1. Auflage 2014
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ISBN 978-3-17-021486-6
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Als der schwerkranke Fidel Castro am 24. Februar 2008 offiziell seine Regierungsämter abgab, hatte er insgesamt 49 Jahre und 55 Tage geherrscht und damit die Amtszeit von zehn US-Präsidenten und fünf Generalsekretären der KPdSU überlebt. Dennoch nimmt der Kubaner unter den am längsten amtierenden Staatsoberhäuptern des 20. Jahrhunderts nur den dritten Platz ein – hinter dem thailändischen König Bhumipol Adulyadej und der britischen Königin Elisabeth II.
Unschlagbar ist Castro dagegen als Redner – diese Gabe bescherte ihm sogar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, als er am 26. September 1960 vor der Vollversammlung der UNO genau vier Stunden und 29 Minuten sprach. Seine längste Rede hielt er jedoch am 25. Februar 1998 vor dem Plenum der Nationalversammlung in Havanna. Erst nach sieben Stunden und 15 Minuten endete er mit seinem traditionellen Kampfruf ¡Patria o muerte, venceremos! (»Vaterland oder Tod, wir werden siegen!«)
»Seine Leidenschaft für das gesprochene Wort ist fast magisch«, bemerkt der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez (1927– 2014) über seinen Freund; als Rhetoriker verfüge er über eine »erstaunliche Verführungskraft«, und
»nie hat man ihn eine dieser Pappmaché-Parolen der kommunistischen Scholastik aufsagen hören […] Er ist der Antidogmatiker schlechthin, dessen schöpferische Fantasie sich an der Grenze zur Häresie bewegt.«1
Castro hatte weder einen Redenschreiber noch einen Pressesprecher. Mit seinen Reden, die er überwiegend frei und oftmals vor Hunderttausenden hielt, zog er das Publikum mühelos in seinen Bann. Es ist keine Anmaßung, wenn er selbst sagt: »Ich erinnere mich nicht daran, jemals vor einem Publikum gestanden zu haben, das einzuschlafen oder zu ermüden drohte.«2 Das lag nicht nur an seiner rhetorischen Brillanz, sondern auch daran, dass seine Reden für die kubanischen Bürger eine der wichtigsten politischen Informationsquellen darstellten. Außerdem vermittelte Castro seinem Massenpublikum die Illusion einer aktiven Teilnahme. Bildhaft beschreibt Ernesto Che Guevara die charismatische Interaktion zwischen dem Revolutionsführer und seinen Anhängern:
»Auf den großen öffentlichen Veranstaltungen lässt sich so etwas wie das Zusammenwirken zweier Stimmgabeln beobachten, deren Schwingungen sich im Redner fortsetzen. Fidels Dialog mit der Masse beginnt zu vibrieren, gewinnt zunehmend an Intensität und erreicht ihre Klimax in einem abrupten, durch unseren Kampf- und Siegesruf gekrönten Finale.«3
Ein wirklicher Dialog fand allerdings nicht statt, Castro ging es vielmehr um Akklamation. Auch in kleinerer Runde war es hauptsächlich er, der sprach. Das erlebte beispielsweise Willy Brandt (1913–1992), der in seiner Eigenschaft als Präsident der Sozialistischen Internationale im Oktober 1984 von Castro in Havanna empfangen wurde. Der kubanische Staatschef »hält lange Monologe und bietet ihm in sieben Stunden gerade einmal eine Tasse Kaffee an«, notiert Brandts Biograf Peter Merseburger.4
Das Charisma Fidel Castros – nicht nur als Redner – ist unumstritten. Auf den »Höchsten Führer« der kubanischen Revolution – den Líder Máximo – trifft in besonderem Maße zu, was Max Weber in seinen herrschaftssoziologischen Schriften formuliert hat:
»Die charismatische Autorität ist […] eine der großen revolutionären Mächte der Geschichte, aber sie ist in ihrer ganz reinen Form durchaus autoritären, herrschaftlichen Charakters.«5
Der kubanische Essayist Iván de la Nuez etwa sieht den Líder Máximo als eine Art »König Utopus, der über ein Volk herrscht, das eine abstrakte und konkrete Einheit zugleich bildet.«6 Tatsächlich machte Castro sein Volk der eigenen, absoluten Utopie untertan. »Wir haben keine andere Alternative, als zu träumen und weiterhin zu träumen«, sagt er im Gespräch mit dem nikaraguanischen Revolutionsführer Tomás Borge (1930–2012).
»Wir träumen von der Hoffnung, eine bessere Welt zu verwirklichen, und dafür kämpfen wir […] Für eine Utopie zu kämpfen bedeutet, sie teilweise schon zu verwirklichen.«7
Wenngleich Castro in seiner Weltanschauung soziale Gerechtigkeit verfocht und sich zuweilen als radikaler Demokrat darstellte – was ihn zunächst in Kuba, später besonders in der Dritten Welt zu einem Hoffnungsträger erhob –, so war sein Handeln doch despotisch. Daher könnte man ihn, der ungarischen Philosophin Ágnes Heller folgend, als einen »abstrakten Enthusiasten« bezeichnen, für den Heroismus, Askese, Märtyrertum und Fanatismus charakteristisch sind. Den »abstrakten Enthusiasten« vergleicht Heller mit einem »Albatros der Grenzsituationen, dort kann er fliegen, im Alltagsleben kann er höchstens mühsam stolpern.«8 Beides hat der Líder Máximo immer wieder vor Augen geführt.
Für seine Gegner – zu denen auch ehemalige Kampfgefährten gehören – ist Castro schlichtweg ein Diktator. Héctor Pérez Marcano, der Mitte der 1960er Jahre in Havanna lebte und als venezolanischer Guerillero in den Genuss von Castros Waffenhilfe kam, fällt ein bitteres Urteil:
»Fidel war einmal der geliebte Held; heute ist er ein Tyrann, der sich in die lateinamerikanische Tradition von Diktatoren wie Gómez, Somoza, Pinochet, Trujillo und Pérez Jiménez einreiht.«9
Doch von den genannten Militärdiktatoren unterschied sich Castro schon äußerlich. Weder trug er deren typische Sonnenbrillen noch Ordenslametta an der Brust. Das Abzeichen des höchsten militärischen Rangs, den Castro als Oberbefehlshaber – Comandante en Jefe – einnahm, bestand lediglich aus einem fünfzackigen Stern auf schwarz-rotem Rhombus, dem 1973 noch Lorbeeren hinzugefügt wurden. Wesentlich sind jedoch zwei weitere Unterschiede: Castro kam nicht durch einen Staatsstreich, sondern durch eine von der Mehrheit der Bevölkerung getragene Revolution an die Macht, und er war der erste Herrscher in der Geschichte Lateinamerikas, der seine Macht nicht dazu nutzte, sich persönlich zu bereichern. Gabriel García Márquez schreibt:
»Ich halte ihn für einen der großen Idealisten unserer Zeit, und dies ist vielleicht seine größte Tugend, obwohl darin auch seine größte Gefahr bestand.«10
An der Art und Weise, wie er seine Ideen als Machthaber durchsetzte, wie er mit seinem politischen Sendungsbewusstsein auch ins Weltgeschehen eingriff, scheiden sich jedoch die Geister. Fidel Castro polarisiert wie kaum eine andere Figur der Zeitgeschichte.
