Uwe Schimunek
Von Gontards achter Fall
Criminalroman
Jaron Verlag
Uwe Schimunek, Leipziger Journalist und Autor, schreibt Kurzgeschichten und Kriminalromane. Er liest regelmäßig bei den jährlich stattfindenden Ostdeutschen Krimitagen. Für die Reihe »Es geschah in Preußen« verfasste er die Bände »Attentat Unter den Linden« (2012, zusammen mit Jan Eik) und »Die Leiche im Landwehrkanal« (2013). Im Jaron Verlag veröffentlichte er außerdem mit Arno Specht das Buch »Geisterstätten Leipzig« (2014).
Originalausgabe
1. Auflage 2014
© 2014 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer+Möring, Berlin
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 978-3-95552-037-3
In Gedenken an Thomas Kulich
1968 – 2014
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Eins
13. Januar, ½ 11 Uhr morgens
Zwei
13. Januar, 12 Uhr mittags
Drei
13. Januar, ½ 3 Uhr nachmittags
Vier
13. Januar, 4 Uhr nachmittags
Fünf
13. Januar, 5 Uhr nachmittags
Sechs
13. Januar, 6 Uhr abends
Sieben
13. Januar, ¾ 10 Uhr abends
Acht
13. Januar, ¾ 11 Uhr abends
Neun
13. Januar, 12 Uhr nachts
Zehn
14. Januar, 1 Uhr nachts
Elf
14. Januar, ½ 2 Uhr nachts
Zwölf
14. Januar, ½ 4 Uhr nachts
Dreizehn
14. Januar, 4.10 Uhr nachts
Vierzehn
14. Januar, ½ 5 Uhr nachts
Fünfzehn
14. Januar, ¾ 5 Uhr nachts
Sechzehn
14. Januar, ¼ 6 Uhr morgens
Siebzehn
14. Januar, 6 Uhr morgens
Achtzehn
14. Januar, ½ 7 Uhr morgens
Neunzehn
14. Januar, 7 Uhr morgens
Zwanzig
14. Januar, ½ 9 Uhr morgens
Einundzwanzig
14. Januar, 9 Uhr morgens
Zweiundzwanzig
14. Januar, ½ 11 Uhr morgens
Dreiundzwanzig
17. Januar, 4 Uhr nachmittags
Es geschah in Preußen …
Ferdinand von Gontard duckte sich, wich dem Hieb aus und täuschte einen Stich an. Der Gegner antwortete mit einer Parade. Daraufhin zog Ferdinand den Degen blitzschnell zurück. Die Finte wirkte. Der Kontrahent stolperte zur Seite. Einen Augenblick wartete Ferdinand, dann drehte er seine Waffe und hieb mit der flachen Klinge nach dem Gegner. Das Metall klang sekundenlang nach, als es auf die Waffe des anderen traf. Der hatte den Hieb tatsächlich pariert. Ferdinand startete die Kombination, an der er die letzten Tage geübt hatte. Er machte einen Schritt rückwärts. Prompt lief der Kontrahent in die Falle und stieß seinen Degen nach vorn. Ferdinand reagierte mit einem Sprung zur Seite. Nun war seine Position optimal. Er drehte die Waffe erneut und schlug mit der flachen Klinge gegen den Helm des Gegners. Die Haube flog im hohen Bogen in den Schnee.
»Autsch!«
»Sie könnten tot sein, Quappe.« Ferdinand lachte.
Quappe rieb sich die Stirn. Er sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch er schüttelte nur den Kopf und hob wortlos den Helm auf.
»Los, wir fechten noch eine Runde!« Ferdinand begab sich in die Ausgangsstellung.
»Och nee! Muss det sein?«, quengelte Quappe.
»Ich möchte den Sprung mit dem anschließenden Ausfallschritt noch einmal üben, diese Balestra.«
»Da krieg ick doch nur wieda det Ding anne Omme.« Quappe zeigte mit seinem Degen auf Ferdinands Waffe.
»Los jetzt!«
»Könn’ wa nich wenigstens erst ma een paar Meter Richtung Heimat laufen?«
Ferdinand seufzte. »Meinetwegen. Aber nur so weit, dass uns von der Neustadt aus keiner sehen kann.« Das fehlte ihm gerade noch, dass einer der Vorgesetzten aus der Breslauer Garnison ihn hier bei seinen heimlichen Fechtübungen mit dem Stallburschen beobachtete.
»Det is doch klar, Herr Ferdinand.« Schon trabte Quappe los.
Ferdinand lief hinterher. An diesem Freitagmorgen war er froh, dass der Vater dem Burschen nach einigem Betteln den Posten im Stall der Breslauer Garnison verschafft hatte. Selbst das Stapfen im tiefen Schnee fiel mit einem Bekannten aus der Heimat leichter. Bei jedem Schritt versanken die Stiefel bis zum Knöchel. Durch den Wind, der Ferdinand ins Gesicht blies, fühlte sich die Luft an, als wolle sie sich in die Haut fressen. Dabei konnte es so kalt gar nicht sein. Die Oder floss zäh vor sich hin. Kurz bevor Ferdinand zu Weihnachten nach Berlin gereist war, hatte noch eine dicke Eisschicht den Fluss bedeckt. Nun weilte Ferdinand schon wieder über eine Woche in Breslau, fern der Familie. Mit jedem Abschied wurde die Reise in die Garnisonsstadt, in der er seit ein paar Monaten seine erste Dienststelle als Offizier Seiner Majestät hatte, mehr zur Gewohnheit. Seit der Schnellzug zwischen Berlin und Breslau fuhr, schien auch die Entfernung geschrumpft.
