ÜBER LIEBE
Aufsätze, Skizzen und Essays
auf den Spuren eines Phänomens.
Herausgegeben von Wolf R. Kemper
unter Mitarbeit
von Anastasia Schönfeld und Stefanie Strasser
© 2014 unibuch Verlag bei zu Klampen!
Röse 21 · 31832 Springe
www.unibuchverlag.de
Umschlag, Satz: thielenVERLAGSBUERO · Hannover
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 978-3-934900-40-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
Cover
Titel
Impressum
Wolf R. Kemper
Das Vorhaben
Anna Aridzanjan
Amor wird nur in Krisen wach
Tina Hedwig Kaiser
Film, Liebe und Affekt
Tünde Kaszab-Olschewski
Liebe und Erotik der Römer – aus archäologischer Sicht
Jens Scheiner
Eine Konstruktionsanleitung für die richtige Ehefrau.
Von Ibn al-Djauzī
Annette Wiesheu
Ehe ohne Liebe = Mord? Beobachtungen zur Vita Godeliph
Dieter Friedrichs
Liebe – ein „Mechanismus“ zur Reduktion
sozialer Komplexität?
Kate Hollett
The School of Thinking and Feeling
Elisabeth Schwabe-Ruck /Alexandra Fronzek
Zur Entwicklungsgeschichte der bürgerlichen Familie.
Eine wissenschaftspropädeutische Einführung
Andrea Günter
Weltliebe. Zur Rekonstruktion des Politischen
Tanja Tömmel
„Was Glück eigentlich ist“ – Liebe, Selbstsein und Weltlichkeit bei Hannah Arendt
Elisabeth Priedl
Theorie und Praxis der Liebe
Timon Kuff
Der Zusammenhang von Sexualität und Determinismus in der Suggestionstherapie um 1900
bei Albert Freiherr von Schrenck-Notzing
Anja Wilhelmi
„Liebe“ in autobiografischen Schriften von Frauen.
Eine Spurensuche
Karolin Salmen
Liebesmedley
Zu den AutorInnen
Fußnoten
Wolf R. Kemper
Liebe Leserin, lieber Leser,
entstanden ist die Idee zu dieser außergewöhnlichen Sammlung bei einem Arbeitstreffen von ca. vierzig WissenschaftlerInnen aus Europa und Kanada, die bereit waren sich ein ganzes Semester dem Thema Liebe zu widmen, um mehr als tausend Studierenden die Chance zu geben an ihren Überlegungen teilhaben zu dürfen. Initiator des Vorhabens war Christoph Jamme, Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg, der es zudem ermöglichte, dass sich die international anerkannten Philosophen Kurt Flasch, Ivan Nagel und Richard David Precht der Umsetzung des Experiments zur Verfügung stellten.
Liebe sollte der Ausgangspunkt für die individuellen Forschungsvorhaben sein. Forschungsvorhaben, die durch die jeweiligen Disziplinen der Akteure bestimmt wurden. So kam es zu einer bemerkenswerten, wie bedeutsamen Zusammenarbeit von VertreterInnen der Kunstwissenschaften, Archäologie, Literaturwissenschaften, Islamkunde, Sozialwissenschaften, Kulturwissenschaften, Philosophie, Geschichtswissenschaften, Kunstgeschichte und Germanistik.
Sechzehn AutorInnen, deren Beiträge durch die Essays von zwei Gewinnerinnen einer eigens für dieses Projekt in Leben gerufenen Ausschreibung ergänzt wurden, haben zu dieser Sammlung ihren Beitrag geleistet.
Die Archäologin Tünde Kaszab-Olschewski schafft für die Liebe einen historischen Einblick, indem sie sich der längst vergangen Symbole der Römer widmet. Der Wunsch des Verstehens um die Macht und die Ängste vor Sexualität wird durch Timon Kuff thematisiert, der die Anfänge der Perspektive von Abweichung aus Sicht von Albert Freiherr von Schrenck-Notzig dokumentiert. Elisabeth Schwabe-Ruck und Alexandra Fronzek verdeutlichen über die Bearbeitung der Institution Familie aus historischer Position die Thematisierung von Liebe als Gegenstand von Lehre und Studium Generale. Erfüllt eine Ehe ohne Liebe den Sinn ihrer Existenz? An Beispielen der Historie wird Annette Wiesheu die Bedingungen von Ehe und deren Widrigkeiten an der Vita Godeliph verdeutlichen. Tanja Tömmel hat das Weltbild von Hannah Arendt in den Mittelpunkt der Frage nach der Liebe Glück gestellt. Die Ehe als Gebot der Ehre in der islamischen Welt wurde von Jens Scheiner zum Gegenstand gemacht, der das Werk von Ibn al-Djauzī als Basis seiner Untersuchung verwendet. Elisabeth Priedl macht in ihrem Aufsatz den Umgang mit Liebe zur Zeit der Renaissance erfahrbar. Eine aktuelle, nachvollziehbare Nähe zu dem Phänomen Liebe vermitteln Anna Aridzanjan und Karolin Salmen mit ihren herausragenden Essays. Andrea Günter stellt und beantwortet die Frage: „Wie politisch ist die Liebe?“ aus Fokus einer philosophischen Betrachtung von Weltliebe. Die Komplexität von Liebe unter Berücksichtigung der Perspektive von Niklas Luhmann ist von Dieter Friedrichs bearbeitet worden. Tina Hedwig Kaiser nähert sich dem Phänomen, indem sie die kinematographische Projektion von Liebe zum Gegenstand macht. Die kanadische Medien-Künstlerin Kate Hollett verbindet in ihrem Aufsatz „The Class of Love“ die Fragestellung „Was ist Liebe?“ zusätzlich auch mit der kritischen Ermittlung „Was ist keine Liebe?“.
„Liebe – auf den Spuren eines Phänomens“ will nicht zur weiteren Verunsicherung des Themas beitragen, sondern die Einzigartigkeit der Liebe zeigen, die in jedem von uns ihren Einfluss auf Psyche und Befinden hat oder kontinuierlich ihren Teil zum Leben beiträgt. Die Liebe scheint so vielfältig zu sein wie die Unterschiede der Menschen selbst.
