Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2014 Emons Verlag GmbH
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Umschlagmotive: iStockphoto.com/Marek Mnich, fotolia.com/moleskostudio, fotolia.com/blinkblink, sxc.hu/Billy Alexander
Umschlaggestaltung: Franziska Emons/Tobias Doetsch
Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-615-7
Landkrimi
Originalausgabe
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Für Josi
Am meisten Unkraut trägt der fetteste Boden.
William Shakespeare, Heinrich IV.
1
Montagmorgen
Es gab nicht viele Dinge in ihrem Leben, die sie bereute. Nicht mal die Entscheidung, ins Filmbusiness zu gehen und ihr Leben auf dem Land in Texas aufzugeben. Obwohl sie aus ebendiesem Filmgeschäft bis hierher geflohen war, nach Fischbach.
Der Hof ihres Urgroßvaters Robert Kutscher nahm langsam Gestalt an. Alles, was sie sich in ihrem Kopf bezüglich des Umbaus ausgemalt hatte, stand nun größtenteils in Stein und Holz vor ihr. Ein Stall für zehn Pferde mit einer direkt daran anschließenden Werkstatt, die sie für eine alte Leidenschaft nutzen wollte, die ihr Großvater sie gelehrt hatte: das Gitarrenbauen. Rund um das Wohnhaus waren die Bauarbeiten noch in vollem Gang. Sie hatte sich eine das Haus umfassende Veranda gewünscht, so wie es bei ihr zu Hause üblich war. An die zwei Säulen, die das kleine Vordach über dem Eingang stützten, sollte sich eine Balustrade anschließen, die bis hinter das Haus verlaufen sollte, wo eine Treppe hinunter in den Garten führte.
Shelly zog die Post aus ihrem amerikanischen Briefkasten und betrachtete das Grundstück mit Zufriedenheit und dem Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie hatte Fischbach, Texas, gegen Fischbach, Niedersachsen, eingetauscht. Und ihr Dasein als Serienstar gegen ein Dasein als Pferdezüchterin und Gitarrenbauerin.
Sie klemmte sich die Zeitung unter den Arm und schritt zurück zum Haus, wo ein Arbeiter gerade die Eingangsstufen mit einem Presslufthammer wegstemmte. Der Krach war das Schlimmste an dem Umbau, doch irgendwann würde auch das vorbei sein, und sie könnte in aller Ruhe hier auf der Veranda sitzen, ihre Stiefel auf die Balustrade gelegt, und den Sonnenuntergang bei einem kühlen Bier genießen. Oh ja, das war eine Aussicht, die ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Im Esszimmer warf sie die Zeitung neben ihren Teller und holte sich einen frisch gebrühten Kaffee aus der Küche. Während sie frühstückte, las sie den »Houston Chronicle«. Es war Juli, in Fischbach maß man dreiundzwanzig Grad Celsius, in Texas herrschten derweil zweiundvierzig Grad. Wenn sie ehrlich mit sich war, vermisste sie die Hitze und sogar den Staub. Aber die Brötchen hier waren unglaublich. So etwas bekam man in ganz Texas nicht. Sie nahm einen weiteren Bissen und sah auf die Uhr. In einer halben Stunde begann der Reitunterricht.
»Morgen, Shelly«, sagte Simon und strahlte sie an.
»Morgen, Simon. Gute Laune, wie immer, was?«, entgegnete sie kess, weil sie meinte zu wissen, woher seine positiven Gefühle rührten. Er hatte sich ein wenig in sie verguckt. Shelly war eine sehr attraktive Frau, die ihre Wirkung auf Männer im Allgemeinen nicht verfehlte, bei Simon Langensalza jedoch war es noch etwas anderes. Er hatte nicht einfach nur ein Auge auf sie geworfen oder bestaunte ihre äußerlichen Reize, nein, Simon war glücklich, wenn er sie sah. Zumindest interpretierte Shelly sein euphorisches Verhalten so. Und sie fühlte sich geschmeichelt, vielleicht sogar mehr als das.
»Wie sieht’s mit deinem Stall aus, wann ist er bezugsfertig?«, fragte Simon.
Sie marschierten Seite an Seite in Richtung Reithalle. Beide führten ihre Pferde am Zügel. Ruhig und entspannt trotteten Simons Fürst Metternich und Shellys Pancake hinter ihnen her. Pancake war ein weiß-brauner Pinto aus einer indianischen Zucht, ein Geschenk. Shelly und er waren unzertrennlich. Sie liebte dieses Pferd, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liebte Pancake auch sie.
»Heute wird die letzte Stalltür geliefert und angebracht. Dann fehlen nur noch Heu und Stroh, und Pancake kann endlich umziehen.«
Der Pinto stand, solange bei Shelly noch gearbeitet wurde, im Stall von Simon, und das seit dem Frühjahr, als die beiden hier angekommen waren.
»Schade, ich hatte mich schon an ihn gewöhnt«, meinte Simon.
»Aber wir kommen dich doch regelmäßig besuchen«, tröstete Shelly ihn und streichelte dabei Pancakes Nüstern.
Seit Anfang Juni arbeitete sie als Reitlehrerin auf Simons Hof. Sie unterrichtete die Auszubildenden zweimal wöchentlich im Westernstil, aber sie war öfter hier zu Besuch. Gleich bei ihrer Ankunft in Deutschland waren Shelly, ihr Nachbar Simon und seine Tochter Sara zu guten Freunden geworden. Shelly hatte den beiden geholfen, als zwei Auszubildende ein teuflisches Spiel mit ihnen getrieben hatten, bei dem es um Betrug und Erpressung gegangen war. Die beiden Kerle hatten Simon fast ins Gefängnis gebracht, doch dank Shelly war die Sache aufgeflogen, und alles hatte sich zum Guten gewendet. Anscheinend besaß Shelly nicht nur in der Fernsehserie, in der sie eine texanische Polizistin darstellte, ein Näschen für Verbrechen.
»Ich sage Peter Bescheid, dass er nachher mit dem Traktor rüberfährt und dir schon mal das Stroh bringt«, sagte Simon, als sie die Reithalle betraten.
»Das wäre super, ich kann’s kaum noch erwarten, Pancake endlich bei mir zu haben.« Shelly umarmte ihren Pinto, der liebevoll schnaubte und mit dem Vorderhuf auftrat.
»Ja«, murmelte Simon abwesend und blickte fast ein bisschen neidisch auf Shellys Geschmuse mit ihrem Pferd.
»Hast du inzwischen ein bisschen trainiert?«, fragte sie Simon, der zwar Besitzer des Hofes, aber im Westernreiten ebenfalls ihr Schüler war.
»Sicher, du wirst staunen. Ich bin von John Wayne kaum noch zu unterscheiden.«
Shelly lachte laut auf. »Na dann, rein in den Sattel, und zeig mir mal einen Slide and Stop.«
Simon schwang sich auf sein Pferd und blinzelte irritiert. »Was ist ein Slide and Stop?«
Shelly winkte ab. »Dafür ist dein Pferd zu groß, lass mal. Um mich fürs Erste von deinen John-Wayne-Qualitäten zu überzeugen, reicht es, wenn du ihn einhändig durch die Stangen manövrieren kannst.« Sie wies auf den kleinen Parcours, den sie in der hinteren linken Ecke der Halle aufgebaut hatte. »Aber mach schnell, bevor dich deine eigenen Schüler sehen«, rief sie.