Sie erreichten die Flussbiegung. Hier war der Blick auf die Oderbrücke durch einen Hügel mit Sträuchern verdeckt. In der verschneiten Winterwelt wirkte das Gestrüpp wie eine bizarre Festungsanlage für Gnome.
»Hier üben wir weiter!«, befahl Ferdinand.
»Aba …«
»Jetzt!« Ferdinand hob den Degen.
Quappe verdrehte die Augen und tat es ihm gleich. Die Klingen kreuzten sich.
Ferdinand ließ es ruhig angehen. Mit einfachen Stößen hielt er Quappe in Schach, so dass der Bursche seinerseits zu keinem Angriff ansetzen konnte. Schritt für Schritt trieb Ferdinand Quappe den Hügel hinauf in Richtung des Gestrüpps. Dort waren ihre Übungen gut vor etwaigen Passanten verborgen.
Ein paar Meter vor den Sträuchern verstärkte Ferdinand seine Vorstöße. Dennoch gelang es Quappe, sie zu parieren und Ferdinands Klinge geradezu mustergültig zu binden. Der Stallbursche schien mindestens genauso von den Zusatzübungen zu profitieren wie er selbst, stellte Ferdinand fest. Das brachte einerseits Vorteile mit sich, denn so lohnte sich das Üben, und die Fortschritte stellten sich schneller ein. Andererseits zweifelte Ferdinand zunehmend an seinem Talent für die Fechterei, wenn schon ein Bursche, der im Stall der Breslauer Garnison zum wiederholten Male Anlauf für eine militärische Laufbahn nahm, zu einem ernsthaften Gegner heranreifen konnte.
Ferdinand wehrte einen Angriff Quappes gerade so ab. Er durfte nicht träumen. Nach einem Ausfallschritt startete er eine Serie von Stößen. Quappe wich zurück. Lange würde Ferdinand diese Intensität im Kampf nicht durchhalten, aber der Knecht stand bereits beinahe mit dem Rücken zum Gestrüpp.
Quappe schien den Hieben kaum noch etwas entgegensetzen zu können. Wie schnell sich das Blatt doch drehte! »Junger Herr, haltet ein!«, quetschte Quappe heraus.
Ferdinand setzte zu dem Sprung an, den er unbedingt noch üben wollte. Doch zu spät, Quappe stolperte rücklings in die Sträucher. Als er zu Boden ging, jaulte der Knecht wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten hatte. Sein Gestrampel bot ein bizarres Bild. Plötzlich verstummte er und hielt in der Bewegung inne.
Schwungvoll stieß Ferdinand seinen Degen in den Schnee und eilte zu Quappe.
Der Knecht lag im Geäst und rührte sich nicht. Seine linke Hand umklammerte etwas. Es sah aus, als versuche Quappe, sich an einem Stück Erdreich festzukrallen. Nein, eher erinnerte die braune Masse in seiner Hand an ein Pfund Sülze. Oder an Grützwurst – mit einem Stück Knochen darin.
»Wat is denn det?«, schrie Quappe ein wenig angewidert. Er rollte zur Seite, von der Sauerei weg, und wischte beim Aufstehen mit der Hand einzelne Klumpen von seiner Uniform.
Ferdinand schaute in das Gestrüpp. Dort, wo Quappe durch seinen Fall den Schnee beiseitegedrückt hatte, war noch mehr von der brauen Masse zu sehen. Es musste sich um Kot von einem Pferd handeln. Doch welcher Gaul kackte Knochen? Ein solcher lag zweifelsohne inmitten des Haufens. Wie sollte ein Pferd außerdem so weit vom Weg abkommen und in diesem Gestrüpp landen?
»Ick will hier weg!«, jammerte Quappe.
Ferdinand schüttelte den Kopf, nahm seinen Degen und stocherte vorsichtig in dem Brei herum. Unter dem Schnee lag gefrorenes Herbstlaub. Es pappte so fest zusammen, dass Ferdinand fast den Eindruck hatte, eine Holzplatte wegschieben zu müssen. »Helfen Sie mir doch mal, Quappe!«
»Machen Se det nich, junger Herr!«
»Haben Sie sich nicht so mädchenhaft, Quappe!«
Der Bursche brabbelte etwas Unverständliches, nahm aber seine Waffe und half, das Laub beiseitezuschieben. Darunter kamen noch mehr Brei, Knochen und Klumpen zum Vorschein.
»Weiter! Aber vorsichtig!«, befahl Ferdinand.
Quappe stöhnte. Stück für Stück entfernten sie Schnee, Eis und Laub. Zeichneten sich dort Fetzen von Kleidungsstücken an einem verwesten Leib ab?
»Reicht det nich?«
»Da oben muss der Kopf sein. Ich glaube, in dem Gebüsch liegt ein toter Mensch.« Ferdinand stocherte an einem kleinen Erdhügel herum. Das Gemisch aus Schnee, Eis und Laub war an dieser Stelle besonders hartnäckig und zu ungünstig der Winkel, aus dem Ferdinand es zu entfernen versuchte.