Es hatten sich siebzig WissenschaftlerInnen, so wie weitere Interessierte für einen Zeitraum von einem Jahr gemeinsam mit 1200 Studierenden auf eine Suche nach diesem Phänomen begeben, von denen sich in dieser Sammlung fünfzehn Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven befinden. Ob kultur- oder literaturwissenschaftlich, künstlerisch oder persönlich, jeder Aufsatz gibt einen – wenn auch nur minimalen – Einblick in die Einzigartigkeit von Liebe. Ein Risiko, welches eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen in sich birgt. Es bleibt dennoch der Anspruch an die Wissenschaft, obwohl sich diese auf unsicheres Terrain begibt. Unsicheres Terrain durch die Überschneidung von Disziplinen, durch die Überschneidung von bestehenden Thesen und Theorien, aber auch sich im Alltag der Gegenwart zeigenden Begebenheiten und Vorkommnisse, die aus dem Fokus des philosophischen Anspruchs mancher Disziplinen als trivial oder unbedeutend erscheinen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Dante und dem Trademark „M – ich liebe es“ bleiben aus so mancher Perspektive verschlossen. Doch eine Annäherung der unterschiedlichen Positionen ist möglich, so wie auch ein Gespräch zwischen den Philosophen Kurt Flasch und Richard David Precht und dem Theaterwissenschaftler Ivan Nagel im Rahmen der Suche nach Liebe und ihrer Bedeutung möglich wurde.
Bevor sich dieser Beitrag der Zuweisung Phänomen zuwenden möchte, sollte der Hauptkonflikt der verschiedenen Wissenschaften berücksichtigt werden: Ist der Mensch in der Lage sich selbst und seine Verhaltensweisen objektiv zu analysieren? Eine Streitfrage die sich durch die Geschichte der universitären Wissenschaft zieht. Es ist das Argument, mit dem die Naturwissenschaften ihren Anspruch über die Sozial- und Geisteswissenschaften erheben – dem ewigen Kampf zwischen Scholastik und Humanismus. Sollten diese Auseinandersetzungen noch so intensiv geführt werden, bleibt es ein Disput unter Menschen, der den Fortlauf der Historie nicht ausblenden kann, so wie das Infragestellen von Liebe nicht Einfluss und Wirkung von dem, was mit Liebe umschrieben wird in Frage stellen kann. Zudem kann die Wissenschaft nicht die Rolle der teilnehmenden Beobachterin einnehmen, da jede/r WissenschaftlerIn, auch jede/r AkteurIn in Sachen Liebe ist. Niemand ist in der Position objektiv mit diesem Thema umzugehen.
Nun zur Zuweisung Phänomen. Die Liebe ist ein Phänomen, da Phänomene ihre Existenz durch das empirisch Wahrnehmbare präsentieren. Damit wird die Liebe zu einem Untersuchungsgegenstand, was nicht bedeutet, dass Liebe gegenständlich ist, denn damit könnte man die Liebe besitzen und darüber frei verfügen. Das ist nicht möglich, obwohl ihre Existenz den Menschen als Real erscheint, bleibt der Einfluss, den sie sich auf die Liebe erhoffen, unerfüllbar. Es bleibt zu akzeptieren, „dass Liebe ein Geschenk und kein Besitz ist“; eine Erkenntnis, die Erich Fromm schon 1978 zur Disposition stellte (Fromm 1978: S. 23).
Die Liebe ist so alt wie die Menschheit. Schon aus prähistorischer Zeit wurden Grabbeigaben gefunden, die nicht von Nutzen für eine andere Welt zu sein schienen, sondern von einer Zuneigung über den Tod hinaus zeugten. Schmuckgegenstände, die Zeichen von Dankbarkeit für emotionale Zuneigung zu verstehen sind. Liebe scheint die Komponente zu sein, die aus Partnerschaften eine emotional tragfähige Beziehung macht, in der das Gemeinsame eine hohe Bedeutung erlangt. Die Philosophie der Antike gab der Liebe die Macht über das Existieren, oder wie Kurt Flasch ausführte: „In der Antike war man der Auffassung, durch Ausführungen von Aristoteles, dass das Weltall durch Liebe in ewige Bewegung gebracht wird. Doch die Kosmologie der Liebe ist in Vergessenheit geraten.“ (Flasch 2011). Die ganze Macht von Liebe in ihrer Konstruktivität und deren Einfluss auf Destruktivität offenbart sich in Homers Ilias und Odyssee. Durch die Antike wurden die Begriffe Eros, Phila und Agápe mit Bedeutung gefüllt, und eine Abgrenzung war jeder Zeit zwischen den Begriffen trennscharf möglich. Aus jener Zeit muss auch der Ursprung des mittelhochdeutschen Wortes lieb sein, deren Bedeutung mit Begehren gleichzusetzen ist.
Durch die Bedeutung des römischen Christentums für Europa seit dem Mittelalter erhielt durch den Begriff Caritas die Liebe eine weitere bedeutungsvolle Definition. Die Liebe des Mittelalters ist, wie die Literatur berichtet, die Liebe zu Gott und Gottesliebe. Losgelöst von der Macht des Sexuellen, die zu der Erbschuld der Menschheit durch Adams Sündenfall geführt hat, basiert die Grundlage christlicher Verteufelung von Sexualität auf den Auslegungen Augustins von 397 n. Chr.
Selbst die Trennung von Eros und Sex hat zu jener Zeit ihre Genese. Kurt Flasch spricht von den Auswirkungen bis in die heutige Zeit:
„Das Roheste was ich erlebt habe, und was sie jeden Tag erleben, ist, dass man nicht unterscheidet zwischen Sexualität und Eros. Wenn wir von Liebe Reden meinen wir manches Mal auch Sexualität. Wir können vielleicht nicht das Geheimnis der Liebe entzaubern, doch wir sollten auf die Nutzung der Begriffe achten.“ (Flasch 2011)
Dem widerspricht der international anerkannte Theaterwissenschaftler Ivan Nagel (1931 – 2012) deutlich:
Was mich stört ist, dass ich meinem Freund Flasch so radikal widersprechen muss. Ich finde nicht, dass man Sexualität und Eros nicht trennt, ist das schlimme, sondern ich glaube, dass unser Schicksal seit einem oder zwei Jahrtausenden oder unvorstellbaren Zeiten Sexualität und Eros voneinander trennt. Das heißt, dass man Sexualität ausgrenzt, dass die große und natürliche Schönheit von Sexualität, die ja in den Eros hineinwächst, nicht mehr gehen oder zugegeben werden kann, sondern verschämt verschwiegen wird.
