Heinrich Ammerer
Am Anfang war
die Perversion
RICHARD VON KRAFFT-EBING
Psychiater und Pionier der modernen Sexualkunde
Für Lorena, Noah und Alexandra
IMPRESSUM
ISBN 978-3-990-40070-8
© 2011 by Styria premium
in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG
Wien · Graz · Klagenfurt
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
Lektorat: Johannes Sachslehner
Covergestaltung: Bruno Wegscheider
Layout und Herstellung: Anna Caterina Wegscheider
Reproduktion: Pixelstorm, Wien
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
Alle Rechte vorbehalten
Cover
Titel
Widmung
Impressum
VORWORT
AUS DEM LEBEN EINES ARBEITSMENSCHEN
Die Vorgeschichte: Abstammung und Identität
Wunderbare Jahre: Kindheit und Jugend (1840–1858)
Ziehvater und Idol: Der Einfluss des Über-Großvaters
Iucunda iuventus: An der Heidelberger medizinischen Fakultät (1858–1863)
Im Paradiesgarten: Fünf Jahre Illenau (1863–1868)
Die eigene Praxis und eine große Reise (1868–1870)
Krieg und Kriegsbeute: Die erste akademische Anstellung in Straßburg (1870–1873)
Hinein ins volle Leben: Glückliche Jahre in Graz (1873–1889)
Am Weg zum Gipfel: Wien (1889–1897)
Die Russlandreisen
Ein langsamer Abgang: Wien (1897–1902)
Krafft-Ebings Ende in der Wahlheimat
Die familiäre Nachwelt
DER IRRENARZT
Psychiatrische Macht im späten 19. Jahrhundert
Irgendwo im Nirgendwo: Illenau
Notstand in der Steiermark
„Rein zum Verrücktwerden“: Die Wiener Anstalten
Das Sanatorium Mariagrün
Die Anlage
Die Patienten
Ordination Professor v. Krafft-Ebing
DER FORSCHER UND LEHRER
Grundlagen der Lehre Krafft-Ebings
Der Publikator
Vor Gericht
Das Netzwerk der Psychiater
Krafft-Ebing als Lehrer
PSYCHOPATHIA SEXUALIS
Sexualwissenschaft und Perversionsforschung
Krafft-Ebings sexueller Kosmos
Die Fallgeschichten
Krafft-Ebing und die Homosexuellen
„Psychopathia sexualis“ in Literatur und Laienhänden: Beispiele
DER UMSTRITTENE KRAFFT-EBING
Anatomie eines Rufmordes
Aufruhr im Kollegium: Krafft-Ebings hypnotische Experimente
Der Fall Ilma
Der Fall Clementine und die Reaktion der Presse
Eine Männerfeindschaft: Krafft-Ebing und Moriz Benedikt
„Psychopathia sexualis“ in der zeitgenössischen Kritik
Der Syphilis-Skandal
DER GEFEIERTE KRAFFT-EBING
Aufstieg zur moralischen Autorität
Der Tugendwächter: Krafft-Ebing und die Frauen
Anerkennung, Vereinnahmung und eine bescheidene Erinnerungskultur
EPILOG
ENDNOTEN
LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
Dieses Buch behandelt eine zentrale Figur der psychiatrischen Szene des Fin de Siècle, den in Graz und Wien lehrenden Psychiatrieprofessor Richard Freiherrn von Krafft-Ebing. In der Psychiatriegeschichte wird Krafft-Ebing vornehmlich mit seinem 1886 erstmals erschienen Kompendium „Psychopathia sexualis“ in Zusammenhang gebracht, dem „Eröffnungswerk der modernen Sexualwissenschaft“ (Köllner),1 einem frühen populären Bestseller der Medizin, von dem Sigmund Freud nicht ohne Grund vier Ausgaben in seiner Bibliothek verwahrte. In der „Psychopathia sexualis“ wurden sexuelle „Verirrungen“ wie Fetischismus, Masochismus, Sadismus oder Nymphomanie erstmals benannt, klassifiziert, durch Fallgeschichten illustriert und versuchsweise nach ihren Ursachen erklärt. Die Bedeutung der „Psychopathia sexualis“ kann kaum hoch genug eingeschätzt werden, prägte sie doch eine ganze Epoche der Medizingeschichte und ist bis heute bestimmend für unser Verständnis und unsere Nomenklatur von sexuellen Perversionen geblieben. So ist es nicht verwunderlich, dass die „Psychopathia sexualis“ und ihre detaillierten Fallgeschichten für eine kleine, aber interessierte Leserschaft bis in die Gegenwart ihren eigenen Kitzel versprühen.
In den letzten Dekaden erschienen nicht nur Nachdrucke des Werks in verschiedenen Sprachen, auch eine edierte Hörspiel-Fassung der „Psychopathia sexualis“ durfte nicht ausbleiben.2 Populärwissenschaft und Belletristik haben sich im Laufe der letzten 30 Jahre des Namens, Werkes und selbst der Person Krafft-Ebings bemächtigt. Wo in Kulturbetrieb und Populärwissenschaft von „Perversion“ die Rede ist, fällt dementsprechend schnell sein Name. Comics, die sich mit sexuellen Obsessionen beschäftigen (vgl. Abb. 2, S. 301), verwenden ihn ebenso wie Musikgruppen, die versuchen, mit dem Titel „Psychopathia sexualis“ audiophile Kundschaft anzulocken (z. B. Lenny Bruce, The Makers, Oneiroid Psychosis, Momus).3 In der sexuellen Revolution der 1960er Jahre haftete der Marke „Krafft-Ebing“ sogar ein verführerischverruchter Chic an, wie manche Memorabilien nahelegen (vgl. Abb. 3). Einschlägige Ausstellungen, wie beispielsweise die Grazer Ausstellung „Phantom der Lust – Visionen des Masochismus in der Kunst“4, kommen um Krafft-Ebing ohnehin nicht herum. Ein Film mit dem Titel „Psychopathia sexualis“5 aus 2006 war der vorläufige Höhepunkt dieser populären Bearbeitung des Stoffes. In diesem Film tritt auch mehrmals die Figur Krafft-Ebings auf die Bühne, in der Vorstellung des Regisseurs offenbar ein hagerer, sinisterer Dr. Frankenstein (vgl. Abb. 4), der sich in seinen düsteren Irrenhauskatakomben fast ausschließlich mit den derangierten Psychen von Lustmördern und der Hypnose von dandyhaften Homosexuellen befasst.
Auch die Wissenschaftsgeschichte hat sich bislang vornehmlich für die Rolle interessiert, welche die „Psychopathia sexualis“ und ihre Beiwerke in Medizin und Sexualwissenschaft spielten. Die Einengung Krafft-Ebings auf seine Perversionskonzepte verkürzt jedoch den Blick auf Einfluss und Wirkungskreis des Psychiaters unzulässig, war Krafft-Ebing doch vor allem ein einflussreicher Psychiatriedidaktiker und Rechtspsychiater in einer Zeit, in der sich die Psychiatrie erst an der Schwelle zur Moderne befand. Die Irrenheilkunde des späten 19. Jahrhunderts ist untrennbar mit Krafft-Ebing verknüpft. Wie bedeutsam der Psychiatrieprofessor war, zeigt sich beispielsweise in der hohen Zahl der Meldungen seines Todes im Dezember 1902: Über 120 europäische Zeitungen und Zeitschriften widmeten ihm eine Todesnachricht oder einen kleineren Nekrolog.