Ferdinand stapfte um die Sträucher herum, bis er eine Lücke im Geäst fand. Dann trat er eine Schneise ins Gesträuch. Die Äste splitterten zur Seite. Dennoch kam er dem Ziel nur langsam näher. Zudem ließ er Vorsicht walten. Wenn hier tatsächlich eine Leiche lag, wollte er keine Spuren verwischen. Also kämpfte er sich mit Geduld vorwärts. Die restlichen Teile des Gehölzes entfernte er mit der Klinge. Er beugte sich nach vorn, und es gelang ihm, die Schneedecke von hier aus mit dem Degen zu entfernen.
Unter dem Weiß bot sich ihm ein grauenhafter Anblick. Da lag ein Schädel. Die Augenhöhlen waren leer, und doch schienen die schwarzen Löcher zum Himmel zu starren. An den Seiten des Kopfes erinnerten die Haarsträhnen an modriges Stroh. Die Wangen waren eingefallen, der Mund war fratzenhaft verzerrt und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er grinsen oder die Zähne fletschen wollte. Ferdinand schluckte und sagte: »Kommen Sie, Quappe. Das müssen wir melden!«
Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard betrat den Hörsaal in der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Die dicken Wolken über Berlin verdunkelten den Raum und ließen die jungen Offiziere an den Studierbänken grau und damit um einiges älter erscheinen. Gontard wollte lieber nicht wissen, wie er selbst aussah. Der Winter raubte ihm die Lebensfreude, von Jahr zu Jahr mehr. Und bis zum Frühling blieben wenigstens noch zwei Monate.
Die Offiziere standen stramm. Gontard gab den Befehl zum Setzen, und die Männer fielen in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihnen herausgelassen. Einer in der letzten Reihe, ein dicklicher Kerl von altem Adel aus dem pommerschen Hause derer von Ahlewitz, gähnte sogleich. Das konnte ja eine heitere Vorlesung werden!
Gontard schlug sein Skript auf. In letzter Zeit hielt er sich bei den Vorlesungen immer mehr an seine Blätter, besonders an Tagen wie diesen. Er strich über das oberste Blatt und begann seinen Vortrag. »Wie Sie wissen, soll es heute um den Einsatz neuartiger Waffen in Sinope am Schwarzen Meer gehen. Mit den Bombenkanonen, die der französische General Paixhans konstruiert hat, haben die Russen im November des vergangenen Jahres die Seeschlacht gegen die Osmanen für sich entschieden.« Gontard referierte über die eingesetzten Geschosse, die ein Kaliber von knapp einer Elle aufwiesen. Ihre glattläufigen Rohre hatten sogar eine Länge von bis zu zehn Fuß. Ahlewitz gähnte erneut. »Können Sie die Verwendung der Waffen bei Sinope näher erläutern, Herr Lieutenant?«
Ahlewitz schreckte hoch, als habe ihn jemand in den Rücken gepikt. Das hätte Gontard dem vierschrötigen Kerl gar nicht zugetraut. Das Gestammel, das der junge Offizier von sich gab, stand allerdings in erheblichem Widerspruch zu seiner aufrechten Körperhaltung. »Kann jemand helfen?«, erlöste Gontard den armen Kerl.
Lieutenant Colder aus der ersten Reihe sprang auf und ergriff das Wort. Augenscheinlich hatte er nur darauf gewartet, sein Wissen zum Besten zu geben. »Die französischen Sprenggranaten der Russen haben die osmanischen Schiffe reihenweise in Brand gesetzt. Mehrere explodierten, andere wurden auf die Felsen getrieben.« Colders Worte klangen ihrerseits, als seien sie mit Kanonen abgeschossen. Die Rede hatte der junge Mann sicher auswendig gelernt. »Innerhalb von nur zwei Stunden waren sämtliche Schwadronen der Osmanen vernichtend geschlagen. Lediglich ein einziges Schiff konnte sich der Vernichtung entziehen und rettete sich gen Konstantinopel.«
»Sehr gut, Lieutenant Colder.« Gontard sprach betont langsam. Besonders Junkerssprösslingen von den großen Landgütern im Osten des Preußenreiches fiel es häufig schwer, allzu flotten Vorträgen zu folgen. Ahlewitz glotzte prompt wie ein Ochse.
»Das Gefecht bei Sinope war die erste Seeschlacht, bei der Sprenggranaten in so großem Umfang eingesetzt wurden«, fuhr Colder unbeirrt fort. »Durch den Erfolg der Russen lässt sich prognostizieren, dass künftige Kämpfe zur See regelmäßig mit diesen Waffen ausgefochten werden.«
Besser hätte Gontard es auch nicht sagen können. Colder schaute ihn an wie ein Rappe, der nach einem gelungenen Sprung auf ein Stück Zucker wartete. Gontard war lange genug sowohl Reiter als auch Lehrer, um zu wissen, dass eine kleine Gratifikation fällig war. So sagte er: »Ich danke Ihnen für Ihre vorzüglichen Ausführungen, Herr Lieutenant Colder. Daran können Ihre Kommilitonen sich ein Beispiel nehmen. Mit Ihrem Fleiß werden Sie es in der Armee Seiner Majestät weit bringen.« Das war eine Übertreibung an der Grenze zur Lüge, das wusste Gontard. Für eine große Karriere beim Militär fehlte Colder der Adelstitel. Der Junge müsste sich das »von« vor dem Nachnamen schon durch eine Heirat beschaffen. Aber selbst das würde nur helfen, wenn die Erwählte aus einer Familie mit besten Kontakten zum Militär stammte. Eher würde dieser träge Fettsack von Ahlewitz höhere Positionen einnehmen.