Ich glaube, dass die Theorie des Sündenfalls eine der großen Sündenfälle der Menschheit ist. Das heißt, dass man es sich selbst angetan hat, aus welchen Herrschafts- oder Konkurrenz- oder Kampfgründen auch immer, dass man es sich selbst angetan hat was auch im Verhältnis auch von Sexualität, Erotik und Liebe zerbrochen ist oder zerbrochen wurde. Denn keiner von Oben hat es gemacht, und schon gar keiner von Unten, da aus der Hölle. Sondern man hat diese Hölle sich geschaffen dadurch, dass man irgendeine Möglichkeit, nicht nur denkbare, sondern auch praktizierbare Einheit der Liebe, und der Triebe zerbrochen hat. Das war das, was ich meinte, als ich sagte, sie sind zu sehr getrennt, weil mir tatsächlich scheint, dass im Lauf der Menschengeschichte, und wir können sogar in Perioden in den Jahren seit der Antike bis heute beobachten wie glückliche Konstellationen von uns selbst kaputt gemacht worden sind.“ (Nagel 2011)
Der Mensch, ob Frau oder Mann, hat der Liebe einen unüberschaubaren Raum geschaffen, in dem sie zu jedem oder zu allem eine direkte Bindung aufbauen kann. Der Mensch gibt der Liebe eine Macht, die er selbst innehaben möchte, aber für ihn unerreichbar bleibt. Liebe wird von den Menschen mit Attributen ausgestattet, die sie auf Lebenszeit unbesiegbar macht. Die Liebe, scheinbar universell, wird mystifiziert, in Metaphern übertragen und mit eigenständigen Symbolen versehen, als Beispiel sollen an dieser Stelle nur Amor, Rosen, rote Herzen, miteinander verschlungene Schwäne exemplarisch genannt werden. Orte, wie Alexandria, Verona, Paris, Venedig oder Agra werden eine besondere liebesfördernde geographische Wirkung zugesprochen. Glaube ist Liebe und Liebe ist Glaube. Da die Bindungsfähigkeit keine Grenzen kennt, so kann festgestellt werden, dass der Mensch zu allem Zuneigung, Sympathie und Leidenschaft entwickeln könnte, wenn eine Affinität besteht, oder wie es Richard David Precht formuliert hat:
„Das Schöne an dem Wort Liebe ist, dass jeder damit machen kann was er will, da gibt es keine festen Definitionen, ich kann sagen ich liebe meine Frau, ich liebe meine Gewohnheiten, ich liebe meinen Sportwagen, ich liebe meine Kinder.“ (Precht 2011)
Doch es ist wissenschaftlich zu fragwürdig, selbst aus neurobiologischer Betrachtung, wenn Liebe nur auf einen Transmitter-Cocktail aus Serotonin, Endorphine, Dopamin und Oxytocin reduziert wird. Obwohl ohne diese Mixtur die biochemischen Voraussetzungen für Liebe und insbesondere für Verliebtheit nicht gegeben sind.
„Ich glaube nicht, dass romantische Liebe Treue und Zusammenbleiben als konstituierendes Element enthält. Tristan und Isolde waren wirklich nicht auf Familiengründung aus! Die Trennung von Sexualität, von romantischer Liebe, inklusive Treue, und Liebe als Gefühl. Ich glaube, wenn man am anderen Ende anfängt, also nicht jetzt an der Analyse der Ausscheidung von irgendwelchen hormonalen Flüssigkeiten bei bestimmten Tätigkeiten oder Nichttätigkeiten oder Erwartungen, sondern aus einer schönsten Erfahrung, die man selber hat, nämlich, dass in einem erwünschten und endlich gelungenen Sexualakt man den menschlichen Körper des anderen, der anderen, kennenlernt und den in seiner Richtigkeit und Schönheit, kennenlernt.“ (Nagel 2011)
Ein Verliebtsein vermittelt die Erkenntnis, dass es sich um eine temporäre Phase handelt, in der rationale Überlegungen eher eine untergeordnete Rolle spielen. Diese Vermutung wird aber des Öfteren nur aus der Perspektive von unbeteiligten Dritten aufgestellt. Es sind aber gerade diese Momente mit emotionalen Glücks- und Grenzerfahrungen die aus einem mit der Liebe verbundenen Prozess ein Abenteuer der Gefühle entstehen lässt, welches der Liebe immer wieder das Prädikat der Einmaligkeit verleiht. Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Pierre Bezukhov und Natascha Rostova und Cyrano und Roxane sind Klassiker der Literatur, die den Leserkreis an dieser Einmaligkeit teilhaben lassen. Es sind Romeo und Julia aus Verona, die der Liebe Unendlichkeit geben. War es nicht auch jener William Shakespeare, der durch sein Werk Ein Sommernachtstraum den Wirren des Verliebtseins ein literarisches Denkmal schaffte?
Selbst in der Vernunft der Wissenschaft scheint es keinen Schutz vor den Emotionen der Liebe zu geben. Ist man erst gefangen im Reigen der Gefühle, dem man schwerlich nur wieder entkommen kann, verändern sich Identität und Persönlichkeit. Sie lässt kein Gestern und kein Morgen gelten, das Jetzt scheint sich mit dem Wunsch nach Ewigkeit zu verbinden. Auf den Schwingen des Mystischen wird das Rationale unter sich gelassen. Das Konstrukt von Realität entschwindet in der Ferne. Raum und Zeit scheinen sich aufzulösen.
Scheint es so, dass zwei sich untrennbar der Liebe hingeben, so bleibt doch anzumerken das die Liebe getrennt voneinander erlebt wird, oder wie Precht sagt: „Parallelerfahrungen von Liebe zweier Menschen sind eher unwahrscheinlich“ (Precht 2011). Ich bin Dein und Du bist mein! bringt eher einen verzweifelten Wunsch zum Ausdruck, als dass eine Aufhebung von Ich und Du gewürdigt wird. Machen Unsicherheit und Schmerz nicht einen großen Teil der Phase von Verbundenheit aus? Jeder ist seiner eigenen Art zu Lieben Untertan. Liebe zu halten heißt den Versuch zu unternehmen sie sich zu Willen zu machen. Die Partnerin oder der Partner werden zum Objekt der eigenen egoistischen Wünsche. Ist die Liebe mit all ihren Facetten aus der einen Perspektive ein Faszinosum, so kann sie, von anderer Seite betrachtet, zu einem brutalen Kampf um Macht und Dominanz verkommen. Selbst als die Liebe fast lautlos durch die Hintertür der Harmonie entschwunden war, blieb die Symbiose erhalten, Der Platz, den zuvor die Liebe besetzt hielt, wurde mit Hoffnung gefüllt. Doch je mehr auch die Hoffnung verloren ging, umso dominanter wurde die Verhinderung von Einsamkeit eingefordert und erstritten, mit aller Macht. Aus Zuneigung wurde Angst, aus Vasen wurden Scherben, aus gemeinsamen Lachen wurde Teilnahmslosigkeit, aus Zukunft Sinnlosigkeit und keiner will diesen Zustand akzeptieren. Eine rationale Post-Faktum-Analyse könnte zu Erkenntnissen beitragen, doch wer denkt analytisch, wenn es um egoistisches Verlagen geht? Auch die dann folgenden Handlungen geschehen in Namen der Liebe, obwohl diese sich aus manchen zwischenmenschlichen Konstellationen unbemerkt entfernt hatte und unauffindbar bleibt. Je intensiver ein Interesse an der Enträtselung des Geheimnisses der Liebe besteht, je intensiver sich Wissenschaft und Forschung auf die Suche nach dem Ursprung der wahren Liebe machen, umso undurchschaubarer scheint sie zu werden. Ein Attribut der Liebe ist ihre Unberechenbarkeit, ohne das die Liebe schneller entschwindet, als sie gekommen ist. Wer das Geheimnis der Liebe enträtselt, hat sie verloren. Die Liebe bleibt ein Phänomen, auf das wir uns einlassen sollten oder wie der Nobelpreisträger Rabindranath Tagore schrieb: „Traue der Liebe, auch wenn sie Kummer bringt. Schließe dein Herz nicht zu“ (Tagore 1917 : 66).
