Christian Klier, 1970 in Nürnberg geboren, studierte Germanistik und Romanistik. Der bekennende Franke arbeitet als Autor und Lehrer. Neben der Stadt Nürnberg ist sein Lebensmittelpunkt seit Kurzem auch das Kitzinger Land. 2010 erschien sein Erstling »Klotz, der Tod und das Absurde«. Es folgten »Klotz und der unbegabte Mörder« (2012) und »Klotz und der Schatz im Silbersee« (2013).
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © mauritius images/Westend61
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Julia Seuser
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-601-0
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
The woods are lovely, dark and deep,
But I have promises to keep,
And miles to go before I sleep.
Robert Frost
Wenn du verlierst, verliere nie die Lektion.
Dalai Lama
Freitag, 10. Oktober 2014
Würzburg, Alte Mainbrücke, 9 : 27 Uhr
Er sah vorbei an den Figuren aus Stein. In seinen Ohren das Rauschen des Flusses. Für einen Moment stellte er sich vor, dieses Geräusch, gleichförmig und beruhigend, sprudelte aus den Menschen, die an ihm vorbeiliefen. Doch die Menschen hatten nichts zu sagen. Die Botschaft des Wassers, das hier seit Jahrtausenden rauschte, besaß mehr Inhalt. Die Menschen hingegen plapperten nur, drehten sich um ihre lächerlichen Sorgen in ihrer kleinen begrenzten Welt.
Das Rauschen des Wassers. Wie schön wäre es, wenn die Menschen so klingen könnten wie dieses Wasser. Ihre Worte, ihre dummen Laute lösten sich auf in einem brausenden Schwall aus Nichts.
Das Nichts.
Er trug es in sich, das wusste er. Und dieses Nichts hatte ihn hierhergeführt. Auf diese Brücke, in diese Stadt.
Er war zur Antenne Gottes geworden, welche die Botschaften des Nichts empfing. Und er wusste die Botschaften zu deuten. Doch nicht nur das. Er war in der Lage, nach ihnen zu handeln. Wie viele gab es wohl, die ebenso verstanden, wie er verstand? Nur wenige, vielleicht keinen, und keiner von ihnen hatte den Mut zur Tat.
Es war das Leid. Das Leid und die Trauer, die ihn dazu befähigt hatten. Die Menschen da draußen, die ihn umspülten in ihrer profanen Alltäglichkeit, sie waren weder fähig, noch begriffen sie irgendetwas. Sie waren Objekte, die kamen und gingen. Hin und her pendelten aus einer Existenz ohne Bedeutung und wieder in sie hinein.
Sein Blick löste sich aus dem Ungefähren. Unterschied die Giebel und Turmhelme von Sankt Burkard. Er sah weiter und fokussierte schließlich eine Kirche am westlichen Ufer, die sich auf einem Berg erhob. Er fixierte die gelben Linien in der Fassade des Bauwerks, das vom Morgenlicht angestrahlt wurde. Sein Mund verzog sich zu einem unmerklichen Schmunzeln. Dort oben, dachte er, dort oben hatte er vor wenigen Jahren vor dem Altar gekniet. Hatte darum gefleht und gebettelt, dass ER in seiner Gnade sie ihm doch zurückgeben möge. Doch der HERR hatte ihn nicht erhört. Damals, dachte er weiter, damals hatte er sie noch nicht vernommen, die wahre Stimme des HERRN. War viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, nur auf die vielen eigenen Stimmen zu hören, die in seinem Inneren richtungslos wüteten. Aus tiefer Verletztheit und einem Egoismus heraus, der so grenzenlos war, dass es keine Steigerung mehr gab.
»Damals«, sagte er nun laut und wandte sich ab. Umklammerte fest den Griff des Aktenkoffers, den er bei sich trug, und ging in Richtung Altstadt. Heute wusste er es besser.
Kurz bevor er auf die Domstraße trat, drehte er sich noch einmal um. Auf der rechten Seite zwischen Brücke und Taxistand war ein Café. »Damals«, wiederholte er und ergänzte in Gedanken: Hier. Hier hatte alles begonnen.
In seinem Kopf sah er sie. Ihr dünnes weißblondes Haar, ihre helle Haut, ihr leises, beherrschtes und doch heiteres Lachen. Wie sie mit ihren Fingern das Porzellan einer wärmenden Kaffeetasse umschloss. Zwei Löffel Zucker mit einem Schuss Milch. Er hatte nichts vergessen, nicht das geringste Detail.
Vom ersten Augenblick an hatte er sie geliebt. So rasend, so ganz und gar, so unwiderruflich, dass er wusste, diese Liebe würde sein Leben lang andauern.
Er hatte sich geirrt. Denn es gab etwas, das an die Stelle dieser Liebe getreten war. Etwas, das er sich damals nicht hatte vorstellen können. Etwas, das seinen Verstand, sein Empfinden noch jetzt völlig überstieg.
»Das Nichts«, murmelte er und begann heftig zu husten. Schnell zog er ein Taschentuch hervor, um es vor den Mund zu halten. Als der Anfall vorbei war, atmete er tief ein.
Er sah auf das Blut, das in dem Taschentuch klebte. Er musste seine Mission erfüllen, solange er noch die Zeit dazu hatte.
