West-östliche Erkundungen
C.H.BECK
Was hat das schiitische Passionsspiel mit Brechts Theater zu tun? Welche Gedichte verdankt Goethe dem Koran? Wie hängt Ibn Arabis Theologie des Seufzens mit dem Ach! der Alkmene zusammen? Und warum identifizierte sich der iranische Dichter Hedayat mit dem Prager Juden Kafka? Navid Kermani lässt auf faszinierende Weise die vertrauten Grenzen zwischen Orient und Okzident verschwinden. Selten zuvor ist so elegant – und politisch so aktuell – demonstriert worden, was Weltliteratur ist.
„Wer sich selbst und andere kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident, Sind nicht mehr zu trennen.“ Navid Kermani nimmt Goethes berühmten Vers beim Wort. Er liest den Koran als poetischen Text, öffnet die östliche Literatur für westliche Leser, entdeckt die mystische Dimension in den Werken Goethes und Kleists und erschließt die politische Bedeutung des Theaters von Shakespeare über Lessing bis Brecht. Der Name Navid Kermani steht für eine literarische Weltläufigkeit, die ihre Gegner kennt: Das sind alle, die Religionen und Kulturen mit Gewalt voneinander abschotten, sie gegeneinander ausspielen wollen. Die persönliche Aneignung der Klassiker verleiht seinen Texten jene aktuelle Brisanz, die Weltliteratur noch dort ausmacht, wo sie von den privatesten Gefühlen erzählt. Denn um Liebe geht es Zwischen Koran und Kafka selbstverständlich auch.
Navid Kermani, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für seine Romane, Reportagen und wissenschaftlichen Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken (2011), dem Heinrich-von-Kleist-Preis (2012) sowie dem Joseph-Breitbach-Preis (2014). Bei C.H.Beck erschienen von ihm unter anderem „Gott ist schön“ (52011), „Der Schrecken Gottes“ (22010), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (32014) sowie das Reportagebuch „Ausnahmezustand“ (22013).
“Keinem anderen Schriftsteller der deutschen Literatur gelingt es, Kultur-, Erlebnis- und Gefühlswelten so geschickt und packend miteinander zu verweben, wie Navid Kermani.” MDR Figaro
„In einer Zeit politisch motivierter neuer Abgrenzung und Ausgrenzung zwischen islamisch-orientalischer und christlich-westlicher Welt ist Kermanis Unternehmen buchstäblich grenzensprengend.“ Frankfurter Rundschau
In eigener Sache
1. Folgt nicht den Dichtern!
Der Koran und die Poesie
2. Der Aufstand gegen Gott
Attar und das Leiden
3. Welt ohne Gott
Shakespeare und der Mensch
4. Die heroische Schwäche
Lessing und der Terror
5. Gott-Atmen
Goethe und die Religion
6. Schmutz meiner Seele
Kleist und die Liebe
7. Die Wahrheit des Theaters
Das schiitische Passionsspiel
und die Verfremdung
8. Befreit Bayreuth!
Wagner und die Einfühlung
9. Nachmittag Schwimmschule
Kafka und Deutschland
10. Der Auftrag der Literatur
Hedayat und Kafka
11. Nach Europa
Zweig und die Grenzen
12. Apologie des Glasperlenspiels
Hesse und der Untergang
13. Gewalt des Mitleids
Arendt und die Revolution
14. Kampf gegen Windmühlen
Mosebach und der Roman
15. Ein Gott, eine Frau, ein Käse
Golschiri und die Freundschaft
ANHANG
Zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes
Rede vor dem Deutschen Bundestag am 23. Mai 2014
Anmerkungen
Textnachweise
Nach der Rede im Bundestag, die im Anhang dieses Buches abgedruckt ist, mailte mir eine Freundin, ich hätte eine poetische Political correctness mit dem Pathos der sozialistischen Propheten verbunden, in einem Ton, den heute nur ich könne und den im neunzehnten Jahrhundert eben die jüdischen Kosmopoliten gehabt hätten, die von Lessing, Heine und der sozialen Idee der Propheten sprachen. «Sicherlich können die heute nicht mehr reden (auch wenn sie könnten, dürften sie ja nicht)», fügte die Freundin an und schloß ihrerseits geradezu pathetisch, daß die jüdischen Kosmopoliten des neunzehnten Jahrhunderts in mir – ja, ich zitiere das jetzt wieder wörtlich, so eitel das in meiner eigenen Vorrede auch wirken mag – in mir «ihren wunderbarsten Stellvertreter» hätten. «Das ist nun eine gewaltige Reihe, in die Du mich stellst», mailte ich der Freundin zurück: «Aber wenn man beim Wort der Stellvertreterschaft bleibt, ist wahrscheinlich sogar etwas dran, es geht ja darum, so gut es eben geht, mit unseren beschränkten Mitteln, Erfahrungen und Worten den Platz zu füllen, der im 20. Jahrhundert so leer wurde in Deutschland.»
Die kurze Korrespondenz spukt seitdem in meinem Kopf herum. Nicht daß ich mir den Enthusiasmus oder gar den Superlativ zu eigen machen würde, mit denen die Freundin mich bedachte – sie ist nicht nur eine gute, sie ist auch ihrem ganzem Wesen nach eine selten euphorische, in ihrem Wohlwollen stets überschwengliche, in ihrem Lob zuverlässig übertreibende Freundin. Aber meine Antwort, schnell geschrieben und sofort abgeschickt – war sie nicht anmaßend? Wenngleich ins Allgemeine gewendet, hatte ich ja das Verhältnis bestätigt, in das ich uns – aber wen noch hatte ich gemeint außer mich selbst? – mit den jüdischen Denkern und Literaten des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gesetzt, nicht im Sinne einer Identifikation, Verwandtschaft oder gar Gleichrangigkeit, aber doch einer Nachfolge und der daraus erwachsenden Zuständigkeit und Verantwortlichkeit.