Für Biografen stellt seine Person eine besondere Herausforderung dar. Bereits 1964 hatte der linke italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli eine Autobiografie Castros geplant, die bis zur Raketenkrise (oder Kubakrise) reichen sollte. Zunächst war er beeindruckt vom Redefluss des Comandante – »unser Mann redet wie ein Wasserfall, und um ihn zu unterbrechen, muss man brüllen« –, dann aber verlor der Autor Castro »das Projekt trotz seiner Begeisterung aus dem Auge, denn er hat ständig etwas anderes zu tun.«11
Der New York Times-Reporter Herbert Matthews, der 1969 die erste Castro-Biografie vorlegte, war mit einem anderen Problem konfrontiert:
»Es wird weder jetzt noch in Zukunft leicht sein, ihn zu erforschen. Fidel […] ist ein Mann, der kaum zugelassen hat, dass man etwas Persönliches aus seinem Leben erfährt.«12
Für ihre 1991 veröffentlichte Biografie durchforstete Georgie Anne Geyer nach eigenen Angaben 600 Bücher und 700 Artikel, zusätzlich führte sie in 28 Ländern 500 Interviews – ohne allerdings mit Castro selbst sprechen zu können. In der Zeit vor seiner Krankheit stapelten sich im kubanischen Außenministerium jährlich bis zu 300 Interview-Anfragen von internationalen Journalisten, doch nur wenigen war es vergönnt, den so glänzenden wie ausschweifenden Redner unter vier Augen zu treffen. Castro suchte sich seine Gesprächspartner selbst aus, sie mussten ihm politisch genehm sein. Dazu gehörten Gabriel García Márquez, der italienische Journalist Gianni Minà, Tomás Borge und zuletzt der spanische Publizist Ignacio Ramonet. Ihnen vertraute Castro in zum Teil tagelangen Gesprächen, die später als Bücher erschienen, auch einige private Dinge an. Nur zwei Biografen wurde ein ähnliches Privileg zuteil: dem New York Times-Reporter Tad Szulc, der 1961 die Invasion an der Schweinebucht auf die Titelseite seiner Zeitung gebracht hatte, und der brasilianischen Journalistin Claudia Furiati, die zuvor im Archiv des kubanischen Geheimdienstes über den Mord an John F. Kennedy (1917–1963) recherchiert hatte.
»Das Privatleben«, sagt Castro zu Borge, »darf weder von der Werbung noch von der Politik instrumentalisiert werden, wie das in der kapitalistischen Welt geschieht, die ich so sehr verachte.«13 Jean-François Fogel und Bertrand Rosenthal, von 1987 bis 1992 als Journalisten in Havanna akkreditiert, merken dazu an:
»Würde man es wagen, einen Artikel über das Privatleben Fidel Castros zu veröffentlichen, wäre dies eine Tabuverletzung und zöge ein Arbeitsverbot in Kuba nach sich.«14
Castros strahlende personale Herrschaft stand also im Kontrast zu seiner Privatsphäre, die der Líder Máximo sorgsam im Schatten verbarg. Nicht ganz zu Unrecht folgert Geyer in ihrer Biografie:
»Das Fehlen von persönlicher Information, die aus Fidel einen Menschen und nicht nur einen Mythos machen würde, ließ ihn unfassbar und somit allmächtig erscheinen.«15
Der Schriftsteller Norberto Fuentes wiederum, der Castros Freundeskreis angehört hatte, bevor er 1989 in Ungnade fiel und ins Exil flüchtete, versuchte sich in der »Modalität eines historischen Romans«, um dem »eigenen besessenen Streben nach Wahrheitstreue« gerecht zu werden. Doch in seiner opulenten, mit intimen Details aus dem Leben des Herrschers gespickten Autobiographie des Fidel Castro kommt er zu dem Schluss:
»Die wahre Geschichte des Fidel Castro verbirgt sich in einem Bereich, der vollkommen abgeschirmt ist und unter seiner absoluten Kontrolle steht, in seinem Gehirn.«16
In den letzten 40 Jahren ist weniger als ein Dutzend umfangreicher, gründlich recherchierter Castro-Biografien erschienen. Dazu zählt das Werk des Journalisten Volker Skierka von 2001, das lange Zeit über den deutschen Sprachraum hinaus richtungsweisend war. Seitdem gab es jedoch einige historische Wendepunkte – etwa Fidels Machtübergabe an seinen Bruder Raúl –, außerdem hat sich die Quellenlage verändert. Immerhin drei Personen wurde inzwischen der Zugang zum Historischen Archiv des kubanischen Staatsrats gestattet, um dort einige der streng gehüteten Dokumente, allesamt Primärquellen der Revolutionsgeschichte, einzusehen. Dadurch gelang es der kubanischen Journalistin Katiuska Blanco, die widersprüchliche Geschichte von Castros Ursprungsfamilie zu erhellen; die amerikanische Historikerin Julia Sweig konnte ansatzweise die bislang vernachlässigte Rolle des städtischen Untergrundkampfs gegen die Batista-Diktatur aufarbeiten; der kubanische Historiker Heberto Acosta war in der Lage, die zuvor kaum gewürdigte Etappe Castros im mexikanischen Exil zu rekonstruieren, die immerhin die Weichen für die Revolution stellte. Sweig weist allerdings darauf hin, dass die unzähligen Briefe, Operationspläne und militärischen Memoranda nicht katalogisiert seien und dass »all diese Dokumente im verschlossenen Archiv dem Publikum offiziell nicht zur Verfügung« stünden.17 Die Forschung zur kubanischen Revolution steckt also noch in den Kinderschuhen.
Auch das ist vor allem Castros Kontrolle geschuldet. Von Beginn an hielt der Líder Máximo das nationale Informationsmonopol über alle relevanten Belange der Revolution. Ebenso verstand er seine spärlichen Selbstzeugnisse als eine politische Handlung: sie dienten der Rechtfertigung, der Verteidigung, manchmal auch dem Angriff gegen ideologische Positionen des Gegners. Dabei ließ sich der im Umgang mit den Medien äußerst versierte Castro nie das Heft aus der Hand nehmen. Den Text des langen Interviews, das er zwischen 2003 und 2005 mit Ramonet geführt hatte, redigierte er, in seinem Krankenbett, wie ein politisches Vermächtnis. Dort gab er auch Blanco ein Interview, aus dem zwei autobiografische Bände entstanden, die Castro im Februar 2012 der Öffentlichkeit vorstellte. »Wir alle bangten um ihn, denn Fidel ist unsere Geschichte«, notiert Blanco im Vorwort.