Nürnberg, Stadtteil Johannis, 9 : 38 Uhr
Werner Klotz sah aus dem Fenster. Schräg und von fern tauchte die Sonne die Fassade des gegenüberliegenden Hauses in ein helles Licht, das erahnen ließ, dass sich der Herbst bald verabschieden würde. Eine Frau kam aus einem Hauseingang, öffnete den Deckel der blauen Tonne und stopfte eine Verpackung aus Wellpappe hinein. Ein junger Mann setzte sich auf sein Mountainbike, schob das Gatter zwischen den zwei verwaschenen Steinsäulen auf und fuhr davon. Von irgendwoher brummte ein Laubbläser.
Werner Klotz seufzte, dann drehte er sich um. Die kleine Küche seiner Ein-Zimmer-Wohnung machte einen ordentlichen Eindruck. Seit er mit Leonie zusammen war, achtete er mehr auf Sauberkeit. Die verwahrlosten Zeiten seines Single-Daseins waren vorbei, so wollte es ihm scheinen.
Das Schafsfell in der Ecke war verwaist bis auf die schwarzen Hundehaare, die es bedeckten. Leonie hatte Leberkäs, seinen Hund, heute Morgen mitgenommen, als sie ins Präsidium gegangen war. Schade, dachte er und verspürte Sehnsucht. Gerne hätte er jetzt in die großen dunklen Augen seines Labradors geguckt. Der Hund hätte es vielleicht ein wenig erträglicher gemacht.
Er setzte sich an den Tisch und starrte auf den Schokoladenkuchen, der dort platziert war. »Happy Birthday« stand da am Rand in verschnörkelter Schrift. Leonie hatte sich wirklich Mühe gegeben, und das trotz der Umstände. Sie hatte sogar sein neues Lebensalter auf den Kuchen geschrieben, mit Smarties. Heitere Farben, schreiend und bunt.
Zwischen der Vier und der Neun steckte eine Kerze. Wie ein Schuss. Ein Schuss, der dich trifft. Mitten ins Herz.
Was für ein Scheißtag, dachte er und stand auf.
Der große Zeiger der Küchenuhr sprang auf die Neun. Klotz überlegte. Sein Blick fiel auf einen vergilbten Kunstdruck. Er zeigte ein blindes Mädchen, auf dem Schoß ein Schifferklavier, das niemand mehr spielte. Ihre ineinandergeschobenen Hände schienen ein Gebet zu sprechen. Ein Gebet ohne Worte.
Klotz war schlecht. So schlecht, dass er das Radio einschaltete, um sich abzulenken. Er erkannte das Lied. Es war der Titelsong eines sehr alten Bond-Films. Er versuchte, sich an den Inhalt des Streifens zu erinnern, doch es gelang ihm nicht. Wieder sah er auf die Uhr. Neun Uhr siebenundvierzig. Noch bevor das Lied zu Ende war, ging er in den Flur, zog sich seinen Mantel über und verließ die Wohnung.
The man with the golden gun / Will get it done / He’ll shoot anyone / With his golden gun …
Nürnberg, Polizeipräsidium am Jakobsplatz, 9 : 47 Uhr
Kriminalrat Martin Fister hatte vor wenigen Wochen seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Sein Alter sah man ihm nicht an. Er gehörte zu den Menschen, die von der Natur mit Ende zwanzig, Anfang dreißig mit ihrem Forever-Face ausgestattet worden waren, auch wenn dieses ein wenig an eine Bratpfanne erinnerte, in der unentwegt eine ordentliche Menge Speck vor sich hin brutzelte. Dieser Körperteil war aber bei Weitem nicht das hervorstechendste Merkmal des leitenden Ermittlungsbeamten der Dienstaufsichtsbehörde. Martin Fister beeindruckte in erster Linie durch seine hünenhafte Gestalt von zwei Metern und vier.
Abgesehen von einem Bandscheibenvorfall, der den aufstrebenden Ermittler vor fünf Jahren mehrere Monate lang außer Gefecht gesetzt hatte, gab es in Fisters Leben grundsätzlich keine Niederlagen. Ganz im Gegenteil: Fister hatte schon früh die Weichen für ein erfülltes Leben gestellt. Noch während der Ausbildung hatte er seine Cornelia, eine pragmatische Brauereistochter aus dem unterfränkischen Ochsenfurt, geehelicht und mit ihr inzwischen vier Kinder in die Welt gesetzt.
Fister liebte seine Familie. Seine Nachkommenschaft war für ihn ein Quell unentwegter Freude. Nicht zuletzt deshalb, weil die durchweg maskuline Brut mit dem Papa in puncto kräftigem Wuchs und mäßigem Intellekt so sehr korrelierte.
Kriminalrat Fister stand im Hauptgang von Werner Klotz’ Abteilung und wunderte sich. Da er von Natur aus ein heiteres Gemüt besaß, pfiff er ein kleines Liedchen vor sich hin. »Alle Vöglein sind schon da«. Gefunden hatte er bisher kein einziges. Waren die etwa ausgeflogen? Ein plötzlicher Einsatz, von dem er nichts wusste? Er hatte bestimmt schon die Hälfte der Dezernatstüren beklopft und aufgeschoben. Die Antwort war jedes Mal eine gähnende Leere gewesen. Jetzt öffnete er die Tür zum Büro von EKHK Klotz.
Wenige Blicke genügten dem versierten Ermittler, um seine Vorurteile bestätigt zu sehen. Das fing an mit der verdreckten Kaffeemaschine, ging weiter über die abgestorbenen Zimmerpflanzen am Fenster und endete mit einer Geruchsprobe an dem durchgefurzten Chefsessel, aus dessen geplatzten Nähten der Schaumstoff quoll. Und dennoch: Es war immer von Vorteil, sich selbst ein Bild desjenigen zu machen, der sich im Fokus einer internen Ermittlung befand.