Das Buch – eine gekürzte und überarbeitete Fassung einer kulturgeschichtlichen Dissertation, die 2010 an der Universität Salzburg approbiert wurde6 – bemüht sich, Leben und Wirken Krafft-Ebings möglichst quellennahe nachzuzeichnen und in der Psychiatriegeschichte zu verorten. Dabei werden in sechs Kapiteln sechs verschiedene biographische Perspektiven auf Krafft-Ebing eingenommen, um ein möglichst umfassendes Bild auf den Psychiater zu erhalten: Der Lebensweg, die Tätigkeit als Irrenarzt, als Forscher und Lehrer, als Sexualkundler sowie Krafft-Ebings Wirkung innerhalb der Fach- und der Laienwelt werden nachgezeichnet. Als Quellenbasis dient dabei insbesondere der umfangreiche persönliche Nachlass, der erst vor einigen Jahren öffentlich gemacht und hier erstmals in Form einer biographischen Skizze erschlossen wurde.
Die folgenden tröstenden Zeilen eines Grazer Professorenkollegen, an Richard von Krafft-Ebing in den späten 1890er-Jahren geschickt, richteten sich an einen Menschen, der in seinem Berufsleben viel erreicht und dennoch immer noch mit Selbstzweifeln und melancholischen Schüben zu ringen hatte:
„Das Neujahr nehme ich nicht zum Anlaße, wohl aber als willkommene Gelegenheit, Ihnen meine aufrichtig ergebene Gesinnung zum Ausdruck zu bringen. In schweren Stunden helfe ich mir oft mit der Parole: >Pflicht gethan – heißt ein Sieg errungen<, um wieder in das Aequilibrium zu gelangen. Sie aber haben viel mehr, als das geleistet […]. Möge ein gutes Bewußtsein das Leitmotiv abgeben für die inneren Stimmungstöne; möge die strenge Selbstkritik durch die Tatsache sich mildern, dass sie alle hochschätzen, welche Ihre Leistungen kennen. Die Arbeitsmenschen sind ja mit einem Stückchen blauen Himmel zufrieden, möge es ihnen daran nicht fehlen!“7
Ein ausgewiesener „Arbeitsmensch“ war Krafft-Ebing zweifellos, sein „brennender Ehrgeiz“8 (Allerhand) und seine Arbeitswut waren unter den Kollegen beinahe legendär. „Rastlos und unverwüstlich“9 erschien er seinen Mitmenschen, eine robuste Natur, deren Lebenszweck im bürgerlichen Arbeitsethos aufging. „Der Grundzug seines Wesens war Güte, sein Leben Fleiß und Arbeit“,10 fasste sein Assistent Alfred Fuchs Charakter und Lebensmaxime Krafft-Ebings zusammen. Als manischen Arbeiter, „der täglich zweimal den Achtstundentag sich redlich plagte“11, charakterisierte ihn Anton, „seinen nie erlahmenden Lerneifer“12 lobte Karplus, seinen „selbstfeindlichen Fleiß“13 hob Wagner-Jauregg hervor. Von welchen „schweren Stunden“ hier nun die Rede ist, ist nicht erkennbar. Dass auch der berühmte Seelendoktor Krafft-Ebing ab und an aus der Balance geriet, offenbaren solche rudimentären Spuren, die privatim über ihn erhalten sind. Was für ein Mensch war Richard von Krafft-Ebing? Es ist schwierig, Charakter und Wesen ex post zu erfassen – wenig ist erhalten, das über Mensch und Persönlichkeit Aufschluss geben kann.
Anders als viele seiner Kollegen war Krafft-Ebing kein literarischer Selbstdarsteller, verfasste weder Memoiren (vgl. dagegen etwa Hoche, Wagner-Jauregg, Benedikt) noch grüblerische Weltbetrachtungen. Leider (und dies ist der größte Mangel) ist auch kein reicher Briefverkehr überliefert – wie etwa bei Billroth oder Freud – und es ist nicht einmal festzustellen, ob er an seine Freunde gerne und häufig persönliche Briefe schrieb. So ist es schwierig, sein Wesen, Weltbild und die psychische Konstitution aus dem Amalgam seines Gelehrtenlebens zu lösen. Die hauptsächlichen zeitgenössischen Quellen zum Charakter Krafft-Ebings sind die Berichte von Freunden und Kollegen, die freilich nur cum grano salis gelesen werden können. Die Nekrologe14 und Festreden, die um die Jahrhundertwende den Helden der Psychiatrie gewidmet waren, enthielten natürlich programmatisch nil nisi bene, stilisierten die Geehrten zu von Philanthropie durchfluteten Charaktergrößen, die sich im Dienste einer „leidenden Menschheit“15 selbst aufopferten. Schüler und akademische Freunde schwärmten stets nur von der Warmherzigkeit und hohen Bildung ihrer Fachgenossen, Zeitungsredakteure erhielten die Gelehrtenporträts und Nachrufe aus der Feder wohlwollender Kollegen und schrieben sie hernach voneinander ab.
Filtriert man die zeitgenössischen Urteile zu Krafft-Ebings Charakter und versetzt sie mit den erhaltenen Selbstzeugnissen, erhält man den Eindruck eines sanftmütigen, phlegmatischen, empathischen und hilfsbereiten Mannes, der an mehreren Stellen als wahrer „Menschenfreund“ sanktifiziert wurde. Dass dieser Gutmütigkeit ein beinahe pedantisches Pflichtbewusstsein gegenüberstand, berichtete sein Assistent Karplus: „Niemand hat ein rohes Wort von ihm gehört, und so nachsichtig er sonst in der Beurteilung anderer war, eine Rohheit verzieh er niemals. Eher drückte er ein Auge zu, wenn einer seiner Aerzte sich den Dienst etwas bequemer einzurichten suchte, er aber war die Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue selbst. Er sagte nie eine Vorlesung ab, er hielt kein akademisches Viertel, er versäumte nie die Visite auf der Klinik.“16 Nach innen eitel, nach außen bescheiden – damit hob er sich wohltuend von der demonstrativen Überheblichkeit der Wiener Universitätsärzte ab: „Sie haben >ausgezeichnet< erwartet, das verdiene ich selber nicht“, berichtet beispielsweise eine Anekdote vom Versuch des Professors Krafft-Ebing, einen hervorragenden Examinanden zu trösten, der sich bei einer Prüfung mit einem „gut“ begnügen musste.17 In Wort und Schrift sehr begabt, inszenierte er sich gerne auf akademischen Bühnen. Seine Vorlesungen wurden als unterhaltsam und mitreißend empfunden, obgleich er als sachlicher und nüchterner, privat eher biederer Mensch galt. Den trockenen, zynischen Humor seiner Kollegen Theodor Meynert und Julius Wagner-Jauregg hatte er nicht. Überhaupt war er bei aller Umgänglichkeit korrekt und gesetzt, von Ordnung und Selbstdisziplin bestimmt. Genussmensch nur in kulinarischer Hinsicht, Familienmensch zweifellos. In summa finden wir in Krafft-Ebing einen phlegmatischen und bedachten, auf viele Zeitgenossen charismatisch wirkenden, als höflich und gesellig wahrgenommenen Menschen ohne herausragende charakterliche Eigenschaften.