Schon bevor die Freundin mir mailte, hatte ich bemerkt, daß mir in meinen Texten und mehr noch in den öffentlichen Reden bisweilen ein Pathos unterläuft, das nicht alle sofort als falsch empfinden, oder hatte ich ein Erstaunen wahrgenommen, wenn ich akademische oder aktuelle politische Fragen ohne viel Scheu auf menschliche Urerfahrungen und Grundbedürfnisse bezog, aufs Menschliche selbst und sogar aufs Übermenschliche. Selbst wenn ich wollte, könnte ich das nicht genauer beschreiben, es ist kaum mehr als ein unbestimmtes Gefühl, daß ich als Leser und Hörer anderen vielleicht nicht so leicht durchgehen ließe, was ich mir selbst manchmal als Autor oder Redner erlaube und auch weiter erlauben soll, weil es meine Beiträge – ob gut oder schlecht – wesentlich ausmacht. Das ist um so merkwürdiger, als ich mir im Alltag und in Begegnungen mit anderen, selbst den geliebten Menschen, oft allzu nüchtern vorkomme, gerade nicht gefühlig, diese Urerfahrungen und Grundbedürfnisse, über die ich öffentlich rede, privat eher selten zur Sprache bringe, zu selten, wie die geliebten Menschen mir bisweilen vorhalten. Freiwillig oder nicht, halte ich im täglichen Leben eben jene Emotionalität und Dringlichkeit offenbar zurück, die mich in meinen Essays und Reden bisweilen selbst überraschen. Woran liegt das, fragte ich mich wieder, woher rührt der Ton, den die Freundin meinte und der ganz sicher mit der metaphysischen Ausrichtung meines Nachdenkens zu tun hat?
So unangenehm mir alle Zuschreibungen sind, die einen Autor auf die Kultur seiner Vorfahren festlegen, hätte ich die Emotionalität und Dringlichkeit aus Mangel an besseren Erklärungen bis vor einiger Zeit vielleicht wirklich mit meiner orientalischen Herkunft in Verbindung gebracht. Aber inzwischen glaube ich – und die Mail der Freundin weist genau in diese Richtung, weshalb ich ihren Vergleich nur relativiert, aber nicht gänzlich abgestritten habe –, daß sie einen anderen, durchaus deutschen Ursprung haben. Ich bin mit der deutschen Literatur und Geistesgeschichte aufgewachsen, richtig, indes nur sporadisch mit ihrer Gegenwart. Die Linie, der ich gefolgt bin, läuft mit dem Zweiten Weltkrieg oder spätestens mit der Frankfurter Schule aus, die ja noch ganz auf den Krieg gerichtet war. Dieser Ton, den die Freundin meinte, ein ungewöhnlich hoher, meinetwegen predigerhafter, für manche Ohren vielleicht aufdringlich existentieller Ton, in dem ich manchmal über die Dinge der Welt rede – klingt da nicht viel eher das neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert durch als irgendeine orientalische Herkunft? Ich kenne keinen persischen oder arabischen Gegenwartsautor, der so spricht oder schreibt, aber bis hin zu Stefan Zweig, Walter Benjamin und Thomas Mann eine Menge deutschsprachiger Autoren, die gewiß eleganter geschrieben, tiefgründiger gedacht, gefährdeter gelebt haben, aber politische Ideale von vielleicht schon wieder bedenklicher Allgemeingültigkeit poetisch ins Konkrete überführten und so ihre Notwendigkeit erwiesen. Ja, ich stelle auch Thomas Mann in die Reihe und hätte genauso gut Lessing oder Goethe anführen können, weil es mir hier noch nicht um ein spezifisch jüdisches Moment in der deutschen Literatur geht, eher um ein Weltbürgertum, das die jüdischen Autoren nur häufiger betonten als andere Deutsche. Nicht nur ihre Ideale habe ich als junger Leser verinnerlicht, sondern offenbar auch ein wenig das Pathos übernommen, das die Freundin von den Propheten herleitete, dem Religiösen also.
Gewiß weisen die religiösen Bezüge meiner Bücher und Reden häufig zu islamischen Motiven und Quellentexten (aber beinah genauso häufig zur Bibel), und gewiß hat das muslimische Elternhaus gerade auch unterbewußt auf mich gewirkt, die Mutter, die sich zum Gebet und nur zum Gebet mit einem weißen Tschador verhüllte, der Vater, der sich auch in Gegenwart meiner Freunde oder bei der Fahrt in den Urlaub auf dem Autobahnrastplatz vor Gott niederwarf, die irritierten Blicke meiner Freunde oder der anderen Autofahrer. Das waren auch Fremdheitserfahrungen, ja, obschon nicht negativer Art. Keiner meiner Freunde hat mich der betenden Eltern wegen gemieden, und die Zweisprachigkeit erlebte ich als genauso selbstverständlich, wie sie es – aber das lernte ich erst viele Jahre später – für viele andere Deutsche bis zum Zweiten Weltkrieg ebenfalls war. Es gab in meinem Elternhaus auch einen schlichten, man könnte wirklich sagen: Kosmopolitismus, der ähnlich wie im Judentum in der religiösen Tradition gegründet war, die koranische Lehre, daß jedes Volk einen Prophet in seiner Sprache hat, weshalb ich mir Jesus irgendwie als Deutschen vorstellte oder jedenfalls mit Deutschland in Verbindung brachte, und der immer und immer wieder zitierte Satz des eigentlich arabischen, für mich jedoch mehr persischen Propheten, daß die Wege zu Gott so zahlreich wie die Atemzüge eines Menschen sind. Mochte sein Offenbarungskonzept islamwissenschaftlich nicht ganz astrein sein, war es für das Kind doch eine enorme Erleichterung, daß die eigenen Freunde, obwohl ihre Eltern sich nicht an Autobahnraststätten vor Gott niederwarfen, dennoch ins Paradies gelangen konnten und daß vor dem Jüngsten Gericht die gute Taten zählen, nicht der Wortlaut des Bekenntnisses.
Wie auf jedes Gemüt haben auch auf meines die frühkindlichen Bilder, Eindrücke und Worte am tiefsten gewirkt. Aber bin ich deswegen Orientalist und Schriftsteller geworden? Die literarische Bewußtwerdung vollzog sich anhand der Bücher, die ich las, und das war in den entscheidenden Jahren des Entdeckens und Studierens die deutsche Literatur und Geistesgeschichte des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Und diese deutsche Literatur ist schließlich nicht irgendeine, sie hat spezifische Züge und war bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stärker als andere moderne Literaturen von transzendenten Fragestellungen und biblischen Motiven durchdrungen, nicht nur von Gott und Jesus, auch von Tod und Auferstehung, von Verzückung und Aufopferung, vom Leid nicht nur als einer gesellschaftlichen, sondern beinah mehr noch einer religiösen Anklage, ja, auch von einem schon heiligen Ernst, über den niemand so herzhaft spotten konnte wie manche Deutsche selbst, weil das Hadern mit sich selbst ebenfalls eine ziemlich deutsche Beschäftigung war. «Ein lebendiger Deutscher ist schon ein hinlänglich ernsthaftes Geschöpf, und nun erst ein toter Deutscher», hätte Heinrich Heine auch meine Bücher aufspießen können:
Ein Franzose hat gar keine Idee, wie ernsthaft wir erst im Tode sind; da sind unsere Gesichter noch viel länger, und die Würmer, die uns speisen, werden melancholisch wenn sie uns dabei ansehen.[1]
Daß Franzosen und Engländer ein Wort wie «Weltschmerz» gar nicht erst übersetzen, sagt viel über ihre Wahrnehmung der Deutschen, aber wahrscheinlich auch etwas über die Deutschen selbst. Ich jedenfalls liebte Büchner für die metaphysische Verzweiflung, die er Danton in seiner Todeszelle einschrieb, und noch in den eigentlich ethisch-moralischen, also der Religion ureigenen Fragen habe ich von den Minima Moralia mehr gelernt als von Mohammed.