»Wie bitte? Du glaubst wohl, dass ich mich lächerlich mache, was? Dann pass mal schön auf.« Er nahm die Zügel locker in seine rechte Hand, hielt den linken Arm leicht angewinkelt und wendete sein Pferd. Im leichten Trab ritt er zum Ende der Halle, beschrieb einen kleinen Bogen und kam vor dem Slalomparcours zum Stehen.
»Schön!«, rief Shelly ihm zu. »Wo ist dein Hut?«
Simon griff sich an den Kopf. »Den hab ich vergessen«, rief er zurück.
»Punktabzug«, meinte Shelly grinsend. Sie legte Wert darauf, dass ihre Schüler während der Reitstunden einen Cowboyhut trugen. Sie selbst hatte ihren eierschalenfarbenen Stetson auf dem Kopf, von dem sie noch vier weitere Modelle besaß.
Simon schnalzte, und Metternich setzte sich in Bewegung.
»Nur mit dem Körper und nur mit einer Hand«, wies Shelly ihn an, als er mit den Zügeln lenken wollte.
»Ja, ja«, moserte Simon und löste die linke Hand, wobei er sich automatisch nach links verlagerte, obwohl er rechtsherum gehen wollte.
Metternich wurde zusehends irritierter ob der Befehle, die er von seinem Reiter bekam. Man sah ihm an, dass er nicht mehr wusste, was er machen sollte, und so riss er den Kopf hoch und verabschiedete sich mit einem kurzen Antritt aus der Übung. Simon fluchte.
»Na, Bleichgesicht?«, stichelte Shelly. »Du bist zu steif für einen Cowboy. Entspann deine Hüften, entspann deinen ganzen Körper. Sei einfach lässig.«
»Lässig«, wiederholte Simon genervt.
Jetzt betraten die ersten Auszubildenden die Halle.
»Na endlich, gut, dass ihr kommt, wir warten hier schon eine Ewigkeit«, rief Simon gefrustet.
»Morgen«, grüßte Shelly. »Ihr seid alle pünktlich, keine Sorge. Und alle haben an den Hut gedacht, nur einer nicht …«
Die Schüler blickten wie auf Kommando zu Simon, der grummelnd vom Pferd stieg.
Es folgte eine zweistündige Unterrichtseinheit, während der die fünf Reitschüler zunächst durch die Slalomstangen ritten und anschließend das Rückwärtsgehen übten.
Simon versuchte gerade, Metternich zumindest zum Zurücklehnen zu überreden. Der Hannoveraner Hengst hatte seinen Kopf tief nach unten gedrückt und schaute mit großen Augen zwischen seinen Beinen hindurch nach hinten. Er buckelte und zog das Hinterteil ein, schien sich aber nicht so recht zu trauen.
»Gut. Das ist gut, gleich seid ihr so weit«, freute sich Shelly, die das Geschehen von der Bande aus aufmerksam verfolgte.
Man konnte Simon seine Anstrengung ansehen. Er hatte als erfahrener Reiter den größten Ehrgeiz, hier vor allen anderen nicht zu versagen. Während er sich noch abmühte, betrat Sara, Simons Tochter, die Halle. Wütend stapfte sie durch die Sägespäne auf die Gruppe zu und knallte ihren Rucksack an die Bande. Metternich erschrak und machte einen Satz nach vorn.
»Verdammt, Sara!«, schimpfte Simon.
Shelly erkannte, dass das Mädchen geweint hatte und völlig aufgelöst war.
»Ist schon gut«, rief sie Simon zu und nahm dabei Sara in den Arm. »Schluss für heute. Gute Arbeit.«
Sie wandte sich dem Mädchen zu. »Was ist dir denn passiert?«
»Ach, die Scheiß-Philister«, jammerte sie und rieb sich ihre geröteten Augen.
»Wer oder was ist das?«, fragte Shelly.
»Meine Scheiß-Geschichtslehrerin.«
»Aha. Lass mich raten, es hat mit deinem Zeugnis zu tun?«
Sara sah Shelly nur traurig an.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Simon energisch, nachdem er vom Pferd gestiegen war. Er kam auf die beiden zugestiefelt, mit vor Ärger hektischen roten Flecken in seinem Gesicht.
Shelly hob beschwichtigend ihre Hand. »Sie wollte es gerade erzählen.«
»Und?« Simon bedeutete Sara weiterzusprechen und stützte sich mit einer Hand an der Bande ab.
»Ich hab drei Punkte in der Geschichtsklausur. Damit krieg ich einen Unterkurs, obwohl ich fast das Gleiche geschrieben habe wie Tanja, und die hat neun Punkte bekommen.«
»Hast du von ihr abgeschrieben?«, fragte Simon.
»Nein, Papa. Wir haben zusammen gelernt, das weißt du doch. Aber Frau Philister denkt, dass ich abgeschrieben hab.«
»Also doch.«
»Nein, ich hab nicht … Verdammt, warum glaubst du mir nicht?«
»Nicht in dem Ton, junge Dame«, mahnte Simon.
»Dann nenn mich nicht junge Dame, der Ton ist nämlich derselbe.«
»Also, bevor ihr euch gleich die Halse umdreht …«
»Hälse«, korrigierte Simon Shelly unwirsch.
»Die Hälse, gehen wir erst mal rein und trinken einen schönen Whisky.«
Die beiden warfen ihr einen verblüfften Blick zu.
»Ja, ja, Sara kriegt einen Tee.«
Sie gingen ins Haus und setzten sich ins Wohnzimmer. Shelly kam mit Tee und zwei Gläsern Whisky und stellte sie auf dem Tischchen ab.
»Shelly, es ist Vormittag, ich kann doch jetzt noch keinen …«
»Trink, du musst dich beruhigen«, sagte sie und stieß ihr Glas gegen seins.
Sara nippte vorsichtig an ihrem Tee. Sie behielt die Tasse in der Hand, um ihre kalten Finger zu wärmen.
»Okay, dann mal ganz von vorn«, meinte Shelly und lehnte sich zurück.
»Wir haben heute die Arbeit wiederbekommen, und die Philister hat mir drei Punkte gegeben, weil ich bei einer Aufgabe angeblich abgeschrieben habe.«
»Aber du hast nicht abgeschrieben, oder?«, fragte Shelly, bevor Simon den Mund aufmachen konnte.
»Nein. Tanja und ich haben dasselbe geschrieben, weil wir dasselbe gelernt haben. Dafür habe ich null Punkte bekommen. Und Tanja die volle Punktzahl. Dabei hätte sie genauso gut von mir abgeschrieben haben können, aber die Philister mag mich einfach nicht. Die will mich abschießen«, sage Sara und stellte ihre Tasse so unwirsch auf den Tisch, dass etwas Tee herausschwappte.
»Sara, bitte keine falschen Verdächtigungen. Ich bin sicher, Frau Philister hatte ihre Gründe«, sagte Simon.
»Was? Du glaubst ihr mehr als mir?« Sara wollte schon aufspringen und hinausstürmen, doch Shelly hielt sie auf.
Schnaufend ließ Sara sich wieder auf das Sofa fallen, sie verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
»Sara«, begann Simon mit betont ruhiger Stimme, »Frau Philister ist eine erfahrene Lehrerin …«
»Sie ist eine Hexe, und sie hat es auf mich abgesehen. Wir hatten einen Riesenstreit hinterher.«
»Bitte?«
»Ja, ich hab mit ihr sprechen wollen, aber sie wollte mir überhaupt nicht zuhören. Sogar meine Mitschüler haben mich unterstützt, aber sie hat nur gesagt, dass sie sich das nicht anhören will. Letztes Jahr hat sie Tabea abgesägt, und dieses Jahr bin ich dran«, sagte Sara aufgebracht.
