück. Mit Luise, Auguste, Otilie zu streiten hat wenig Sinn. Die Partei hat immer recht, die Mütter auch. Ich habe solche Angst, daß die meine noch eine Politische wird. Sie hätte dann das Privileg, auf ein doppeltes Recht zu pochen, was kaum noch zu ertragen wäre. Inge ist fein raus, sie wohnt nicht mehr bei uns. Und wir leben hautnah mit dem obersten Hirten der SED-Kreisleitung zusammen. Ständig höre ich Schritte an der Tür. Ich höre es Klopfen. Die Partei ruft nach Mutti. Wir liegen in Bereitschaft, denken uns Dinge zur Abwehr der Werbung aus. Wir werden den Genossen Berg vertrösten, sagen, er möchte später noch mal wiederkommen, Frau Schiel wäre noch nicht so weit. Dann pocht es eines Tages tatsächlich an unserer Wohnungstür. Schweißgebadet spähe ich durch einen winzigen Spalt, sage stotternd zu Herrn Berg, meine Mutter ist krank. Sie liegt mit Fieber im Bett. Er sagt freundlich, ach das tut mir aber leid, ich wollte Euch nur einladen zum Kaffee. Bestell Deiner Mutter einen schönen Gruß von mir. Wenn es ihr wieder besser geht, dann kommt mal zu uns runter. Ich zeige Dir dann auch im Keller meine Dunkelkammer. Ich fotografiere nämlich gern, entwickle die Bilder selbst. Das wird billiger und macht mehr Spaß. Also, entschuldigt die Störung. Ach, das wollte ich Dich noch fragen, falls Deine Mutter gute Tabletten braucht, dann sagt mir Bescheid. In meinem Amt hat man eben Beziehungen. Es ist eben so. Also, dann ein anderes Mal. Tschüss.
Was war denn das für einer? Der ist 1. Sekretär der Kreisleitung der SED und spricht wie ein ganz normaler Mensch? Kaum zu glauben. Nun schäme ich mich fast, ihn derart belogen zu haben. Wenn Herr Berg so weiter macht, kriegt er es noch fertig und macht die Fotos zur Einsegnung. Ich mit der Bibel in der rechten Hand und der Fotograf mit Parteiabzeichen am Revers. Das kann doch nicht wahr sein? Abwarten. Nun wollen wir mal nach meinen neuen Freunden Ausschau halten.
Meine neuen Freunde habe ich mir recht bequem ausgesucht. Sie wohnen gleich nebenan. Wir sind fast täglich zusammen, sitzen im Garten hinter dem Haus, werden von Uwes Mutter bestens bewirtet, unterhalten uns über die gerade gesehenen Filme, machen Pläne für die Zukunft, reden über die Lehrer und die letzten Erlebnisse rings um den Frankenteich. Dieses kleine Gewässer am Rande unserer Straße ist mehr als nur ein Ersatz für den verabschiedeten Hühnerberg. Es ist der schönste Schulweg, den man sich denken kann. Von der Lambert-Steinwich-Straße bis zur Goethe-Schule geht man durch die Anlagen, in denen es im Mai nach frischem Grün duftet, man kommt am Lambert-Steinwich-Denkmal vorbei, sieht, wie die Schwäne ein Nest bauen, die Enten munter über die seichten Wellen schaukeln, wirft einen flüchtigen Blick auf die zur Ruhe einladenden Bänke, auf denen manchmal ein in Gedanken versunkener älterer Mann sitzt, der mit sich und der Natur allein sein möchte. Dann der hohe Zaun am Franken-Sportplatz, hinter dem es am Sonnabend äußerst lebendig wird, wenn die BSG Motor aufläuft. Beim Einbiegen in die letzte Kurve wird einem schon etwas mulmig, da das Lärmen der Mädchen und Jungen