In dieser Sammlung von Aufsätzen, Skizzen, Aufzeichnungen und Essays wird die Vielfalt einer Positionierung deutlich. Zwischen distanzierter Betrachtung, fachlicher Analyse, emotionaler Subjektivität und künstlerischer Interpretation sind viele Möglichkeiten der Fokussierung in diesem Versuch einer Dokumentation vorhanden.
Flasch, Kurt (2011): Podiumsveranstaltung des Moduls „Wissenschaft macht Geschichte“, Leuphana Universität Lüneburg (04. 02. 2011).
Fromm, Erich (1978): Haben oder Sein, München.
Nagel, Ivan (2011): Podiumsveranstaltung des Moduls „Wissenschaft macht Geschichte“, Leuphana Universität Lüneburg (04. 02. 2011).
Precht, Richard David (2011): Podiumsveranstaltung des Moduls „Wissenschaft macht Geschichte“, Leuphana Universität Lüneburg (04. 02. 2011).
Tagore, Rabindranath (1917): Der Gärtner, Leipzig.
Anna Aridzanjan
Ist es nicht ironisch? Ach, ironisch ist gar kein Ausdruck. Zynisch! Es kann nur tiefschwarzer Zynismus des Schicksals sein, dass meine Beziehung genau zu der Zeit endet, in der ich ein Essay zum Thema „Liebe“ verfassen muss.
Sie müssten hier eigentlich einen anderen Text in der Hand halten. Ein Essay, das mithilfe von Beatles-Songs über die Bedeutung der wahren Liebe philosophiert. Voller Optimismus und Romantik (an dieser Stelle dürfen Sie sich flatternde Schmetterlinge und im Wind herumwirbelnde Kirschblüten vorstellen); dabei ganz sachlich und selbstverständlich wissenschaftlich argumentativ. Wie ein Essay nun einmal sein sollte. „All you need is love“ und so.
Stattdessen lasse ich nun John Lennon solo zu Wort kommen: „Life is what happens to you, while you’re busy making other plans.“ (aus: „Beautiful Boy“, 1980)
Ich war restlos überzeugt von der Liebe fürs Leben. In meinen Augen war sie nicht spießig, sondern durchaus möglich. Das Ideal wohl aller Liebenden. So lautete die These meiner ursprünglichen, glücklicheren Essayversion.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht verbittert. Keineswegs. Die Trennung ist nur zu frisch, als dass sie diesen Text nicht beeinflussen könnte.
Ich meine, es war keine kurze Teenagerbeziehung, keine Schwärmerei. Es waren vier Jahre. In unserer sogenannten „schnelllebigen Zeit“ ist das lang. In diesen Jahren kommt man nicht umhin, auch an die gemeinsame Zukunft zu denken. Die Liebe fürs Leben in den Zehnjahresplan zu integrieren.
Diese Liebe hatte viele Höhen, richtige „Highlights“ (denn hier passt der Anglizismus am besten): Die Vertrautheit, vom ersten Augenblick an. Die Gemeinsamkeiten. Das Lachen. Die Reife. Die Nähe.
Nach der Verliebtheit krochen jedoch auch die Tiefen aus ihren kalten, klammen Tropfsteinhöhlen hervor: Der Vertrauensverlust nach einem Rückschlag. Die Unterschiede. Das Weinen. Die Unreife. Die Distanz.
Doch gibt es das nicht in jeder Beziehung? Keine Partnerschaft ist harmonisch, gestritten wird doch überall. Und Kompromisse sollte man ja auch eingehen können. Nachgeben, auch mal den Mund halten, statt das letzte Wort haben zu müssen. Versöhnungen taten gut und halfen, die Partnerschaft aufrecht zu erhalten.
Und irgendwann wurde auch über das „Später“ gesprochen. Das Prinzip „wenn wir mal groß sind“. Dann ziehen wir zusammen, hieß es. Ja, von Kindern war auch dann und wann die Rede. Unsere hätten mit großer Wahrscheinlichkeit blaue Augen und mit noch größerer Wahrscheinlichkeit ebenholzbraune bis tiefschwarze Haare gehabt. Wenn sie nach mir geschlagen wären, sogar Sommersprossen. Entzückende Vorstellung, oder?
Mit der Zeit verwandelt sich die Liebe. Dass nach den ersten Wochen die rosarote Brille von der Nase fällt und mit einem lauten Scheppern auf den Boden der Tatsachen prallt, ist klar. Aber auch nachdem der Beziehungsalltag eingekehrt ist, treten schleichend Veränderungen ein. Man kann es Langeweile, aber auch Gewöhnung nennen. Die Langeweile hält dir eine riesige Taschenuhr vor die Nase und sagt dir, dass das Leben zu kurz ist. Hypnotisiert dich mit Sehnsüchten, die angeblich deine eigenen sind. Mit Gedanken wie: „Früher war mehr Bauchkribbeln“ und „Warum unternehmen wir eigentlich kaum mehr etwas gemeinsam?“
Die Gewöhnung sitzt derweil entspannt im Ohrensessel der Vernunft, legt die Füße hoch und ist mit der Gesamtsituation durchaus zufrieden. Sie sagt dir: „Warum brauchst du Aufregung? Die Welt ist schließlich aufregend genug. Freu dich über diese Konstante in deinem Leben: Den Menschen an deiner Seite, den du in- und auswendig kennst. Der immer da ist.“
Und dann gibt es den kleinen, dicken Amor. Rubens hätte ihn nicht besser malen können. Mit Fettfalten an den Kleinkindschenkeln, Stupsnase, goldenen Locken und schneeweißen Schwanenflügeln. Eigentlich schläft er die meiste Zeit. Aber in Krisenzeiten, da ist er hellwach. Dann piekt er mit seiner Pfeilspitze in dein Herz, wie um es anzutreiben. Macht dir mit sanfter Gewalt klar: Du liebst. Und mit Liebe geht alles. Fernbeziehung? Misstrauen? Geldnot? Egal, die Hauptsache ist ja, dass man sich liebt.
Wirklich?