»Wer ist Tabea?«, fragte Shelly.
»Eine Freundin von mir, die diese Hexe durchs Abi hat rasseln lassen. Wir sind früher zusammen geritten, jetzt haben ihre Eltern ihr das verboten, und wir sehen uns außerhalb der Schule kaum noch. Alles ihretwegen.«
»Darf ich die Arbeit mal sehen?«, fragte Simon.
Mürrisch kramte Sara in ihrem Rucksack herum. Da klingelte das Telefon. Simon stand auf und nahm das Gespräch entgegen.
»Langensalza«, meldete er sich genervt. »Oh, Frau Philister. Guten Tag.«
Saras Kopf schoss in die Höhe. Mit glühenden Wangen und weit aufgerissenen Augen blickte sie zu ihrem Vater. Auch Shelly sah Simon gespannt an.
»Ja, ich habe schon davon gehört«, sagte Simon. »Wir besprechen das gerade.«
Er lauschte der Stimme im Hörer, die Sara und Shelly nur als quäkende Laute vernehmen konnten.
»Mhm, mhm … ja … aha …«, sagte Simon.
Sara rutschte nervös auf dem Sofa hin und her.
»Ja, ich verstehe. Mhm. Ach so, ja.«
Sara hielt es kaum noch aus.
»Ja, ist gut, Ihnen auch. Auf Wiederhören.« Simon legte auf.
»Was hat sie gesagt?«, wollte Sara wissen und machte ein Gesicht, als ahnte sie Böses.
»Sie war sehr nett und ruhig am Telefon«, sagte Simon und setzte sich wieder.
»Natürlich ist sie nett zu dir«, keifte Sara.
»Sie hat mir erklärt, dass sie davon ausgehen muss, dass du es warst, die abgeschrieben hat, weil bei dir die Begründungen für das fehlten, was ihr beide geschrieben habt.«
»Hä? Was ist los?«
»Sie hat auch gesagt, dass sie nicht anders reagieren konnte und schon ein Auge zugedrückt hat, weil sie eigentlich die ganze Arbeit mit null Punkten hätte bewerten müssen. Aber sie findet, dass du ein nettes Mädchen bist, das eigentlich sehr fleißig arbeitet.«
»Oh mein Gott«, rief Sara. »Oh. Mein. Gott. Diese hinterhältige Schlange.«
»Du kannst, glaube ich, noch ganz froh sein mit den drei Punkten.«
»Papa, kapierst du denn nicht? Ich habe nicht abgekupfert. Ich hab nichts Falsches gemacht. Und du lässt dich einfach von ihr einwickeln.«
»Sie hat mir erzählt, dass du ihr gegenüber ausfallend geworden bist. Allein deswegen könntest du einen Schulverweis bekommen. Aber sie wird es nicht dem Rektor melden.«
Sara schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Sie kämpfte mit den Tränen.
»Danke für dein Vertrauen«, sagte sie schließlich und lief nach oben in ihr Zimmer.
Simon griff zu seinem Glas und leerte es in einem Zug. Shelly wartete noch einen Moment, bevor sie ihn ansprach.
»Wem glaubst du, Simon? Deiner Tochter oder der Lehrerin?«
Er sah Shelly lange unentschlossen an, bevor er antwortete.
»Ich weiß nicht.«
»Doch.«
»Nein, ich bin mir nicht sicher.«
»Doch, bist du.«
»Shelly, was willst du?«
»Wem glaubst du?«
»Frau Philister, Herrgott.«
»Ganz genau.«
»Und?«
»Deswegen weint deine Tochter jetzt da oben.«
»Ja, ich kann’s doch auch nicht ändern.«
»Na ja …«
»Was, na ja?«
»Natürlich könntest du. Wenn du ihr geglaubt hättest, würde sie jetzt noch hier sitzen, und Frau Philimister würde sich ärgern.«
»Philister«, korrigierte Simon.
»Ich weiß.«
»Und was willst du jetzt von mir?«
»Ich will gar nichts. Ich frage mich nur, ob es richtig ist, deiner Tochter zu misstrauen. Was, wenn sie recht hat?«
Simon stutzte.
Shelly stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich muss jetzt los. Oppermann kommt gleich und liefert endlich meinen Mesquitebaum.«
Simon blieb ratlos zurück, während Shelly leise die Tür hinter sich zuzog.
2
Montagmittag
Der grüne Laster der Firma »Gartenbau Oppermann« kam gegen zwölf Uhr mittags auf den Kutscher-Hof gefahren. Auf der offenen Ladefläche stand, mit einigen Seilen verzurrt, ein knorriger, ausladend gewachsener Baum mit dünnem, fast zartem Blattwerk.
Shelly blickte aus dem Küchenfenster und lief sogleich nach vorn, wo sie fast die weggestemmte Treppe hinuntergefallen wäre. Sie konnte gerade noch ausweichen und an der Seite über den Handwerker hinweg auf den Hof springen.
»Hoppla, ’tschuldigung«, rief sie und lief dem aussteigenden Oppermann entgegen.
»Immer wenn ich komme, bringen Sie fast jemanden um«, begrüßte er sie. »Nur gut, dass dieses Mal nicht ich das Opfer war.«
»Hallo, Herr Oppermann.« Shelly lächelte entwaffnend und streckte ihm ihre Hand entgegen. Er nahm sie und drückte sie kurz, während seine Linke bereits zu der Brusttasche seines karierten Flanellhemdes wanderte und eine Packung Marlboro herauszog. Im Hintergrund lösten zwei seiner Mitarbeiter die Seile von dem Baum.
»Ham Se Feuer?«, fragte Oppermann, und seine drahtigen Augenbrauen hoben sich in seine hohe Stirn hinein. Er tastete alle seine Taschen ab.
»Ich rauche nicht, das wissen Sie doch«, meinte Shelly.
»Selber schuld«, sagte Oppermann und ging zurück zum Laster, wo er ein Feuerzeug in der Wagentür fand. Tief den Rauch inhalierend gesellte er sich wieder zu Shelly.
»Na, da isse endlich, Ihre Wüstenpflanze. Wolln ma sehen, wie lange die hier überlebt.« Er hustete fürchterlich.
»Länger als Sie, hoffe ich«, bemerkte Shelly trocken.
Seine großen, froschartig hervorstehenden Augen sahen sie entrüstet an. »Ich bin fit wie’n Müsliriegel.«
»Natürlich, Herr Oppermann. Aber meinen Baum müssen Sie besser pflegen als Ihre Lunge.«
Er blickte auf die Zigarette und drehte sie in seinen Fingern. »Räucherware hält sich länger«, meinte er, und nun sah Shelly ihn mit großen Augen an.
»Wie bitte?«
»Ach, Sie kommen ja nich von hier. Dat bedeutet, dass …« Er überlegte angestrengt. »Wat soll’s, vergessen Sie’s. Ihr Bäumchen ist bei mir jedenfalls in den besten Händen. Ich werde Drainagen legen, damit es nicht zu viel Wasser abbekommt.«
»Ich vertraue Ihnen völlig«, sagte Shelly.