von der Gerhart-Hauptmann-Schule zu mir herüber dringt. Die Romantik endet hier, die Pflicht ruft. Die letzten Schritte werden immer schwerer, der Puls schlägt höher, das Gewissen meldet ein Warnsignal. Alle Aufgaben gemacht? Gut vorbereitet auf den Unterricht? Kein Schulbuch vergessen? Kontrolle auf der Parkbank, gleich neben dem weiten Eingangstor des Sportplatzes. Na, dann, hinein in die Arena! Lehrer Willi Peters wartet schon. Erste Stunde Biologie-Unterricht. Eigentlich wollte Herr Peters uns heute abfragen, wie das menschliche Ohr funktioniert, doch das interessiert uns wenig und der Lehrer hat für das Thema auch nur bedingtes Interesse. Wir wissen, wie wir ihn auf ein anderes Gebiet umlenken können, auf ein harmloses, bei dem es keine Zensuren gibt. Ich hole aus dem Schulranzen ein paar Gräser und Pflanzen heraus, lege sie auf das Lehrerpult, sehe, wie die Augen von Herrn Peters anfangen zu leuchten. Er sortiert sie nach Art und Gattung. Er lächelt vergnügt. Wir reiben uns die Hände. Das kostet alles Zeit. Man gönnt sie ihm. Dann hebt er den Kopf. Wir sperren unsere Ohren auf. Da kommt die erste Frage: Wer kann mir sagen, was ich hier in der Hand halte? Einen schönen Stengel, Herr Peters, antwortet Klaus Mews. Die ganze Klasse kichert. Ach, was sind die Kinder heute wieder unnütz, sagt Herr Peters. Wir lachen alle. Herr Peters ärgert sich. Plötzlich fragt er mich. Ich rate drauf los. Es könnte eine Biberwell sein. Ach, Quatsch, du bist dicht dran, aber falsch. Das ist? Tommy stößt mich unverhofft ans Bein. Ich spüre schmerzhaft die Gedächtnisstütze, denke scharf nach, sage, das ist Beinwell, Herr Peters. Gut für Schmerzen, wenn mir einer gegen das Schienbein kloppt. Na, der Groschen fällt bei Dir aber ziemlich spät, sagt Herr Peters. Nun hält er uns einen Vortrag im Allgemeinen und über die verschiedenen Kräuterarten, wofür sie verwendet werden, für die Küche und die Schmerzen. Wenn ihr später den Beruf eines Kochs ergreifen wollt, müßt ihr wissen, welche Kräuter zu welchem Fleischgericht passen, sagt er. In unserer Klasse will aber keiner Koch werden. Klaus Mews will lieber Fußballer werden, Rainer Petrik möchte gerne Arzt werden, Kronholz will wie sein Vater zur Polizei gehen, und ich will auch kein Koch werden. Egal, Herr Peters macht weiter. Er klärt uns gerade darüber auf, welche Kräuter die griechischen Götter schon auf dem Weg zum Olymp verwendeten und welche Kräuter die alten Römer auf ihren Fußmärschen durch halb Europa bei sich trugen. Herr Peters ist unterwegs zu einer anderen Welt, einer längst untergegangenen, in die er eintaucht, um die gegenwärtige Zeit zu vergessen. Wir wünschen ihm eine gute Reise. Alle dösen vor sich hin. Nur ich kann nicht einschlafen. Ich höre Wortfetzen. An meinem Gehör rauschen sie vorbei, die Namen von Herakles und Apoll, Cicero und Plinius dem Jüngeren, Cato und Demosthenes, Marc Antonio und Cäsar, Bittersüß und Bitterklee, Bingelkraut und Beifuß. Dann ein schriller Ton. Es muß geläutet haben. Die Stunde ist um. Wir haben es geschafft. Ohne Leistungskontrolle über die Runden gekommen. In den anderen Fächern auch