Im Idealfall, ja. In einer perfekten Welt, mit perfekten Menschen. Ach was, Menschen! Wir müssten Götter sein, uns nur von Luft und Liebe ernähren zu können. Wir dürften keine Eigenschaften in uns tragen, die den Menschen nun einmal ausmachen: Hochmut (Stolz), Geiz, Wollust, Zorn (Rachsucht), Völlerei (Maßlosigkeit, Selbstsucht), Neid (Eifersucht) und Faulheit (Feigheit, Ignoranz). Wer hier Parallelen zu den sieben Todsünden entdeckt, hat im Religionsunterricht gut aufgepasst.
Nein, Liebe allein reicht nicht. Es erfordert viel Arbeit, eine Beziehung über Jahre, gar Jahrzehnte, zu führen. Denn genau das ist das Geheimnis: Das Führen, sie läuft ja nicht von allein.
Warum also scheitert eine Liebe, von der man glaubte, sie solle ein Leben lang halten? Diese Frage zu beantworten ist schwierig. Der erste Satz des Romans „Anna Karenina“ ist zugleich der wohl bekannteste: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“
Lässt sich eine solche Erkenntnis aus Tolstois Meisterwerk auf die Problematik dieses Essays übertragen? Ja. Alle glücklichen Beziehungen sind einander ähnlich, jede unglückliche Beziehung ist unglücklich auf ihre Weise.
„Stopp!“, schreit der kleine, fette Amor panisch und wedelt mit seinen Schwabbelärmchen, „Moment mal. Du warst ja nicht unglücklich.“ Und er hat sogar Recht. Unglücklich war ich nicht. Also kaum. Es gab Momente der Hoffnungslosigkeit, die aber auch wieder vergingen. Es gab jedes Mal den alles-wird-gut-Moment. Als die Gewöhnung sich wieder zurücklehnte und selbstzufrieden schnaufte. Die Langeweile war mit der Taschenuhr in der Hand eingeschlafen. Und Amor setzte sich an die Leinwand der Fantasie und malte mir das Bild der ewigen Liebe in den Kopf.
Ich glaube, das ist der Fehler der meisten Beziehungen. Kann man mit Sicherheit sagen, diese eine Liebe sei fürs Leben bestimmt? Noch bevor man das Leben tatsächlich gesehen hat? Vier Jahre? Was sind schon vier Jahre in der Sanduhr des Lebens? Ein Körnchen, vielleicht zwei.
Und während ich meinen Gedanken nachhänge, dem „stream of consciousness“ gewähre, Mäander in meinem Kopf zu bilden, komme ich zu einer Erkenntnis. Ich glaube an die Liebe fürs Leben. Ja, sie ist möglich.
Jedoch nur für jene, die vorsichtig sind. Die es nicht verschreien. Die der Liebe keine lebenslange Haftstrafe auferlegen, sondern so gastfreundlich sind, dass sie freiwillig bleiben will.
Ob es die Liebe fürs Leben ist, kann man nur sagen, wenn nicht die Liebe, sondern das Leben (fast) vorbei ist. Wenn man, alt und gebrechlich, mit seinem Partner auf der Hollywoodschaukel im Schrebergarten sitzt und den Gartenzwergen beim Moosansetzen zuschaut. Und einer dieser Gartenzwerge wird dem kleinen dicken Amor verblüffend ähnlich sehen.
Quellen:
Tolstoi, Lew (1878). Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Carl Hanser Verlag.
Tina Hedwig Kaiser
Als Liebe begreifen wir, vermutlich, eine Empfindung der vollkommenen Identität von Blick und Bild. Du siehst mich so, wie ich bin. Ich bin so wie du mich siehst. […] Ob diese Identität von Blick und Bild „passiert“ oder ob sie „hergestellt wird“, das hängt von den kulturellen Codes ab. Jedenfalls muss durch die Liebe auch immer so viel verschwinden, wie erzeugt wird. […] Deshalb wäre es wohl genauer zu sagen, dass die Liebe nicht nur kinematografisch ist, sondern sich viel mehr alles Kinematografische für die Liebe interessiert (und sei’s die Liebe des Cowboys zu seinem Pferd). Denn eine Kamera vermittelt zwischen Blick und Bild, mal dominant in jene, mal in die andere Richtung. Sie bearbeitet mit anderen Worten die Beziehung zwischen Blick und Bild, oder eben andersherum: Die Kamera bearbeitet die Liebe bzw. ihre Abwesenheit.
(Aus: Georg Seeßlen: Warum die Liebe so kinematographisch ist)1
Die Wirkung des Filmbildes, sein Bewegendes wie auch sein Bewegtes, regen die Filmtheorie immer wieder dazu an, über den Film mithilfe der Liebes-, Affekt- und Bewusstseinsfragen der Philosophie nachzudenken. Die Untersuchung von Filmen wird dabei ein Beitrag zu einem Sensibilisierungsprozess der Bildrezeption an sich. In den filmischen Affektbildern wird das Motiv der emotionalen, und vor allem auch liebenden, Welterfahrung auf besondere Weise erkennbar. Dabei gelangen zentrale Fragen des Bewegungsbildes zum Vorschein: Seine Arbeit mit haptischer Visualität wird in der Interdependenz von formalen Stilmitteln wie Sicht- und Unsichtbarkeit sowie Schärfe und Unschärfe inmitten der Wechselwirkung von Körper und Sehen neu verhandelt. Gilles Deleuze und Roland Barthes sind hier mögliche theoretische Eckpfeiler, die im Hinblick auf filmische Themen wie die „Errettung des Lebens selbst“ (Jean-Luc Godard) untersucht werden können.2 Fragen der ästhetischen Wahrnehmung rücken dabei ins Visier: Beispiele wären das Thema von Liebe und Sehnsucht in den Begriffen der Nahferne und Fernnähe bei Bernhard Waldenfels, begehrendes Schauen in der Fern- und Nahsicht bei Alois Riegl sowie der Diskurs der Liebe am Beispiel der Philosophie. Die Filmrezeption geht dabei einher mit der filmischen Arbeit an den Schnittstellen von Bild, Liebe und Affekt. Und letztlich geht sie einher mit der Arbeit an den Verhältnissen vom einen Körper zum anderen.
Ein Beispiel hierfür, das jedoch zugleich über eine Figuren- und dramaturgische Bindung hinausweist, ist das Intro zum Film Written on the Wind von Douglas Sirk aus dem Jahr 1956: Die schicksalhaften Verknüpfungen zwischen den Protagonisten werden zwar durch den Sturm und die Blätter bestens angedeutet, und das berühmte Lied hierzu verdeutlicht dies einmal mehr, dennoch erhält die Natur einen eigenständigen Bereich. Sie ist das, was ins Haus eindringt und ihre Allmacht mit der Vielzahl an Blättern im Hausflur unterstreicht. So tragen die Blätter hier sowohl eine Bedeutung innerhalb der Dramaturgie, führen diese aber dennoch durch den übertriebenen Einsatz von Wind und Blatt ad absurdum. In dem Moment, in welchem die Blätter so viele geworden sind, dass sich das Haus dieser nicht mehr erwehren kann, kippt die Symbolarbeit und landet im eindeutigen Indexbereich: Es sind zu viele und es sind tatsächlich einfach nur Blätter ohne Ende. So wird sich hier das Intro der Natur als Natur, und dergestalt aufwühlendem Sturm im Bild, ebenso bewusst wie in ihrer möglichen Übersetzungsleistung für die Gefühle der Protagonisten. Ein Kippmoment der Rezeption kann somit eintreten. Im Spiel der Blätter begegnen die Figuren ihren eigenen Konflikten – ein Wust und ein Ausmaß an Verwirrung ohne Ende, ein einziger Wirbel und Sog kann eintreten, der aber dennoch die konzentrierte Naturerfahrung nicht ausschließt.