Vor zwei Tagen, als Fister mit dem Fall Werner Klotz betraut wurde, hatte er sofort mit einer Vertrauten Kontakt aufgenommen, die in der Münchner Zentrale des LKA eine leitende Position innehatte. Als er Saskia Hackreiter den Namen seines Opfers genannt hatte, war es für einen Moment still in der Leitung geworden. Dann hatte sie ihn umfassend aufgeklärt. Über die Ausbildung, die sie an der Seite dieses Werner Klotz’ vor fast dreißig Jahren absolviert hatte. Von dessen Ausfällen und dem nicht unerheblichen Alkoholkonsum. Irgendwie war es dem damaligen Anwärter Klotz trotz seines verkommenen Charakters gelungen, in den kriminalpolizeilichen Dienst aufgenommen und schließlich verbeamtet zu werden. Saskia vermutete, dass Klotz’ Vater, ein ehemals großer und einflussreicher Rechtsmediziner, dahintersteckte. Es gab einfach keine andere Erklärung, sagte sie.
Fister nahm eine Zeitung von dem vermüllten Tisch, der an den des Hauptkommissars angrenzte, und warf das Papier auf die Sitzfläche des ranzigen Bürostuhls. Dann setzte er sich. Wahllos zog er eine Schublade heraus. Auf einem »Playboy«-Magazin lag eine erhebliche Anzahl von Erdnüssen verstreut. Fister wischte den Knabberkram beiseite und erkannte die Schauspielerin Radost Bokel auf dem Cover. Er beschloss, dass er heute Abend als Erstes den Film »Momo« aus der DVD-Sammlung seiner Söhne entfernen würde. Pornografie hatte in einem Kinderzimmer nichts verloren. Dann überlegte er. Man sollte sich ja immer ein unvoreingenommenes Bild machen, bevor man voreilige Schlüsse zog. Er schlug das Männermagazin auf, da klingelte plötzlich das Telefon auf Klotz’ Schreibtisch. Fister, vor Schreck aus seinen meditativen Abwägungen gerissen, ballte seine Hand kurz zur Faust.
Dann griff er nach dem Hörer.
Nürnberg, Johannisfriedhof, 9 : 56 Uhr
Klotz setzte seinen Fuß auf die Schwelle des Nordwesteingangs und zögerte. Er wandte den Kopf nach links, wo die Sonne stand, senkte die Augen und sah an Rosenbüschen und Bäumen vorbei, bis sein Blick an dem Rot der Kirchenfassade von Sankt Johannis hängen blieb. Manche hielten dieses Areal, das sich da vor ihm erstreckte, für den schönsten Friedhof der Republik. Sah man nur die schöne Oberfläche, dann konnte man diese Meinung durchaus gelten lassen. Sondierte man allerdings in die Tiefe, bot sich ein anderes Bild. Der Johannisfriedhof war aus einer mittelalterlichen Begräbnisstätte für Lepra- und Pestkranke hervorgegangen. Prinzipiell war er hier als Polizist also richtig. An einem Ort, wo man einst die Aussätzigen der Gesellschaft versammelt hatte. Wollte man überdies der Gauß’schen Normalverteilung glauben, dann hielten sich unter der Erde genauso viele Idioten auf wie über ihr. Und mit tödlicher Sicherheit, führte er in einem Anflug von resignativer Reife seinen Gedanken zu Ende, gehörte er selbst zur letztgenannten Gruppe.
Klotz, der inzwischen die Kirche passiert hatte, bemerkte die Menschenmenge, die in der Sektion linker Hand versammelt war. Noch einmal hielt er inne. Am liebsten wäre er weggelaufen. Doch es half nichts. Es war seine verdammte Pflicht, hier zu sein. Er musste Peter Escherlich die letzte Ehre erweisen, das war er ihm schuldig. Und es war egal, was die anderen von ihm dachten. Sollten sie sich ruhig von ihm abwenden, ihn mit Verachtung strafen. Das hier war eine Sache zwischen Peter und ihm, und niemand anderes hatte das Recht oder die Fähigkeit, das besondere Verhältnis zwischen ihnen auch nur im Ansatz zu beurteilen.
Astrid Haevernick sah ihn aus geröteten Augen an.
»Alles Gute zum Geburtstag!« Sie hob die ausgestreckte Hand und schlug ihm so fest ins Gesicht, wie sie nur konnte. Der Pfarrer unterbrach seine Trauerrede und sah erschrocken auf. Astrids Mund öffnete sich, so als wollte sie etwas sagen. Doch es entwich kein Laut. Dann brach sie zusammen. Ein Schluchzen zerriss die Stille der Luft. Zwei Kollegen hielten Astrid fest an den Armen, damit sie nicht komplett auf den Boden sackte. Dann verließen sie mit ihr die Beerdigung.