Feinde hatte er bei seinem Gemüt nur wenige. Sein Publikumserfolg provozierte einige akademische Neider, die ihm vor allem in den späten Jahren zusetzten. Bei akademischen Auseinandersetzungen ging er dem Streit meist aus dem Weg, war auch durchaus – wie sich beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Sigmund Freud zeigte – offen gegenüber neuen wissenschaftlichen Zugängen, die seiner Überzeugung eigentlich widersprachen. „Eine äußerst vornehme Natur“ sei der Kollege also gewesen, sinnierte Nachfolger Wagner-Jauregg nach Krafft-Ebings Tod, was aber „nicht immer zu seinem Vorteil“ gewesen sei. „Er war sehr friedliebend. Er hat in seinem ganzen Leben keinen polemischen Artikel geschrieben und ist im wissenschaftlichen wie im privaten Leben jeder Controverse aus dem Weg gegangen. Er war seelengut und dabei ohne jeden Argwohn“.18 Vielleicht sogar zu seelengut? Bei genauer Betrachtung, echauffierte sich Wagner-Jauregg, habe der Kollege doch „nicht einmal jenen Grad an Misstrauen“ gehabt, „der zur vollen Menschenkenntnis gehört“.19 Damit meinte er den Umstand, dass der bis zur Naivität verständnisvolle Krafft-Ebing vor Gericht viele Delinquenten für unzurechnungsfähig erklärte, weil sie unter Kleptomanie, zwanghafter Insubordination oder simplen Menstruationsbeschwerden gelitten hätten. Wenig verwunderlich also, dass Krafft-Ebings „Güte […] auch vielfach missbraucht“20 (Wagner-Jauregg) worden sei, dass „seine Gutmütigkeit und sein Vertrauen […] vielfach ausgenützt und enttäuscht“21 (Fuchs) worden seien. Solche Enttäuschungen belasteten den Gemütsmenschen, der Krafft-Ebing letztlich war, dann aber nicht lange: „Tief durchdrungen von der Zweckmäßigkeit und Weisheit allen Weltgeschehens“ sei er stets gewesen, meinte sein Kollege Gabriel Anton, „dies stabilisierte ihn seelisch bei aller Ungemach“.22 Eine solche Contenance brauchte es wohl auch, um 38 Jahre eines Lebens psychisch Kranke behandeln zu können und sich dabei gleichzeitig zu einem der bekanntesten Psychiatriegelehrten seiner Tage hochzuarbeiten.
„Eigentlich spielt der Zufall eine große Rolle in Krafft-Ebings Werdegang“,23 meinte ein Redakteur der Wiener „Zeit“ im Nachruf auf den Psychiater grüblerisch. Damit hing er jenem Bild an, das Krafft-Ebing selbst in seiner Abschiedsrede über seine Karriere gemalt hatte: Dass sein Berufsweg steinig gewesen sei, dass nur Glück und Tüchtigkeit seine Universitätskarriere vorangebracht hätten, dass er „gleich vielen Jüngern der Wissenschaft anfangs einen schweren Kampf“ auszufechten und „mancherlei Enttäuschungen zu erfahren“ gehabt hätte, dass er einen „mühevollen Werdegang“, einen „an Enttäuschungen so reichen Existenzkampf“, einen „verzweifelten Kampf mit tausenderlei Schwierigkeiten und Hindernissen“24 (Allerhand) zu bestehen gehabt hätte – dies war die Erinnerung Krafft-Ebings an seinen Lebenslauf. Dieser Eindruck dürfte aber eine grobe Übertreibung gewesen sein. Er war wohl einem Zeitgeist geschuldet, der den akademischen Lebensweg gerne als romantischen Kampf gegen ein widriges Fatum und gegen streitbare Gegner stilisierte.
Tatsächlich war im Leben Krafft-Ebings auffallend wenig Zufall im Spiel. Seine Karriere formte sich aus stabilen Komponenten, die einen akademischen Aufstieg sehr wahrscheinlich machten:
Zum Ersten musste ihm eine glückliche Geburt in einem beziehungsreichen bildungsbürgerlichen Haushalt dienlich sein, wo ihm die Blaupause für seinen universitären Lebensweg in die Wiege gelegt werden konnte. Sodann war die Berufswahl recht günstig ausgefallen, konnte man im Bereich der Psychiatrie doch an der Frontier eines wenig erschlossenen Wissenschaftsgebiets wirken und sich vergleichsweise rasch einen Namen machen. Sein Talent und die unerschöpfliche Arbeitswut halfen ihm, rasch ein wissenschaftliches Oeuvre zu erstellen, aus dem sich Reputation ziehen ließ. Zudem besaß Krafft-Ebing bei all seiner wissenschaftlichen Vielseitigkeit ein Gespür dafür, welche Themen gesellschaftliche Relevanz hatten, an welcher Stelle er sich einer breiten Öffentlichkeit andienen und zu einiger Bekanntheit gelangen konnte. Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass er sich von früh an in ein Netz aus dienlichen Beziehungen einfügte, die sein Fortkommen beförderten. Wohlwollende und einflussreiche Mentoren begleiteten ihn durch die schwierigen Anfangsjahre seiner Karriere.