Die Affektgeleitetheit der Natur scheint sich dabei in die menschlichen Gemüter zu übertragen, zumindest suggeriert uns dies der Film. Die Gemütserregungen finden in den Erscheinungen der fotografierten Natur eine Ausdrucksdimension, die Mimik und Gestik der Schauspieler unterstützen und auch überbieten können. Affekte wie Scham und Zorn finden so ihre Rückkopplung im Kino an Naturphänomene, die auch – aber eben nicht nur – die menschliche Natur unterstützen. Und somit eine Emotion für den Betrachter einfühlbar werden lassen.
Häufig ist diese im Kino die Liebe. Weniger von kognitiven Prozessen geleitet, taugt sie für die Wirrungen und Handlungen einer Kinolandschaft perfekt. Es geht hier immer auch um ein Körpersehen, um ein Sehen also, das Gefühle, Leid, Unbewusstes, etc. mit sich trägt und dadurch erst inszenieren kann. Oft geht der Liebesdiskurs im Kino einher mit einer eingeengten Wahrnehmung seitens der Protagonisten. Verzerrte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, der berühmte Tunnelblick, all dies sind Phänomene, die der Film zu inszenieren gelernt hat. Und dies auf bravouröse Weise oft gerade dann, wenn die zu spielenden Gefühle den Schauspieler verhindern bzw. ihn eher zurückhaltend im Spiel machen. Wenn es also gerade nicht um ein „acting-out“ geht, sondern um Verhaltenheit, eben und gerade auch in der Inszenierung der Leiden oder/und des Erleidens der Liebe. So kann man hier von einem Pathos sprechen, das allerhöchstens nach innen wirkt, also nicht einseitig extrovertiert funktioniert. Dies schafft im Film eine besondere Spannung: Das Schauen des Nichtsichtbaren, die zurückhaltende Mimik, das kaum Merkliche des Geschehens – all dies sind Zeichen einer besonderen Inszenierung von Einfühlsamkeit im Kino. Und in der Konzentration der Kamera auf Oberflächen und ein genaues Beobachten kommt eine solche Wahrnehmung auch beim Rezipienten im Sinne einer haptischen, also auch gefühlten, Visualisierungsleistung an.
Wenn Jeanne Moreau in La notte (1961) von Michelangelo Antonioni durch die römischen Außenbezirke flaniert und an porösen Hauswänden mit der eigenen Hand verträumt den Verputz abbröckelt, dann haben wir hier schon eine solche Mischung aus Materialität und Melancholie, die damals ganz neu im Bild zusammen kamen. Dass sich eine Kamera auf eine derart nebensächliche und haptische Sache einstellt, ist das eine. Doch auch beim Zuschauer kommt dieser Vorgang ganz anders an – nicht nur ein Handlungssehen findet statt, sondern ein gefühltes Sehen mit einer ganz eigenen Konzentration und Dauer setzt ein. Etwas, das uns die gefühlte Erinnerung an eine derartige Berührung allein im Blick darauf wiedergeben kann und so ein Vermögen der fotografierten Bilder neu erfahren lässt. Und wenn Monica Vitti alias Vittoria in Antonionis L’eclisse (1962) durch die Straßen des modernen Roms schlendert, dann wird aus dem banalsten Nicht-Ort eines Neubauviertels ein mehr als besetzter Ort. Dann ist eine Baustelle bei Antonioni keine Baustelle mehr und eine Wassertonne erst recht keine Wassertonne. Dann werden sie zum Arsenal für Erinnerungen. Natürlich für Erinnerungen an eine Liebe. An eine Liebe, die sie kurzzeitig mit Piero (Alain Delon) teilte. Damals hatten sie noch gemeinsam die Nachmittage im römischen EUR-Viertel verbummelt. Ihr Gang über den Zebrastreifen hat sich dabei nicht nur im Gedächtnis der Protagonisten eingebrannt, sondern auch in das der Kinogeschichte nicht nur der italienischen Nachkriegsmoderne. Auf halber Strecke blieben sie da auf einem Zebrastreifen stehen, und Vitti überlegte und überlegte, was sie denn nun zu Piero sagen könnte bzw. wie über unsichere Gefühle überhaupt zu sprechen sei.
Die Lösung findet Antonioni in diesen Filmen seiner italienischen Trilogie immer noch am ehesten im Stadtraum und seinem Material selbst: Stehen die Protagonisten in der Mitte eines Zebrastreifens, was sollten sie dann anderes sagen können, als dass sie nun mal eben »half way« seien. Doch irgendwann werden sie beide nicht mehr zu ihrer gemeinsamen Verabredung im Neubauviertel erscheinen. Die Stadt und ihre Baustellen liegen dann wieder leer da. Doch Antonionis Aufnahmen sehen und spüren die Gegenwart des einst gemeinsamen Spaziergangs in jeder Einstellung – und im filmischen Raum schwingt die Liebe fort, selbst in ihrer Abwesenheit.
Die Frankfurter Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann hat in ihrem Aufsatz „Am Leitfaden der Liebe: Philosophie und Kino“3 eine markante Verbindungslinie zwischen Friedrich Nietzsches Überlegungen zum Schönen und der Ästhetik des Kinos aufgezeigt. Dabei betont sie Nietzsches Orientierungsansatz in seiner Übertragbarkeit aufs Kino: „Wesentlich (sei es), vom Leibe aus(zu)gehen und ihn als Leitfaden zu benutzen“4
Der Blick der Rezeption wird dabei ein genauso wesentliches Moment für die Wirkungen des Kinos wie die technische Seite. Denn der Begriff der Ästhetik selbst stammt vom griechischen Begriff der Aisthesis ab und meint in erster Linie eine Lehre der Wahrnehmung. Also eine Lehre, die man durch die Sinne begreift bzw. überhaupt erst begreifen kann. Das Kino ist also eine Untergruppe dieser Lehren der Wahrnehmung, die oftmals mit einem Aufmerksamwerden oder auch einem Vermissen einhergehen können. Das individuelle Erleben wird dabei zum zentralen Moment. Dieses wird geformt und geleitet durch die Formen der Affektion, allen voran jene der Liebe. Die Empfindungen prägen also diese Nähe des Kinos und seiner Ästhetik zur Wahrnehmung und folglich zur Liebe. Eine derartige Untersuchung befreit sich dabei auch immer vom einseitigen Blick auf Handlung, Dramaturgie und Narrativität und schaut das Bildfeld, die einzelne Aufnahmearbeit, die Einstellung genau an. Die Erkenntnis richtet sich hieran aus. Das im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr in den Vordergrund tretende Problem des „Schwindens der Wahrnehmungsfähigkeit“5 in der modernen beschleunigten Gesellschaft zeitigt hierin eine Reaktion. Film und Wissenschaft hatten gemeinsame Anfänge anhand der Untersuchung von Bewegungsabläufen – und stehen sich hierin also immer noch nahe. Erkenntnis und Kino gehen folglich immer wieder zusammen – auch im Sujet der Liebesdarstellung. Die Produktivität der Rezeption steht dabei im Zentrum.