»Ich erinnere mich daran, wie er mich im August [2006] empfing, als er zwischen Leben und Tod schwebte. Er sprach sicher und voller Mut über seine letzten Schüsse, die er gegen die Zeit abgefeuert hatte, er selbst sah sich wie das Gewehr eines Guerilleros.«18
In der eigenen Geschichtsschreibung hat es Castro tatsächlich vermocht, über die Zeit zu gebieten: Seine Retrospektive endet genau am 1. Januar 1959 – dem Sieg der Revolution. Auch seine zweibändige, minutiöse Darstellung des Guerillakampfs in der Sierra Maestra, die er im Sommer 2010 vor den Fernsehkameras präsentierte, reicht nicht über den Einmarsch in Havanna hinaus. Castro begreift sich als siegreicher Feldherr in einer revolutionären Epopöe.
Die vorliegende Biografie stützt sich außer auf die genannten neuen Quellen auch auf solche, die bisher kaum oder noch gar nicht berücksichtigt wurden. Sie stammen überwiegend aus dem spanischen Sprachraum und enthalten für den politischen Werdegang des Líder Máximo relevante Zeugnisse ehemaliger Mitstreiter und Widersacher. Daneben sind die 2009 veröffentlichten Memoiren von Castros exilierter Schwester Juanita aufschlussreich, die im Gegensatz zu Blancos Recherchen einen schonungslosen Einblick in die Familie Castro gewähren. Zusätzlich ist die Auswertung spanischsprachiger Sekundärliteratur, ein Großteil davon aus Kuba, in den Text eingeflossen. Sie wurde von den meist angelsächsischen Biografen wenn überhaupt, so doch eher am Rande zur Kenntnis genommen; gleiches gilt für die Castro-Biografien deutscher Autoren. Und während sich jene besonders mit dem Verhältnis zwischen dem revolutionären Kuba und den USA befassen, soll es hier in erster Linie um die Frage gehen, wie es Fidel Castro gelungen ist, seine Herrschaft im eigenen Land zu begründen, zu festigen und auszubauen. Um die Herausbildung und innere Logik dieser Herrschaft zu verfolgen, ist allerdings eine pragmatische, auf die Akteure bezogene Darstellung erforderlich, die auf ideologische oder politologische Etiketten verzichtet. So etwa ist der Streit, ob Castro bereits vor dem Sieg der Revolution Kommunist gewesen sei, aus heutiger Sicht nebensächlich, weil er der Epoche des Kalten Kriegs angehört. Dass Castro sein Land fast ein halbes Jahrhundert lang regierte, ist sowohl seinem Charisma als Revolutionsführer als auch seiner reichen Erfahrung als Guerillakommandeur geschuldet. Seine Politik hat Castro, der bervorzugt in schlichter Militäruniform auftrat, stets als eine Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln verstanden. Als Regierungschef bewegte er sich wie ein Guerillero zwischen flexiblen Fronten, der sich immer wieder, wenn auch auf widersprüchliche Weise, an neue Situationen und Krisen anzupassen wusste. Castro hat am eigenen Beispiel gezeigt, dass autoritäre Regime nicht unbedingt instabiler als Demokratien sein müssen.
Für ein solches Verständnis von Castros Herrschaftsweise ist die kubanische Revolutionsgeschichte grundlegend. Sie beansprucht in diesem Buch, zusammen mit der Entwicklung Castros zum politischen Akteur, einen besonderen Raum (Kapitel 2.3 bis 5.1) und wird ebenso chronologisch erzählt wie die Kindheits- und Jugendjahre Fidels (Kapitel 2.1 und 2.2). Dagegen sind die auf den Sieg der Revolution folgenden Kapitel 5.2 bis 6.6 vorrangig nach thematischen Schwerpunkten gegliedert, um dem Leser die Übersicht zu erleichtern. Sie behandeln Castros Innen-, Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik im Spannungsfeld der Großmächte. Kapitel 6.1 beleuchtet die komplexen Hintergründe des Schauprozesses gegen den Kriegshelden General Arnaldo Ochoa und widmet sich der schwersten politischen Krise der Revolution. Anschließend geht es in chronologischer Folge von der verheerenden Wirtschaftskrise in Kuba, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzte (Kapitel 6.2), bis zum krankheitsbedingten Verzicht Fidels auf alle Ämter und der Vorbereitung der Post-Fidel-Ära durch Raúl Castro (Kapitel 6.3). Schließlich werden die Perspektiven für eine Übergangsgesellschaft in naher Zukunft umrissen. Neben Fidels jüngerem Bruder, der 49 Jahre lang Verteidigungsminister war und maßgeblich die Institutionalisierung der Revolution vorantrieb, nimmt in dieser Biografie auch Ernesto Che Guevara eine bedeutende Rolle ein. Wie entscheidend das Zusammenwirken der drei Comandantes für die Geschicke der Insel war, illustriert bereits ein Artikel des amerikanischen Time Magazine aus dem Jahr 1960. Demnach war Fidel das »Herz«, Che das »Gehirn« und Raúl die »Faust« der Revolution.19
Eine erschöpfende Darstellung der mit Castros Werdegang untrennbar verbundenen kubanischen Revolution würde den Rahmen dieser Biografie freilich sprengen. Deshalb konzentriert sich dieses Buch auf wesentliche, exemplarische Aspekte. Die hier eingeflossene aktuelle Forschung zum Thema spiegelt sich nicht zuletzt in den historischen Datumsangaben wider; diese dürften nun einige überlieferte Missverständnisse und Unklarheiten beseitigen. Die Übersetzung fremdsprachlicher Zitate hat der Autor selbst angefertigt. Wo die Quelle nicht gesondert angegeben wird, nämlich bei Castros »Reflexionen« sowie manchen Reden Fidels und Raúls, ist sie jeweils unter dem betreffenden Datum auf der Website des kubanischen Staatsrats abrufbar.20 Die spanischen Eigennamen im Text behalten ihr originales Genus, dieses wird also nicht eingedeutscht. Die in Kuba verbreiteten Kampf- und Spitznamen von Personen sind in Klammern gesetzt. Fidel Castro selbst trägt übrigens keinen solchen Namen. Er wird, Ausdruck seiner personalen Herrschaft, von der kubanischen Bevölkerung überwiegend beim Vornamen genannt, darüber hinaus ist er der allgegenwärtige Comandante oder Comandante en Jefe.