Krafft-Ebings Lebenslauf war nicht untypisch für Persönlichkeiten des medizinisch-akademischen Lebens seiner Zeit. Die biographischen Parallelen zu einem Zeitgenossen und Kollegen an der Universität Wien, dem Chirurgen Theodor Billroth (1829 – 1894), sind beispielsweise augenfällig: Wie dieser wurde er in eine liberale bildungsbürgerliche Familie von Juristen und Medizinern hineingeboren und durchlief eine ähnliche Schullaufbahn von der Bürgerschule zum Gymnasium (wenngleich er, anders als Billroth, kein schlechter Schüler war). Auch Billroth hatte eine starke Neigung zur Musik, reiste gerne durch Europa und verlor wie Krafft-Ebing früh einen Elternteil und Geschwister (alle vier Brüder und die Mutter Billroths starben noch vor seinem 36. Lebensjahr an Tuberkulose). Beide hospitierten nach dem Medizinstudium an mehreren Universitäten, beide spielten mit dem Gedanken, sich als praktische Ärzte niederzulassen und wollten doch stets eine akademische Karriere verfolgen. Nach Jahren als Assistenzarzt und Privatdozent brachte es Billroth mit 30 zum ordentlichen Professor in Zürich, Krafft-Ebing wurde ohne vorangehende universitäre Beschäftigung mit 31 Jahren außerordentlicher Professor in Straßburg bzw. gleich darauf in Graz. In beiden Fällen waren sie „Reichsdeutsche“ im Ausland, was dem Preußen Billroth in Zürich missfiel, den Badener Krafft-Ebing in Graz jedoch nicht störte. Beide stießen sich an den engen wissenschaftlichen Verhältnissen in Zürich und Graz, lehnten aber mehrere Rufe ab, bevor sie schließlich an die renommierte Wiener Universität wechselten, wo sie bis zur Pensionierung verblieben. Billroth heiratete mit 29 Jahren und zeugte vier Kinder, Krafft-Ebing schloss mit 34 Jahren den Bund fürs Leben und setzte drei Kinder in die Welt. Beide betrieben Raubbau an ihrer Gesundheit, aßen gern und nicht wenig, tranken und rauchten (Billroth soll bis zum Morgengrauen in Kette Zigarren geraucht haben, während er an seinen Publikationen saß) und bewegten sich reichlich in Gesellschaft.25 Und schließlich waren beide nur deshalb so erfolgreich, weil sie einen unbedingten Willen zur Selbstausbeutung hatten. In Briefen schilderte Billroth regelmäßig seine Arbeitsbelastung im Alltag. 1890 reflektierte der 61-Jährige beispielsweise einen harten Arbeitstag in Wien:
„Es war ein bewegter, meist herber Tag heut – erwachte früh von einer Wunde am Finger, die sich durch Berührung mit Eiter entzündet hatte; doch das bin ich gewohnt, es wird bald besser sein. Dann ewige Klingelei; man ließ mich kaum ruhig mit Frau und Kindern frühstücken. Lohndiener von Hotels, die Stunden für Konsilien verlangten; der Sekretär vom Rudolfinerverein, der Unterschriften wünschte […] Endlich Besuche bei gestern Privat-Operierten, nun zur Klinik! Assistenten, Operateure, Direktions-Erlasse, Jeder will etwas. Himmel-Sakrament, es ist schon 20 Minuten nach 10 Uhr! Vorwärts! Hinein ins Auditorium. Zwei Stunden Schulmeisterei und Operationen. Kaum aus dem Operationssaal heraus, fallen mich wieder Menschen an. – Endlich nach Haus. 20 Minuten zum Essen. Dann zu einer sehr schweren Operation, die über 2 Stunden dauert! Kühne Vorsicht, endlich Sieg! Alles geht gut. Rasch 2 Glas Cognac! – Zu Haus: 6 Patienten teils mit Bagatellen, teils unheilbar: Lüge, Lüge als Trost. – 15 Minuten für five o’ clock tea mit Familie. Nun wieder 4 Krankenbesuche. Zu Haus. Eine halbe Stunde Ruhe! Welches Glück! Widmann’s Buch zu Ende gelesen. – Nun ins Concert! Ich hatte große Freude! Anderthalb Stunden Ruhe in ruhiger Musik. Die Aufführung schien mir vortrefflich! – Nun zu Hause in bester Stimmung, endlich etwas Ruhe. Höchst behagliches Abendessen in der Familie. – Nun 6 notwendige Geschäftsbriefe: Endlich: >Enfin seul<. – So habe ich mir jede Stunde erkämpfen müssen. Wie glücklich sind doch Menschen, die sich eine Grenze für das, was sie erreichen wollen, zu ziehen im Stande sind und sich in diesen Grenzen behaglich expandieren. Das Glück liegt am Ende doch in der unbewußten Resignation. – Mir ist das leider nicht gegeben.“26
Woher kam diese Rastlosigkeit, die Krafft-Ebing mit seinen akademischen Weggefährten verband, mit Schüle und Erb, mit Roller und Laehr, mit Gabriel, Wagner-Jauregg oder eben Billroth? Letzterer konnte es sich selbst nicht erklären: „Ich bin ein alter Mann, aber jede Grenze ist für mich unerträglich. Eine Sehnsucht nach etwas, was ich selber nicht weiß, stört mich im ruhigen Lebensgenuß. Es ist zu dumm! Doch ich kann es nicht ändern […] Meine Kraft nimmt ab, doch die Ansprüche der Menschen an mich nehmen zu.“27
Der Gelehrte des 19. Jahrhunderts, der im akademischen Feld reüssieren wollte, musste wohl ein Arbeitsmensch ab origine sein.
„Träger eines vornehmen alten Namens, hat er das Größere vollführt, sich selbst den Adelsbrief der Geistesaristokratie zu schreiben.“28
Die „Grazer Tagespost“ im Nachruf
Der Name eines Menschen markiert laut dem Soziologen Pierre Bourdieu „den Eintritt in die soziale Existenz“29 und den Kern der sozialen Identität. Im Falle Krafft-Ebings erzählt ein opulenter Geburtsname von einem nicht ganz einfachen sozialen Selbstverständnis: Während manche Quellen als Geburtsnamen „Fridolin Josef Richard“30 vermerkten oder, wie das Mannheimer Stadtarchiv, „Joseph Friedrich Richard“, dürfte sein Geburtsname in korrekter Abfolge „Richard Fridolin Joseph (Josef) Freiherr von Krafft von Festenberg auf Fronberg genannt von Ebing“31 gelautet haben. Dieser ausladende Name verdichtete sich im Alltag auf die Form „Richard Freiherr von Krafft-Ebing“. Dahinter lässt sich bereits eine etwas undurchsichtige Abstammung vermuten, die eine genealogische Entwirrung erforderlich macht.
Standesbewusstsein und Abstammung spielten im Leben Krafft-Ebings beinahe zwangsläufig eine Rolle. Seine Sozialisation im liberalen bildungsbürgerlichen Milieu machte ihn zwar frühzeitig zum eher egalitär denkenden Bürger, der gegenüber adeligen Standesallüren weitgehend immunisiert war und in der bürgerlichen Gesellschaft den höchsten Grad der Menschheitsentwicklung zu erkennen glaubte. Jedoch liegt es nahe, dass für einen Anhänger der biologischen Hereditätslehren, der von Berufs wegen Menschen in „normal beings, superior und inferior beings“32 einteilte, Kategorien wie „hohe“ und „niedere“ Geburt, „edles“ und „unedles“ Blut Bedeutung haben mussten. Fragen seiner eigenen Abstammung und Identität konnten Krafft-Ebing daher nicht unberührt lassen. Der niedere Erbadel, dem er angehörte, mochte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Glanz und Bedeutung verloren haben, er taugte aber zumindest noch zur gesellschaftlichen Distinktion und verlieh seinem Träger Stolz auf die Familienhistorie. Zudem schützte er davor, aufgrund der eigenen Leistungen lediglich als Parvenü oder Streber wahrgenommen zu werden. Die Durchleuchtung der Persönlichkeit Krafft-Ebings muss daher schon vor seiner Geburt ansetzen.