Mit Jacques Rancière könnte man nun weitergehen zur Frage nach den ästhetischen Praktiken und danach, was diese Praktiken für die Gemeinschaft tun bzw. umsetzen. Es geht also auch um Fragen nach den Formen und Stilen des Films und insbesondere um die Untersuchung von Arbeiten, die mehr beschreiben als „bebotschaften“ wollen.
„Eine ‚Oberfläche‘ ist nicht einfach nur eine geometrische Komposition von Linien. Sie ist eine Form der Aufteilung des Sinnlichen.“6
Rancière bestimmt diese ästhetische Erfahrung als Erfahrung eines Widerständigen, „das zugleich der begrifflichen Bestimmung wie der Verlockung der konsumierbaren Güter widersteht.“7
Das vordergründig lineare Strukturierungsangebot der Handlung kann bei einer konzentrierten Filmanalyse der Bild- und seiner Affektarbeit hinfällig werden, muss aber nicht. Ein Film des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, Tropical Malady (2004), kann sowohl in einer linearen Struktur rezipiert werden, kann aber ebenso darüber hinaus betrachtet werden. Eine lineare Abfolge, die aber bei näherer Betrachtung keine sein muss, dies ist es, was als Dislokationsleistung eines Bilderflusses hier neu vor Augen tritt. Man ist nie mit einer Situation im Zentrum einer nur so und nicht anders rezipierbaren Handlung angesiedelt, sondern die eigene Betrachtung spielt das offene Spiel mit und geht über das filmische Angebot hinaus. Hier tritt, mit Jean-Luc Nancy gesprochen, die „Sinnesempfindung vor den Sinn“8. Innerhalb der einzelnen Ereignisse ist es oft nicht auszumachen wie viel Zeit tatsächlich vergangen ist. Film wird hier zu einer Sprache der Affekte, wobei die immersive Erfahrung des bildeigenen Realismus hinzukommt. Die zeitliche Spanne ist nicht festgelegt, Orientierungspunkte sind nicht auffindbar. Weerasethakul selbst spricht über seinen Ansatz auch im Sinne einer Arbeit an den Erinnerungen. Diese sind meist ebenso lose verknüpft und zeitliche Definitionen werden in ihnen oftmals hinfällig:
„I want to give the audience the freedom to fly or float, to just let their mind go here and there, to drift, like when we sit in a train, listen to a walkman, and look at the landscape. It is liberating, and also the audience understands that they are not watching a routine, three act narrative.”9
Was real ist und was nicht, das weiß hier niemand so genau, aber das muss auch nicht gewusst werden. Das ist die eigentliche Qualität dieser Bilder. Denn wo könnten sie irreal, wo real sein? Nicht allein auf der Leinwand, sondern eben auch in der Rezeption. Hier ist es jedem selbst überlassen, sie hier als real, dort als fiktiv zu bestimmen. Letztlich wird dies nicht weiter wichtig sein. Allein die Gedanken und die Gefühle, die diese Bilder kanalisieren, werden wirklich sein. Es gibt keinen Ansatz der „Szene für Szene“ abarbeitet, vielmehr ist es ein atmosphärischer Ansatz, der etwas hinter den Szenen einfängt. Dinge und Situationen, die vielleicht unbeachtet, oft nebensächlich am Rand existieren, aber gerade in dieser Anwesenheit auf die Existenz hinter dem Film aufmerksam werden lassen. Diese Anwesenheit von Wirklichkeit hinter den eigenen Bildern spüren zu lassen ist dabei eines der größten Verdienste Weerasethakuls und dergestalt der Liebesdiskurse des Spielfilms.
Mit einem Blick auf Hermann Kappelhoffs „Matrix der Gefühle“ kann man hier vom sentimentalen Empfinden des Zuschauers im Kino als einer Verinnerlichungseinübung sprechen.10 Und dieses, was hier verinnerlicht wird, entspricht einem Nachvollzug der dargestellten Gefühle und Empfindungen auf der Leinwand. In einer Benjaminschen Dialektik kommen hier Zerstreuung und Aufmerksamkeit anders zusammen. Doch auch jede Gefühlsdynamisierung des Kinos braucht ihre Verlangsamung und mögliche Lücken zur Konzentration und folglich Intensivierung. So wird hier der Film zu einer Kunst der Wahrnehmung und nicht zu seiner handlungsgeleiteten Darstellung. Er ermöglicht andere Formen der Einfühlung, die wiederum Wahrnehmungsqualitäten ermöglichen, die wie im ansonsten klassischen Melodram „Written on the Wind“ nicht mehr allein an eine Figur gebunden sind, sondern einen Bildausdruck transportieren, der diese übersteigt. So kann man hier im Sinne Rancières von ästhetischen Handlungen sprechen, die durch Weisen des Fühlens neue, und eben auch politische, Subjektivitäten befördern.
Tünde Kaszab-Olschewski
Die Liebe oder die Verliebtheit bei den Menschen des 21. Jahrhunderts sind nicht einfach ersichtlich wie beispielsweise braunes oder blondes Haar. Sie werden erst durch Kommunikation und Interaktionen zunächst für die Betroffenen selbst und später gezielt oder nur versehentlich auch für die Außenstehenden offenbart. Die dabei verwendeten Mittel sind entweder verbaler Natur, also in Wort bzw. in Schrift oder auch nonverbal und die Vermittlung erfolgt durch Körpersprache oder durch sonstige optische Signale/Zeichen.
Die Phänomene Zuneigung, Liebe, Gegenliebe, Erotik und Sexualität sind untrennbar von biologischen Prozessen wie z. B. die Reproduktion der Menschen. Kann die Archäologie – als eine nüchtern-sachliche und retrospektive Wissenschaft – mit ihren eigenen spezifischen Methoden aus dem Abstand von mehreren tausend Jahren die Liebe erforschen?