Der Autor möchte an dieser Stelle besonders zwei Personen herzlich danken, die beide wesentlich zum Fortgang des Manuskripts beigetragen haben: Julia Alice Treptow, die das Projekt zumal am Anfang begleitete, bei manchen Recherchen half und wertvolle Anregungen bei der Schlussredaktion gab; Ulrike (Celia) Steckkönig, die sich einfühlsam und akribisch den Detailkorrekturen widmete und mit klugem, freundschaftlichem Rat zur Seite stand.
Eine Biografie über Fidel Castro zu schreiben, somit über eine in hohem Maße kontroverse Gestalt der Zeitgeschichte, die trotz ihres überbordenden Diskurses nur wenig von sich persönlich preisgegeben hat, ist ein heikles Unterfangen. Wenn die Leser jedoch Castros eigenen Worten folgen, die er einmal Tomás Borge gegenüber äußerte, dann darf auch die vorliegende Biografie ihre Gültigkeit behaupten:
»Manchmal frage ich mich, ob die wahre Geschichte wirklich existiert, denn die Geschichte ist Gegenstand so vieler verschiedener Interpretationen […] Mir scheint, dass es höchstens Annäherungen an die Ereignisse im Leben der Menschen geben kann, nicht aber eine wirklich objektive Geschichte irgendeines Menschen oder Volkes.«21
»Ich wurde am 13. August 1926 geboren«, stellt Fidel Castro in seinem autobiografischen Abriss von La victoria estratégica fest – ein Datum, das sogar seine abtrünnige Schwester Juanita aus Miami bestätigt.1 Einige Biografen nennen dagegen auch 1927 als mögliches Geburtsjahr Fidels, wobei sie sich auf Aussagen der beiden älteren Geschwister Angelita und Ramón berufen.
Diese unterschiedlichen Angaben hat erst Claudia Furiati in ihrer 2001 erschienenen Biografie in Einklang gebracht.2 Bei der Sichtung des – nur engen Mitarbeitern oder Vertrauenspersonen des Comandante zugänglichen – Fidel-Castro-Archivs im kubanischen Staatsrat stieß sie auf drei unterschiedliche Geburtsurkunden, die in den Jahren 1938, 1941 und 1943 nachträglich ausgestellt worden waren. Von besonderer Bedeutung erwies sich das Dokument von 1941: Es beglaubigt, dass Fidel ein Jahr älter ist als noch in der Urkunde von 1938 ausgewiesen und setzt die Geburt auf das Jahr 1926 fest. Diese Änderung, für die der Vater am zuständigen Kreisgericht eine erhebliche Summe bezahlt hatte, erlaubte es seinem Sohn, vorzeitig die ersehnte Oberschule in Havanna zu besuchen.3
So banal die Entstehung des offiziellen Geburtsdatums auch ist, während oder nach der Revolution wäre es kaum noch zu korrigieren gewesen. Zwar hat Castro der von ihm »geduldeten« Biografie Furiatis in keinem Punkt je widersprochen, und auch Ignacio Ramonet gegenüber äußert er sich über den Zeitpunkt seiner Geburt noch verhalten: »In diesem Haus kam ich, wie man erzählt, am 13. August 1926 um zwei Uhr morgens zur Welt.«4
Doch wenn er sich schließlich in seinen eigenen Memoiren auf das Jahr 1926 festlegt, ist das ein Politikum: Castro zementiert damit die Numerologie einer Revolution, welche untrennbar mit seiner Person verbunden ist. Das Doppelte von 13 (Fidels Geburtstag) ergibt 26 (sein Geburtsjahr); das Doppelte von 26 wiederum ergibt 52 – im Jahr 1952 putschte sich General Fulgencio Batista (1901–1973) an die Macht; ihn wollte Castro zuerst am 26. Juli 1953 mit dem Angriff auf die Moncada-Kaserne zu Fall bringen. Dieser Tag wiederum, der als offizieller Beginn und Symbol der Revolution gilt, gab schließlich der »Bewegung des 26. Juli« (Movimiento del 26 de Julio) ihren Namen. Der Rückgriff auf den 26. Juli findet sich auch in der Präambel der Verfassung von 1976 wieder. Darin versteht sich das sozialistische Kuba als Erbe einer nationalen revolutionären Tradition, die im 16. Jahrhundert mit Indígena-Revolten beginnt und mit »den Mitgliedern der Avantgarde der Generation des hundertsten Geburtstags Martís« endet. Deutlicher ausgedrückt: Die Keimzelle der »Bewegung des 26. Juli« tritt mit ihrem Angriff auf die Moncada-Kaserne gerade zum 100. Jubiläum von José Martí (1853–1895) auf den Plan.
Hier gerät die Zahl 26 endgültig zur Chiffre der Revolution. Und die neue, etwas eigensinnige Zeitrechnung setzt Fidel Castro und José Martí – den »Apostel der Unabhängigkeit« – explizit auf eine Linie.
Dabei hatte Fidels Vater noch in jenem spanischen Kolonialheer gedient, das mit etwa 50 000 Soldaten gegen die kubanischen Unabhängigkeitskämpfer zu Felde zog. Ángel Castro y Argiz, 1875 als Sohn einer armen Bauernfamilie in der galicischen Provinz Lugo (Nordwestspanien) geboren, war 1895 nach Kuba gekommen – im selben Jahr, als José Martí beim Angriff auf eine Abteilung Kolonialsoldaten fiel. Martí, der streitbare Dichter und Journalist, hatte den zweiten kubanischen Unabhängigkeitskrieg (1895–1898) von New York aus, seinem Wohnsitz im Exil, vorbereitet und war neben den militärischen Befehlshabern Antonio Maceo (1845–1896) und Máximo Gómez (1836–1905) der zivile Führer der Erhebung. Mit dem frühen Tod Martís hatten die Separatisten der »Republik in Waffen« ihren wichtigsten politischen Strategen verloren, die Kubaner jedoch einen Märtyrer gewonnen, dessen Mythos bis in die Gegenwart reicht.
Ángel Castro indessen wurde vom Rekruten zum Gefreiten befördert und schaffte es, den von beiden Gegnern mit Grausamkeit ausgetragenen Krieg zu überleben. Fidel gibt an, dass der Vater seinen Geschwistern »mehr von seinem Leben erzählt [hat] als mir«.5 Der väterliche Werdegang ist allerdings unter den Geschwistern und Castro-Biografen gleichermaßen umstritten. Erst der Journalistin Katiuska Blanco ist es gelungen, für ihre 2003 erschienene Geschichte der Ursprungsfamilie Fidels entscheidende historische Dokumente aufzuspüren.6 Zwar ist Blanco eine Art offizielle Historiografin – sie fungiert auch als Herausgeberin der Memoiren Fidel Castros –, die künftige Forschung zum Thema wird sich dennoch auf ihre neu gewonnenen Daten beziehen müssen.