Geboren am 14. August 1840 im badischen Mannheim als Sohn des Amtmannes Friedrich von Krafft-Ebing und von dessen Frau Clara Antonia, geborene Mittermaier,33 stammte Richard von Krafft-Ebing von zwei süddeutschen Familien ab, die zur meritokratischen Funktionselite zählten.
Die väterliche34 Abstammungslinie erzählt vom vagabundierenden Wesen einer süddeutschen Beamtenfamilie. Zurück reichen die Wurzeln des Geschlechts der „Krafft“ bis ins 12. Jahrhundert. Als Stammvater trat im 13. Jahrhundert Domenicus Krafft in Erscheinung, der als Ulmer Stadtschreiber und kaiserlicher Kanzler im Dienst von Rudolf I. von Habsburg fungierte.35 Sehr wahrscheinlich war dessen Amt bereits mit einem Briefadelstitel verbunden. Ein Kammerrat Hanns Krafft wird spätestens Mitte des 16. Jahrhunderts als Herr der bayrischen Grundherrschaft Festenberg geführt. Auf diese Grundherrschaft bezog sich die Familie, wenn sie sich fortan Krafft von Festenberg auf Frohnberg nannte.36 Urkunden des 16. Jahrhunderts erwähnen Hans (Bürgermeister zu Ingolstadt), Hans (Stadthauptmann), Hans Kristof (Hofkommissär) und Klemens Krafft (Stadtarzt in Neuburg). Im 17. Jahrhundert zogen die Nachfahren nach Schwaben und standen dort als Beamte in österreichischen Diensten. Diese jüngere Ahnenreihe wurde angeführt vom im schwäbischen Hochstädt an der Donau geborenen Stammvater Johann Jakobus Krafft (1631 – 1704), welcher sich als Stadtschreiber in Ehingen an der Donau verdingte. Im 18. Jahrhundert ist der Syndicus von Ehingen, Christophorus Anton Krafft (1693 – 1765), verbrieft, der als Landesdeputierter der schwäbisch-vorderösterreichischen Landstände diente. In seiner Nachfolge finden sich schließlich die Geschwister Johann Nepomuk (1737 – 1805) und Karl Anton Krafft (1743 – 1830). Diese in Ehingen geborenen Brüder brachten es bereits zu promovierten Doktoren der Rechte und traten beide in die Fußstapfen ihrer Vorfahren: Der ältere Bruder Johann Nepomuk war als Oberamtmann des Klosters Wiblingen tätig und begründete die ältere Linie der Krafft von Festenburg (die 1812 in die bayerischen Adelsmatrikel eingetragen wurde). Der jüngere Bruder Karl Anton, der als Oberamtmann des adeligen Damenstiftes in Heiligenkreuzthal in Vorderösterreich fungierte und Landrichter der Grafschaft Nellenburg war, begründete die jüngere badische Linie, aus der Richard von Krafft-Ebing stammt.
Am 20. März 1770 kam es zur Nobilitierung der Beamtendynastie: Beide Brüder wurden aufgrund ihrer Verdienste um die vorderösterreichische Landesverteidigung von Kaiserin Maria Theresia in den erbländisch-österreichischen Adelsstand erhoben. Dazu kam eine neue Grundherrschaft: 1781 erwarb Karl Anton das kleine Fleckchen Zizenhausen bei Stockach (nordwestlich des Bodensees) und ließ sich dort das gleichnamige Schloss erbauen, das bis 1840 Stammsitz der Familie bleiben sollte. Nach dem Tod des älteren Bruders wurde Karl Anton in Anerkennung seiner militärischen Verdienste 1805 vom Kaiser in den Reichsfreiherrenstand aufgenommen – kurz vor Auflösung des Reiches und der anstehenden Mediatisierung. Nach dem Übergang des vorderösterreichischen Kantons Hegau an Württemberg folgte der Kanton – der bislang als sehr restriktiv bei der Rezeption neuadliger Familien gegolten hatte37 – am 5. Januar 1806 mit der Verleihung der Schwäbischen Reichsritterschaft dieser Nobilitierung. Zudem machte man Karl Anton zum königlich-württembergischen Geheimen Hofrath.
Verheiratet mit Philippina Antonie, selbst eine geborene Freiin von Tautphöus (1752 – 1806), war Karl Anton der Vater von Friedrich Franz von Krafft auf Zizenhausen (1784 – 1813), der sich mit Maria Fridolina Freiin Ebing von der Burg (1786 – 1845) verehelichte. Hier kam es zu einer merkwürdigen Familienkonstellation: Von seinem Schwiegervater Konrad Freiherr Ebing von der Burg (dem letzten männlichen Stamm- und Namenshalter eines alten Reichsrittergeschlechts) vor dessen Tod 1806 adoptiert, wurde Friedrich Franz zum Zeitpunkt des Erlöschens des Geschlechts der „Ebing“ per ministerialem Reskript vom 7. März 180838 mit „besonderer würtembergischer Genehmigung“39 die Namens- und Wappenvereinigung erlaubt, wobei den Freiherren Krafft von Festenberg auf Fronberg fortan der Zuname „genannt Ebing(er) von der Burg“ bzw. „genannt von Ebing“ zugesprochen wurde. Friedrich Franz starb wenige Jahre darauf im Zuge eines Duells in Immendingen. Aufgrund seines frühen Ablebens hatte er nur ein Kind, Friedrich Karl Conrad Christoph Freiherr Krafft von Festenberg auf Fronberg genannt von Ebing (1807 – 1889), der sich verkürzt „Friedrich Freiherr von Krafft-Ebing“ nannte. Dabei handelte es sich nun um den Vater Richard von Krafft-Ebings.
Die jüngere väterliche Ahnentafel Krafft-Ebings bestand also vornehmlich aus loyalen Beamten, die auf eine lange familiäre Tradition im Fürsten- bzw. Staatsdienst zurückblicken konnten. Im Sozialverhalten zunehmend (bildungs-)bürgerlich, zählte das Haus Krafft-Ebing wie viele geadelte Familien der Hochbürokratie mit jungem Grundbesitz im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zur „Zweiten Gesellschaft“ und damit bereits zur aufstrebenden kulturellen Elite der Zeit. An der Entstehung des liberalen Bürgertums im Vormärz, dem Richard von Krafft-Ebing angehörte, hatte diese Gesellschaftsschicht ihren Anteil.
Anders geprägt war die mütterliche Verwandtschaft Krafft-Ebings. Auch hier gab es viele Verwaltungsbeamte, Syndici, Hofräte und Stadtverwalter in der Ahnenreihe, dazu kamen aber im gleichen Verhältnis pharmazeutische und medizinische Tätigkeitsfelder. Einige der Vorfahren Krafft-Ebings betätigten sich beispielsweise in München als Stadtapotheker. Zumindest einer von ihnen, Richards Urgroßvater Franz Xaver Orthmayr, war zudem Senator der Stadt und damit Teil der städtischen Funktionselite.