keine Vorkommnisse. Nur während der großen Pause gibt es die übliche Schlägerei zwischen Hans-Joachim Voge und Ulli Müller. Ich gehe dazwischen, weil Ulli immer so grob zuschlägt. Er ist der Stärkste von uns, Eberhard Ihde der Klügste, Tommy der Schnellste, Wolfgang Pfeiffer der Wendigste, Klaus Mews der beste Fußballer. Damit ist auch schon die Riege der Lieblingsschüler von Klassenlehrer Horst Fiedler aufgezählt. Ich gehöre nicht dazu, bin wie immer im Mittelfeld, nur nicht beim Fußball, da spiele ich Linksaußen. Egal, wen ich auch nenne, wir alle haben Vorurteile gegen einen einzigen Schüler, der nur wegen seiner etwas brünetten Hautfarbe Schläge verdient, wie wir glauben. Helmut Berkel heißt er. Alle wissen, daß Helmut sich nicht wehrt. Selbst der Schwächste darf auf ihn einschlagen. Und wir nutzen seine Wehrlosigkeit schamlos aus. Dabei ist Helmut körperlich keineswegs von der Natur benachteiligt worden. Wir finden für sein Verhalten keine Erklärung, und wo der Verstand aussetzt, schaltet sich die rohe Gewalt ein. Einer ruft in die Runde: Helmut kriegt heute Klassenschacht. Alle sind dafür. Er hat nämlich wieder eine Eins in Deutsch für den besten Aufsatz erhalten, ist ein Streber, das muß bestraft werden, wir müssen ihm unbedingt einen Denkzettel verpassen. Wir lauern auf Helmut in den Anlagen am Frankenteich, stellen ihm ein Bein, bis er stürzt, dreschen drauf los. Wieder keine Gegenwehr. Befriedigt ziehen wir ab. Jeder geht seiner Wege, so als sei nichts geschehen. Das Opfer schweigt zu Hause über die Vorfälle in und außerhalb der Schule. Auch das wissen wir. Eines Tages bittet er mich, ihn mal bei Gelegenheit zu besuchen. Er wohnt gleich um die Ecke, in der Franz-Wessel-Straße. Ich begegne zunächst seinem Vater. Ein strenger Blick. Wer bist Du? Ein Klassenkamerad. Ist Helmut da? Ja, komm rein, mach die Tür hinter Dir zu, zieh die Schuhe aus, warte, bis ich ihn rufe. Ich werfe einen Blick in das halb geöffnete Wohnzimmer. In der Ecke am Fenster steht ein Klavier. Der Deckel geöffnet. Noten vor der Tastatur. Helmuts Unterricht endet nicht in der Schule. Er muß Klavier spielen, aber noch spielt das Klavier mit ihm. Der Vater ist darüber ungehalten. Herr Berkel ist Berufsmusiker, haut im Orchester auf die große Pauke. Und in den eigenen Wänden ist er sogar ein Dirigent, traktiert die Familie, den Helmut am meisten. Seltsam, die Mutter, der Vater und der Bruder haben alle eine helle Gesichtsfarbe, nur eben unser Klassenkamerad nicht. Herr Berkel will es nicht an die große Glocke hängen, warum Helmuts Hautfarbe so dunkel ist. Er wird ungehalten, wenn man ihn deswegen anspricht. Lieber redet er über Chopin, sagt, Helmut, diese Passage spielst du gleich noch einmal, da ist noch zu wenig Tempo drin. Üben, immer wieder üben, bis dir die Finger weh tun. Als wenn der Helmut nicht schon genug Schmerzen ertragen muß. Er wird zwar nicht mein Freund, doch bei der Klassenschacht mache ich nicht mehr mit, versuche zu erklären, warum der kleine Neger, wie wir ihn rufen, es so schwer hat mit uns und mit dem Vater und so, und allmählich hört die Prügelei endlich auf.