Diese beseitigen nämlich zahlreiche Ungereimtheiten. So soll Ángel Castro nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs in Kuba geblieben sein; das behaupten etwa Juanita Castro und der amerikanische Historiker Thomas Leonard.7 Volker Skierka dagegen lässt Fidels Vater zurück nach Spanien reisen und erst 1905 wieder in Kuba eintreffen.8 Blanco zufolge aber kehrte Ángel Ende August 1898, unmittelbar nach der Kapitulation Spaniens, in seine galicische Heimat zurück. Und schon am 4. Dezember 1899 betrat er erneut kubanischen Boden – das geht aus der Liste der Einwanderungsbehörden im Hafen von Havanna hervor, in der Ángel Castro als alleinstehender Passagier vermerkt ist.9
Mittellose Kriegsheimkehrer wie Ángel Castro hatten in Spanien, zumal im ländlichen Galicien, so gut wie keine berufliche Perspektive. Nicht ohne Grund beschrieb die Dichtergeneration von 1898 ein elendes, rückständiges Kastilien (die Kernregion des einst weltumspannenden spanischen Königreichs), das in seine Lumpen gehüllt all das verachtet, was es nicht kennt. Mochte die spanische Flotte vor Kuba versinken, in Madrid hielt man sich lieber die Augen zu und lenkte sich beim Stierkampf ab. Zudem beschränkte sich die spanische Wirtschaft im Wesentlichen auf den Export von Schafwolle und extensiven Getreideanbau, vorindustrielle Enklaven gab es allenfalls in Katalonien und im Baskenland. Es ist also nicht verwunderlich, dass Ángel, ebenso wie Zehntausende seiner Landsleute, sein Glück auf der Zuckerinsel versuchen wollte – je eher, desto besser.
Kuba wiederum hatte sich zwar der spanischen Kolonialmacht entledigen können, doch nachdem der kubanische Unabhängigkeitskrieg mit der militärischen Intervention der USA im April 1898 in den Spanisch-Amerikanischen Krieg mündete, sollte es am Ende nur einen Gewinner geben. Die Kapitulation Spaniens führte zum Verlust seiner letzten wichtigen Kolonien (außer Kuba noch Puerto Rico und die Philippinen), Kuba selbst geriet unter die Vormundschaft der USA. Kubaner waren weder an der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrags beteiligt, noch durften sie in Havanna der feierlichen Machtübergabe beiwohnen. Bereits im Januar 1899 zog Máximo Gómez, Oberbefehlshaber des nunmehr aufgelösten Ejército Libertador (Befreiungsheers), eine düstere Bilanz:
»Die Lage, in die man dieses Volk versetzt hat, ist geprägt durch materielles Elend und Gram, und weil dem Volk alle Festakte zur Souveränität versagt sind, wird sie immer bedrückender. Wenn diese befremdliche Lage eines Tages enden sollte, werden die Amerikaner hier möglicherweise nicht einen Funken Sympathie mehr übrig lassen«.10
Die USA waren freilich nicht als Sympathieträger, sondern als Sieger aus einem Krieg hervorgegangen, in dem sie unerbittlich eigene Interessen verfochten hatten. Das Jahr 1898 markiert zugleich den Beginn ihrer territorialen Expansion: Mit der Niederlage Spaniens gewannen die USA die Vorherrschaft über die Karibik, mit der Annexion von Hawaii und der Intervention gegen die junge philippinische Republik (1899) stieß die neue Großmacht auch in die geostrategisch bedeutende Pazifikregion vor. In Kuba favorisierte die von den USA eingesetzte Militärregierung (1898–1901) amerikanische Investoren, welche die durch den Krieg zerstörten Zuckerrohrplantagen, Zuckermühlen und Eisenbahnschienen zu Schleuderpreisen erwerben konnten. Bereits 1905 kontrollierten etwa 13 000 US-Eigentümer über 60 Prozent der kubanischen Ländereien.11
Aber auch für verarmte Abenteurer aus den USA war Kuba verheißungsvoll. Enrique Cirules hat 37 nordamerikanische Ansiedlungen gezählt, die einen in der US-Politik erwogenen Anschluss der Insel unterstützen sollten. In seinem Buch Der letzte Amerikaner illustriert er die koloniale Siedlungspolitik um die Jahrhundertwende am Beispiel von La Gloria City:
»In den ersten Jahren kamen Tausende Farmer nach La Gloria, unter ihnen befanden sich auch europäische Emigranten, die nach Enttäuschungen in den Vereinigten Staaten ihr Glück nun auf Kuba suchten«.12
Diese von der Cuban Land and Steamship Company an der Nordküste der östlichen Provinz Camagüey aus dem Boden gestampfte Siedlung ähnelte durchaus den Goldgräberstädtchen Kaliforniens. Und mit seiner formlosen Ansammlung von Hütten glich La Gloria City jenem Ort, den Ángel Castro einige Jahre später selbst errichten sollte: Birán.
Ángels Karriere als Selfmademan begann zunächst als Wanderarbeiter. Nach seiner Ankunft in Havanna fuhr er in den Südosten der Insel, wo er, unweit von Santiago de Cuba, in den Eisen- und Manganminen von Daiquirí und Ponupo Arbeit fand. Dort, in der Provinz Oriente, wurden die Bodenschätze von der Spanish-American Iron Corporation und der Ponupo Manganese Corporation ausgebeutet, die Arbeiter erhielten ihren Lohn in US-Dollar. Erst 1906 ließ sich Ángel Castro weiter nördlich in Guaro nieder, und zwar in der Nähe zweier großer Zuckerrohrplantagen der United Fruit Company. Mit einem Kapital von 200 Pesos – die kubanische Währung war 1:1 an den Dollar gekoppelt – eröffnete er eine kleine Herberge, die den vielversprechenden Namen El Progreso (»Der Fortschritt«) trug.13 Im März 1911 heiratete Ángel seine erste Frau, die Lehrerin María Luisa Argota, mit der er wenige Kilometer weiter nach Mayarí zog. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor, von denen drei noch im Säuglingsalter verstarben. Ángel ließ sich allerdings nur selten bei seiner Familie sehen. Als Subunternehmer stand er mittlerweile im Dienst der United Fruit Company und beschäftigte eigene Arbeiter, die Zuckerrohr und Brennholz mit Ochsengespannen zu den Zuckermühlen der Umgebung transportierten.