Die gesellschaftliche Identität in diesem Teil der Familie war eine grundsätzlich andere als in der väterlichen Verwandtschaft. Adelstitel hatte man keinen vorzuweisen, für die Zugehörigkeit zum städtisch-bürgerlichen Patriziat fehlten Tradition und Vermögen, die eigene Apotheke recht-fertigte aber immerhin die Zuordnung zum ökonomisch fundierten alten Stadtbürgertum. Bestimmend war hier seit dem späten 18. Jahrhundert vor allem die bildungsbürgerliche Identität; sie kulminierte in einem berühmten Namen: Karl Josef Anton Mittermaier (1787 – 1867). Mittermaier, der aus geregelten, jedoch nicht üppigen Verhältnissen zu einem der bedeutendsten deutschen Rechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts aufstieg, war mütterlicherseits Richard von Krafft-Ebings Großvater. Er heiratete 1812 Margarethe Aloisia von Walther (1786 – 1869) und setzte mit ihr sieben Kinder in die Welt, darunter auch Clara Antonia (1820 – 1855), die Mutter Krafft-Ebings.
Freilich ist es nicht ganz unproblematisch, der Familie Mittermaier im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert eine reflektierte bildungsbürgerliche Identität zuzuschreiben. Das beliebte Etikett „Bildungsbürgertum“ wird schließlich nur historisch, also ex post, verwendet und ist so diffus angelegt, dass es keine konkret abgrenzbare gesellschaftliche Formation umreißt.40 Der Begriff selbst findet sich nicht in den zeitgenössischen Quellen, erst ab 1920 taucht er regelmäßig auf – meist mit negativer Konnotation.41 Da diese Kategorisierung rein retrospektiv verwendet wird, bemängelte der Sozialhistoriker Jürgen Kocka in den Jahren der Intensivierung der einschlägigen Forschung nach 1980 gar die Kopfgeburt des Begriffes und riet, das „Historikerkonstrukt“ besser „nur mit spitzen Fingern“ anzufassen.42 Nutzlos ist die Kategorie dennoch nicht, beschreibt sie doch zumindest eine heterogene außerständisch-bürgerliche Schicht, die ab dem späten 18. Jahrhundert auch in ihrer Selbstwahrnehmung eine neue kulturelle Elite in Mitteleuropa formte. Konstituierende Elemente des Bildungsbürgertums waren einerseits die egalitäre Betonung der Leistungsqualifikation, andererseits die Erfüllung des neuhumanistischen Bildungsideals der Aufklärung. Dadurch konnte man sich sowohl gegenüber den Erbprivilegien des Adels als auch gegenüber den bildungslosen Schichten abgrenzen. Das Bildungsbürgertum war die mobilste Gruppe der bröckelnden Ständegesellschaft und stellte – durch die expandierende Bürokratie – einen Großteil der verbeamteten Funktionselite Deutschlands.43
Angelehnt an Max Weber skizzierte M. Rainer Lepsius ein Konzept des Bildungsbürgertums als „ständische Vergesellschaftung“, das der Heterogenität seiner Partizipanten Rechnung trug.44 Bei ihm ist es der festgelegte Kanon des „Bildungswissens“, der dem Bildungsbürger Anspruch auf Sonderschätzung verschaffte. Katalysator für die Entstehung dieses Wissens war in Deutschland die Entwicklung der Lesekultur im 18. Jahrhundert, die den Bürgern in Lesezirkeln, Lesevereinen und einem expandierenden Netz von Bibliotheken Möglichkeiten zur individuellen Bildung bereitstellte.45 Das Bildungswissen verstärkte seinen Geltungsanspruch hernach dadurch, dass es im Übergang zum 19. Jahrhundert in den institutionellen Ordnungen verankert und damit selbst zu einem Machtfaktor wurde. Auf der institutionellen Ebene wurde es durch das humanistische Gymnasium – das der intellektuellen Sozialisation diente – und auf der Ebene der Interaktionskreise durch die Familie – welche die moralisch-ästhetische Formung betrieb – vermittelt. Dabei blieb das Bildungsbürgertum als Phänomen bei hoher Selbstrekrutierung herkunftsmäßig prinzipiell offen, es war geradezu integrativ angelegt. Adelige konnten ihm ebenso angehören wie Wirtschaftsbürger oder Kleinbürger, solange sie seinen spezifischen Lebensstil befolgten.46
Auch aus diesem Grund ist die heute verbreitete definitorische Trennung zwischen Bildungsbürgertum und städtischem Wirtschaftsbürgertum, die dichotome Unterscheidung zwischen den „Trägern des Kapitals“ auf der einen Seite und „Individuen, deren einziges Kapital ihre Bildung war“47, andererseits, wie sie Karl Mannheim für die frühe Soziologie vollzogen hat, wenig sinnvoll. Die Hinwendung zur Bildung hatte ja eine gesicherte Existenz zur Voraussetzung, idealiter im Staatsdienst oder in den freien Berufen. Gerade „das Nicht-Instrumentelle, das Spielerische-Überflüssige, das Ästhetische an Bildung und Kultur“48 (Kocka) konnte sich ja nur leisten, wer selbst oder im Familienkreis ausreichende materielle Fundamente besaß. Bildungsbürgertum und Besitzbürgertum standen daher im Wechselspiel zueinander: Das eine betonte das gesellschaftliche Prestige, das andere die wirtschaftliche Prosperität. Das Beispiel der bildungsbürgerlichen Apothekerfamilie Mittermaier zeigt dieses symbiotische Verhältnis von Geld und Bildungsehrgeiz, dem Karl Josef Anton Mittermaier seinen Sprung in die Bildungselite verdankte.
Die Attraktivität bildungsbürgerlicher Ideale und Lebensentwürfe war schon um die Wende zum 19. Jahrhundert groß. Die Faszinationskraft der bildungsbürgerlichen Lebensideale wirkte einheitsstiftend auf die anderen „Bürgertümer“ und anziehend auf den niederen Adel49 – und sie stellte auch die Notwendigkeit des Standeskonnubiums in Frage. In der Eheschließung von Friedrich von Krafft-Ebing und Klara Mittermaier vollzog sich eine solche Verbindung von niederem Erbadel – der hier bereits selbst zur verbeamteten Intelligenz gehörte – und städtischem Bildungsbürgertum. Dies mag insofern bemerkenswert sein, als dies die erste belegte gesellschaftliche Mesalliance des Hauses Krafft-Ebing war – mit der Tochter eines bürgerlichen Gelehrten, der noch dazu ein bekannter Liberaler, Konstitutionalist und vielleicht sogar schon Demokrat war. Die hierdurch dokumentierte Hinwendung zu bürgerlichen Idealen und Lebensweisen bei gleichzeitiger Betonung der Geburtsprivilegien war im Beamtenadel des Vormärz nicht ungewöhnlich; sie resultierte meist aus der Legitimationskrise des Adels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Grenzen zwischen Beamtenadel und dem aufstrebenden Bildungsbürgertum hatten ohnehin im aufgeklärten Absolutismus des späten 18. Jahrhunderts zu verschwimmen begonnen,50 im frühen 19. Jahrhundert sah Hans Heinrich Gerth das liberal eingestellte Beamtentum schon als einen „der stärksten Integrationsfaktoren des deutschen Frühliberalismus“.51 Ein prominenter Fahnenträger dieser symbiotischen Beziehung war beispielsweise der Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, der wie Friedrich von Krafft-Ebing der Reichsritterschaft entstammte und ebenfalls auf eine Beamtenlaufbahn vorbereitet wurde. Gagern verfiel schon früh den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, heiratete eine Bürgerliche und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zum Idol der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit.52 Indem Friedrich von Krafft-Ebings Familie bei seinem Schwiegervater in Heidelberg wohnte und er ohne Geldnöte den Krafft-Ebingschen Stammsitz, die Grundherrschaft Zizenhausen, 1840 verkaufte, zeigte auch er letztlich, dass er nicht an der gesellschaftlichen Superiorität seines Standes festhielt.