Während auffallend viele französische, angelsächsische oder skandinavische Autoren des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gesellschaftliche Verhältnisse beschrieben oder in schier unglaublichem Realismus psychologische Zustände wiedergaben, blickten die bekanntesten deutschen Dichter in ihren Texten weiter nach oben – auch wenn der Himmel immer leerer wurde. Der jüdische Kosmopolit Heine, auf den ich mich wenigstens in dieser Vorrede berufen möchte, weil er im Buch selbst am meisten fehlt, hat das in seiner unnachahmlichen Art formuliert, als er den Materialismus, der in Frankreich herrschend geworden sei, von der deutschen Philosophie abhob, die alle Materie nur für eine Modifikation des Geistes erklärt, ja sogar die Existenz der Materie geleugnet habe:
Es schien fast, der Geist habe jenseits des Rheins Rache gesucht für die Beleidigung, die ihm diesseits des Rheins widerfahren.[2]
Anders allerdings, als Heine es vorausgesagt hatte, löste sich die metaphysische Grundierung erst Mitte des zwanzigsten Jahrhundert auf, als die totalitäre Ideologie des Nationalsozialismus alle übergeordneten Entwürfe, alles Kollektive auch, diskreditiert zu haben schien. Die deutsche Nachkriegsliteratur bezieht sich in ihren wesentlichen Zügen geradezu demonstrativ auf den Einzelnen innerhalb der Gesellschaft, sieht den Menschen als eine soziale, weniger als eine ontologische Entität. Das war und ist an vielen Stellen großartig und wird auch von mir bewundert. Aber es war nicht, was mich auf meinen Weg brachte.
«Lechzend klebe mir die Zunge
An dem Gaumen, und es welke
Meine rechte Hand, vergäß’ ich
Jemals dein, Jerusalem –»
beginnt Heine sein Gedicht «Jehuda ben Halevy» mit einer Anspielung auf das Exillied schlechthin des jüdischen Volkes, Psalm 137, Vers 6. Für die – nein, man kann es eben nicht Rückkehr nennen, Heine war nicht religiös aufgewachsen und schien aufgeklärt durch und durch –, für den Anschluß des freigeistigen, formell zum Protestantismus übergetretenen Literaten an die jüdische Tradition, die sein gesamtes Spätwerk prägt und zugleich eine Hinwendung zum Schöpfergott der Hebräischen Bibel ist, bildet die Auseinandersetzung mit dem andalusischen Philosophen und Dichter die wichtigste Wegmarke.
«Bei den Wassern Babels saßen
Wir und weinten, unsre Harfen
Lehnten an den Trauerweiden» –
Kennst du noch das alte Lied?
hebt auch der zweite Teil des Gedichtes mit einem Zitat aus Psalm 137 an, jetzt der beiden Anfangsverse, um dann die jüdische Herkunft mit einem Kessel zu vergleichen, der lange, jahrtausendlange schon im Dichter kocht: ein dunkles Wehe!
Kennst du noch die alte Weise,
Die im Anfang so elegisch
Greint und sumset, wie ein Kessel,
Welcher auf dem Herde kocht?
Lange schon, jahrtausendlange
Kocht’s in mir. Ein dunkles Wehe!
Und die Zeit leckt meine Wunde,
Wie der Hund die Schwären Hiobs.
Dank dir, Hund, für deinen Speichel –
Doch das kann nur kühlend lindern –
Heilen kann mich nur der Tod,
Aber, ach, ich bin unsterblich![3]
Es ist nichts Heiteres an dieser, gut, nennen wir’s doch: Heimkehr, es ist, wenn schon nicht Lichtjahre, dann jedenfalls beinah zwei schreckensvolle Jahrhunderte entfernt von der dekorativen Farbenfreude heutiger Migrationsliteratur. Eher nimmt Heine das Judentum in seine Dichtung auf, wie Aeneas seinen kranken Vater aus der brennenden Stadt trägt – mit der Pointe allerdings, daß Heine selbst sterbenskrank werden mußte, um den Glauben seiner Vorfahren plausibel finden zu können. In seiner ersten öffentlichen Äußerung über seine «große Umwandlung», einer Stellungnahme in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die über seine Erkrankung berichtet hatte, schrieb Heine:
In manchen Momenten, besonders wenn die Krämpfe in der Wirbelsäule allzu qualvoll rumoren, durchzuckt mich der Zweifel, ob der Mensch wirklich ein zweibeinichter Gott ist, wie mir der selige Professor Hegel vor fünfundzwanzig Jahren versichert hatte. Im Wonnemond des vorigen Jahres mußte ich mich zu Bette legen, und ich bin seitdem nicht wieder aufgestanden. Unterdessen, ich will es freimütig gestehen, ist eine große Umwandlung mit mir vorgegangen: ich bin kein göttlicher Bipede mehr; ich bin nicht mehr der «freieste Deutsche nach Goethe», wie mich Ruge in gesündern Tagen genannt hat; ich bin nicht mehr der große Heide Nr. 2 den man mit dem weinlaubumkränzten Dionysus verglich, während man meinem Kollegen Nr. 1 den Titel eines großherzoglich weimarschen Jupiters erteilte; ich bin kein lebensfreudiger, etwas wohlbeleibter Hellene mehr, der auf trübsinnige Nazarener herablächelte – ich bin jetzt nur ein todkranker Jude, ein abgezerrtes Bild des Jammers, ein unglücklicher Mensch![4]
Als ich weiter über die kurze Korrespondenz mit der Freundin nachsann, löste sich die Frage immer weiter von meinen eigenen Beiträgen los: Sind die Kosmopoliten, von denen sie schrieb, nicht selbst schon Stellvertreter gewesen? Sie oder vielleicht schon ihre Eltern hatten das angestammte jüdische Milieu, das Ghetto verlassen, waren sozial aufgestiegen und mindestens in ihren eigenen literarischen und akademischen Kreisen weitgehend emanzipiert. Aber wenn man sich vor Augen hält, daß noch während der Kindheit Ludwig Börnes in Frankfurt Ende des achtzehnten Jahrhunderts selbst die ältesten und angesehensten Juden vom Bürgersteig treten und sich tief verbeugen mußten, wenn ihnen ein Christ entgegenkam, gleich welchen Alters und Ansehens, selbst vor christlichen Kindern und Bettlern – dann ahnt man, welche Bilder, Eindrücke und Worte am tiefsten auf ihr Gemüt gewirkt haben. Auch Heinrich Heine, der als Neffe eines vermögenden Bankiers nur vergleichsweise subtile Formen der Diskriminierung erlebt hatte, war sich seiner Herkunft stets bewußt. Zu einem Freund gewandt sagte er im Sommer 1850:
Seltsames Volk, das seit Jahrtausenden wie immer geschlagen wird, immer weint, immer duldet, fortwährend von seinem Gott vergessen wird und doch so zäh und treu an ihm hängt, wie kein anderes unter der Sonne. O! wenn Märtyrertum adelt und Geduld und Treue, Ausdauer im Unglück, so ist dieses Volk adlig vor vielen andern. Lesen wir doch die Geschichte des Mittelalters, dieser klassischen Zeit des verbündeten Pfaffen- und Ritterthums, es gibt kein Jahr darin, das für die Juden nicht bezeichnet wäre durch Foltern, Scheiterhaufen, Enthauptungen, Brandschatzungen und Massacres! Und zwar leiden die Juden unter den Anhängern Christi, den durch ihre Religion gebildeten, immer mehr als unter den rohesten und wildesten Völkern, Polen und Ungarn, Beduinen, Chazygen und Mongolen! O, es ist doch ein schönes Ding um die Religion der Liebe! Wissen Sie wohl, daß in Rom, in der Metropole des Glaubens, zwei Jahrhunderte hindurch (von 1464 bis 1688) die Juden am letzten Karnevalstage nackt, nur mit einer Binde um die Lenden bekleidet, ein Wettrennen abhalten mußten zur Ergötzung des Pöbels?[5]
Aus den Fremdheitserfahrungen, die im Unterschied zu meinen dezidiert negativ waren, erwuchs freilich nicht nur eine Verantwortung für die eigene Tradition und eben Stellvertreterschaft im Sinne von Repräsentanz für das eigene Volk. Daß etwa die Wissenschaft vom Judentum die Aufklärung betrieb, gerade indem sie sich gegen die Assimilation stemmte, war auch ein Akt der Loyalität gegenüber der Aufklärung selbst, gegen deren protestantische Engführung, nationale Zuschreibung und hypertrophe Rationalität. Folgerichtig war ihr Pathos, wenn man den eigentlichen Sinn des Wortes als «Leiden, Schmerz, Krankheit» mitdenkt, vor dem Holocaust kaum je auf die Not, die Diskriminierung, die Unterdrückung nur des eigenen Volks gerichtet. Es war das Leiden, der Schmerz, die Krankheit einer jeden Kreatur, die sie antrieb, es war ihr Ruf nach Erlösung und Gerechtigkeit, der sie in die Nachfolge der biblischen Propheten stellte. Kein anderer als Heinrich Heine führte in seinen späten, thematisch wie stilistisch Orient und Okzident umgreifenden, verstörend religiösen Gedichten – bei allem Unrecht, das Karl Kraus den früheren Werken tat, liegt in seiner berühmten Bemerkung, daß Heine sterbenskrank werden mußte, um ein Dichter zu sein, doch ein Körnchen Wahrheit – kein anderer als Heine also führte die Perspektive der Unterdrückten, der Besiegten in die deutsche Literatur ein. Allein, er wird dort gerade nicht zur Stimme des eigenen Volkes; vielmehr legte Heine von den Katastrophen anderer, fremder Völker Zeugnis ab, in «Mohrenkönig» von den Mauren und ihrem letzten Herrscher Boabdil von Granada, in «Vitzliputzli» von den mexikanischen Indianern, die dem spanischen Eroberer Cortez zum Opfer fielen, und in «Sklavenschiff» von den schwarzafrikanischen Sklaven. Das heißt, nun doch übertragen auf uns, daß wir die Not, die Diskriminierung, die Unterdrückung nicht vergleichbar erlebt haben müssen, um pathetisch im Wortsinn werden zu können. Vielleicht vertraten die jüdischen Kosmopoliten hierin sogar stellvertretend für das Projekt der Aufklärung die universale Liebe Jesu, die sich im Gleichheitsgedanken säkularisiert hat. Dann gehörte jeder Dichter zum Stamme der Asra, «welche sterben, wenn sie lieben», wie es über den Sklaven der wunderschönen Sultanstochter in Heines noch schönerem Gedicht heißt.[6] In jedem Fall aber sahen sich Heine und nach ihm die Wissenschaft vom Judentum in der Verantwortung, mit dem judäo-arabischen zugleich das islamische Erbe der Aufklärung freizulegen. Und es wäre gut, wenn heute umgekehrt auch muslimische Autoren, gläubig oder nicht, das jüdische Erbe Europas mitverträten.
Plötzlich erhielt der Titel des Buchs Zwischen Koran und Kafka einen neuen Sinn. Natürlich hatten wir ihn wegen des Stabreims gewählt, den der Verlag für einprägsam hielt. Doch zugleich markieren Koran und Kafka tatsächlich zwei Pole, zwischen denen sich mein Schreiben bewegt, Offenbarung und Literatur, religiöse und ästhetische Erfahrung, islamisch geprägte und deutschsprachige Geistesgeschichte, Orient und Okzident; speziell der Koran und speziell das Werk Kafkas waren über viele Jahre die wichtigsten Referenzen für mich, so singulär und wie exemplarisch, weder nachzuahmen noch zu übertreffen. Über die Stellvertreterschaft nachdenkend, die die Freundin mir zusprach, entdeckte ich plötzlich, daß Kafka noch für etwas ganz anderes stehen könnte, als ich im Blick gehabt hatte, und entsprechend der Koran im Titel nicht nur den Islam oder den Orient verkörpern muß. Kafka kann auch eine Teilhabe an der deutschen Literatur bedeuten, die um so entschiedener vertreten wird, als sie sich der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe niemals gewiß ist, er signalisiert etwas Fremdes, Randständiges, niemals ganz Dazugehöriges, das genuin europäisch ist und gleichwohl über Europa hinausweist. Und der Koran – und mit dem Koran die Religion und Kultur des Islams – bedeutet in meinem Schreiben und Leben, was für die jüdischen Denker und Literaten des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts die Tora und die jüdische Tradition waren: die selbstbewußte Affirmation des Andersseins, wenn man so will des dauerhaft Exilhaften der eigenen Situation, das Beharren, gläubig oder nicht, auf der fortdauernden Relevanz metaphysischer Fragen in einer radikal säkularisierten Umgebung und bei aller Zeitgenossenschaft auch die Treue zum Kanon der Eltern und Großeltern, damit zu vormodernen, außereuropäischen Erzählungen und Erzählweisen.