Nach einem Tag ohne peinliche Befragungen, strengen Tadeln, und gehässigen Strafarbeiten gehe ich munter wieder zurück in das Bürgermeister-Viertel. Der ganze Weg verlief mitten durch die Natur. Weit und breit keine Ruinen zu sehen. Einfach herrlich, denn mit zunehmendem Alter schärft sich der Blick für das Schöne, das Erhabene und mitunter Unerreichbare. Mir fällt das Lernen nicht allzu schwer, wenn mich der Stoff interessiert, doch was mich in den Bann zieht, steht meistens nicht auf dem Lehrplan. Beispielsweise bei der Erdkunde. Mir wäre Völkerkunde lieber. Ich möchte erfahren, welche Traditionen andere Menschen aus ferneren Regionen pflegen, welche Geschichte sich hier oder dort abgespielt hat,, das ist mein Ding. Wie oft nehme ich im Bett, so kurz vor dem Einschlafen, noch den braunen Schulatlas zur Hand und rechne mit dem Lineal aus, wie weit es von Stralsund nach Caracas oder Melbourne ist, nach dem ich in der Schule erfahren hatte, wie viel Erdöltürme in Baku stehen. Das Sehen und Verlangen nach der großen weiten Welt läßt mich nie mehr los. Ich kaufe ein Buch nach dem anderen. Alles Reise-Literatur. Ich lese von den Indianern am Orinoco-Fluß, den Aborigines in Australien, von den schönen Tahiti-Mädchen von Papeete, dem alten indischen Fakir in Neu-Delhi, den Sherpas von Nepal, dem Wasserträger in Casablanca, von prachtvoll gekleideten Inderinnen aus Agra, und dem toten Elvis an seinem Grab. In nicht wenigen Büchern ist ein unsichtbarer roter Faden eingelegt worden. Der Autor, meist ein Diplomat oder Journalist, sucht nach einem Mitglied der verbotenen Kommunistischen Partei, er sucht und sucht, und endlich findet er den Genossen, der im Bürgerkrieg in Spanien gekämpft hat oder Che persönlich kannte, im äußersten Winkel des Landes. Handelt es sich um einen Bildband, wird das Elend, die Arbeitslosigkeit, die Drogensucht, mit Farbe angemalt und die Schönheiten des Landes in Grautönen gehalten. Aber man erfährt doch am roten Faden vorbei allerhand Wissenswertes über Sitten und Gebräuche dieser exotischen Völker. Diese private Erkundung ist allerdings mit Eile verbunden, die Bücher sind meistens schnell vergriffen, sie kosten auch ein paar Mark, der Unterricht in der Goethe-Mittelschule ist billiger zu haben. Also bleiben wir weiterhin in der Zeit der guten Preise, verharren wir im Alltag der sozialistischen Epoche, gehen wir nach Hause.
Für den Weg nach Hause hat man von der Schule aus zwei Möglichkeiten, entweder am Frankenteich entlang, oder aber den Frankendamm hoch und in die Franz-Wessel-Straße einlenken. Dort, an der Ecke zur Smiterlow-Straße, lebt ein Mann mittleren Alters, etwa vierzig Jahre alt, der stets am Fenster hängt, wenn ich dort lang gehe. Er ist immer sehr freundlich, doch ein bißchen merkwürdig. Er, den man Jule nennt, ist so friedfertig, daß selbst freche Jungens sich nicht trauen, ihn zu ärgern. Wir unterhalten uns mit ihm, so gut es eben funktioniert. Ich erzähle Jule über die Erlebnisse in der Schule, was wir gelernt haben, für welche Streiche es einen Tadel gab, daß unsere Mathe-Lehrerin ihre Monatsbinde verloren hat. Er lacht über jede Bemerkung, wackelt mit den Ohren, senkt seinen riesigen Kopf, stammelt etwas, was man nicht versteht. Vielleicht will sich Jule entschuldigen, weil er lacht wie ein heiteres Kind. Nach einer Weile wird sein Gesicht wieder ernster, er sieht uns nicht mehr, Jule ist geistig weggetreten. Sein mäößßäöüen mge, aber seine Tage sind gezhlt.