Klotz erkannte die Narbe an Astrids Hals. Die Ärzte hatten tatsächlich sehr gute Arbeit geleistet. Damals vor einem Jahr, als die Beziehung zwischen ihr und Peter Escherlich begonnen hatte. Nachdem Astrid als Geisel genommen und lebensgefährlich verletzt worden war, hatte sich Peter rührend um sie gekümmert. Sobald man sie aus dem Krankenhaus entlassen hatte, war sie bei ihm eingezogen. Viel zu früh, wie Klotz fand. Und zu Anfang hatte er es auch für bedenklich gehalten, dass die beiden Kollegen nun auch privat so eng miteinander verbandelt waren. Doch war er nicht selbst seit einem Jahr mit Leonie Zangenberg, der Sekretärin der Abteilung, zusammen? Zu seiner Überraschung hatten ihre Liebesbeziehungen keinerlei negative Auswirkungen auf die Kooperationsfähigkeit der Gruppe gezeitigt. Im Gegenteil. Die Arbeit des Teams wurde zusehends respektvoller und konzentrierter. Man sprach Dinge an, die man früher aus falscher Scham vielleicht eher vermieden hätte. Eine Atmosphäre der Offenheit und gegenseitigen Wertschätzung war auf den Weg gebracht, und auch er, Werner Klotz, sah im Laufe der Zeit immer weniger Veranlassung, seine klotzigen Saiten zum Schwingen zu bringen.
Doch dann, mit einem Schlag, mit einem tödlichen Schlag aus dem Nichts, war das aufkeimende Idyll jäh zerstört worden.
Mea culpa. Mea maxima culpa.
Klotz schwieg. Er registrierte wohl, was um ihn herum geschah, doch er konnte nichts tun, nicht das Geringste. Jede Bewegung wäre ein Fehler gewesen. Als er sich seiner totalen Hilflosigkeit bewusst wurde, erstarrte er nicht nur innerlich, sondern auch in seiner Haltung. Plötzlich begriff er die Regungslosigkeit von Angeklagten vor Gericht während der Urteilsverkündung. Du bist völlig vernichtet. Du bist nichts.
Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er es.
Das Nichts.
Würzburg, Domstraße, 10 : 01 Uhr
Er hatte einen Weg gefunden, dieses Nichts, das in ihm herrschte, auszuhalten. Hatte gelernt, eine Trutzburg aus seinem Inneren zu machen, wenn auch nur für Momente. Diese Zerrissenheit war überbrückbar, das Paradox, dass er einerseits der Botschafter dieses Nichts hier auf Erden war und andererseits von ihm zerfressen wurde, konnte gelebt werden. Das Wort war seine einzige und letzte Waffe. Außer ihr würde er nichts benötigen. Das andere, der Rest, war nichts weiter als schmückendes Beiwerk.
Er sah die Straße hinunter. An den historischen Laternen vorbei, den Schienen der Straßenbahn entlang. Sein Blick fokussierte die Westfassade des Doms. Wie eine mittelalterliche Festung, dachte er. Mauern, die ein Allerheiligstes umgaben, das niemand mehr sehen wollte in dieser Welt aus Spaß und permanentem Konsum.
Er zog einen abgegriffenen Lyrikband aus der Jacketttasche und öffnete das Buch auf einer Seite, die ein Gedicht zeigte, das er seit Jahren auswendig konnte. Laut las er den Titel vor und lächelte. Dann starrte er andächtig auf die Stelle, an der er vor wenigen Tagen eine Strophe herausgetrennt hatte. Das war notwendig gewesen. Jemand anderes hatte diese Worte dringender benötigt als er. In seinem Geiste repetierte er das fehlende Textstück. Erst auf Deutsch, dann in der Originalsprache. À peine les ont-ils déposés …
Schließlich griff er mit Daumen und Zeigefinger nach dem Papier. Mit vorsichtigen Bewegungen riss er die nächste Strophe aus dem Gedicht.
Etwas vibrierte. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog sein Handy hervor. »Mama? Geht es dir gut? … Ja, das kann ich machen. Natürlich … Wenn ich mit der Arbeit fertig bin. Könnte aber etwas länger dauern. Wir haben ziemlich viel reingekriegt heute … Ja. Bis später … Nein, vergess ich nicht, bestimmt … Ich dich auch.«
Er würde es ihr niemals sagen können, dachte er und lief weiter in Richtung Marktplatz. Er durfte ihr Herz nicht brechen. Sie war alt und gebrechlich. Sie war krank. Und sie war heilig. Denn sie hatte ihn auf die Welt gebracht. Sie durfte es nie erfahren. Und würde es nie erfahren. Er würde es mit ins Grab nehmen, sein Geheimnis. Und dann würde er warten, bis seine liebe Mutter endlich neben ihm läge.
Als er an einem Marktstand für Schnittblumen ankam, hielt er an. Für das, was er plante, brauchte er unbedingt Blumen.
Nürnberg, Johannisfriedhof, 10 : 09 Uhr
Es nimmt der Augenblick, was Jahre gegeben. Der Satz hallte immer noch nach, obwohl die Grabrede des Geistlichen seit einigen Minuten beendet war.
Klotz hatte es nach Astrids Abgang nicht mehr gewagt, den Angehörigen von Peter Escherlich sein Beileid auszusprechen. Die Angst davor, man könnte eine Anteilnahme seinerseits als Affront verstehen, war zu groß gewesen. Zumindest hatte er es fertiggebracht, in die Gesichter zu sehen, die da stumm an ihm vorübergewandert waren. Ihre Trauer war unverkennbar, anklagende Blicke jedoch suchte man vergeblich. Als Peters Vater an ihm vorüberging, öffnete Klotz den Mund. »Ich … es –«
In einer abwehrenden Geste hob der alte Mann seine große, erdige Arbeiterhand. In seinem Gesicht deutete sich ein Anflug von Wut an. Dann wandte er den Kopf ab.