»Dat is gut so. Wir heben jetzt hinten dat Loch aus, und dann bringen wa gleich noch’n kleinen Gabelstapler vorbei, der die Wüstenblume in Ihren Garten bugsiert. Mit viel Spucke und ein paar Zichten sind wir gegen siebzehn Uhr fertig. Sie können Ihr hübsches Gestell ja so lange in den Sonnenstuhl legen.« Er nahm einen letzten Zug und schnippte den Stummel auf die Ladefläche.
Es war ein sehr geschäftiger Tag auf dem Kutscher-Hof. Um kurz nach zwei kam die noch fehlende Stalltür und wurde sogleich installiert. Shelly blickte stolz auf das fertige Zuhause für Pancake und die anderen Pferde, die sie darin unterbringen und aufziehen würde. Herr Daniel, der Chef der Baufirma, die Stall und Veranda baute, kam heute persönlich vorbei und gratulierte Shelly zum abgeschlossenen Bauprojekt.
»Sie werden hier sicher tolle Pferde züchten. Die Tiere werden es gut haben bei Ihnen«, sagte er feierlich.
»Weil Sie mich in die Lage versetzt haben, Herr Daniel. Vielen Dank für alles.«
»Noch sind wir ja nicht fertig, am Haus geht’s noch weiter. Aber dürfte ich Sie trotzdem um einen kleinen Gefallen bitten?«
»Sicher, was kann ich tun?«
»Ich habe eine kleine Nichte. Die ist ein absoluter Fan von Marshall Stone und hätte furchtbar gern ein Autogramm von Ihnen, wenn das möglich wäre. Ich hab ihr erzählt, dass ich für Sie arbeite, und sie ist fast ausgeflippt.« Er lachte schüchtern.
»Aber natürlich, Herr Daniel. Kommen Sie bitte mit rein.«
Sie gingen rüber ins Haus, und Daniel begutachtete kurz die Fortschritte an der Treppe. Er beugte sich zu seinem Mitarbeiter hinunter. »Hier müssen Sie gut auf die alten Balken aufpassen, Weber. Wenn Sie mit dem Schlaghammer dagegenkommen, können wir sie vergessen.«
»Wird gemacht, Chef.«
Daniel klopfte dem Mann auf die Schulter und folgte Shelly ins Haus. »Es wird doch langsam. Auch Ihr Garten nimmt inzwischen Form an«, kommentierte er die Arbeiten hinter dem Haus mit einem Blick durch das Terrassenfenster.
»Ja, ich bin ganz glücklich, dass mein Baum jetzt da ist. Ein paar Findlinge hab ich auch noch bestellt. So, was soll ich denn auf die Karte schreiben?« Shelly wedelte mit einem Foto von ihr als Marshall Stone auf Lone Star, ihrem Fernsehpferd, in der Luft herum.
»Na, was man halt so schreibt …«
»Sagen Sie mir noch den Namen Ihrer Nichte?«
»Ach so, ja, Stefanie.«
Shelly setzte sich an den Esstisch.
»Okay, also für Stefanie. Was kann ich denn mal schreiben?« Sie überlegte mit dem Stift an der Lippe.
»Hey, du hässlicher Waschbär, nimm deine dreckigen Pfoten hoch, oder ich mach ’ne Mütze aus dir«, hörten sie plötzlich eine Stimme im Flur sagen.
Shelly fuhr herum und erkannte Peter, der im Türrahmen stand und aufgeregt von einem Fuß auf den anderen trat. Peter war die gute Seele auf Simons Hof und erledigte dort alle anfallenden Arbeiten. Er war geistig etwas zurückgeblieben, aber ein feiner Kerl, und er war ein wandelndes Lexikon, was Shellys Fernsehserie anbelangte.
»Stör ich?«, fragte er vorsichtig.
»Peter, nein, komm doch rein«, sagte Shelly.
»Ich hab das Stroh dabei«, sagte er und deutete mit dem Daumen über seine Schulter.
»Prima. Ich komme gleich raus, ja? Fahr doch schon mal vor den Stall.«
»Alles klar, Marshall«, entgegnete Peter und machte wieder kehrt.
»Marshall?«, fragte Daniel mit einem Grinsen im Gesicht.
»Er ist so süß, oder?«
Shelly blickte durch die Terrassentür nach draußen, wo Oppermann über der ausgehobenen Grube stand und dem Baggerfahrer gerade mit einer Handbewegung signalisierte anzuhalten.
»Gut. Ich schreibe also: Für Stefanie, ganz liebe Grüße von deiner Shelly Kutscher. Ist das in Ordnung?«
»Ganz prima, danke.«
Shelly schrieb langsam, um auf Deutsch keinen Fehler zu machen, und unterzeichnete dann schwungvoll. Der Stift quietschte auf dem Fotopapier, sodass man die ersten Schreie gar nicht hören konnte. Aber dann vernahm Shelly eine tiefe Männerstimme, die sich dem Haus näherte. Sie wandte sich zur Terrasse um und sah, dass einer der Arbeiter gestikulierend auf sie zukam.
»Frau Kutscher!«
Shelly erhob sich und öffnete die Tür zum Garten.
»Was ist los?« Sie war besorgt, denn das bleiche Gesicht des Mannes verriet, dass etwas passiert sein musste. Sie dachte sofort an einen Unfall. Vielleicht hatte die Baggerschaufel seinen Kollegen erwischt. Oppermann stand immer noch über das Loch gebeugt und stierte angestrengt hinein. Vom dritten Mann war nichts zu sehen.
»Frau Kutscher, kommen Sie. Wir haben da was gefunden.«
Sie fragte nicht, was die Männer entdeckt hatten, sondern lief im Laufschritt zu der für ihren wunderschönen Mesquitebaum ausgehobenen Grube. Daniel heftete sich ihr an die Fersen.
Das Loch maß ungefähr drei Meter im Durchmesser und reichte knapp zwei Meter tief in die Erde. Wurzelstränge lugten wie Adern aus dem Erdreich heraus, und am Boden der Grube kniete der zweite Mitarbeiter und kratzte mit den Händen in der Erde herum. Shelly stellte sich neben Oppermann. Noch hatte sie nicht erkannt, um was es hier eigentlich ging. Eine Verletzung konnte sie jedenfalls ausschließen.
»Wat für ’ne verdammte Scheiße ham Sie denn hier im Garten liegen?«, sagte Oppermann, richtete sich auf und wischte sich den Schweiß von seiner geröteten Halbglatze.
»Wovon reden Sie?«, fragte Shelly.
Der Mann in der Grube stand auf und deutete auf ein paar dunkle Äste oder Wurzeln zu seinen Füßen. »Sehen Sie sich das mal an«, meinte er mit belegter Stimme.
»Können Sie nicht weitergraben wegen der Wurzeln?«
Oppermann sah Shelly an, als sei sie nicht ganz bei Verstand. »Dat sind keine Wurzeln, meine Liebe, dat sind Knochen. Da liegt ein verdammter Toter in Ihrem Garten.«
Jetzt erst wurde Shelly die Struktur bewusst. Die Anordnung der einzelnen Teile. Sie waren so dunkel, dass Shelly sie nicht mit Knochen assoziierte, aber tatsächlich: Dort unten lag das Skelett eines Menschen. Sie erkannte die Füße, die Beine, die Rippen und natürlich die Wirbelsäule und schließlich den Kopf, der am schwersten zu erkennen war, denn er lag mit dem Gesicht nach unten.
»Ich wollt nur ’nen verfluchten Baum pflanzen, und jetzt steh ich hier knietief in ’ner Geisterbahn. Dat ist nicht gut für meine Pumpe«, sagte Oppermann und fummelte eine Zigarette aus der Schachtel in seiner Hemdtasche.
