Björn Kuhligk
Großraumtaxi
Berliner Szenen
Impressum und Copyright
Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2014
www.verbrecherei.de
© Verbrecher Verlag 2014
Einband: Christian Walter
Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Herstellung: Christian Walter
ISBN Print: 978-3-95732-017-9
ISBN Epub: 9783957320742
ISBN Mobipocket: 9783957320759
Der Verlag dankt Sandra Appelt und Fränzi Spengler.
Mein herzlicher Dank gilt denen, die mich in diesen Texten begleitet haben.
Ein besonderer Dank an Ulrich Gutmair, der die meisten dieser Texte in der Rubrik »Berliner Szenen« in dertaz veröffentlichte, und mir damit bei der Zusammenstellung dieses Buches enormen Rückenwind gab.
Dieses Buch gehört A. und T., für später.
B. K., im Sommer 2014
Samstag, es ist zehn vor zehn. Ich warte mit der Tochter vor den Toren von Karstadt am Hermannplatz. Der Sohn braucht dringend eine Regenjacke für die anstehende Kindergartenfahrt ins Brandenburgische. Wir sind sozial eingebunden: eine türkische Frau mit vier Kindern, die immer wieder »tamam«, einverstanden, zu ihrem kleinsten, an der noch leeren Einkaufstasche zuppelnden Jungen sagt, ein schmaler, geduckter Mann, dessen Gesicht wie eine Implosion aussieht, einige, die nicht auffallen. Und weil das noch nicht genug ist, kommt noch eine Psychose hinzu, die wild gestikulierend mit flatternden Armen um mich herumhampelt.
Währenddessen hat sich die Tochter einem Hund genähert, der links des Tores neben seiner Eigentümerin auf dem Boden liegt und alle fünf Sekunden die Augen öffnet.
Die Tochter ist entzückt: »Papa, Hund aufdewacht! Papa, Hund schlaft, Hund mude! Papa, Hund aufdewacht!«
Als meine Aufmerksamkeit zu bröckeln beginnt – die Psychose macht immer weiter –, variiert die Tochter und wird lauter: »PAPA, GUCK, HUND AUFDEWACHT, GUCK!«
Dieser verdammte Hund.
Endlich öffnet sich wie von Götterhand das Tor. In dem Gedränge fällt meine Tasche herunter, der Inhalt verteilt sich auf dem Boden. Während ich alles wieder zusammensammle, sieht sich die Tochter interessiert den an Drehsäulen ausgestellten Schmuck an.
Zu Hause sagt der Sohn: »Mann, Papa, ich wollte eine in Rot!«
»Du weißt gar nicht«, sage ich leicht entnervt, »was ich alles durchgemacht habe, um überhaupt eine Regenjacke zu bekommen!« Ich besinne mich und sage: »Ja, sie ist hellblau und nicht rot, es gab keine Rote. Aber solltet ihr auf eurer Fahrt auf die Pirsch gehen, so ist das eine bessere Tarnung als Rot, oder hast du schon mal einen Jäger in einer roten Regenjacke gesehen?«
Das versteht der Sohn sofort.
Der Bekannte, dem ich beim allgemeinen Aufbruch in dem Café die Hand gebe, sieht schlecht aus. Seine Freundin hätte sich, so wurde geflüstert, ein viertes Mal von ihm getrennt. Wir laufen alle zusammen, der Bekannte wird in die Mitte genommen, bis zur Weltzeituhr und verabschieden uns ein weiteres Mal.
Im U-Bahnhof Alexanderplatz stehen drei Typen im Abstand von je zwei Metern in einer Reihe. Alle haben Stöpsel in den Ohren. Weiße Kabel führen in ihre Hosentaschen. Eine Frau sitzt auf der Wartebank, liest Zeitung und hibbelt mit den Beinen. Eine andere, zwischen großem Mädchen und erwachsen, mit ohrumschließenden Kopfhörern, steht an einem der Tische des Bahnsteig-Bistros, lässt ihr Telefon zwischen Daumen und Zeigefinger Kreise drehen und starrt ins Leere. Sie trägt eine löchrige Jeans, Chucks und eine rote Lederjacke, wie Michael Jackson sie in einem seiner Musikvideos trug. Unter ihrem linken Auge eine 50-Cent-große Rötung, die fast aussieht, als hätte jemand zugeschlagen. Die Anzeige beginnt zu blinken, die Bahn fährt ein.