Klotz schwieg.
Jetzt stand er allein an dem Grab, um das eine beachtliche Anzahl von Kränzen, Gestecken und Blumengebinden versammelt war. An seinem Ende ragte ein hölzernes Kreuz empor.
Peter Escherlich * 8. August 1970 – † 2. Oktober 2014
Klotz atmete tief ein und faltete die Hände. Das hier, das geht nur dich und mich was an, Peter. Hier bin ich, Werner. Dein Mörder.
Zum tausendsten Mal erinnerte sich Klotz zurück an die Nacht, in der es geschehen war. Donnerstag, der zweite Oktober. Wenige Minuten vor Mitternacht. Diese Villa in Erlenstegen. Sie hatten einen Tipp bekommen von einem ihrer verlässlichsten Informanten. Endlich würden sie ihn kriegen. Serge Emanuel Kropp war einer der größten Mädchenhändler und Drogendealer europaweit. Ein Mörder, der unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Klotz hatte noch kurz überlegt, ob das Ding nicht vielleicht doch eine Nummer zu groß für sie sei, aber sie hatten keine Zeit gehabt, lange nachzudenken. Sie mussten handeln, oder die Sache wäre ihnen zerronnen wie Sand zwischen den Fingern.
Ich hätte wenigstens Verstärkung anfordern müssen, dachte er. Wieder sah er das blaue Licht des Swimmingpools vor seinem geistigen Auge, als sie im Keller der Villa angelangt waren. Wahrscheinlich hatten sie da längst schon gewusst, dass man ihnen auf die Spur gekommen war. Das friedliche blaue Licht, dachte er. In der Rückschau erschien es ihm, als wäre dieses Licht ein Vorbote des Unglücks gewesen.
Und dann? Dann war alles ganz schnell gegangen. Peter war durch die Flure gestürmt, er hinterher. Türen wurden geknallt, Schreie, allgemeines Chaos. Der erste Pistolenschuss. Peter, der um Hilfe schrie. Schieß, Werner! Nun schieß doch! Mit einem Schlag wurde es dunkel. Und er, der den Finger am Abzug betätigte. Ich hätte niemals auf dich hören dürfen, Peter. Niemals.
Würzburg, Maulhardgasse, 10 : 18 Uhr
Langsam war er auf den hölzernen Stufen des Treppenhauses nach oben gestiegen, bis er schließlich den dritten Stock erreichte. Als er den Koffer abstellte, vernahm er ein leises Knarzen unter seinen Füßen. Er rückte sein Jackett zurecht, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah in den Strauß aus Astern. Die Mischung aus Violett und verschiedenen Rottönen, das Rosa und Weiß strahlten Lebensfreude und Heiterkeit aus. Er neigte das Bouquet ein wenig zur Seite. Ein Sonnenstrahl fiel darauf. Für einen Moment sah man einen silbrigen Schimmer aufblitzen.
Im Türspion erkannte er die Spiegelung seines Gesichts. Es war nicht schwierig, sich um ein Lächeln zu bemühen. Fest umgriff er den Strauß, die andere Hand näherte sich dem Klingelknopf, neben dem das Namensschild angebracht war: »M. Quent. Schriftstellerin«.
Wie lächerlich sie doch waren. Und wie gierig nach Anerkennung. Diese Autoren! Er schüttelte den Kopf. Die Tür wurde geöffnet.
Eine Dreiviertelstunde später sah er auf seine Hände, von denen nun eine Mischung aus Blut, Fugenkitt und Silikon tropfte, hinein in ein verdrecktes Spundloch. Noch einmal griff er nach der Seife, noch einmal rieb er Handflächen und -rücken aneinander, noch einmal hielt er sie unter den wärmenden Wasserstrahl.
Lächerlich.
Er drehte sich um. Endlich steckte sie in der Duschkabine, und endlich war alles dicht. Es war alles ganz anders gewesen, als sie es in ihrem Buch beschrieben hatte. Aber das war ihm ja schon vorher klar gewesen. Diese Krimiautoren waren doch Nichtskönner, und das ausnahmslos! Allesamt billige Trittbrettfahrer, die auf den fahrenden Zug sprangen, um sich in ihrer Eitelkeit von einer Öffentlichkeit feiern zu lassen, die nicht den geringsten Anspruch stellte. Zum Glück war er da anders.
Wütend griff er nach den Utensilien, die er in der Badewanne abgelegt hatte, und packte sie zurück in den Koffer, in dem schon ihre Kleidung lag. Hammer, Bohrer, Schraubenzieher, die Kartuschenpistole für das Silikon, ein paar Dübel und den Kitt.
Er blickte auf den Blumenstrauß, in dem das Messer gesteckt hatte. Ihn durfte er nicht vergessen. Auf keinen Fall.
Bevor er das Bad verließ, trat er ein letztes Mal an die gläserne Kabine heran. Durch die mattierten Scheiben konnte er sie sehen, wie ihr Haar im Wasser schwebte. Und er dachte an die andere Frau. Die, die er nicht vergessen konnte. An ihr leises Lachen, ihren Duft, ihre Berührung. Ohne dass er es bemerkt hatte, hatten sich seine Fingerspitzen auf die Plastikscheibe der Duschkabine gelegt. Er wollte gerade gehen, als er plötzlich einen Hustenanfall bekam.