»Ist das wirklich ein Mensch?«, wollte Shelly wissen. Eigentlich war es ihr klar, aber sie wollte es nicht wahrhaben.
»Na, ’n Dinosaurier isses jedenfalls nich«, murmelte Oppermann mit der Zigarette im Mundwinkel. Er pustete den Rauch in die Luft. »Ich denke, Sie sollten die Polizei rufen, meine Liebe. Dat sieht gaaar nich gut aus.«
* * *
Kommissar Stresser kam gut eine Stunde später an, nachdem Shelly sich direkt bei ihm gemeldet hatte. Sie kannten sich noch von der Geschichte mit Simons Auszubildenden. Stresser hatte damals eine Zeit lang gebraucht, bis er so etwas wie Sympathie für Shelly entwickeln konnte. Mit ihrer beharrlichen Art hatte sie ihn ein ums andere Mal zur Weißglut gebracht.
»Frau Kutscher«, rief Stresser, als er mit seinem Kollegen Piesmeier den Garten betrat. Sie winkte die beiden zu sich. Oppermann saß auf einem Reifen des Baggers und rauchte. Daniel war inzwischen gefahren.
»Hallo, Herr Stresser. Herr Piesmeier.« Sie schüttelten sich die Hände.
Stresser war wie immer in einen karierten beigen Anzug gekleidet, mit Weste, weißem Hemd und Fliege. Dank seinem Schnäuzer, der seine schmalen Lippen fast vollständig bedeckte, und seinen kurzen, aber lockigen Haaren glich er so mehr einem britischen Wissenschaftler als einem niedersächsischen Polizeibeamten.
»Dass wir uns so schnell wiedersehen …«, sagte er bedauernd.
»Tja, das hätte ich auch nicht gedacht, schon gar nicht unter solchen Umständen.«
»Ist sie dadrin?« Stresser deutete auf das Loch.
Shelly nickte und führte die beiden Männer zum Rand der Grube. Sie bückten sich, um besser sehen zu können.
»Sie haben recht. Das ist ein menschliches Skelett. Wir haben eine Leiche. Piesmeier, könnten Sie bitte die Kriminaltechnik anrufen? Da liegt etwas Arbeit vor uns.«
Die Spurensicherung und der Rechtsmediziner arbeiteten im Garten, während Stresser, Piesmeier und Shelly im Haus über den Fund sprachen.
»Seit wann wohnen Sie jetzt hier, Frau Kutscher?«
»Drei Monate«, antwortete Shelly.
»Und in dieser Zeit ist Ihnen nichts Verdächtiges aufgefallen in Ihrem Garten? Nächtliche Ruhestörung vielleicht?«
»Sie meinen, jemand könnte da draußen eine Leiche vergraben haben, während ich hier zu Hause war und schlief? Nein, nein. Warum sollte derjenige das tun?«
Stresser wackelte unentschlossen mit seinem Schnauzbart. »Um den Verdacht auf Sie zu lenken?«
»Aber wer weiß denn schon, dass ich hier wohne? Und vor allem, wer kennt mich hier?«
»Die ganze Welt kennt Sie«, sagte Stresser.
»Sie kannten Frau Kutscher nicht, Chef«, warf Piesmeier ein.
»Doch, tat ich wohl. Ich habe nur die Serie nicht immer verfolgt.«
»Gar nicht«, brachte Piesmeier es auf den Punkt.
»Ach, was wissen Sie denn schon? Aber zurück zum Fall. Es könnte sich herumgesprochen haben, dass Sie nach Fischbach gezogen sind, Frau Kutscher, allerdings …«
»Was?«, fragte Shelly.
»Die Verwesung ist ja quasi vollständig. Ich bezweifle, dass das in drei Monaten möglich ist.«
»Da ist was dran«, sagte Piesmeier und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Mmmm, der ist gut.«
»Danke. Das liegt an der Kaffeemaschine.«
»Frau Kutscher, können Sie sich vielleicht erinnern, ob sich der Rasen an dieser Stelle bei Ihrem Einzug irgendwie vom Rest unterschieden hat? Eine andere Farbe? Eine Erhebung, irgendwas?« Stresser saß vor seinem kleinen Notizblöckchen und blickte sie erwartungsvoll an.
»Nein, mir ist nichts aufgefallen.«
»Sind in letzter Zeit fremde Personen bei Ihnen aufgetaucht? Hat jemand an der Tür geklingelt? Wollte Ihnen jemand was verkaufen oder etwas wissen?«
»Auch nicht.«
»An Ihrer Stelle«, riet Piesmeier, »würde ich mir dringend einen großen Hund zulegen.«
»Wenn jemand das Grundstück betritt, wird Pancake sich schon melden.«
»Ihr Pferd, Pancake?«, fragte Piesmeier neugierig.
»Ja, er bekommt alles mit, glauben Sie mir.«
»Ein Wachpferd sozusagen«, konstatierte Piesmeier grinsend, doch als er in das versteinerte Gesicht seines Vorgesetzten sah, verging ihm das Lachen.
Stresser drückte ein paarmal auf seinen Kugelschreiber und wollte gerade mit der Fragerei fortfahren, als es an der Terrassentür klopfte. Dr. Breitsam, der Rechtsmediziner, ein kleiner, untersetzter Mann in einem viel zu großen Mantel, lugte durch die Scheibe.
»Ich lasse ihn rein«, meinte Piesmeier und öffnete.
»Tach allerseits«, grüßte Dr. Breitsam und hob schnuppernd seine Nase. »Oh, ich rieche Kaffee. Dürfte ich vielleicht ein kleines Tässchen …«
Shelly ging in die Küche und holte ihm Kaffee, während er sich zu Stresser und Piesmeier setzte und aus irgendeinem unerfindlichen Grund seinen gesamten Tascheninhalt hervorkramte und auf den Tisch legte.
»Bitte sehr.« Shelly stellte die Tasse vor ihn hin. Dr. Breitsam bedankte sich mit einem Nicken und einem freudigen Grunzen. Shelly setzte sich, und er stopfte den Krimskrams aus seinen Taschen mit vollen Händen wieder zurück.
»Sie wohnen hier?«, fragte er Shelly.
»Ja, richtig.«
»Eigentum oder zur Miete?« Er nahm einen Schluck und lächelte glücklich.
»Der Hof gehört mir.«
»Schön, wirklich, und der Kaffee ist hervorragend.«
»Danke. Das liegt an der Maschine.«
»Prächtig, prächtig.«
»Breitsam, könnten Sie endlich mal etwas über Ihre Arbeit verlauten lassen?«, fragte Stresser ungeduldig.
»Wie? Ach so, selbstverständlich. Also, die junge Dame hier kann es nicht gewesen sein. Der arme Knochenmann ist schon seit mindestens fünfzig Jahren tot. Da waren Sie ja noch gar nicht auf der Welt«, sagte er und lachte heiter.
»Weiter«, forderte Stresser ihn auf.
»Etwas Kuchen wäre jetzt nicht schlecht, was?«
»Breitsam …« Stressers Stimme war zwei Oktaven tiefer gerutscht, und sein Bart wippte bedrohlich hin und her.