Ja, ich sage Affirmation, ich sage Beharren und Treue und spreche damit von bewußten, gleichsam demonstrativen Entscheidungen. Nicht anders als Kafka, der mit Goethe und Stifter aufwuchs und sich die jüdische Tradition erst allmählich, relativ spät und dann sehr begierig, wie ein Student aneignete, nahm ich an der deutschen als meiner eigenen Literatur Anteil und war nicht trotz, sondern vielleicht sogar gerade wegen meiner Herkunft ihr besonders motivierter Schüler. Hingegen die Kultur und Religion des Islams, die im Elternhaus, in der iranischen Familie, durchaus wichtig genommen wurde – aber was den Eltern wichtig ist, das scheinen die Jugendlichen reflexhaft abzuwehren, wie wir spätestens als Eltern feststellen müssen –, den Islam eignete ich mir erst allmählich, relativ spät und dann sehr begierig, als ein Student an. Sollte der Titel eine zeitliche Folge in dem Sinne andeuten, daß ich erst bei dem einen war und dann zum anderen gelangte, müßte das Buch also umgekehrt heißen: «Zwischen Kafka und Koran», denn, recht überlegt, bin ich erst durch Kafka zum Koran gelangt, weil es am Anfang das ästhetische, durch meine literarischen und wesentlich deutschen Lektüren vorgeprägte Interesse war, das mich zum Islam zog und von dort weiter zu allem Religiösen. Allerdings hätte der Titel dann nicht mehr mit dem langen Vokal ins Offene ausgeklungen, und das war mir dann doch wichtiger als die biographische Stimmigkeit, die ohnehin niemandem aufgefallen wäre.
Die Freundin, die mir die Mail geschickt hat, heißt Almut Shulamit Bruckstein Çoruh und ist selbst das Beispiel einer jüdischen Kosmopolitin. In ihrem neuen Buch House of Taswir notiert sie eine Geste, in der sich die Stellvertreterschaft beispielhaft ausdrückt. Im Buchladen des alten Herbert Stein in Jerusalem fand Almut die Koranübersetzung des rabbinischen Gelehrten Lazarus Goldschmidt in der Erstauflage von 1916. Sie beginnt mit den Worten:
EL KORAN
das heißt
DIE LESUNG
Die Offenbarung des
Mohammed ibn Abdallah
des Propheten Gottes
Zu Schrift gebracht durch
Abdelkaaba Abdallah Abu-Bekr
übertragen durch
Lazarus Goldschmidt
im Jahr der Flucht 1334 oder 1916
der Fleischwerdung.
Die Flucht, das ist natürlich die Auswanderung Mohammeds aus Mekka und der Beginn der islamischen Zeitrechnung. Die Fleischwerdung nimmt die christliche Zeitrechnung nicht bloß in ihrer pragmatischen Abkürzung «n. Chr.», sondern mit ausdrücklichem Hinweis auf ihren dogmatischen Gehalt auf. Was für eine schöne, überraschende Geste eines großen Rabbiners, unter Auslassung der eigenen Tradition die Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit zweier benachbarter Zeitrechnungen herzustellen und sie theologisch ernst zu nehmen![7]
Almut schrieb mir, daß sie den Gedanken ihrer Mail, der ebenso schnell geschrieben und rasch abgeschickt wie meine Antwort war, ebenfalls noch ausführen wird. Derweil wird sich der Leser selbst ein Urteil bilden, ob an der Stellvertreterschaft etwas dran ist, die eine Ehre, aber noch viel mehr eine Aufgabe wäre. Wie auch immer es ausfällt, bleibt der Platz in Deutschland schrecklich leer.
Mohammed lebte von 570 bis 632. Im Alter von rund vierzig Jahren hatte er erste Visionen und vor allem Auditionen, die sich bis zu seinem Tod, also über einen Zeitraum von etwa zweiundzwanzig Jahren fortsetzten. Die Offenbarungen trug er seinen Landsleuten vor; er wandte sich an seine unmittelbaren Mitmenschen in Mekka, aber auch an die Araber als solche. «Eine arabische Rezitation» trug er ihnen vor, qurʾānan ʿarabīyan; nichts anderes als «Rezitation» oder «das zu Rezitierende» bedeutet das Wort Koran, das in den frühen Suren oft ohne Artikel, also noch nicht als Eigenname gebraucht wird. Der Koran unterscheidet immer wieder zwischen einer «arabischen» und einer etwaigen «fremdsprachigen» (aʿdschamī), nicht speziell an die Araber gerichteten Offenbarung, ja, es dürfte kaum einen Text der Religionsgeschichte geben, der so oft und so nachdrücklich auf die Selbstverständlichkeit hinweist und sie reflektiert, daß er in einer bestimmten Sprache verfaßt ist. So heißt es in Sure 41,44:
Und hätten wir ihn gemacht
Zu einem nichtarabischen Koran (qurʾānan aʿdschamīyan),
Hätten sie gesagt: «Warum
Sind seine Verse nicht klar?
Was soll es heißen: ein
Nichtarabischer Koran
Und arabischer Verkünder!»
Mohammed trat also als der «arabische» Verkünder einer Botschaft auf, die Gott allen Völkern gesandt hat.