Sie kommt auf mich zu und sagt: »Ich finde das scheiße hier. Kannst du mir eine Kippe geben?«
Sie erzählt von ihrem Hund, der ihren anderen Hund angefallen hätte. Der verletzte Hund sei nun beim Tierarzt und der, der angegriffen habe, bei Freunden untergebracht. Sie könne jetzt nicht da sein für sie. Sie weint.
Ich fasse unbeholfen an ihre Schulter und sage, sie solle jetzt schlafen gehen und sich morgen darum kümmern.
Wir rauchen eine Zigarette zusammen, sie hustet ein paar Mal.
In der U-Bahn sitze ich einer Frau gegenüber, die bis zum Herrmannplatz einen Strauß weißer Blumen in der linken Hand hält, ein fester Griff, als könnte sie sich notfalls damit verteidigen. Leise summt sie das Adagio von Max Bruchs erstem Violinkonzert und streichelt, zu dem Strauß gebeugt, ihre Stirn mit den Blüten.
Wir sehen uns rechtzeitig. Wir schlenkern, rechts, links, in gespiegelten Bewegungen kommen wir uns immer näher. Beide sehen wir ein wenig erstaunt aus, weil es dem anderen nicht gelingt, aus dieser magnetischen Anziehung auszubrechen. Dann knallen wir mit den Fahrrädern gegeneinander. Ich habe ihn manchmal morgens gesehen. Er kam mir dann, wie ich ihm, müde entgegen, oft hielt er, einhändig lenkend, einen Kaffeebecher in der Hand. Ich falle nach rechts, er nach links. Die Räder, an denen Kindersitze befestigt sind, überschlagen sich. Wir rappeln uns auf, sehen einander verblüfft an. Nein, Helme tragen wir nicht, obgleich auch er ein Vater ist. Helme sehen bei Erwachsenen, wenn sie keinen Sport machen, schlichtweg lächerlich aus, und lächerlich ist es eh schon, zu dieser Uhrzeit mit einem Kindersitz unterwegs zu sein. Wie durch ein Wunder sind wir unverletzt, nicht eine einzige Schramme ist entstanden.
Er zeigt auf den Spätkauf, vor dem wir stehen, und fragt: »Bier?«
»Warum nicht«, sage ich.
Wir setzen uns neben den Laden in einen Hauseingang und starren auf die leere Straße.
»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich.
»Keine Lust zu reden«, sagt er.
Wir trinken und starren. Ein Zeitungszusteller hastet hinter seinem Wagen an uns vorüber, in der Linken hält er vier monströse Schlüsselbünde. Dann passiert lange nichts, dann kommt ein Nachtbus, dann brüllt in weiter Ferne irgendwer irgendwas, dann flitzt ein Marder über die Straße, dann wieder nichts.
»Wie alt ist deins?«, fragt er nach einer Weile und zeigt auf den Sitz.
»Zwei«, sage ich.
»Meins auch«, sagt er.
»Noch eins?«
»Nee, eins reicht mir!«
»Ich meine Bier!«
Wir lachen, dann nickt er. Wir sitzen und starren.
Als ich ausgetrunken habe, sage ich: »Wir sehen uns!«, setze mich wieder aufs Rad und fahre los. Das Licht funktioniert nicht mehr.
F. wohnt in Friedenau. Ich war vor fünf Jahren des Öfteren hier, weil die göttinnengleiche Zahnärztin meines Vertrauens einiges bei mir zu tun hatte. Ich lief durch das Viertel, zerrüttet von Angst und Zuversicht.
Als dann alles, wie man bei Zähnen sagt, gerichtet war, gehörte Friedenau zu den Orten meines Herzens, ein Bewältigungsort.
F. zog mit Frau und Kind von Neukölln hierher, weil die drei es leid waren, nachts von Disputen aller Art aus dem Schlaf zu schrecken und morgens auf Patronenhülsen, die einem dreijährigen Kind nicht mehr vermittelbar waren, zu treten.
Wir treffen uns am S-Bahnhof Feuerbachstraße. In den ausgehenden Achtzigern habe ich wohl zusammengerechnet mehrere Tage an dieser Stelle gestanden und auf den 2er, der jetzt ein 182er ist, gewartet. Wir setzen uns draußen vor die Bahnhofskneipe und beobachten die Wolken, die wie Rubens Frauen aussehen.
Das Gewitter, sagt F., er hätte das im Internet nachgeschaut, würde nur im Norden stattfinden. Ich bin enttäuscht. Ich mag Gewitter, ich mag diese Entladung.
Ich las am Nachmittag, ebenfalls im Netz, dass irgendwo ein Motorradfahrer von einem Blitz getroffen worden sei, die Kontrolle verloren habe, auf die Gegenrichtung geraten und von einem Auto weggebombt worden sei.