Klaus Dörners Biographieanalyseergebnis, demzufolge sich die deutschen Irrenärzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum überwiegenden Teil aus Beamtenfamilien rekrutierten, können wir anhand dieser Stammbäume auch auf den etwas später geborenen Psychiater Krafft-Ebing anwenden.53 Auch Fritz Ringers Statistik, nach der die deutschen Hochschullehrer im Beobachtungszeitraum 1860 – 1889 hauptsächlich von Professoren, höheren Beamten (bzw. Richtern) und Ärzten abstammten, trifft hier indirekt zu.54 Das beamtete Bildungsbürgertum war schließlich das wichtigste Rekrutierungsfeld für die deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts, obwohl es nur 2 % der Gesamtbevölkerung ausmachte.55
Wie es sich mit der sozialen Identität Krafft-Ebings verhielt, der einerseits als Erstgeborener die freiherrliche Stammlinie fortführen sollte, andererseits aber als liberaler Bildungsbürger mit egalitärem Tonus erzogen wurde, ist schwer abzumessen.
Zu Beginn seiner Karriere, als Studium und Kriegsdienst noch nicht lange zurücklagen, reduzierte Krafft-Ebing seinen Namen meist auf ein einfaches „Dr. Richard v. Krafft-Ebing“, bisweilen entfiel auch das „von“, fast immer der Freiherr. Er vermied anfangs bei beruflicher Korrespondenz Standesanklänge und verwendete keine opulenten Briefköpfe. Dies mochte noch dem Einfluss seines Großvaters Mittermaier geschuldet sein, der als überzeugter Liberaler ein Protagonist der bürgerlichen Revolution von 1848 gewesen war und auch die Erziehung seiner Kinder und Enkel in diese Richtung gelenkt hatte – was bei Krafft-Ebings Onkel Karl gar eine zeitweilige Inhaftierung im Gefängnis Bruchsal wegen des Verdachts auf „Teilnahme an einer demokratischen Verbindung“ bewirkt hatte.56 In den meisten Schriftstücken definierte sich Richard von Krafft-Ebing hauptsächlich über seine erarbeiteten Titel des „Doktors“ und des „Professors“ (später des „Hofrats“), wie erhaltene Rezeptblöcke, Visitenkarten, Briefe und andere Dokumente nahelegen. Selten versuchte er seine Autorität durch die Unterstreichung des angeborenen Status zu bekräftigen, er ließ wenig Standesdünkel erkennen. Dazu passt, dass er in der Klassifizierung seiner Patienten zwar die einfache Unterscheidung zwischen „dienenden“ und „höheren“ Klassen beibehielt, sie jedoch in seinen Werken häufig durch die bildungsbürgerliche Dichotomie der „ungebildeten“ und „gebildeten Stände“ ersetzte. Er engagierte sich in der Volksaufklärung und der Armenwohlfahrt, wie er überhaupt den „ungebildeten Ständen“ ähnliches Mitgefühl entgegenbrachte wie den „gebildeten“.
In den reiferen Jahren ist dann ein Wandel im Standesverständnis Krafft-Ebings zu bemerken. Er verwendete ab ca. 1890 im amtlichen Briefverkehr häufig Briefpapier, in welches das Familienwappen eingeprägt war, und betonte die freiherrliche Abstammung in Publikationen und in der beruflichen Korrespondenz.
In Standesfragen war Krafft-Ebing also augenscheinlich ein Zerrissener. Trotz seines tonangebenden bildungsbürgerlichen Habitus wusste er durchaus um die Vorzüge seiner freiherrlichen Provenienz. Der Adelstitel war der Karriere und dem öffentlichen Leben nicht gerade hinderlich, und er nutzte diese Vorteile. In finanzieller Hinsicht profitierte er zweifellos von seinem Erbtitel: Zu einer Zeit, in der das Prädikat „Hochwohlgeboren“ solvente Patientenbörsen öffnen konnte, war das Grazer Privatsanatorium Krafft-Ebings nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil es die vornehme Klientel durchaus zu schätzen wusste, im Hausherrn – nicht ganz korrekt – den „Herrn Baron“ begrüßen zu dürfen. „Schon als >Adeliger<“ habe Krafft-Ebing bei manchen seiner Patienten „einen besonderen Stein im Brett“ gehabt, erinnerte sich ein Zeitgenosse später, waren „doch die Barone als Leuchten der Wissenschaft, namentlich in der Medizin, dünn gesät. Aber gerade vermöge seiner Herkunft hatte Richard von Krafft-Ebing für die leidende Psyche eines durch Generationen hindurch versteinerten Nervensystems, wie es bei den Angehörigen der >gehobenen Stände< so häufig ist, sicherlich ein gutes Verständnis.“57 Aus seiner Grazer Zeit wird berichtet, dass er die Nähe des örtlichen Landadels suchte, und seine Ehefrau – geborene Försterstochter und nunmehrige Freiin – schätzte den Umgang mit Damen von Stand sehr.
Kurzum: Für einen nonchalanten, nach außen unaufdringlichen und hinter einer bürgerlichen Camouflage verborgenen Standesdünkel war Krafft-Ebing wohl zu haben. Zum Ende seines Lebens hin setzte er jedenfalls am 5. Juli 1896 nach der württembergischen auch eine badische Wappenvereinigung seiner Linie mit dem der Freiherren Ebinger von der Burg durch, sein Grab wurde von einer gegossenen Ausführung des Familienwappens geschmückt58 und die Erben bemühten sich wenige Jahre darauf um die badische Anerkennung als „Freiherrn von Krafft-Ebing“.59 Eine Ahnengalerie, Essbesteck mit den Familieninitialen, Büsten und ähnliche Symbole des Standesbewusstseins Krafft-Ebings bewahren die Nachfahren noch heute.