»Ja, ja. Also, ich würde mal auf Mord tippen, er hat sich ja schließlich nicht selber eingraben können, nicht wahr?« Dr. Breitsam lachte erneut. »Aber auf den ersten Blick konnte ich keine äußerliche Einwirkung feststellen. Exakt kann ich das natürlich erst sagen, wenn ich ihn bei mir im Kachelkabuff habe.« Er beugte sich zu Shelly hinüber und fügte etwas leiser hinzu: »So nenn ich die Rechtsmedizin. Hat Ihnen übrigens schon mal jemand gesagt, dass Sie wie Shelly Kutscher aussehen? Die Schauspielerin?«
»Breitsam, Mensch!«, platzte es aus Stresser heraus.
»Was denn, kann man doch sagen. Ist schließlich ein Kompliment. Kennt ihr Marshall Stone nicht?«
»Das ist Shelly Kutscher, Dr. Breitsam«, erklärte Piesmeier mit einem vorsichtigen Seitenblick auf Shelly.
Der Rechtsmediziner gab ungläubig einen erstickten Laut von sich und blickte forschend in Shellys Gesicht. »Ihr wollt mich aufn Arm nehmen.«
Piesmeier schüttelte ernst den Kopf.
Shelly signierte eine der noch auf dem Tisch liegenden Autogrammkarten und schob sie Dr. Breitsam rüber. Mit offenem Mund starrte er das Foto an.
»Sie sind …«, hauchte er kraftlos.
Shelly nickte.
»Aber wie kommen Sie …«
»Hierher? Mit dem Flugzeug.«
»Aber was … wie …« Er verstummte. Dann stand er plötzlich auf, ging zu Shelly hinüber und reichte ihr die Hand. »Es tut mir wirklich außerordentlich leid, Frau Marshall, äh, Frau … Mrs. Kutscher. Ich bin untröstlich.«
»Konnten Sie ja nicht ahnen. Ich würde jetzt aber gern wieder auf den Toten in meinem Garten zurückkommen. Ich möchte, dass das schnell und ohne großes …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. Zwar hatte sie Deutsch schon als Kind von ihrem Vater und Großvater in Texas gelernt, aber es fehlten hin und wieder einige Vokabeln, die es auf den Punkt brachten.
»Ohne viel Aufhebens«, half Stresser ihr aus.
»Genau. Ohne viel Aufhebens erledigt wird.«
»Selbstverständlich, Frau … Mrs. Kutscher, Sie können sich da ganz auf mich verlassen, ich werde sofort in mein Kachelkabuff fahren und mit der Untersuchung beginnen«, meinte Dr. Breitsam eilfertig. Als er schon aufstehen wollte, hielt Stresser ihn zurück.
»Gibt es sonst noch Informationen, die du uns geben kannst?«
»Was? Ach so, ja, der Tote liegt, wie gesagt, schon ziemlich lange dort unten. Es ist eine männliche, erwachsene Leiche, und wenn alle Knochen geborgen sind, geht es gleich los, damit Mrs. Kutscher hier ihre Ruhe hat.«
»Gut, gut. Dann wollen wir dich nicht weiter aufhalten.«
Dr. Breitsam entschuldigte sich ein weiteres Mal bei Shelly und verabschiedete sich mit einer tiefen Verneigung.
»Interessante Männer gibt’s hier in Niedersachsen«, meinte Shelly grinsend, als er gegangen war, und auch Stresser und Piesmeier konnten sich ein Lachen nicht verkneifen.
»Tut mir leid, er ist ein Unikat, ja«, bestätigte Stresser. Dann wurde er wieder dienstlich. »Frau Kutscher, ich habe noch eine weitere Frage an Sie. Wer hat vor Ihnen das Haus bewohnt? Wenn die Leiche tatsächlich seit über fünfzig Jahren dort gelegen hat, sind die Vorbesitzer von Bedeutung.«
»Ich habe das Anwesen vor einem Jahr von meinem Vater geerbt. Das Haus stand die letzten fünf Jahre leer, und bis ich nach Deutschland kam, hat sich eine Maklerfirma darum gekümmert. Die Firma Renter, hier in Fischbach.«
»Ist gut, ich werde mich dort erkundigen. Vielen Dank. Tja, es tut mir leid, dass Sie in Ihrem neuen Zuhause so empfangen werden. Aber es ist schön geworden.«
»Danke. Eigentlich hatten wir heute einen Baum pflanzen wollen, aber das müssen wir wohl verschieben.«
»Leider ja. Auf unbestimmte Zeit.«
3
Montagabend
Shelly saß mit Simon und Sara am Abendbrottisch. Sie hatte nach der ganzen Aufregung ein wenig Gesellschaft nötig und war daher zu ihren Nachbarn gegangen.
»Das ist ja so was von unheimlich«, sagte Sara und schüttelte sich, nachdem Shelly berichtet hatte.
»Aber wer kann denn das sein? Er muss ja dort gewohnt haben«, vermutete Simon.
In der Küche brutzelte es immer lauter, und der Geruch nach Gebratenem wurde stärker.
»Schatz, siehst du mal in der Küche nach?«, bat Simon seine Tochter, die sogleich aufsprang.
»Was gibt’s denn?«, fragte Shelly, die jetzt einen mächtigen Hunger verspürte. Das Mittagessen hatte sie heute ausfallen lassen.
»Ein niedersächsisches Spezialgericht: aufgebratene Nudeln.«
»Aufgebraten?«
»Ja, wenn man sie gestern gekocht hat und die Reste in der Pfanne aufwärmt, nennt man das aufbraten.«
»Klingt gut.«
Sara kam mit einer großen Schüssel zurück an den Tisch.
»Sind schon etwas dunkel«, sagte sie entschuldigend.
»Ach, Amerikaner sehen das nicht so eng. Wir garen unser Fleisch am liebsten über offenem Feuer.«
»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Simon, während Sara die Teller füllte.
»Die Knochen werden untersucht. Mehr kann man wohl im Moment nicht tun, nach so langer Zeit.«
»Na, dann guten Appetit«, meinte Simon und machte sich über das Essen her.
»Und bei euch?«, fragte Shelly, nachdem der erste Hunger gestillt war. »Habt ihr zwei euch ein wenig beruhigt?«
Die beiden tauschten einen abschätzenden Blick über den Tisch hinweg.
»Geht so«, meinte Sara.
»Sie bekommt einen Unterkurs, Geschichte ist aber ausgerechnet ihr Pluskurs. Das zählt also fürs Abi nächstes Jahr.«
»Willst du was dagegen unternehmen?«, fragte Shelly.
»Ich? Was soll ich denn da machen?«
»Kann man nicht noch mal nachfragen oder die beiden Arbeiten einfach mal vergleichen? Tanja ist doch immerhin Saras Freundin.«
»Äh, ich …«, stammelte Simon etwas überrumpelt.
»Lass gut sein, Shelly. Das macht er sowieso nicht«, meinte Sara.
»Was soll denn das nun wieder heißen?«, verlangte Simon zu wissen und richtete sich kerzengerade auf seinem Stuhl auf.
»Du würdest deswegen niemals zu der Philister gehen, das weiß ich.«
»Stimmt doch gar nicht. Vielleicht hab ich das ja sogar schon in Erwägung gezogen.«
Sara legte ihr Besteck auf den Teller, dass es klimperte. »Papa, erzähl doch keine Märchen.«
»Wie bitte?«, fragte er entrüstet, doch Sara stand schon auf und räumte ihren Teller ab.