Nürnberg, Polizeipräsidium am Jakobsplatz, 10 : 58 Uhr
»Du bist also doch hingegangen.«
Der Satz klang weniger vorwurfsvoll, als er gemeint war, das war Klotz durchaus bewusst. Leonie sah gut aus wie immer. Das blonde Haar, der rote Mund, die silbernen Ohrringe, das schwarze Oberteil. Sie sah ihn an, und es beschlich ihn das Gefühl, als habe sich in ihren Blick eine distanzierte Note geschlichen. Sie tat einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Zum ersten Mal hatte er Angst, er könne sie verlieren.
Als ob sie seinen Gedanken erraten hatte, sagte sie: »Egal, was ist. Egal, was passiert. Ich werde immer zu dir halten.« Sie gab ihm einen Kuss, der so leicht, so unmerklich war, dass er seine Lippen kaum berührte.
»Wo ist Leberkäs?«, fragte Klotz.
»Ich hab ihn vor einer halben Stunde in deinem Büro untergebracht. Eigentlich müsste er noch dort sein.«
»Dann geh ich mal nachsehen.«
Er hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt, als Leonie eine Geste machte, die ihn innehalten ließ. »Ach ja, da ist noch was«, sagte sie.
Er machte ein fragendes Gesicht.
»Ein Herr Kriminalrat Fister ist in deinem Büro. Er wartet schon eine Weile auf dich. Es geht um … na ja, die Sache eben.«
Klotz schwieg und verließ das Sekretariat.
Das nehme ich dir jetzt wirklich übel, dachte er wenig später, als er die Tür zu seinem Büro aufschob und seinen Blick auf Leberkäs richtete. Der schwarze Labrador war gerade dabei, eine zerknüllte Schachtel Zigaretten in die überdimensionierte Hand des leitenden Ermittlungsbeamten der Dienstaufsicht abzulegen. Dieser strich dem hechelnden Labrador über den Kopf und sagte: »Brav, mein Guter, brav!«
Im nächsten Moment warf Fister die Schachtel in die gegenüberliegende Ecke. Der Hund sprang hinterher.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« Klotz schlüpfte aus seinem Mantel und hängte ihn an den Kleiderständer. Fisters missbilligender Blick in Richtung Kaffeemaschine war ihm nicht entgangen.
»Nein, danke, Herr Klotz.«
Ist klar. So Typen wie du haben zu Hause einen picobello Kaffeevollautomaten rumstehen, den sie häufiger polieren als die eigene Frau. Klotz wandte sich um und sah zu dem Hünen, der da in seinem Chefsessel steckte. »Ihr Hosenladen steht offen.«
Auf Fisters Gesicht zeichnete sich ein verlegenes Lächeln ab. Schnell schloss er den Reißverschluss. »Nehmen Sie doch Platz. Es ist ja Ihr Büro.« Er hatte den Arm ausgestreckt und machte eine einladende Geste, die auf Peter Escherlichs Stuhl zeigte.
Einen Teufel werd ich tun, du Arschloch. Klotz steckte die Hände in die Hosentaschen. »Was wollen Sie?«
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie«, antwortete Fister in gönnerhaftem Ton.
Am besten du fragst mich jetzt noch, welche ich zuerst hören will.
»Welche möchten Sie zuerst hören?«
Klotz machte eine Drehung um hundertachtzig Grad und riss die Tür auf. »Raus! Aber sofort!«
Es dauerte exakt fünf Minuten, bis das Telefon läutete. Klotz, der inzwischen auf seinem vorgewärmten Platz saß, nahm ab. Polizeipräsident Huber sparte sich jegliche Begrüßungsfloskel. Er ging sofort in medias res.
»Verdammt noch mal, Klotz! Jetzt machen Sie die Sache doch nicht unnötig schlimmer, als sie eh schon ist!«
Schlimmer geht immer.
»Was soll ich denn machen, Herr Polizeipräsident? Ich komme in mein Büro, und der Typ sitzt in seiner breitärschigen Herrlichkeit in meinem Stuhl und –«
»Reden Sie gefälligst nicht so despektierlich über den Leiter der internen Ermittlungskommission! Kriminalrat Fister ist ein durch und durch honoriger Mensch. Ich lasse es nicht zu, dass Sie verdiente Kollegen mit Ihren Spottreden in den Dreck ziehen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Präsident. So war das nicht gemeint.«
Eigentlich war es genau so gemeint, aber egal. Klotz lehnte sich zurück und zog eine Schublade auf. Neben einem vollgeschnäuzten Kaffeefilter lag eine vor sich hin bräunende Banane. Komisch, irgendwo müssten doch noch Erdnüsse sein.
»Nicht gemeint, nicht gemeint!«, echauffierte sich Huber. Klotz entfernte den Telefonhörer einige Zentimeter vom Ohr und schloss die Schublade, um die darunterliegende zu öffnen. »Wenn Sie auch nur einmal nachdenken würden, bevor Sie den Mund aufmachen!« Klotz öffnete gerade denselbigen, aber nicht, weil er etwas sagen wollte. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«, fuhr Polizeipräsident Huber fort. »Reicht denn nicht, was schon geschehen ist? Müssen Sie auch noch den Rest zertrümmern?« Keine Erdnüsse, dafür der »Playboy«, aufgeschlagen. Radost Bokel splitterfasernackt. Hat dieses Arschloch etwa in meinen Sachen herumgewühlt? »Also, irgendwie …«, stammelte Huber, während Klotz den »Playboy« aus der Schublade nahm und ihn unter das Licht der Schreibtischlampe hielt. »… mir fehlen die Worte.« Mir auch, mein Guter, mir auch. Fremde Fingerabdrücke. Groß und breit. Von einer Frauenhand stammen die nicht.