Und niemals sendeten wir einen Boten,
Als in der Sprache seines Volkes,
Damit er rede deutlich ihnen. (Sure 14,4)
Ein solches Offenbarungskonzept setzt voraus, daß die Araber sich überhaupt als eine Gemeinschaft empfanden, die anderen Gemeinschaften und Völkern, den Nicht-Arabern, gegenüberzustellen war. Was heute selbstverständlich klingt, ist es angesichts der politischen Situation im siebten Jahrhundert, der geographischen Gegebenheiten und der Stammesstruktur der damaligen Gesellschaft auf der arabischen Halbinsel keineswegs. Die Araber der Dschahiliyya, der vorislamischen Zeit, waren weder durch einen Bund zusammengeschlossen, noch verfügten sie über eine gemeinsame politische Plattform. Im Gegenteil: Sippen fielen übereinander her, Blutfehden erschütterten das Land. Die mit Abstand wichtigste Organisationsform war der Stamm, er beherrschte Weltanschauung und persönliche Bindungen des einzelnen. Und dennoch fühlten sich die unzähligen, regelmäßig miteinander im Krieg liegenden, sozial und kulturell höchst verschiedenen Sippen als ein einheitliches Volk – die Sprache galt als das über alle Kämpfe hinweg verbindende Element auf der arabischen Halbinsel zu Anfang des siebten Jahrhunderts. Zwar hatte jeder Stamm seinen eigenen Dialekt, der für andere Stämme nur schwer verständlich war, doch über allen Dialekten thronte die Kunstsprache der Poesie, die ʿarabīya. Die Dichtung stiftete eine gemeinsame Identität; in ihr gründete das über alle Zersplitterung hinweg einheitliche Gedächtnis.
Man mag das vergleichen mit der Situation in Deutschland im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, als die Literatur den Klein- und Zwergstaaten zu einem gemeinsamen, spezifisch «deutschen» Selbstbewußtsein verhalf. Und doch war die Situation anders. Die Araber des frühen siebten Jahrhunderts waren Beduinen oder Oasenbewohner, verbunden nur durch die Karawanen der Händler und die regelmäßigen Kriege zwischen den Stämmen, die einem eigenen Wirtschaftszweig entsprachen (das Wort «Razzia», das sich aus dem Arabischen herleitet, erinnert noch daran). Ansonsten gab es kaum Kontakt zwischen den einzelnen Stämmen und praktisch keine Kommunikationsmittel. Die Schrift war nur rudimentär verbreitet, beinah alle Zeitgenossen waren Analphabeten und die verschiedenen Dialekte damals schon so verschieden, daß man sich von Muttersprache zu Muttersprache nur schwer verständigen konnte. Und dennoch: In einem Gebiet so groß wie ein Drittel des gesamten Europas, vom Jemen im Süden bis nach Syrien im Norden, von den Rändern des heutigen Iraks bis an die Grenzen Ägyptens, war die altarabische Dichtung mitsamt ihrer Hochsprache, ihrer ausgefeilten Technik und ihrer strengsten Normen und Standards ein und dieselbe. «Wie das erreicht wurde, wissen wir nicht und werden wir höchstwahrscheinlich nie erfahren», kommentierte der israelische Orientalist Shlomo D. Goitein diesen erstaunlichen Umstand.[1]
Die altarabische Dichtung ist ein hochkomplexes Gebilde. Ihr Vokabular, ihre grammatischen Besonderheiten und detaillierten Normen wurden von Generation zu Generation weitergegeben, all ihre Feinheiten beherrschten nur die Größten ihrer Zeit. Erst wenn jemand Jahre oder Jahrzehnte bei einem Dichter studiert hatte, durfte er sich selbst als solchen bezeichnen. Mohammed wuchs in einer Welt auf, die das poetische Wort beinah religiös verehrte. Er hatte das schwierige Handwerk der Poesie nicht gelernt, als er selbst begann, seinen Mitmenschen Verse vorzutragen. Der Koran war anfangs nichts am Stück Geschriebenes, sondern bestand aus einzelnen Vortragseinheiten, die sich erst später zu einem Gesamttext fügten. Die frühesten Suren waren beherrscht von dramatischen Unheilsszenarien, von Aufrufen zu spiritueller wie zu ethischer Umkehr, zur Gleichheit und Verantwortlichkeit der Menschen. Sprachlich waren sie von großer Eindringlichkeit, sie faszinierten die Zeitgenossen durch ihren pulsierenden Rhythmus, die eindringlichen Lautmalereien, die phantastische Matrix der Bilder. Und doch unterschieden sich die Verkündigungen Mohammeds von der Poesie, unterschieden sich ebenso von der Reimprosa der Wahrsager, der zweiten damals bekannten Form der inspirierten und gebundenen Rede. Die Normen der altarabischen Dichtung waren seltsam gebrochen, die Sujets verliefen anders, das Metrum war aufgehoben, die Themen, die Metaphern und überhaupt der ideologische Impuls des frühen Korans, der anders als die konservative, affirmative Dichtung jener Zeit auf eine revolutionäre Veränderung der Lebenswelt hinauslief – all das war den Zeitgenossen Mohammeds neu. Andererseits hielt sich die Anwendung der Verse beinah durchgängig an die Regeln der altarabischen Dichtung. Noch wichtiger aber war, daß der Koran in der ʿarabīya formuliert war, gleichsam dem Kode der damaligen Dichtung. Trotz der formalen und inhaltlichen Unterschiede zur Poesie hielten viele Mekkaner daher Mohammed anfangs für einen Dichter.