Wenn auch Ángels Ehe langsam scheiterte, so schritt doch die Akkumulation seines Kapitals stetig voran. Der Erste Weltkrieg hatte die Zuckerpreise auf dem Weltmarkt in die Höhe getrieben, im Osten Kubas wurde die Zuckerproduktion modernisiert und erlebte eine regelrechte Explosion, die Wirtschaftselite der Insel feierte den Tanz der Millionen. Von dieser Konjunktur profitierte auch Ángel Castro. Mit seinem kleinen Unternehmen hatte er es zu einigem Geld gebracht, das er zwischen 1913 und 1922 in den Kauf von Ländereien um Birán investierte. Dort baute sich Castro den Gutshof Finca Manacas auf einer eigenen Plantage, gründete einen Batey, die typische Siedlung neben einer Zuckerfabrik, zudem errichtete er 1924 als Zulieferer der Warner Sugar Corporation einen Güterbahnhof für die Züge des Auftraggebers, die durch sein Land fuhren. Am Ende bewirtschaftete Ángel ein Gebiet, von dem er als Bauernsohn in seiner minifundistisch geprägten galicischen Heimat nur hätte träumen können. Laut Fidel hatte sein Vater
»etwa 900 Hektar Land erworben, die in seinem Besitz standen, und später von zwei kubanischen Generälen des Unabhängigkeitskrieges mehrere Tausend Hektar dazugepachtet [. . .] Unglaubliche Flächen voller Kiefernwälder, die meisten jungfräulich. Diese Ländereien überzogen Täler und Berge und eine große Hochebene von etwa 600 Metern [. . .] Mein Vater hat die Kiefernwälder von Mayarí ausgebeutet. Jeden Tag fuhren siebzehn Lastwagen voll beladen mit Kiefernholz von dort herunter. Die Einkünfte aus dem Zuckerrohranbau und der Viehzucht waren enorm, denn er besaß auch einige andere Ländereien, meist ebene Flächen oder Vorgebirge. Alles in allem über 10 000 Hektar.«14
Birán war jedoch vollständig von den mächtigen nordamerikanischen Companies abhängig. Im Jahr 1926 besaßen diese fast ein Viertel des kubanischen Bodens, kontrollierten 75 Zuckerfabriken und produzierten 62,2 Prozent des kubanischen Zuckers.15 Die Konzentration von Landeigentum und Zuckermühlen nahm in den folgenden Jahrzehnten noch zu. Aus der Landwirtschaftszählung von 1946 geht hervor, dass 71,1 Prozent des Bodens von lediglich 8 Prozent aller Betriebe bewirtschaftet wurden.16 Mit der Ausdehnung der Plantagen mussten auch die Kleinbauern um ihre Existenz bangen. Nur ein geringer Teil von ihnen konnte noch als Pächter selber Zuckerrohr anbauen, etliche zogen als Subsistenzbauern in die Berge. Das Gros der Landarbeiter verdingte sich in den Centrales, den großen Zuckermühlen, die als moderne kapitalistische Betriebe ein Heer mobiler Lohnarbeiter beschäftigten – allerdings nur während der rund vier Monate dauernden Zuckerrohrernte. Die übrige »tote« Zeit war das ländliche Proletariat meist arbeitslos und somit zu bitterer Armut verdammt. Außerdem hatte es keinen Zugang zu Schulen oder medizinischer Versorgung, da sich die öffentlichen Dienstleistungen fast ausnahmslos, und dort auch nur spärlich, in den Städten befanden. Die Landwirtschaftszählung von 1953 registrierte 489 005 Lohnarbeiter, das waren 72 Prozent aller im Agrarsektor tätigen Arbeitskräfte.17 Unberücksichtigt blieben dabei die zahllosen Gelegenheitsarbeiter sowie Hunderttausende von – zwischen 1910 und 1930 eingeführten – Hilfsarbeitern aus Jamaika, Barbados und Haiti; sie erhöhten den Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt und drückten zusätzlich die ohnehin niedrigen Löhne.18
»Kubas ›Wilder Osten‹ war ein barbarisches Land, in dem rücksichtslos Geld gemacht wurde«, schreibt der Historiker Hugh Thomas.
»Brutal setzten hier die Nordamerikaner ihre Interessen durch und holten aus dem Boden das letzte heraus. Oft genug galt noch das Faustrecht [. . .] Dies war die Welt, in der Ángel Castro sein Glück machte, und die auch Kindheit und Jugend seines Sohnes Fidel prägte.«19
Die Rolle, die Ángel Castro darin spielte, ist jedoch umstritten. Thomas vermutet, dass auch unlautere Landaneignung zur Besitzvermehrung beitrug; seine
»Arbeit verrichtete er wohl häufig in mondlosen Nächten, in denen ihn niemand überraschen konnte, oder aufgrund von Rechtstiteln, deren Herkunft im Dunkeln lag«.20
Alina Fernández, die uneheliche Tochter Fidel Castros und seit 1993 im Exil, geht noch weiter. Sie unterstellt ihrem Großvater »einen Hang zur Durchtriebenheit und Arglist« und bezichtigt ihn sogar, eingewanderte Verwandte aus Galicien ermordet zu haben, um sich deren Ersparnisse anzueignen.21 Derlei Gerüchte und Spekulationen sind nach dem Sieg der Revolution auch von politischen Gegnern Fidel Castros in Umlauf gesetzt worden, um diesen als Sohn einer Banditenfamilie zu diskreditieren. So wenig über Ángel Castro auch bekannt war – das Bild, das von ihm gezeichnet wurde, fiel umso negativer aus, je mehr sein Sohn Fidel auf Ablehnung stieß. Dessen jüngere Schwester Juanita nimmt dabei eine interessante Sonderstellung ein. Zwar hatte sie mit ihrem Bruder aus politischen Gründen gebrochen, arbeitete seit 1963 mit der CIA zusammen und ging 1964 ins Exil (siehe 6.3). Doch in ihren 2009 erschienenen Memoiren verteidigt sie vehement die Ehre der Ursprungsfamilie. Diesbezüglich stimmen Juanitas Erinnerungen in vielen Punkten mit den Darstellungen Fidels und dessen Historiografin Katiuska Blanco überein.
So beschreibt Juanita ihren Vater als großzügigen Mann, der seinen Arbeitern viermal so viel Lohn gezahlt haben soll wie die United Fruit Company; anderslautende Berichte nennt sie »Erfindungen und Verleumdungen.«22 Fidel ist der gleichen Ansicht:
»Viele Zeugnisse belegen, dass er ein großzügiger Mann war, sogar gutmütig. Mit dem Herzen am rechten Fleck. Jemand, der seinen Freunden half, den Arbeitern und Menschen in Not«.23
Fotos zeigen einen stämmigen Patriarchen mit kahl rasiertem Schädel und einer kräftigen Nase. Seine Miene ist grimmig, meistens ist er in weiten Arbeitshosen mit Trägern zu sehen, das Hemd bis zum Hals zugeknöpft. Zu festlichen Anlässen oder bei Besuchen in der Stadt trägt er weiße Drillichanzüge mit Perlmuttknöpfen. Einziger Luxus: Auf einem Finger steckt ein Brillantring. Immerhin ließ er in seinem Batey ein Post- und Telegrafenamt einrichten, ebenso eine kleine Schule bauen. »Das wirkliche Birán«, so Juanita, »war völlig anders, als es viele der sogenannten Historiker beschrieben haben«.24 In der friedlichen Ortschaft erinnert sie sich an nur einen Mord in 30 Jahren, für die Landpolizei sollen zwei Männer genügt haben (darunter der im Hause Castro angestellte Koch), auch die Existenz von Bordellen bestreitet sie. Tatsächlich war Birán in erster Linie eine Stätte landwirtschaftlicher Produktion, in der sich die Feldarbeiter höchstens mit Tabak, Schokolade und Rum aus dem kleinen Kaufhaus Almacenes Castro versorgen konnten. Für alle anderen Freuden mussten sie ins 25 Kilometer nördlich gelegene Cueto fahren, wo es ausreichend Trinkhallen, Prostituierte und eine Kirche gab.