»So was will ich nicht wissen«, sagt F. und nickt Richtung Straße.
Ein Pulk Mädchen mit offenen Weinflaschen stiefelt in den Bahnhof, setzt sich in die Bahn und wird nach Mitte abgeschossen. Dann kommt ein Typ, nur die unteren beiden Knöpfe halten sein fliederfarbenes Hemd zusammen. Er trägt eine verspiegelte Sonnenbrille, groß wie beide Hirnlappen. Er grinst in unsere Richtung – der zeigt uns schlichtweg die Zähne, die so makellos, die so unglaublich schön sind. Will der was, oder was?
Und dann beginnt es, in den Weißwein von F. zu nieseln.
Im Roxy steht plötzlich ein Typ hinter mir, sagt nichts und schaut mir über die Schulter, wie ich auf dem Netbook schreibe. Dann unterbricht er mich: »Entschuldigung, bitte!«
»Schon okay«, sage ich.
»Ich kenne dich«, sagt er mit rasselnder Stimme. Der raucht Kette, denke ich sofort und sehe dann eine Zigarette in seiner Linken.
»Ich wohne hier um die Ecke«, sage ich.
»Du hast zwei Kinder, dein Sohn kann Fahrrad fahren, deine Tochter läuft jetzt, ihr wohnt da drüben, ich kenne dich schon sehr lange, seit 20 Jahren, sag’ ich mal, du bist früher so ein Ding gefahren, mit Rollen drunter, da steht man drauf und fährt, Halfpipe heißt das, glaube ich.«
»Ja«, sage ich, »Skateboard.«
»Genau«, sagt er.
»Kennen wir uns?«, frage ich unsicher.
»Ich lebe hier schon so lange, ich beobachte alle, das mache ich nicht absichtlich, ich sitze hier im Café, und dann kommt ihr hier alle vorbei, zu Edeka, in die Hasenheide.«
Ich sage: »Sie irren sich, ich bin in Lankwitz aufgewachsen.«
»Nein«, sagt er, »kann nicht sein, ich kenne dich!«
»Ich wohne erst seit sechs Jahren hier.«
Er stutzt.
Ich sage – völlig bescheuert –, dass ich das genau wisse. Er verneint vehement. Ich frage genervt, ob ich vielleicht so aussähe, als wüsste ich das nicht, als ob ich irgendeine Störung aufweisen würde.
Er tritt einen Schritt zurück, sieht mich eine Weile sehr ernst an und zieht an seiner Zigarette.
Ich sage: »Lankwitz, wirklich, glauben Sie mir!«
Er nickt, eine Verwechslung, sagt er, und ich, dass ich das nett fände, ein Doppelgänger, der vor 20 Jahren so aussah wie ich vor 20 Jahren.
Er streichelt mir über die Schulter. »Ich wollte nicht unterbrechen, tut mir leid, mach weiter!«
Ich sage: »Ja, das ist mir hier schon mal gesagt worden.«
»Ja«, sagt er, »ein guter Laden, hier muss man weitermachen«, zündet mit der heruntergerauchten Zigarette eine neue an.
Ich denke an A., die nun durch den Harz läuft. Wahrscheinlich bekommt sie Regen auf den Kopf. Sie ist mit einem Zelt unterwegs und will sich für ein paar Tage mit einem Bekannten treffen. Vielleicht kann der was gegen den Regen machen, aber das können Bekannte nur selten.
Als ich mit ihr vor ein paar Tagen gegen 20 Uhr die Alte Nationalgalerie betrat, trug sie eine weiße Trekkinghose und ein lilafarbenes Oberteil, sie sah fantastisch aus. Aber dann dachte ich, Trekking und weiße Hose, das schließt sich aus, das ist eigentlich dermaßen bescheuert. Sie sah nur noch großartig aus.
Wir kauften Eintrittskarten und packten unsere Sachen in ein Schließfach. Bei dem Kontrolleur stellte A. fest, dass sie ihre Karte nicht mehr hatte. Sie prüfte die Taschen ihrer Hose. Wir gingen zurück zu den Schließfächern und fragten die Frau, die die Garderobe annahm, ob wir vielleicht eine Karte vergessen hätten.
»Nein, tut mir leid«, sagte sie nett, und ihr Blick sagte: Ihr Deppen, ich kenne euch, ihr seid hier jeden Tag im Rudel unterwegs.
Wir öffneten das Fach, suchten alles ab, dann fand A. die Karte doch noch in einer ihrer Hosentaschen.