»Wie die mit mir redet«, meinte er zu Shelly. »Das muss die Pubertät sein.«
Shelly lächelte begütigend. »Was hat sie eigentlich bei dem Streit zu der Philimister gesagt?«
»Philister. Weiß ich nicht, sie hat sich geweigert, darüber zu reden, und die Lehrerin hat auch nichts Konkretes gesagt. Das macht mich nervös.« Auch er ließ nun Messer und Gabel auf den Teller fallen. »Ich hab keinen Appetit mehr.«
Sie hörten, wie die Haustür zugeworfen wurde und Sara wütend die Stufen zur Auffahrt hinunterstapfte.
»Wo will sie denn jetzt hin?«, fragte Simon ungehalten.
»Sich Luft verschaffen.« Shelly schielte auf Simons Teller. »Dürfte ich das dann vielleicht aufessen?«
* * *
Shelly fröstelte, als sie im Dunkeln nach Hause ging und ihr Anwesen betrat. Die Untersuchungen der Polizei hatten verhindert, dass der Stall heute für Pancake bezugsfertig gemacht werden konnte, und so fühlte sich Shelly allein, ohne ihr Pferd, und nicht ganz wohl in ihrer Haut. Das schwarze Loch in ihrem Garten gähnte unheimlich in den Nachthimmel, der von einem kalten Mond hinter dünnen Wolkenschleiern beleuchtet wurde. Sie schloss ihre Tür ab und schaltete den Fernseher ein. Heute wollte sie auf der Couch übernachten, also holte sie ihr Bettzeug aus dem Schlafzimmer. Nach einem Glas Bourbon konnte sie ihre Augen nicht mehr aufhalten und fiel in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte sie gegen sieben Uhr. Der Fernseher lief noch immer. Sie blinzelte eben verschlafen hinaus in den Garten, als es an der Tür klingelte. Shelly zuckte kurz zusammen und warf dann die Bettdecke zur Seite. Wahrscheinlich waren es nur die Handwerker.
»Guten Morgen, Frau Kutscher, Holzleitner, von der Kriminaltechnik«, stellte sich ihr ein gemütlich dreinblickender Herr mit silbergrauen Haaren vor. »Wir machen jetzt in Ihrem Garten weiter. Ich wollte nur Bescheid geben.«
»Danke, das ist nett«, sagte Shelly und strich ihre Haare aus dem Gesicht.
Holzleitner begab sich mit zwei seiner Kollegen nach hinten. Auch Daniels Mitarbeiter kamen soeben an und grüßten Shelly mit einem Winken. Sie zog sich ins Haus zurück, nahm eine Dusche und ging nach dem Frühstück hinüber zu Simon, um mit Pancake einen morgendlichen Ausritt in den Fischbacher Forst zu machen.
Es war ein schwüler Tag. Schon jetzt, in den Morgenstunden, stand die Luft feucht und dick im Wald. Die Sonne schien von einem diffusen Wolkenhimmel, und bereits nach kurzer Zeit waren Reiterin und Pferd nass geschwitzt.
Shelly verausgabte sich und Pancake auf den längeren Strecken durch den Kiefernwald. Die Hufe des Pintos pflügten durch tiefe, sandige Erde. Am Ende des Weges gabelte sich die Pferdespur, der sie folgten, und sie schlug den rechten Weg ein. Die Bäume standen hier dichter und überragten den schmalen Pfad wie ein Dach. Augenblicklich wurde es dunkler. An einigen Stellen musste Shelly sich sogar unter den tief hängenden Ästen hindurchducken. Rechter Hand verlief ein Zaun, der ein quadratisches Stück Wald eingrenzte, in dem einige Bäume gefällt worden waren. Sie ließ das Areal hinter sich und ritt auf eine weitere Abzweigung zu. Mit einem Mal stoppte Pancake abrupt und machte ein paar Schritte zurück, als verweigerte er ein Hindernis. Shelly wurde nach vorn geworfen und wäre vor Überraschung fast aus dem Sattel gekippt.
»Ho, ho, ho! Pany, was ist los mit dir?«, rief sie.
Pancake wieherte nervös und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter zu machen. Shelly merkte, dass es keinen Zweck hatte, ihn vorwärts zu zwingen. Daher stieg sie ab und streichelte das Pferd, um es zu beruhigen.
»Schschsch. Alles gut. Calm down, alles gut«, sagte sie mit weicher Stimme. »Was ist los? Was hast du gesehen?«
Sie lugte in den schattigen Wald. Da war nichts Auffälliges zu erkennen. Vielleicht eine Horde Wildschweine, dachte Shelly. In dem Fall wäre es wohl ratsam, einfach wieder umzukehren. Mit einem wütenden Wildschweinkeiler legte man sich besser nicht an. Trotzdem machte Shelly noch ein, zwei Schritte nach vorn.
Grauer Dunst sickerte durch das Blattwerk und erschwerte die Sicht, doch nichts bewegte sich. Es war auch kein verdächtiges Geräusch zu vernehmen. Shelly wollte sich schon abwenden, als ihr etwas auffiel, eine Farbe, die nicht hierhin gehörte. Links des Weges lag im Unterholz zwischen Ästen und Farnen ein schimmernder sandfarbener Stoff. Die reflektierende Oberfläche erinnerte Shelly an Satin oder ein ähnlich glänzendes Material.
Sie trat langsam näher. Pancake schnaubte nervös. Jetzt erkannte Shelly, dass es eine Jacke oder ein Mantel sein musste. Jemand schien ihn dorthin geworfen oder verloren zu haben. Nach drei weiteren Schritten tauchten hinter kniehohen Grasbüscheln zwei Beine in schwarzen Hosen auf. Shelly sah die Schuhe und schließlich auch einen Haarschopf und die weißen blutleeren Hände.
4
Dienstagmorgen
Shelly wartete an der Brücke, die von der Straße, an der sie wohnte, in den Wald hineinführte.
Diesmal waren die Polizisten zu dritt. Stresser hatte nicht nur Piesmeier, sondern auch den jüngeren Sander mitgebracht, was anzeigte, dass dieser Fall von vornherein eine höhere Priorität besaß. Auch die Kriminaltechnik kam direkt im Anschluss in einem VW-Bus.
»Frau Kutscher«, begann Stresser ernst, »ich bin mir nicht sicher, ob ich froh bin, Sie so bald wiederzusehen. Das Böse folgt Ihnen wie Ihr eigener Schatten.«
»Morgen, die Herren. Ja, langsam bekomme ich es selbst mit der Angst zu tun.«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Sind Sie absolut sicher, dass es sich tatsächlich um eine Leiche handelt?«, wollte Stresser wissen.
»Herr Stresser, ich habe sie deutlich gesehen. Es ist eine tote Frau. Ich war mit Pancake im Wald unterwegs, und er hat etwas …«
»Gewittert«, sagte Piesmeier.
»Gewitter?«
»Nein, gewittert.«
»Ach so. Jedenfalls bin ich abgestiegen und habe sie an der Seite liegen sehen.«
»Können Sie uns hinführen? Wir fahren so nah wie möglich mit dem Wagen ran.«
Sie stiegen zu viert in das Zivilfahrzeug, und der Bus der Kriminaltechnik heftete sich an ihre Fersen. Der Wagen rumpelte über den Waldboden, und sie wurden durchgeschüttelt, dass ihre Köpfe hin und her flogen.
»Dort vorn müssen wir anhalten und zu Fuß weitergehen. Sie liegt an einem Pferdereitweg«, sagte Shelly.
Stresser, der selbst fuhr, nickte und hielt den Wagen an. Sie stiegen aus und folgten Shelly auf dem Pfad zur Fundstelle.