Gontard lobte den Fleiß bürgerlicher Studenten eigentlich nur, um Dummköpfe wie den hier in der letzten Reihe zu reizen. Tatsächlich schnappte Ahlewitz nach Luft wie ein Fisch. Gontard verkniff sich ein Grinsen. Er kehrte zum Thema seiner Vorlesung zurück und referierte über die Bedeutung der Telegraphie für den noch jungen Krimkrieg. Vor nicht einmal einem Vierteljahr hatten die Osmanen den Russen den Krieg erklärt, in Sinope war es zur besagten Seeschlacht gekommen. Derzeit zogen die Diplomaten der europäischen Mächte im Hintergrund ihre Fäden, dazu brauchte es vor allem genaue Informationen.
Colder meldete sich, kaum dass Gontard eine längere Atempause eingelegt hatte, und fragte: »Werden wir in diesen Krieg eingreifen, Herr Oberst-Lieutenant?«
Da stellte der junge Mann vielleicht eine Frage! Gontard kramte in seinen Papieren auf dem Pult, in denen selbstverständlich keine Antwort stand. Aber es verschaffte ihm Zeit. »Ich denke, auch unsere Diplomaten werden die Verhandlungen genau verfolgen und alle Seiten unter strikter Beobachtung halten.« Gontard sah auf. Ein paar Studenten folgten seinen Ausführungen, die meisten aber räkelten sich in ihren Bänken. Ausgerechnet Ahlewitz blies seine Backen auf wie ein Frosch. Bald hatte der Kerl das ostpreußische Tierreich durch. Laut fragte Gontard: »Sie möchten etwas zum Thema beitragen, Lieutenant von Ahlewitz?«
Erneut schoss der Dicke in der letzten Reihe hoch. »Mein Vater sagt, dass es sich für eine Großmacht wie unser glorreiches Königreich nicht geziemt zu kuschen.«
Gontard wusste von den konservativen Kräften im Militär, die Preußen gern an Russlands Seite im Krieg gesehen hätten. Vorerst sah es aber nicht danach aus, als könnten diese Männer beim König viel ausrichten. »Seine Majestät hat die Neutralität unseres Landes allseits zugesichert. Bitte erarbeiten Sie bis zur nächsten Woche einen Vortrag, in dem Sie denkbare Ereignisse darlegen, die Seine Majestät von diesem Standpunkt abbringen könnten! Sie haben zu Beginn der nächsten Stunde zehn Minuten Zeit für Ihre Darlegungen, Lieutenant von Ahlewitz.«
Ach, die alte Tante Voss … Gontard saß in seinem Bureau und legte die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, wie die Vossische ganz offiziell hieß, auf den Schreibtisch und blätterte weiter. Den riesigen Artikel über den neuen preußisch-dänischen Postvertrag hatte er nur überflogen. Bestimmt gab es Geschäftsleute, die sich sehr dafür interessierten, dass ein Brief zwischen Berlin und Kopenhagen fünf Groschen kostete. Gontard kannte niemanden in der dänischen Hauptstadt. Seine Groschen brachte er auch fürderhin lieber in die Schankwirtschaft.
Auch die nächsten Spalten las er nur flüchtig. Die Kohlenausbeute der preußischen Bergwerke nimmt sowohl in Schlesien als am Rhein mit jedem Tage zu. Nach den Meldungen der letzten Tage über dramatisch steigende Getreidepreise schien sich zumindest hier etwas in die richtige Richtung zu entwickeln. Inmitten der Nachrichten entdeckte er die Armenstatistik des Königreichs. Gontard wollte schon weiterblättern, blieb dann aber bei der Zahl von 567 659 Almosenempfängern hängen. Über eine halbe Million, das war halb Berlin – oder mehrmals Breslau. Die Summe aller in diesem Jahre zur Unterstützung der Armen verausgabten Gelder belief sich auf 5 481 317 Thlr. 8 Sgr. 9 Pf. Das waren unvorstellbare Mengen Geld. Wie zu erwarten, fand man die Armen vor allem in den großen Städten vor. Gontard dachte an die vielen mittellosen Schlucker, die in den neuen Stadtteilen Berlins zusammengepfercht hausten. Die Welt drehte sich immer schneller. Telegraphenleitungen und Eisenbahnschienen zogen sich kreuz und quer durch das Land. Postsendungen sausten nach Kopenhagen und in andere große Städte im gesamten Europa. Viele Vorgänge wurden inzwischen von Maschinen erledigt, neuerdings sogar der Krieg. Zugleich hatten über eine halbe Millionen Preußen buchstäblich nicht genug Geld fürs Fressen. Kam es Gontard nur so vor, oder spielte die Welt mit jedem Tag mehr verrückt?
Es klopfte an der Tür. Nach Konversation mit Studenten stand Gontard jetzt nicht der Sinn – nicht mit einem Schlaumeier wie diesem Colder und erst recht nicht mit Strohköpfen wie von Ahlewitz. Sollte er so tun, als sei er nicht da?
Der Störenfried klopfte erneut, diesmal noch eine Spur lauter. Wollte da jemand das Holz zertrümmern?
»Ja, ja.« Gontard schob die Vossische beiseite. »Nun kommen Sie schon herein!«
Die Tür sprang auf, und ein Sergeant stand im Rahmen. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Oberst-Lieutenant!«
»Es ist gut, Herr Sergeant. Treten Sie ein! Was ist Ihr Begehr?«
Der Sergeant kam zum Tisch. Sein Gang war wankend, als habe er zum Frühstück mehrere Humpen Bier getrunken. Er blieb vor dem Schreibtisch stehen und reichte Gontard ein zusammengefaltetes Papier herüber. Gontard fiel erst jetzt auf, dass der Sergeant winzig war. Der Mann stand vor dem Tisch und musste beinahe zu ihm aufschauen, dabei saß Gontard bequem hinter dem Secretär. Vielleicht ging der Sergeant wegen seiner kurzen Beine so unsicher.