Krafft-Ebings berufliches Wirkungsfeld als forensischer Psychiater wurde durch die Familientradition zu einem gewissen Grad antizipiert. Sowohl im väterlichen als auch im mütterlichen Teil der Familie herrschte eine starke Affinität zur Juristerei. Auch Mittermaiers Söhne Philipp und Franz waren promovierte Rechtswissenschafter, wobei Letzterer als juristischer Schriftsteller und Privatgelehrter in Heidelberg reüssierte.60 Dazu kamen die Ärzte unter den Verwandten: Mittermaiers Schwager Walther lehrte als Chirurg an der Universität Bonn, Krafft-Ebings Onkel Karl (1823 – 1917) promovierte und wurde ein bekannter Allgemeinmediziner. Karl erreichte nicht nur ein – zu dieser Zeit beinahe biblisches – Alter von 95 Jahren, sondern auch den Titel eines Geheimen Medizinalrates und eine Ehrenbürgerschaft der Stadt Heidelberg, wahrscheinlich wegen der sanitären Verbesserungen, die er in seiner Denkschrift Reinigung und
Entwässerung der Stadt Heidelberg 1870 anregte.61 Dieser Onkel Karl war es wohl auch, der – wie die „Grazer Tagespost“ später vermutete – für die Berufswahl Krafft-Ebings letztlich den Ausschlag gab.62 Auch die Erfahrungen mit Krankheit und Tod in der eigenen Familie könnten auf Krafft-Ebings spätere Berufswahl eingewirkt haben: Hier zeigen die Quellen insofern Auffälligkeiten, als es über viele Generationen sowohl ungewöhnlich hohe Sterbealter als auch besonders frühes Siechtum gab. Krafft-Ebing hörte vom allzu frühen Tod des ältesten Onkels Philipp Martin,63 sah die andauernde Gebrechlichkeit des Onkels Philipp,64 bemitleidete den Onkel Franz wegen seiner Tuberkulose65 und erlebte als Jugendlicher den Wochenbetttod seiner Mutter – ein beunruhigendes Sein-zum-Tod, welches sich in den Krankheiten und Todesfällen der folgenden Generation fortsetzen sollte. Schon der Großvater hatte in jungen Jahren unter einer „wenig kräftige[n] Naturanlage“66 gelitten, weshalb sein Regierungsstipendium mit der Begründung, „der 21jährige Jüngling mit anscheinend unheilbaren Brustleiden“ verspreche „höchstens ein Jahr zu leben“,67 auf eine geringe Summe begrenzt worden war. Der schließlich 80 Jahre erreichende Jurist konnte diese Prognose freilich widerlegen.
Es erscheint in Summe nicht ganz abwegig, den Grundstein für die lebenslange Faszination Krafft-Ebings für Krankheitsvererbung und „medizinische Stammbäume“ in den Erfahrungen innerhalb der eigenen Familie zu vermuten.
„Der sog. Staat ist sich bewusst, wie verantwortlich seine Pflichten gegenüber der heranwachsenden Jugend sind. Er wird ihnen gerecht, indem er für die Geistes- und Herzensbildung in der Schule sorgt und jede Gefährdung guter Sitte in der Oeffentlichkeit strengstens ahndet.“
Krafft-Ebing, 1892
Aus Krafft-Ebings Kindheit und Jugend sind nur wenige Quellen erhalten. Festzustehen scheint aber, dass sie für ihn insgesamt recht glücklich verliefen.
Auffällig an der Kindheit Krafft-Ebings ist der Mangel an räumlicher Verwurzelung. Der Vater war Beamter und reüssierte erfolgreich als badischer Amtmann, musste jedoch häufig seinen Arbeits- und Wohnort wechseln. Friedrich von Krafft-Ebings Leben war grundsätzlich von Unstetigkeit geprägt. Geboren am 28. Mai 1807 in Zizenhausen, hatte er zuerst in Kempten, danach in Konstanz das Gymnasium besucht. In Freiburg hatte er mit dem Studium der Rechtswissenschaften begonnen, in Heidelberg hatte er es abgeschlossen. Dort war er 1831 auch als Rechtspraktikant aufgenommen worden. 1838 war er Hofgerichtssekretär in Mannheim geworden und hatte ein knappes Jahr später, mittlerweile 32 Jahre alt, in Heidelberg Clara Mittermaier zur Frau genommen, die zu jener Zeit gerade 18 Jahre zählte. Nach Richards Geburt erhielt er 1843 den Posten eines Amtsassessors in Weinheim, zwei Jahre später dieselbe Stellung in Heidelberg. 1848 wurde er als Amtsvorstand wieder nach Weinheim versetzt, 1853 nach Eberbach, im Jahr darauf nach Haslach und 1857 als Oberamtmann nach Wolfach. Seinen Ruhestand sollte er schließlich in Freiburg im Breisgau und in Karlsruhe verbringen.68
Diese Unstetigkeit brachte es mit sich, dass auch die Familie häufig den Wohnort wechseln musste. Dabei hat es den Anschein, dass die Familie nicht immer geschlossen am selben Ort wohnte. Clara und die Kinder dürften regelmäßig bei Friedrichs Schwiegervater, Karl J. A. Mittermaier in Heidelberg, Wohnung bezogen haben.69 Gesichert ist nur, dass Richards Eltern 1842 Mannheim verließen70 und sich an ständig wechselnden Orten in Baden niederließen. Dies beeinflusste naturgemäß die Betreuungs- und Schulsituation für die Kinder.71
Unstetigkeit war in Richard von Krafft-Ebings Familie verbreitet. Legendär waren die abenteuerlichen Geschichten über Urgroßonkel Zimmermann, der als Steuermann James Cooks die Welt umsegelt hatte.72 Auch Großvater Mittermaier war für seine Reiselust berühmt gewesen. Krafft-Ebing hatte im Gegensatz dazu später ein vergleichsweise starkes Bedürfnis nach Sesshaftigkeit. Trotzdem zeigten ihm die Vorbilder, dass ein erfolgreicher Berufsweg keine Statik zulässt, dass die eigene Karriere Flexibilität erforderte. Vielleicht ist hierin der Grund dafür zu suchen, dass Krafft-Ebing an all seinen späteren Wirkstätten Mietwohnungen bezog, dass er also stets auf einen Ortswechsel vorbereitet war.73
Die Eltern waren jeweils idealtypische Vertreter ihres Geschlechtes – zumindest nach Krafft-Ebings späteren Maßstäben. Eine „kernhafte, echt adelige Natur, von humorvoller Gemüthlichkeit“74 sei Friedrich gewesen, erinnerte sich Heinrich Schüle, der die Eltern Krafft-Ebings noch persönlich gekannt hatte, später. Die 14 Jahre jüngere Mutter hingegen sei introvertiert gewesen, „feingebildet“ und „zartgesinnt“.75 Als von „klarem, ruhigen und gemüthlichem Wesen“76 beschrieb sie ein Freund ihres Vaters in einem Brief. Die beiden hatten sich vermutlich in Heidelberg kennen gelernt, wo am 1. Juli 1839 auch die Hochzeit stattfand. Ein Jahr nach der Eheschließung war Richard zur Welt gekommen. Ihm folgten zumindest vier, wahrscheinlich aber fünf77 Geschwister: Rudolph (1842), Luise Maria Margarete (1843), Friedrich (1845), Hans Franz Otto (1854) und Heinrich 78 79