Wir liefen herum und ließen uns durch die Räume treiben. Im dritten Stock gingen wir den rechten Gang entlang, bis sich links davon ein größerer Raum öffnete.
Ich sagte: »Jetzt kommt’s, komm rüber«, und zog sie, am Unterarm haltend, zum großen Romantiker.
Da standen wir dann voller Ehrfurcht vor einem Bild und schwiegen und freuten uns und rückten näher zueinander.
Dann sagte A.: »Sag mal, das ist ja Schinkel.«
»Ja«, sagte ich, nach einem kurzen Blick auf das Schild, »das ist Schinkel.« Verflixt, ich hatte zu sehr auf die Trekkinghose geachtet.
Wir gingen einen Raum weiter zu Friedrich und sahen lange auf den von Möwen umkreisten Mönch am Meer, und dann fragte sie: »Bist du gerade am Meer oder im Harz?«
Und ich nickte.
Wir saßen in der Nähe des Schleusenkrugs im Tiergarten am Kanal und beobachteten die Ausflugsschiffe, die nahezu lautlos an uns vorüberglitten. Nach einer Weile kam ein überfüllter, mit Lichtern behangener Partydampfer mit Anzugträgern.
»Bei so was habe ich auch mal gearbeitet«, sagte A., »guck dir das mal an, zwei Prozent Frauen, und die Männer können nicht reden, kein Networking, kein Small Talk, die reden einfach nicht!«
Die angeheuerte Musikkapelle, die ausschließlich aus Männern bestand, trug Strohhut und pausierte gerade.
Dann waren wir plötzlich in einer Win-win-Situation. Das Licht durfte ausgehen, das Dunkel war dran, es wurde kühl. Auf der anderen Seite des Kanals veranstalteten die Vögel in den meterhohen Zoo-Volieren einen Krawall, Seehunde riefen, zwei Reiher flogen fast lautlos über dem Wasser an uns vorüber.
Heute, sagte ich zu A., hätte ich auf den U-Bahn-Monitoren gelesen, dass Bao-Bao, der älteste Panda des Zoos, mit 34 Jahren gestorben sei, und sagte, dass sie und ich und der Panda eigentlich der gleichen Generation angehören würden und dass die Einschläge immer näher kommen würden.
A. machte ein Geräusch mit dem Mund, als würde jemand mit flacher Hand auf einen Quadratmeter Götterspeise schlagen und sagte dann: »So ein Blödsinn, das ist ein Panda!«
»Ja«, sagte ich, »aber den hat mir mein Großvater schon vorgestellt, als wäre er der Anführer einer höheren Ordnung, herrje, das war der Bambus-Gott!«
Ein weiteres Ausflugsschiff, ein Paddelboot, dann eine alternative Angelegenheit, deren Deck aussah, als wäre bei der letzten Brücke ein Mülleimer darüber entleert worden. Das engumschlungene Paar, das zehn Armlängen von uns entfernt lag, begann, leise zu stöhnen.
Ein Trupp erwachsener Kinder flitzte auf Fahrrädern vorbei, und der Anführer brüllte: »Wir sind doch hier nicht im Puff!«
Dann war Stille.
In die Stille sagte A.: »Vergiss den Panda!«
Der Lehrer sagt: »Keine Bange, wir sind keine Radau-Schule oder so«.
Die Hip-Hopper sitzen hinten links und kippeln, der Schüchterne sitzt allein in der ersten Reihe, die Pferde-Mädchen in der dahinter.
Ich fordere die Schüler auf, ein Liebesgedicht zu schreiben. »Ihr wart doch alle schon mal verliebt, oder?«
Großes Nicken bei den Mädchen und Hip-Hoppern, also los.
Der Schüchterne winkt mich heran und sagt, dass er nicht wisse, was Liebe sei. Schwierig, denke ich, und sage was anderes.
Ein Mädchen, das alleine sitzt, sagt, dass sie noch nie verliebt war, und nachdem sie das leise gesagt hat, fast zu weinen beginnt.
»Willst du eins über dein Lieblingstier schreiben?«
Ja, will sie. Dann folgt allgemeine Verunsicherung.
Ich rufe: »Hey, ihr seid die Herrscher über dieses Blatt Papier, macht, was ihr wollt, aber macht ein Liebesgedicht, Gedichte müssen nicht gereimt sein, alles klar?«
Alles klar!
Später verzweifelt einer an der Handhabung einer Schere, mit der Überschriften aus einem Boulevardblatt zu einem Gedicht montiert werden sollen.