Hier ist ein Versuch: Denn wie Veröffentlichungen und Ausstellungsprojekte1 zeigen, ist das Thema aktueller denn je! Ziel des vorliegenden Beitrages ist deshalb relevante Fundgruppen speziell aus der Römerzeit zu sammeln und diese auf ihren signifikanten Inhalt hin zu untersuchen. Der räumliche Schwerpunkt liegt auf den Nordwestprovinzen, vor allem auf den Provinzen Germania inferior und superior. Als zeitlicher Rahmen ist die vornehmlich friedliche Periode der ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte ausgewählt worden.
Liebe als Forschungsgegenstand
Aus der Sicht der Archäologie werden für das Vorhaben nur solche materiellen Zeugnisse als relevant erachtet, die bis in unsere Tage überdauert haben. So kann ein auf Papyrus oder Pergament – also auf organische Materialien – geschriebener Liebesbrief als Forschungsgegenstand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Die in Frage kommenden Objekte, die von der antik-römischen Liebe, Erotik und Sexualität zeugen, waren vor allem aus Werkstoffen wie Ton, Gestein oder Metall fabriziert, deren Erhaltungschancen auch nach 2000 Jahren als relativ hoch einzustufen sind. Allerdings bedürfen sie einer besonderen wissenschaftlichen Analyse, um ihren Informationsgehalt zu entlocken.
Zu dem Forschungsbereich Liebe und Erotik gehören Gegenstände, vor allem aus dem religiös-kultischen Bereich, die sich selbsterklärend durch ihre Form dieser Kategorie zuweisen. Andere indes haben stark abstrahierte Formen, sodass deren Bedeutung wenn, dann nur vage zu entschlüsseln ist.
Weitere Objekte, darunter einfache Alltagsgegenstände wie z. B. ein Ring oder eine Gewandnadel, zeigen auf ihrer Oberfläche eine Darstellung oder eine Inschrift, welche sie mit der Thematik verbindet. Dies darf auch nicht überraschen, weil im Zeitalter des Römischen Imperiums jeder Gegenstand, dessen Oberfläche, mit welcher Technik auch immer, verziert oder beschriftet werden konnte, als ein willkommener Bild- oder Schriftträger diente. Durch die beinah allgegenwärtige Präsenz von unbekleideten Körpern, von hüllenlosen Göttern/Göttinnen, mythologischen Figuren oder Tänzerinnen pflegten die Römer ein entspanntes Verhältnis zu den Gestalten.
Die Fundstücke mit bildlichen und textlichen Informationen folgen diversen Intentionen und spiegeln unterschiedliche Emotionen wieder: Die Akteure wollten z. B. bei ihren Angebeteten mit einem Geschenk für die Liebe und für eine günstige Stimmung werben; oder sie haben sich bemüht die Erinnerung an den Partner nach dem Ableben wach zu halten. Aber auch gegenteilige Beispiele, die von Eifersucht oder verschmähter Liebe zeugen, sind im Fundmaterial überliefert2. Nur am Rande sei anzumerken, dass für eine „Nachricht“ nicht nur kleinteilige Gegenstände sondern auch unbewegliche Architektur- und Bauteile, Hauswände oder Fußböden genutzt werden konnten.
Vor etwa 2000 Jahren …
Obwohl heute nur noch stille Zeugnisse von ihrer Leidenschaft zeugen, haben die Römer die Emotionen genauso empfunden wie die Menschen heute, denn Liebe und Erotik/Sexualität gehören zu den angeborenen Grundinstinkten. Dies bedeutet aber nicht, dass für sie eine erfüllte Liebe eine ähnliche Selbstverständlichkeit bedeutete wie heute, denn dafür legten geltendes Recht, Herkunft sowie der gesellschaftliche Status einem viele Steine in den Weg.
Zur besseren Verortung des Themas sei auf die antike Mentalität hingewiesen: Bezeichnend ist hierfür, dass für die Liebe eine Göttin, Venus (Aphrodite) zuständig war, die gleichzeitig auch die Göttin der Schönheit und Fruchtbarkeit verkörperte. Liebe und Schönheit haben – im Auge des Betrachters – offenbar etwas Verbindendes3. Liebe war also für die Römer wohl eine göttliche Angelegenheit, indem sich der Wille der höheren Mächte spiegeln konnte.
Seit der Spätrepublik bzw. der frühen Kaiserzeit ist die steigende Bedeutung von Venus hervorzuheben4. In ihrer Kultrolle, als Stammmutter der Römer, bzw. später als Venus gentrix, die für die Abstammung der Iulier zuständige Göttin, erfuhr sie eine außergewöhnliche Verehrung5. Sie war offenbar besonders geeignet für Propagandazwecke, da ziemlich jeder mit der Liebe in Berührung kam. Vielleicht fühlten sich die Menschen auch mit dem Kaiserhaus durch den gemeinsamen Nenner der Liebesgöttin besser verbunden?
Um Christi Geburt bemühte sich Augustus mit seinen Gesetzen die Aufwertung der Ehe zu erreichen6. Dies ging mit der Regelung des Familienlebens und der Rollenteilung der Frauen einher. In propagandistischen Kunstwerken wie der Ara Pacis beabsichtigte Augustus mit der Darstellung von Kleinkindern aus dem Kreis seiner Familie, die dort auffällig in den Vordergrund gestellt worden sind, seine eigene Dynastie den Massen als Beispiel zu zeigen7. Mehr als hundert Jahre später, um die Mitte des 2. Jh. n. Chr., nutzten ranghohe Mitglieder des Kaiserhauses ihre Hochzeit (s. u.) als Anlass für die erneute Propagierung einer vorbildlichen Ehe und zwar mittels Münzbildern8.
Die Quellen der Archäologie
Zu den Hauptquellen für den Nachweis der antiken Liebe zählen die bildlichen Darstellungen von Ehepaaren bzw. Liebespaaren, die in den unterschiedlichen Materialien wie Stein, Stuck, Mosaik oder Glas verewigt wurden.
Diese sind zunächst nach ihrem Aufstellungsort zu unterscheiden, denn die Wahl beeinflusste auch den Bildinhalt. Platzierungen im öffentlichen Raum, wie z. B. im Fall eines Grabsteines oder Sarkophags am Straßenrand, mussten ganz andere Anforderungen – vor allem im Sinne der kaiserlichen Ehe-Propaganda – erfüllen als in privaten Räumen, die nur für einen ausgewählten Besucherkreis zugänglich waren. Die im öffentlichen Raum aufgestellten Informationsträger mit ihren Inschriften und Reliefverzierungen konnten sich nicht die Freizügigkeiten erlauben wie manche Wanddekorationen im Inneren eines Hauses. Dafür erfüllten sie aber ihren medialen Zweck nachhaltiger und erschlossen sich einem großen Kreis der Betrachter.
Die Steindenkmäler
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