Wie kaum ein anderer Offenbarungstext dokumentiert der Koran seine eigene Rezeption; er nimmt die Reaktionen der gläubigen wie der ungläubigen Hörer auf, er zitiert und kommentiert sie. Aus dem Koran selbst lernen wir, daß kaum ein Einwand dem Propheten so zugesetzt hat wie die Behauptung, er sei «nur» ein Dichter. Während die Replik auf diese Behauptung in den späteren Suren einen stereotypen Charakter annimmt, zeugt die Ausführlichkeit vor allem der frühen Belege von einer echten Gefahr. Man muß davon ausgehen, daß Mohammed aufgrund bestimmter Handlungen, Verhaltensweisen oder Reden vor allem in der ersten Offenbarungsphase notwendigerweise dagegen zu kämpfen hatte, nicht mit einem Dichter verwechselt zu werden. Hätte es in seinem Wirken nichts gegeben, was diese Gleichsetzung nahegelegt hätte, so wären seine Gegner gar nicht erst auf die Idee gekommen, ihn als solchen zu bezeichnen. Sie hätten andere Argumente gefunden, seinen Anspruch auf göttliche Offenbarung in Frage zu stellen. Sie hätten zum Beispiel sagen können, er sei ein Lügner, ein Dieb, ein Scharlatan: «Aber sie sagten: Er dichtet nur, er ist ein Dichter.» (Sure 21,5)
Die Behauptung von Mohammeds Gegnern, der Koran sei Poesie, kann nicht nur polemisch gemeint sein, sie muß das tatsächliche Empfinden vieler gespiegelt haben, nicht weil der Koran im Bewußtsein des wahrnehmenden Kollektivs identisch war mit der Dichtung, sondern weil diese (und die anderen Gattungen der inspirierten Rede) das einzige waren, worauf man ihn überhaupt beziehen konnte, sie waren das «am wenigsten Verschiedene». Die muslimische Überlieferung hält das fest, wenn sie immer wieder berichtet, daß die Mekkaner Dichter und andere Meister der literarischen Sprache aufsuchen, um sie zu befragen, als was die Rezitationen Mohammeds zu bezeichnen seien. Indem die Literaten durchgehend – und zwar mit fasziniertem Staunen – antworten, der Koran sei weder Dichtung noch Reimprosa, markieren sie dessen Erwartungshorizont. «Ich kenne die verschiedensten Qasiden und den radschaz-Vers, selbst mit den Gedichten der Dschinne bin ich vertraut. Aber bei Gott, sein Vortrag gleicht keinem von ihnen», bekannte etwa ein berühmter Zeitgenosse Mohammeds, Walid ibn Mughira, um nur eine von vielen ähnlichen Stimmen zu zitieren.[2] Und wenn die Überlieferung auch durchgehend festhält, daß die Dichter und Rhetoriker die stilistische Andersartigkeit des Korans bemerkten, so verschweigt sie keineswegs, daß es einfacheren Menschen nicht so leicht fiel, zwischen Poesie und Offenbarung klar zu trennen. Vom Prophetengefährten und Dichter Abdullah ibn Rawaha etwa wird berichtet, wie er von seiner Frau überrascht und zur Rede gestellt wurde, als er das Gemach einer Konkubine verließ. Schon länger hatte sie ihn verdächtigt, heimlich fremdzugehen. Wissend, daß Abdullah einmal geschworen hatte, niemals den Koran zu rezitieren, ohne rituell rein zu sein (was er nach vollzogenem Seitensprung nicht gewesen wäre), forderte sie ihn auf, etwas aus dem Koran vorzutragen, um ihn auf diese Weise bloßzustellen. Sofort rezitierte der Dichter drei Verse eines Gedichtes, dessen Klang dem des Korans so ähnlich war, daß seine Frau von seiner Unschuld überzeugt war, da sie «dachte, es sei ein Koran».[3]
Der Koran mußte sich also, aufgrund der Gefahr einer Verwechslung, notwendigerweise von der Dichtung absetzen: «Und die Dichter! Ihnen folgen die Irrenden.» (Sure 26,224) Nur vor diesem Hintergrund ist die Dichterpolemik zu verstehen, wie sie vor allem die 26. Sure enthält. Das war kein literarischer Wettstreit. Es ging um die Führung, und zwar nicht bloß um die Führung eines einzelnen Stammes, wie sie den Dichtern zukam. Der Koran forderte die gesamte Stammesstruktur der arabischen Gesellschaft und ihren Polytheismus radikal heraus, indem er das Prinzip der Einheit verkündete, der Einheit Gottes wie der Gemeinde. Die Dichter hingegen vertraten wie keine andere gesellschaftliche Gruppierung die tribale Ordnung der Dschahiliyya. Eine allgemeine Poesiefeindlichkeit in den Koran zu lesen, wie es häufig geschieht, ist nicht haltbar. Kritisiert werden die Dichter ausschließlich dort, wo sie auf ihrer Führungsrolle beharren und sich von Teufeln inspirieren lassen. Ausdrücklich ausgenommen sind die Dichter, «welche glauben, das Gute tun und denken Gottes häufig» (Sure 26,227).
Offenbar hat der Prophet die Auseinandersetzung mit den Poeten für sich entschieden, sonst hätte sich der Islam kaum in Windeseile ausgebreitet. Der Koran selbst verrät nur in Andeutungen, was zu diesem Erfolg geführt hat. Zwar reflektiert er die Situation zur Zeit der Offenbarung, verweist auf konkrete Ereignisse und Entwicklungen, aber er tut dies für eine Hörerschaft, die diese Ereignisse bereits kennt. Er erzählt also nicht wie ein Geschichtsbuch, was an diesem oder jenem konkreten Tag vorgefallen ist, sondern rekurriert auf das Geschehen eher durch einzelne Stichwörter, die bei den unmittelbaren Hörern die Erinnerung wachrufen. Spätere Leser müssen sich oft auf sekundäre Quellen stützen, um den historischen Kontext zu verstehen, auf die Biographien, die Geschichtsbücher oder die Schriften zu den «Anlässen der Offenbarungen» (asbāb an-nuzūl).
In der europäischen Sicht auf die frühe Geschichte des Islams sind es soziale, ideologische, propagandistische oder militärische Gründe, die für den Erfolg Mohammeds herangezogen werden; man würdigt das Charisma des Propheten oder verweist auf seine egalitäre Botschaft. Muslimische Quellen zeichnen ein anderes Bild: Ihnen zufolge siegte der Islam auch und vor allem durch die Sprachgewalt des Korans, durch die schiere ästhetische Wirkung seiner melodischen Rezitation. Erst hier, in den Geschichtsbüchern, Biographien und theologischen Kompendien, im Rückblick der Gemeinde auf die eigene Heilsgeschichte, gerinnt Mohammeds Auseinandersetzung mit den Dichtern zu einem auch literarischen Kampf, ausgetragen zum Teil im Bild des alten Dichterduells, so in der Anekdote vom größten unter den Dichtern Arabiens, Labid ibn Rabia. Die Blätter mit seinen Gedichten hingen, als Zeichen seines Triumphes, an den Türen der Kaaba. Keiner seiner Dichterkollegen wagte es, die Herausforderung anzunehmen und seine Verse neben die Labids zu hängen. Eines Tages jedoch näherten sich einige Anhänger Mohammeds, der unter den heidnischen Arabern jener Zeit als obskurer Zaubermann und geistesgestörter Poet verschrieen war. Sie befestigten ein Stück aus der zweiten Sure des Korans am Tor und forderten Labid auf, es vorzutragen. Der Dichterkönig lachte ob dieser Anmaßung auf. Mehr aus Zeitvertreib oder vielleicht aus Spott ließ er sich darauf ein, die Verse zu rezitieren. Überwältigt von ihrer Schönheit bekannte er sich an Ort und Stelle zum Islam.