»Ich danke Ihnen, Sie können wegtreten, Herr Sergeant«, sagte Gontard, als er das Papier in der Hand hielt.
Der Kleine erstarrte, sagte aber kein Wort.
Gontard sah den Mann scharf an. »Ist noch etwas?«
»Verzeihen Sie untertänigst, Herr Oberst-Lieutenant! Herr Generalmajor von Schnöden befahl mir, auf Ihre Bestätigung zu warten.«
Gontard lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Was soll ich denn bestätigen? Etwa, dass ich dieses Papier erhalten habe?«
»Ich bitte erneut um Verzeihung. Das weiß ich nicht.« Der Kleine begann zu zittern wie Espenlaub. »Herr Generalmajor von Schnöden trug mir auf, Ihnen dieses Schreiben zu überbringen, und hieß mich, unbedingt zu warten, bis Sie eine Bestätigung geäußert haben. So lautete der Befehl, Herr Oberst-Lieutenant.« Die letzten Worte hatte der Sergeant beinahe gehaucht. Groteskerweise schien der kleine Mann lauter auszuatmen, je leiser er sprach. Nach den letzten Worten blieb Gontard kein Zweifel mehr: Der Sergeant war besoffen, voll wie eine frisch geladene Muskete. Er gab ein Bild des Jammers ab. Wurde der Kerl immer kleiner? Gontard beschloss, den Unteroffizier nicht weiter zu quälen, und entfaltete das Papier.
Sehr geehrter Herr Oberst-Lieutenant von Gontard,
ich habe einen wichtigen Auftrag in einer delikaten Angelegenheit. Sie scheinen mir die einzig passende Person für diese Causa zu sein. Bitte sorgen Sie dafür, dass Sie am Wochenende abkömmlich sind! Alles Weitere erkläre ich Ihnen am Nachmittag. Finden Sie sich zu diesem Behufe bitte gegen vier Uhr in meinem Bureau ein. Hochachtungsvoll
Generalmajor von Schnöden
Das klang freundlich, ließ aber kaum Widerrede zu. Gontard hatte nicht die geringste Vorstellung, was der Schulleiter der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule von ihm wollte. Er drehte das Blatt herum. Auf der Rückseite stand selbstverständlich auch keine Erklärung. Gontard richtete sich auf und sagte: »Herr Sergeant, informieren Sie Herrn Generalmajor von Schnöden, dass ich zum gewünschten Zeitpunkt bei ihm sein werde! Und jetzt dürfen Sie wegtreten.«
Ferdinand von Gontard lief den Flur der Kommandantur des Grenadierregiments König Friedrich Wilhelm II. Nr. 10, genannt 1. Schlesisches, hinunter. Der Gang flößte ihm Respekt ein. Oft kam er als kleiner Lieutenant nicht in diesen Teil der Kasernenanlage, und wenn es jemanden aus dem Fußvolk hierher verschlug, dann drohte nicht selten Ärger.
Wen Ferdinand von seinen Vorgesetzten auch ansprach wegen des Leichenfundes, alle wimmelten ihn ab und verwiesen auf den Kommandeur des 1. Bataillons, Generalmajor Meinrad von Frohwitz. Bei dem liefen alle Fäden der Garnison in Breslau zusammen, er war nur noch dem Kommandeur des gesamten Grenadierregiments, von Kortzfleisch, unterstellt. Also blieb Ferdinand nichts anderes übrig, er musste zum »Alten«, wie Frohwitz in der gesamten Garnison genannt wurde. Wer immer über den Bataillonskommandeur redete, sprach dessen Spitznamen mit einer Mischung aus Spott und Ehrfurcht aus. Frohwitz’ offensichtlicher Gebrechlichkeit bei Appellen stand sein scharfer Verstand gegenüber. Altgediente Offiziere behaupteten gar, Frohwitz könne Gedanken lesen. Das hielt Ferdinand zwar für übertrieben, aber es war auch ihm in den wenigen Begegnungen mit Frohwitz bisher schwergefallen, dessen durchdringendem Blick standzuhalten.
Im ersten Stock hingen die Porträts verdienter Offiziere der Garnison. Die Uniformen auf den Gemälden waren über und über mit Orden, Ehrenzeichen und Kordeln besetzt. Da erzählten die alten Offiziere immer etwas von Blut und Treue, und dann behängten sie sich mit opulentem Glitzerkram wie Weiber. Ferdinand dachte an seinen Vater, der sich über die hohen Offiziere und deren pompöse Abbildungen stets lustig machte. An dieser Galerie hätte er seine helle Freude gehabt. Ferdinand dagegen bekam bei jedem weiteren ernsten Gesichtsausdruck ein mulmigeres Gefühl.
Am Ende der Galerie bog der Gang zu Frohwitz’ Dienstzimmer ab. An der Ecke saß ein Corporal und gähnte.
»Ich möchte zu Herrn Generalmajor von Frohwitz, um eine Meldung zu machen«, sagte Ferdinand.
»Geht nicht«, nuschelte der Mann.