Über Lina Ruz González, die zweite Frau von Ángel Castro – und Mutter Fidels – sind ähnlich disparate Dinge behauptet worden wie über ihren Gatten. Norberto Fuentes etwa stellt Lina als Anhängerin der Santería dar, Alina Fernández bezeichnet auch die Großmutter Fidels als »kubanische Hexe«.25 Dass eine oder beide Frauen dem afrokubanischen Ahnenkult anhingen, ist nicht unwahrscheinlich. Denn diese Mischreligion war – und ist – in Kuba weitverbreitet, keineswegs nur unter den Nachfahren afrikanischer Sklaven. Allerdings besaß die Santería, vor allem in der weißen Mittel- und Oberschicht, oft den Anruch von Schadenzauber. Schwarze Magie aber, so Juanita Castro, sei in ihrer Familie nie praktiziert worden; Großmutter Dominga, »eine sehr katholische Frau«, hätte nicht einmal gewusst, was Voodoo eigentlich bedeutet.26 Katiuska Blanco schreibt sogar: »Leidenschaftlich in ihrem Glauben, kannte sie alle Gebete auswendig und bewahrte die Heilige Bibel wie eine Reliquie auf.«27
Die katholische Rechtgläubigkeit von Fidels Großmutter bestätigt Blanco nur nebenbei, wichtiger sind ihr Herkunft und Werdegang der Mutter. Beides hat Blanco erstmals nahezu lückenlos rekonstruieren können, auch anhand amtlicher Dokumente. Demnach wurde Lina 1903 in der westlichen Provinz Pinar del Río geboren; ebenso wie Ángel entstammte sie einer armen Bauernfamilie, ihre Vorfahren waren spanische Einwanderer von den Kanaren und aus Asturien. Nachdem ein Hurrikan den Geburtsort Linas verwüstet hatte, wanderte die Familie 1910 in den Osten der Insel. Dort fand Linas Vater Francisco Ruz Arbeit als Fuhrmann und Zuckerrohrschnitter, 1917 ließ sich die Familie schließlich im Batey von Ángel Castro nieder. Den Gutsherren soll Lina verehrt haben; davon, dass das Mädchen als Haushälterin oder Köchin im Hause Castro gearbeitet hätte – wie etwa Skierka schreibt28– ist bei Blanco jedoch keine Rede. Juanita Castro zufolge lernten sich deren Eltern im Haus der Mutter kennen, und zu Ángel zog Lina nicht 13-jährig, wie einige Castro-Biografen behaupten, sondern im Alter von 19 Jahren.29 Blanco stellt die Begegnung von Fidels Eltern im idealisierten Rückblick als moralisch unbedenklich dar. Im Nachhinein wäre sie also mit der Ethik der Revolution vereinbar gewesen:
»Sie war eine junge Frau von neunzehn Jahren, er war ein reifer Mann mit jugendlichem Elan, dessen Aufrichtigkeit und stille Gutmütigkeit von den Bauern gerühmt wurde«.30
Der Altersunterschied betrug 28 Jahre.
Ob nun ehrliche Liebe auf Augenhöhe im Spiel war oder aber die schlicht komplementäre Beziehung zwischen Patron und Magd – Lina brachte in 15 Jahren sieben Kinder zur Welt. Außer Fidel waren das Angelita (1923), Ramón (1924), Raúl (1931), Juanita (1933), Enma (1935) und Agustina (1938). Erst 1941 sollte sich Ángel von seiner Frau María Luisa scheiden lassen, 1943 fand schließlich die Hochzeit mit Lina statt. Bis dahin trugen die sieben Geschwister – zumindest vor der Kirche – den Makel unehelicher Kinder.
Für seine Mutter empfindet Fidel noch in späten Jahren Dankbarkeit:
»Sie war Köchin, Ärztin, Beschützerin von uns allen und kümmerte sich um jede Sache, die wir brauchten [. . .] Sie hat uns nicht verzogen; sie hat Ordnung, Sparsamkeit und Hygiene von uns gefordert, und sie hatte sowohl innerhalb als auch außerhalb unseres Hauses alles im Griff [. . .] Sie hat alles gegeben, damit wir das haben konnten, was sie niemals hatte. Ich habe das Studium immer genossen, aber ohne sie wäre ich heute nichts anderes als ein funktionsfähiger Analphabet.«31
Vom Vater bekam Fidel nicht nur die überlieferte Gutmütigkeit, sondern auch seinen »spanischen Autoritarismus« zu spüren. Dagegen lehnte sich der Sohn schon früh auf: »Ich konnte die Autorität nicht leiden, denn zu dieser Zeit war sie auch mit körperlicher Züchtigung verbunden.«32 Zu traumatischen Erlebnissen kam es dabei offenbar nicht; Norberto Fuentes lässt Fidel in seiner Autobiographie des Fidel Castro schreiben: »Tatsächlich kann ich nicht behaupten, dass es mir [. . .] hier jemals schlecht erging.« Mit treffender Ironie fährt er fort:
»Genau an diesem Punkt scheitern fast alle Biografien, die über mich geschrieben wurden, wenn sie die Ursachen für die Kubanische Revolution in meiner Kindheit auf Manacas in Birán zu entdecken glauben.«33
Was Fidel nach eigener Aussage am meisten beeinflusst hat, war der Kontakt zu einfachen Leuten, darunter seine Spielkameraden: »Wo ich geboren wurde, waren alle Menschen arm, Kinder von Landarbeitern und bettelarmen Bauern.«34 Fidel wuchs als Sohn eines Großgrundbesitzers auf, der sich erst wenige Jahre zuvor auf seinen Ländereien niedergelassen hatte. Aus diesem Grund fehlte sowohl das aristokratische Umfeld traditioneller Zuckerbarone als auch bürgerliche Kultur im Elternhaus. Ángel und Lina, die beide aus ärmlichen Verhältnissen kamen,
»hatten weder Kultur noch Gewohnheiten einer reichen Familie. Die ganze Zeit arbeiteten sie, und wir waren als Kinder ausschließlich mit den Menschen zusammen, die in Birán lebten«.35
Dennoch dürften den jungen Fidel auch manche politische Ansichten seines Vaters beeinflusst haben. Ángel Castro hatte als spanischer Soldat den Krieg gegen die von Präsident William McKinley (1843–1901) nach Kuba entsandten Truppen verloren und besaß deshalb – wie alle Spanier seiner Generation – mit Sicherheit keine hohe Meinung von den USA. Zudem lagen seine Ländereien umgeben von riesigen Zuckerrohrplantagen verschiedener US-Konzerne, mit denen Ángel nicht selten Grenzstreitigkeiten auszufechten hatte. Es ist also wahrscheinlich, dass Fidel die erste Kritik an Washington in seinem Elternhaus hörte.