»Könnte sie vielleicht vom Pferd gestürzt sein?«, fragte Stresser, der mit Shelly kaum mithalten konnte.
»So, wie sie angezogen war, eher nicht.«
»War sie vollständig bekleidet?«
Shelly wusste, worauf der Kommissar hinauswollte. »Ich denke ja. Aber so genau hab ich nicht hingesehen.«
»Sander, könnten Sie bitte trotzdem alle Pferdehöfe in der Gegend anrufen und fragen, ob ein Pferd oder eine Reiterin vermisst wird?«, wies Stresser seinen Kollegen an. Der zückte sofort sein Handy und begann zu tippen.
»Bei Herrn Langensalza brauchen Sie es nicht zu versuchen«, informierte Shelly ihn. »Ich habe schon mit ihm gesprochen.«
»Gut, danke.«
»Haben Sie Verletzungen feststellen können?«, hakte Stresser nach und kramte sein Notizbuch aus der Tasche.
»Nein, wie gesagt, so genau habe ich nicht hingesehen.«
Stresser atmete immer schwerer und machte bei jedem zweiten Schritt einen kleinen Sprung nach vorn, um den Anschluss nicht zu verlieren.
»Sind wir bald da?«
»Da ist es schon«, sagte Shelly und blieb stehen. Fast wäre Stresser in sie hineingelaufen. Dafür knallte nun aber Piesmeier von hinten in ihn rein und in einer Kettenreaktion auch alle nachfolgenden Beamten.
»Jetzt reißt euch mal zusammen«, rief Stresser erbost.
»Sorry, Chef«, meinte Piesmeier kleinlaut. Sein Telefon klingelte, und er ging ran. Stresser fragte mit Blicken, wer dran sei, und Piesmeier flüsterte: »Breitsam.«
»Er soll sich beeilen. Lots ihn her.«
Nun zogen sich die Herren von der Spurensicherung um und schwärmten aus. Alle schwitzten in ihren Ganzkörperanzügen, und Shelly mochte auf keinen Fall mit ihnen tauschen. Auch Stresser stand der Schweiß auf der Stirn, aber er blieb korrekt wie immer und behielt Jackett und Fliege an. Vorsichtig watete er durch das hohe Gras an den Fundort heran und ließ seinen Blick aufmerksam über die Leiche gleiten.
»Ich sehe kein Blut. Nach einem Sturz sieht es nicht aus, Sie haben vermutlich recht, Frau Kutscher. Aber nach einem natürlichen Tod auch nicht.«
Stresser wollte die Leiche nicht berühren oder gar bewegen, bevor nicht Dr. Breitsam vor Ort war und die Spurensicherung das Gelände sondiert hatte, also kam er erst einmal wieder zurück. Sie warteten, bis der Rechtsmediziner völlig aus der Puste bei ihnen eintraf.
Im Gegensatz zu Stresser hatte Dr. Breitsam sich unterwegs seines Mantels entledigt und die obersten Knöpfe seines merkwürdig gemusterten Hemdes geöffnet. »Mein lieber Herr Kuckuck«, keuchte er und hängte seinen Mantel über den Ast einer Kiefer. Aus seinem Metallkoffer holte er sterile Handschuhe und machte sich, nachdem er Shelly höflich begrüßt hatte, an die Arbeit.
Schon nach wenigen Handgriffen zog er die ersten Schlüsse. »Ich würde sagen, diese Dame ist seit gestern Abend tot. Das Zeitfenster für den Todeszeitpunkt liegt laut Temperaturmessung zwischen einundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr. Wunden kann ich nicht erkennen.« Er drehte sie auf die Seite. »Nein, nichts dergleichen. Aber ich sehe Würgemale.« Er öffnete die Augenlider mit dem Daumen. »Ja. Ist wahrscheinlich erwürgt oder erdrosselt worden.« Er blickte sich um. »Ob das exakt an dieser Stelle passiert ist, möchte ich bezweifeln. Sie sieht aus, als habe man sie hier nur abgelegt.«
»Hat sie Papiere bei sich?«, fragte Stresser.
Dr. Breitsam tastete die Taschen ab. »Nein, nur …«, er fühlte etwas in der rechten Manteltasche und zog es heraus, »… einen Autoschlüssel.«
Stresser nahm ihm den Schlüssel samt Etui ab. »VW. Sieht aus wie meiner. Sander?«
»Ja, Chef?«
»Irgendwo muss die Dame ihren Wagen geparkt haben. Würden Sie sich bitte auf die Suche machen?«
»Sicher.«
Stresser händigte ihm den Schlüssel aus, und der Kollege machte sich auf den Weg.
»Herr Stresser, brauchen Sie mich eigentlich noch?«, fragte Shelly.
»Wenn Sie mir nur noch kurz sagen könnten, ob Sie die Frau kennen?«
Shelly wollte sich die Leiche nicht ansehen. Das Skelett in ihrem Garten hatte schon gereicht, um ihr Alpträume zu bereiten. »Muss das sein?«
»Ja, bitte.«
Shelly machte zwei zaghafte Schritte in Richtung des leblosen Körpers. Dr. Breitsam untersuchte gerade den Hals der Frau, die noch immer auf der Seite lag. Shelly blickte ihr kurz ins Gesicht, und ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie schüttelte den Kopf und entfernte sich wieder.
»Nein, kenne ich nicht.«
»Ist gut. Dann gehen Sie mal nach Hause. Wir sehen uns noch.«
Shelly machte sich zu Fuß auf den Rückweg. Ohne Auto oder Pferd brauchte sie gut zwanzig Minuten, bis sie wieder an der Brücke, die zu ihrem Hof führte, ankam. Dort waren die Handwerker zu Gange, als wäre nichts gewesen. Man konnte das Geräusch von Sägen und dem Presslufthammer herüberhallen hören.
Vor Shellys Grundstück parkten drei Wagen, die sie heute Morgen nicht weiter beachtet hatte. Als sie die Straße überqueren wollte, rollte von links der blaue Passat auf sie zu, mit dem sie vorhin in den Wald gefahren war. Sander saß am Steuer, winkte ihr und hielt hinter dem letzten Fahrzeug.
»Und, schon was gefunden?«, fragte Shelly.
»Nein, aber was ist mit den Fahrzeugen hier? Die gehören doch nicht alle Ihnen?«
»Nein, mein Auto steht auf dem Hof. Die hier gehören den Handwerkern, denke ich.«
Sander hielt den Autoschlüssel, den Stresser ihm gegeben hatte, aus dem Autofenster und drückte den Öffnen-Knopf. Die Warnblinker des mittleren Wagens, ein Golf, leuchteten auf.
»Ach nee«, entfuhr es Sander. Neugierig traten beide auf den Wagen zu, und der Beamte öffnete die Beifahrertür.
»Sie haben ihn«, sagte Shelly, die nicht glauben konnte, dass nun auch noch das Auto der Toten vor ihrer Tür stand.
Sander durchsuchte den Wagen und fand im Fußraum des Beifahrersitzes eine rote lederne Handtasche. Er zog den Reißverschluss auf, kramte darin herum und entdeckte schließlich einen Führerschein. Als er ihn aufklappte und das Bild der Frau betrachtete, war er sich nicht sicher, ob sie mit der Frau im Wald identisch war, also zeigte er Shelly das Foto.
»Meinen Sie, das ist sie?«
Als Shelly bejahen wollte, blieb ihr das Wort im Halse stecken. Sie schluckte.
»Was ist?«, fragte Sander, dem Shellys Reaktion aufgefallen war.