Ferdinand zögerte einen Augenblick. Vor ihm saß zwar lediglich ein Corporal, dem eine solch unhöfliche Rede einem Lieutenant gegenüber nicht zustand, aber immerhin handelte es sich um den Diensthabenden vor dem Zimmer des Bataillonskommandeurs. Zudem war der Kerl bestimmt zehn Jahre älter als Ferdinand. Wie würde sein Vater, der Oberst-Lieutenant von Gontard, sich in dieser Situation verhalten? Zumindest würde er sicher nicht vor einem Corporal kuschen.
»Ich habe etwas Wichtiges zu melden, Herr Corporal.« Ferdinands Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Und reden Sie gefälligst in vollständigen Sätzen mit mir!«
Der Corporal guckte wie ein Saufkumpan kurz vor einer Kneipenschlägerei. Wenigstens gähnte er nicht mehr, sondern sagte laut: »Ich habe meine Befehle, Herr Lieutenant. Der Generalmajor möchte nicht gestört werden.«
»Was ist denn das für ein Gebrüll?«, hallte es aus dem Gang.
Ferdinand erkannte die Stimme des Kommandeurs. Der Alte klang müde, so als habe er gerade ein Vormittagsschläfchen beendet. Frohwitz näherte sich mit gemessenen Schritten – oder schlurfte er?
Der Corporal sprang auf und zeigte auf Ferdinand. »Der junge Lieutenant missachtet Ihre Befehle, Herr Generalmajor!«
»Mit Verlaub, ich habe eine wichtige Meldung zu machen.« Ferdinand wandte sich direkt dem Alten zu. »Ich habe nur versucht, das dem Corporal zu vermitteln.«
»Hm.« Der Alte schaute Ferdinand eindringlich an. Da war er wieder, dieser forschende Blick. Nach einem Moment fuhr der Kommandeur fort: »Dann kommen Sie doch mit, Herr Lieutenant!« Frohwitz trottete gen Dienstzimmer, und Ferdinand folgte ihm.
Der Corporal hätte mit seinem Blick das Fegefeuer einfrieren können. Ferdinand genoss den Erfolg.
Im Dienstzimmer setzte sich der Kommandeur hinter einen barocken Secretär und sagte: »Sie müssen dem Corporal sein ungehobeltes Verhalten verzeihen. Wenn die Diensthabenden nicht so abweisend wären, fände ich nie Ruhe.«
Ferdinand merkte, wie seine Kinnlade herunterklappte. Grinste der Alte ihn an?
»Nun, mein junger Herr Lieutenant, ich habe gehört, Sie haben interessante Neuigkeiten.«
Wusste der Alte schon Bescheid? Und wenn ja, woher?
»Berichten Sie!«
»Ich habe an der Oderwiese eine Leiche entdeckt.«
»Das ist mir bekannt, Herr Lieutenant.«
Also tatsächlich … Ferdinand wusste nicht, was er dem Kommandeur noch berichten sollte. Er sagte: »Ich bin nicht sicher, ob ich die Zivilbehörden unterrichten soll. Ich habe meinen direkten Vorgesetzten bereits über den Fund informiert, aber keine klare Anweisung erhalten.«
Frohwitz hob einen Brieföffner vom Schreibtisch und richtete die Klinge auf Ferdinand. »Haben Sie bei der Leiche Hinweise auf eine Zugehörigkeit zur Armee Seiner Majestät gefunden?«
»Nein, Herr Generalmajor. Wobei die Kleidung kaum noch zu erkennen war. Einen Helm habe ich jedenfalls nicht entdeckt.«
Der Kommandeur tippte mit der Spitze des Brieföffners gegen den Zeigefinger seiner linken Hand. »Bei einem toten Zivilisten gäbe es keinen Zweifel, den würden wir den Zivilbehörden überlassen. Bei einem Armee-Angehörigen würden wir uns hingegen der Sache annehmen …«
»Ich kann Ihnen dahingehend leider keine zuverlässige Auskunft geben.«
Frohwitz legte den Brieföffner zurück auf die Tischplatte und schaute auf wie ein Großvater vom Märchenbuch. »Ihrem Vater eilt der Ruf voraus, solchen Fällen selbst auf den Grund zu gehen. Sie haben keine derartigen Ambitionen?«
»Sie meinen …«
»Ich würde sagen, Sie melden sich am Nachmittag wieder bei mir, Herr Lieutenant, und dann sehen wir, welche Informationen Sie zusammengetragen haben. Bis dahin behandeln wir die Sache vertraulich.«
Christian Philipp von Gontard lief die Linden entlang. Um genau zu sein, drängte er sich durch das Gewimmel – zwischen den Waschweibern mit ihren Körben hindurch, vorbei an Lumpensammlern, Bürgersleuten und Landeiern, die auf der Suche nach Halt in der großen Stadt waren. Alle paar Schritte bot ein Kolporteur brüllend seine Ware feil. Und das war nur das Fußvolk, das sich die Straße mit den Kutschen, Reitern und Pferdeomnibussen teilen musste. Gontard kam es so vor, als ob der Verkehr im Herzen der Residenzstadt immer dichter würde. Die Menschen schienen kaum zum Luftholen zu kommen vor lauter Eile. Wurde er einfach zu alt für diesen Trubel?