»Herr Präsident«, antwortete Klotz schließlich, »ich entschuldige mich ja. Aber könnten Sie mir jetzt bitte mitteilen, wie der Stand der Dinge ist?« Er warf das Magazin zurück in die Schublade.
»Eigentlich müsste ich Sie sofort suspendieren. Aufgrund unserer dünnen Personaldecke allerdings … Um es kurz zu machen: Es ist mir gelungen, Kriminalrat Fister dazu zu bewegen, dass Sie bis zum Ende der Untersuchung weiterarbeiten dürfen.«
Klotz kämpfte gegen die innere Wut, die in ihm hochstieg. »Dieser Fister. Das ist wirklich ein ganz feiner Kerl, da bin ich mir absolut sicher. Vielen Dank, Herr Präsident«, quetschte er zwischen seinen Zähnen hervor, bevor er den Hörer zurück auf die Station legte.
Jetzt saß er doch auf Escherlichs Bürostuhl. Vor ihm ein Durcheinander, das seinesgleichen suchte. Gebrauchte Automatenbecher aus Plastik. Eine Tasse, die mit einem Schneemann bedruckt war und vor Kippen überquoll. Zerknüllte Servietten und Zeitungen, abgebrannte Streichhölzer, Stifte, Textmarker, ein angebrochener Blister Ibuprofen, eine leere Big-Mac-Schachtel, eine abgebissene Bifi-Wurst, schon völlig dehydriert. Dazwischen Post-its und Notizzettel, auf die in unleserlicher Schrift mehr oder weniger wichtige Dinge gekritzelt waren. Das ganze Arrangement wahlweise mit Kaffeeflecken oder Ascheresten garniert.
Er nahm die angebrochene Zigarettenschachtel und öffnete sie. Vier Zigaretten. Die letzten vier Sargnägel, die Peter nicht mehr hatte rauchen können. Klotz hätte vor Verzweiflung beinahe laut aufgelacht.
Er steckte sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen und griff nach einer Streichholzschachtel. Fast acht Jahre, dachte er, als das Ende der Zigarette hell aufglühte. Acht Jahre warst du clean. Und jetzt?
Er würde rauchen, beschloss er. Wie ein Wahnsinniger würde er qualmen. Ein Fabrikschlot würde ein Dreck dagegen sein. Und er würde sich über jedes Rauchverbot hinwegsetzen, immer und überall. Die brennende Zigarette – sein Banner und sein Feldzeichen.
Ein Zeichen dafür, dass er nicht einverstanden war.
Samstag, 11. Oktober 2014
Nürnberg, Hirschelgasse, 7 : 28 Uhr
Klotz hatte das schon lange nicht mehr gemacht, und es entsprach auch überhaupt nicht seiner Gewohnheit. Vielleicht war ja der Nikotin-Overload daran schuld, dass er schon um zehn nach sechs aufgewacht war und nun diesen Spaziergang unternahm. Vielleicht war es auch nur sein Mördergewissen, das ihn nicht schlafen ließ. Er wusste es nicht. Was er allerdings wusste, war, dass er es zu Hause nicht eine Sekunde länger ausgehalten hätte. Seit es geschehen war, stellte sich regelmäßig ein Fluchtreflex ein, wenn er sich in seiner Wohnung befand. Das Einzige, was ein wenig half, war der allabendliche Alkohol. Nun aber begann der Morgen.
Er blies den Rauch aus und warf die brennende Kippe auf den Boden. Dann blickte er nach links, wo das Fachwerk des Tucherschlosses durch die Äste schimmerte. Neben ihm hechelte Leberkäs kleine Atemwölkchen in die Luft.
Er sah nach Osten, wo – bedrohlich und rot – die Dämmerung des anbrechenden Tages im Himmel hing. Er spürte ein kurzes Zucken in der Magengegend, atmete ein, griff in die Innentasche seines Mantels und zog sein Handy heraus. Er musste mit Leonie sprechen. Ihre Stimme hören. Erklären, warum er gestern Abend nicht zu ihr gefahren war. Warum er nicht …
Plötzlich vernahm er das Geräusch von splitterndem Glas. Schnell steckte er das Handy weg. Dann wechselte er die Straßenseite. Der Hund bellte kurz auf, bevor er losschoss.
Klotz packte die Frau am Oberarm. »Ruhig, Leberkäs! Lass los!«, richtete er das Wort an den Labrador, der an einem Hosenbein der Frau herumzerrte.
Der Hund gehorchte. Erwartungsvoll blickte er sein Herrchen an. Klotz wendete einen Spezialgriff an, sodass die Frau zu Boden ging. Er warf einen Seitenblick auf das zerschlagene Fenster eines alten Mercedes.
»Was soll das hier werden?«
»Aua! Lass mich los! Du tust mir weh!«
Klotz erschrak. Er kannte die Stimme. Er hatte sie schon einmal gehört. Vor langer, langer Zeit. Er griff die Frau an den Schultern, zog sie hoch und wendete den hageren Körper. Ein fahles, ausgemergeltes Gesicht. Dünne Haarsträhnen, graublond, die an Stirn und Wangenknochen klebten. Klotz durchsuchte mit Hochdruck die verborgenen Pfade seiner Erinnerung. Er war nah dran, das spürte er. Er sah ihr Bild vor sich, Schule, Abitur 1985, allein der Name … Jetzt schlug sie die Lider nach oben. Ihre Augen. Dieses Grünblau. Hell und unverwechselbar.