Ángel Castro nahm erst 1941 die kubanische Staatsangehörigkeit an, bis dahin blieb er Spanier. Die Kubaner wiederum opponierten aus anderen Gründen gegen die USA. Nach Ende des Spanisch-Amerikanischen Krieges hatten die Vereinigten Staaten für Kuba zwar eine Republik als Staatsform vorgesehen, eine reale Unabhängigkeit jedoch vereitelt. So ließ der Kongress in Washington das nach dem Senator Orville H. Platt benannte Platt Amendment in der kubanischen Verfassung von 1901 festschreiben. In Kuba stieß dieser Zusatz auf Widerstand, da er den USA – gegen Pacht – einen Teil des kubanischen Territoriums für die Nutzung von Militärstützpunkten (darunter Guantánamo) abtrat und ihnen ein dauerhaftes Recht auf militärische Intervention gewährte. Davon hatten die USA wiederholt Gebrauch gemacht, als sie ihre – meist wirtschaftlichen – Interessen gefährdet sahen. Das Interventionsrecht hing somit wie ein Damoklesschwert über jeder kubanischen Regierung.
Der erste Präsident, der sich entschlossen zeigte, diese Übergriffe des Nachbarn zu verhindern, hieß Gerardo Machado y Morales (1871–1939). Kurz bevor Fidel Castro zur Welt kam, war Machado 1925 durch Wahlen an die Macht gekommen und trat zunächst als glühender Nationalist auf. Außerdem stellte seine Regierung ein ambitioniertes, keynesianisch geprägtes Modernisierungsprogramm auf die Beine, das von der American Chase Bank finanziert wurde. Große öffentliche Bauvorhaben mit Symbolcharakter wurden vorangetrieben, an denen der Präsident sich als erster bereicherte. Ruby Hart Phillips, von 1931 bis 1961 Korrespondentin der New York Times in Havanna, beschreibt ihn mit knappen Worten: »Machado war der raffinierteste Politiker, den die Insel je hervorgebracht hat, habgierig, rachsüchtig und skrupellos.«36 Autoritarismus, Patronage und Kleptokratie gehörten allerdings schon seit Gründung der Republik zu den Merkmalen kubanischer Regierungen. Begünstigt wurden sie durch eine Verfassung, die fast alle staatliche Gewalt in der Exekutive verankerte und damit Legislative und Judikative zu bloßen Vollstreckern der präsidialen Macht herabsetzte. Als Machado 1928 die Verfassung änderte, um sein Mandat zu verlängern, rief das vor allem den Protest der Studenten hervor. Machado ließ die aufständischen Universitäten schließen, im Gegenzug gründeten die Studenten den Directorio Estudiantil Universitario (DEU) und wurden in ihrem Verband zu den erbittertsten Gegnern des Präsidenten.
Dessen zweite Amtszeit schlug in eine nackte Diktatur um. Wer die Regierung öffentlich kritisierte, musste mit 90 Tagen Gefängnis und einer Geldstrafe von 50 Pesos (Dollar) rechnen. Bald darauf erhielt Machado seinen Beinamen »Der Schlächter«, welchem er alle Ehre erwies: Unbequeme Politiker, Studenten und Journalisten landeten im Gefängnis, zahllose von ihnen wurden gefoltert oder getötet, oft warf man die Opfer lebendig den Haien zum Fraß vor. Zur gleichen Zeit vertrat die verfolgte Studentenschaft Ideale von Uneigennützigkeit, Unbestechlichkeit und Pflichtbewusstsein – was ihr in der Öffentlichkeit die ehrenvolle Bezeichnung Generation von 1930 einbrachte; gehörte man ihr an, so sollte das für die Betreffenden noch viele Jahre danach Prestige verheißen. Nachdem ein spontaner Aufstand im August 1931 scheiterte, brach der Staatsterror offen und mit aller Gewalt aus. Diesmal bekamen Geheimpolizei und marodierende Milizen Gegenterror zu spüren, Bombenanschläge und Schießereien auf den Straßen waren an der Tagesordnung. Im Juli 1933 notierte Phillips: »Machado wird von der ganzen Bevölkerung derart gehasst, dass er sich nur noch mit Waffengewalt an der Macht halten kann.«37 Für diesen Fall hatte der Diktator bereits Vorsorge getroffen: Im Jahr 1932 verfügte seine hochgerüstete Armee über einen Haushalt von 10 Millionen Dollar, das entsprach fast einem Viertel des Volkseinkommens.
Für Machado war die Armee jedoch Segen und Fluch zugleich. Als am 3. August 1933 ein mehrtägiger, von Unruhen begleiteter Generalstreik die Insel erschütterte, glaubte man hier, eine Intervention der USA stünde unmittelbar bevor. Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) aber schickte keine Marines, sondern seinen Sonderbotschafter Sumner Welles nach Havanna. Er sollte Machado den Rücktritt nahelegen, um so den Ausbruch einer Revolution zu verhindern. Beim Diktator indessen stieß Welles auf taube Ohren. Hochmütig verwahrte sich Machado gegen jegliche Einmischung von außen und verkündete im kubanischen Abgeordnetenhaus: »Unser Land muss sich frei, unabhängig und ungehindert vom Platt Amendment behaupten.«38 Welles wandte sich daraufhin an die Befehlshaber der Armee. Mit Erfolg: Am 11. August erhob sich eine Gruppe hochrangiger Offiziere, einen Tag später flüchtete Machado im Flugzeug auf die Bahamas. Ihm war das Platt Amendment durch Welles’ diplomatischen Schachzug zum Verhängnis geworden. Hätten die USA interveniert, dann wäre das Gros der kubanischen Armee aufgelöst worden und die Offiziere hätten ihre Pfründe verloren. Mit dieser Gewissheit betrat nun ein neuer Akteur die politische Bühne Kubas – das Militär.
Unmittelbar nach dem Sturz des Tyrannen setzte die Lynchjustiz ein. Eine völlig entfesselte Menge machte Jagd auf Machados Schergen, die Porristas (»Knüppelschläger«). In jenen Wochen glich Kuba einem failed state