An der Friedrichstraße hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Ein fliegender Händler pries eine Zeitschrift an: Die Gartenlaube. Vor allem einfaches Volk umringte den Kolporteur und riss ihm die Blätter förmlich aus der Hand. Gontard kannte Die Gartenlaube von der Küchenmamsell. Die hatte das illustrierte Familienblatt im vergangenen Jahr erstmals mitgebracht und in jeder freien Minute darin geschmökert. Inzwischen kaufte sogar Gontards Frau Henriette gelegentlich die Zeitschrift. Er selbst hatte einzelne Artikel überflogen und für harmlos befunden. Sollten die Frauen ihren Spaß haben. Wenn ihm die vielen Käufer nur nicht den Weg versperrten! »Platz da!«, rief er.
Tatsächlich versuchten einige der Mamsellen, zur Seite auszuweichen. Nur war da kein Platz. Die Frauen zeterten wie aufgescheuchte Hühner. Doch als sie zu Gontard glotzten, riefen sie eilig Entschuldigungen.
Gontard lief einen großen Bogen um den Pulk und trat auf die Friedrichstraße. Hier bewegten sich die Fuhrwerke im Schritttempo durch das Gedränge. Auf der anderen Straßenseite sah es kaum besser aus. Erst in Richtung der Dorotheenstraße wurde die Menge lichter. Zum Glück war das sein Weg. Gontard legte einen finsteren Blick auf, und tatsächlich machten ein paar arme Schlucker Platz. Mit jedem Schritt kam er leichter voran. Nach ein paar Metern achtete er gar auf einzelne Gesichter in der Masse. War das nicht … Oje!
»Herr Oberst-Lieutenant, was für ein schöner Zufall!« Criminal-Commissarius Waldemar Werpel kam ihm entgegen und war so gut gelaunt, als sei er auf dem Weg zu seiner Beförderung.
»Herr Criminal-Commissarius, ich bin etwas in Eile«, flunkerte Gontard. Eigentlich war es egal, ob er in fünf, zehn oder zwanzig Minuten zum Mittagessen in seinem Haus um die Ecke ankam.
»Ach, ich dachte, Sie wollen vielleicht etwas über die aktuellen Criminalfälle hören …« Werpels Grinsen wurde immer breiter.
»Gibt es etwas zu berichten?«, fragte Gontard und fand, dass er eine Spur zu interessiert klang.
»Gestern stand der Tagelöhner Helm vor Gericht und wurde verurteilt.«
Gontard kannte die Geschichte aus der Gerichts-Zeitung. Der Arbeiter hatte einen Kollegen erstochen, ein anderer Arbeitskamerad hatte danebengestanden und alles bezeugen können. Die Tat war vor ein paar Monaten geschehen, gar nicht weit von hier, in der Großen Friedrichstraße No. 219. Im Hof des Geheimen Justizraths Bode hatten die drei Tagelöhner Holz geschlagen, als es zu dem Streit gekommen war. Da hatte es nicht viel zu ermitteln gegeben.
»Stellen Sie sich vor, Herr Oberst-Lieutenant, der Kerl hat noch in der Verhandlung das Unschuldslamm gespielt, obwohl er längst überführt war!« Werpel stemmte seinen rechten Arm in die Seite.
Gontard fiel auf, dass der Polizist immer dicker wurde – noch ein paar Pfund mehr, und er würde den Arm strecken müssen, um bis zum Gürtel zu gelangen. »Wie hat dieser Helm denn versucht, sich aus der Sache herauszuwinden?«, fragte Gontard. »Der Fall lag doch ziemlich klar.«
»Der Beschuldigte hat angegeben, vom Opfer und dem Zeugen angegriffen worden zu sein und in Notwehr gehandelt zu haben.« Werpel hob die Hand und fuchtelte mit dem Zeigefinger herum. »Doch von seiner Aussage kurz nach der Tat ist ein genaues Protokoll vorhanden. Im Verhör hatte Helm mir gegenüber zugegeben, dem Opfer zugerufen zu haben: ›Siehst du, Schweinehund, das geschieht dir recht!‹ In der Verhandlung hat er davon nichts mehr wissen wollen und sich als Unschuldslamm gegeben.«
Eine solche Wandlung kannte Gontard nur zu gut. In der Zelle hatten selbst die übelsten Gesellen genug Zeit, nach einer Ausrede zu suchen.
»Der Richter hat sich von dem Burschen nicht blenden lassen. Fünf Jahre darf der Kerl hinter Gittern schmoren.« Werpels Brust schwoll vor Stolz. Das machte allem Anschein nach sogar Eindruck auf die Passanten. Sie strömten herbei und ließen dabei einen ehrfürchtigen Abstand zu Gontard und Werpel von bestimmt einer halben Elle.
Gontard fand das Gehabe des Commissarius übertrieben. Der hatte lediglich einen Hitzkopf seiner gerechten Strafe zugeführt. Gontard dachte an die Criminalfälle, die er selbst in den vergangenen Jahren gelöst hatte. Bei den Tätern hatte es sich um ganz andere Kaliber gehandelt, Verbrecher, die nicht einfach vor Zeugen zustachen und sich alsbald von herbeigerufenen Polizisten in die Vogtei abführen ließen. In diesen Fällen hatte der Commissarius selten eine so selbstgefällige Miene aufgesetzt wie jetzt. Werpel übte sich bei kniffligen Angelegenheiten eher in der Kunst des Im-Weg-Stehens.
»Und Sie, Herr Oberst-Lieutenant, ermitteln Sie derzeit in einem Criminalfall?«, fragte Werpel gut gelaunt.