»Jutta?«
Sie sah ihn an mit einem Blick, in dem eine Mischung aus Verständnislosigkeit und Überraschung lag. »Woher weißt du … Werner? Bist du das?«
Er lockerte seinen Griff. »Jutta?« Für einen Moment erkannte er das junge hübsche Mädchen wieder, mit dem er bei einem Schulausflug in der zehnten Klasse kurz Händchen gehalten hatte. In das er vielleicht sogar ein wenig verliebt gewesen war. Dann besann er sich. »Was machst du hier?«
»Werner, ich glaub’s nicht!« Jutta lächelte. »Weißt du noch? Es muss im Sommer ’82 gewesen sein. Du warst –«
»Jutta! Was ist los mit dir? Steckst du in Schwierigkeiten?«
Die Angesprochene schwieg. Erst jetzt bemerkte er die heruntergekommene Kleidung, in der sie steckte. Ihr Rollkragenpullover hatte deutlich erkennbare Risse, ihre Jeans sah nicht besser aus. Die Schuhe waren abgeschabt und schmutzig. Ob sie auf der Straße lebte? Konnte das sein?
Jutta sah auf. Dann wandte sie sich zur Seite. Klotz folgte ihrem Blick. In dem Erker an der Südfassade des Tucherschlosses bewegte sich die Gardine. Bevor Klotz sich wieder auf Jutta konzentrieren konnte, war sie auf und davon.
Klotz sah ihr nach. Seine Hand am Halsband des Labradors, der vor Erwartung bebte.
»Nein, Leberkäs. Sie nicht.«
Was immer dich so weit gebracht hat, Jutta. Ich wünsche dir alles Gute.
Während er ihr nachsah, zündete er sich eine Zigarette an und sog die ersten Züge in sich ein. Da kam ein Streifenwagen um die Ecke und durchbrach mit quietschenden Reifen die Stille. Klotz drehte sich um und blickte direkt in die Scheinwerfer. Im gleichen Moment schaltete sich das Blaulicht ein. Klotz wollte darauf zugehen, doch sein Handy läutete. Eine unbekannte Nummer erschien auf dem Display.
Hustend und seine Zigarette ausdrückend, nahm er das Gespräch entgegen. »Ja, bitte?«
»Hier ist Knödel, Hugo Knödel.«
»Das ist jetzt nicht wahr, oder doch? Knödel! Wie geht es Ihnen?«
»Die Frage müsste wohl eher lauten: Wie geht es Ihnen? Offensichtlich stecken Sie in ernsthaften Schwierigkeiten.«
Klotz blickte zu dem Streifenwagen, aus dem eben zwei Beamte ausstiegen, um Kurs auf ihn zu nehmen. »Woher wissen Sie –«
»Drehen Sie sich doch bitte mal um.«
»Warum sollte ich?«
»Tun Sie’s einfach.«
Klotz machte eine Drehung. Er sah einen Mann näher kommen, der gerade sein Handy einklappte. Als Knödel endlich vor ihm stand, fixierte Klotz das glatte Gesicht seines Gegenübers. Gestutzte Koteletten, gezupfte Augenbrauen, ausrasierte Nasenlöcher und ein schmaler Oberlippenbart, dem etwas Distinguiertes anhaftete. Er steckte in einem malvenfarbenen Nadelstreifenanzug. Darunter glänzende Lackschuhe in Weiß. Das Ganze gekrönt von einem Borsalino-Hut in Anthrazit. Knödel sah aus, als käme er gerade von einem Filmset, an dem Thomas Manns »Tod in Venedig« neu inszeniert wurde.
»Mensch, Knödel!« Klotz schlug dem Kollegen aus Gößweinstein freundschaftlich auf die Schulter. »Was verschlägt Sie denn nach Nürnberg? Was machen Sie hier? Und woher haben Sie überhaupt –«
»Eine Handyortung ist eine der leichtesten Übungen der Kriminalpolizei«, fiel Knödel ihm ins Wort. »Und um weiteren Fragen zuvorzukommen: Ich wurde Ihnen kurzfristig zugeteilt. Staatsanwältin Gulden und Polizeipräsident Huber haben mich angefordert, weil ich ja mit Ihnen schon zusammengearbeitet habe.«
Klotz erinnerte sich mit Grausen an einen Einsatz letztes Jahr an Weihnachten in dieser saukalten Fränkischen Schweiz, wo sich der Schnee meterhoch türmte. »Sie mir zugeteilt? Wollen Sie mich verarschen, Knödel?«
»Das Vergnügen …«, Knödel lüftete in einer galanten Bewegung den Hut, »… liegt ganz auf meiner Seite. Aber ich war auch ziemlich erstaunt, als ich als Ihr neuer Assistent abgestellt wurde. Und dass wir so schnell einen Fall bekommen würden. Das ist die Großstadt, schätze ich.«
Klotz schwieg, und Knödel wandte sich den beiden Streifenpolizisten zu, die inzwischen begonnen hatten, den aufgebrochenen Mercedes zu inspizieren. »Kann ich Ihnen weiterhelfen, meine Herren?«