»Ach, Herr Commissarius«, antwortete Gontard, »ich habe derzeit viel zu tun. Seit mein neuer Bursche krank daniederliegt, merke ich, dass mir der Strohkopf bei allem Ärger doch das Leben erleichtert hat. Selbst wenn ich über eine Leiche stolpern würde, bliebe mir keine Zeit für Ermittlungen. Vermutlich würde ich mich einfach an Sie wenden.«
Die Küchenmamsell wuchtete den Suppentopf auf den Tisch in der Essküche. Sie verteilte die Portionen: eine Kelle für Henriette von Gontard, eine halbe für Luise, die Tochter des Hauses, und drei für Gontard. Es roch nach Kartoffeln, und Gontard verspürte Hunger.
Die Mamsell verließ die Küche. Henriette faltete die Hände zum Gebet. Gontard tat es seiner Frau gleich und blickte zu Luise. Die war mit ihren siebzehn Jahren eine junge Frau geworden. Gontard staunte beinahe jeden Tag über seine herangewachsene Tochter. Er wunderte sich nicht nur über die rundlichen Formen seiner Kleinen, noch mehr verwirrten ihn die erwachsenen Gesichtszüge Luises. In ihrem Antlitz zeichnete sich durchaus Anmut ab, aber für Gontards Geschmack hätte seine Tochter öfter lächeln dürfen.
Nach einem kurzen Nicken von Henriette sprach Gontard das Tischgebet, dann aßen alle. Gontards Hunger schien eigentümlicherweise mit jedem Löffel größer zu werden. Er zwang sich, die Suppe nicht hinunterzuschlingen, und blickte zu seiner Frau.
Vielleicht deutete Henriette das als Aufforderung, etwas zu sagen. »Es sind milde Tage«, stellte sie fest.
Luise nickte so ernsthaft, als sei sie in einer Behörde für Wetterangelegenheiten beschäftigt.
Gontard löffelte die Suppe. Draußen auf der Straße lag kein Schnee, aber immer wenn er ins Haus kam, war er doch froh über die wohlige Wärme des Heimes. In der Küche reichte der Herd sogar, ihn ins Schwitzen zu bringen. Gontard öffnete einen Knopf seiner Uniformjacke. Die Blicke von Frau und Tochter ruhten auf ihm. Er hielt das Wetter nicht für ein passendes Gesprächsthema, insbesondere wenn es nur um den Austausch von Belanglosigkeiten ging. Mit Schweigen würde er jedoch allem Anschein nach nicht davonkommen. Also erwiderte er: »Wenn ich den Himmel anschaue und den Wind bedenke, steht wohl Kälte bevor.« Damit schien alles gesagt. Sie aßen schweigend weiter. Mit jeder Minute erschien Gontard die Stille drückender. Noch vor einer halben Stunde hatte ihm die Hektik Unter den Linden fast die Nerven geraubt, und nun ertrug er die Ruhe nicht.
Luise hatte ihre Mahlzeit bereits beendet und legte den Löffel zur Seite.
Gontard überlegte, ob das Mädchen genug aß, war aber dann sicher, dass Henriette sich um so etwas kümmerte.
»Hast du nach dem Mahl noch Zeit, das neue Klavierstück anzuhören, das deine Tochter gerade lernt?«, fragte Henriette und schob dabei ihren leeren Teller beiseite.
»Selbstverständlich. Was spielst du gerade, Luise?«
Die Tochter schluckte.
»Sie übt am ersten Satz der Schumann’schen Phantasie. Ich finde, sie macht das ganz bezaubernd.«
Gontard teilte Henriettes Enthusiasmus für Luises Klavierspiel nur selten. Eine Clara Schumann würde sie wohl nicht werden. Allerdings spielte sie gut genug, um später in der eigenen Familie zu feierlichen Anlässen ein Ständchen zu geben. Das war zu begrüßen, wie er fand, auch wenn die Kleine sich für seinen Geschmack mit der Familiengründung noch ein paar Jahre Zeit lassen konnte.
»Sie hat mich heute Morgen ganz vorzüglich mit ihrem Spiel unterhalten«, fuhr Henriette fort.
Luise hob den Kopf, als wolle sie etwas sagen, hielt die Worte aber zurück.
»Auch die schwierigen Phrasen in d-Moll klingen nun gut. Ich bin so stolz auf unsere kleine Pianistin.«
»Mutter, bitte!«, zischte Luise.
Henriette zuckte zusammen und schaute zu ihrer Tochter. Plötzlich sah sie müde aus und alt. Sie drehte den Kopf und blickte fragend zu Gontard. Sekunden verronnen. »Luise, kannst du mir bitte erklären, was das soll?«, fragte Henriette, ohne ihren Kopf zu wenden.
»Entschuldige bitte. Es ist doch nur …« Luise vollendete den Satz nicht.
»Ich weiß manchmal nicht, was mit ihr los ist«, sagte Henriette.
Vermutlich sollte Gontard als Familienvorstand jetzt eingreifen und ein Machtwort sprechen. Doch zum einen fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können, und zum anderen wusste er nicht einmal, an wen er seine Worte hätte richten sollen. Worum ging es hier überhaupt? Luise sprach schon seit Jahren nicht allzu viel mit ihm. Gontard fragte seine Tochter gelegentlich nach ihrem Befinden, und sie erklärte in hübscher Regelmäßigkeit, ihr gehe es ausgezeichnet. Henriette hatte bislang nicht von Sorgen berichtet, was ihre Tochter anging, deshalb beließ Gontard es beim Schweigen.
»Mutter, ich bitte noch einmal um Verzeihung, aber ich fühle mich noch nicht so weit, die Phantasie jemandem vorzuspielen.«