In der islamischen Heilsgeschichte ist diese Art der Bekehrung einer der häufigsten Topoi. So wird von einem Kundschafter aus Yathrib erzählt, dem späteren Medina, der nach Mekka kam, um den mysteriösen Nachrichten über das Auftreten eines neuen Propheten nachzugehen. Zuvor hatte man ihn eindringlich vor den Zaubertricks des Propheten gewarnt und ihn ermahnt, sich nur ja die Ohren zu verstopfen, bevor er auf Menschen treffe, die seine Verkündigung rezitieren. Der Mann ging also durch die Straßen Mekkas und begegnete einer Gruppe von Gläubigen, die einer Koranrezitation lauschten. Er dachte bei sich: Ich bin ein Mann von Verstand und Erfahrung, warum mache ich mich lächerlich und stopfe mir die Ohren zu, nur weil jemand etwas vorträgt? Er nahm die Watte aus den Ohren, vernahm den Klang des Korans und bekannte sich auf der Stelle zum Islam. Verlockender können die berühmten Sirenen im zwölften Gesang von Homers Odyssee nicht gewesen sein.
Die Eigentümlichkeit solcher, immer gleich strukturierter Konversionsberichte wird deutlich, wenn man nach Entsprechungen in anderen Religionen sucht. Das Phänomen einer ästhetisch bewirkten Konversion, wie es im Islam auch für spätere Jahrhunderte häufig proklamiert wird, ist etwa für das Christentum kaum bezeugt. Weder in den Evangelien noch an anderer Stelle lassen sich entsprechende Berichte in vergleichbarer Dichte nachweisen. Die großen Bekehrungen und Initiationserlebnisse der christlichen Geschichte – Paulus, Augustinus, Pascal oder Luther, um nur wenige zu nennen – haben, soweit die autobiographischen Zeugnisse darüber Auskunft geben, ihren Auslöser in anderen, für den Außenstehenden ebenso bemerkenswerten, jedoch nicht primär ästhetisehen Erfahrungen; nicht die Schönheit der göttlichen Eröffnung ist in der Wahrnehmung des Erlebenden das Hervorstechende, sondern ihre moralisch-ethische Botschaft für den einzelnen. Das bedeutet nicht, daß die Entwicklung und Glaubenspraxis des Christentums oder irgendeiner anderen Religion vorstellbar wäre ohne die ästhetische Faszination bestimmter Räume, Texte, Gesänge, Bilder, Düfte, Handlungen, Gesten, Gewänder – oder daß etwa der Protestantismus ohne die sprachliche Kraft der Lutherbibel im deutschen Sprachraum sich so rasant hätte ausbreiten können. Doch im Bild, das sich die christliche oder speziell protestantische Gemeinde von ihrer eigenen Vergangenheit macht, spielt das ästhetische Moment, von welcher Relevanz es für die Glaubenspraxis auch sein mag, eine untergeordnete Rolle. Die wenigsten Christen würden behaupten, daß Jesus seine Jünger um sich geschart habe, weil er ihnen besonders hübsch oder seine Rede formal vollendet vorgekommen wäre, und in keinem christlichen Religionsunterricht lernt man, den Siegeszug des Christentums mit der sprachlichen Perfektion der Evangelien ursächlich zu erklären.
Wohl wird es Bekehrungen zum Christentum geben, die in der Schönheit der Schrift ihre Ursache haben, doch bilden Berichte hierüber keinen signifikanten Teil im Gesamtkorpus der christlichen Zeugnisse über die Ausbreitung der eigenen Religion, sie sind kein wiederkehrendes Motiv der heilsgeschichtlichen Literatur, gehören nicht zum kulturellen Gedächtnis. Im muslimischen Selbstverständnis hingegen ist die ästhetische Faszination, die vom Koran ausgeht, konstitutiv für die eigene Glaubenstradition. Dieser Akt einer kollektiven Bewußtmachung und Deutung ist es, der spezifisch für die religiöse Welt des Islams ist – nicht die Schönheitserfahrung an sich. Nur im Islam führte die Rationalisierung des ästhetischen Erlebens zu einer eigenen theologisch-poetologischen Doktrin, nämlich der Lehre vom iʿdschāz, der Unübertrefflichkeit und Unnachahmlichkeit des Korans. Die Argumentation des iʿdschāz kann für einen Christen eigenartiger nicht sein: Ich glaube an den Koran, weil seine Sprache zu vollkommen ist, als daß sie von einem Menschen erdichtet worden sein könnte. Man kann das durchaus als einen ästhetischen Gottes- oder Wahrheitsbeweis verstehen. Eine Entsprechung in einem westlichen Kulturkreis läßt sich in der Sphäre der Religion kaum finden. Eher wird man an den subjektiven Eindruck denken, den manche Kompositionen hinterlassen, von Bach oder von Mozart etwa. Nicht zufällig neigen Hörer dazu, sie «göttlich» zu nennen.
Die Beziehung von Offenbarung und Poesie in der arabischen Kulturgeschichte könnte enger kaum sein. Die Literaturwissenschaft etwa verdankt sich der Beschäftigung mit dem Koran. Wenn das Wunder des Islams die Sprache der Offenbarung war, dann mußten die Gelehrten diese Sprache analysieren, um ihren Vorrang zu beweisen – und mußten also den Koran mit der Dichtung vergleichen. So entwickelte sich aus der Theologie bald die Literaturwissenschaft. Die muslimischen Gelehrten begannen im neunten Jahrhundert, Musterbeispiele der arabischen Poesie zusammenzustellen, um sie dem Koran gegenüberzustellen. Vordringlich galt es, eine Poetik zu entwickeln, Kriterien zu definieren, anhand derer man einen Vers als vortrefflich, vorbildlich, wirkungsvoll und schön bestimmen konnte. Zunächst hatte das einen apologetischen Impetus, aber zunehmend emanzipierte sich das literarische Interesse von seinem theologischen Vorzeichen. Für die arabische Literaturwissenschaft ist der Koran damit mehr als nur ein zentraler Text; ihre Existenz geht auf das Bemühen zurück, die zuvor nur beschriebene Erfahrung seiner Schönheit und Eindringlichkeit zu analysieren und ein Regelsystem aufzustellen, das auf einsehbaren empirischen Belegen basierte. Vor allem vom zehnten bis zwölften Jahrhundert entstanden großartige Werke der arabischen Poetik, die zahlreiche Erkenntnisse der modernen Linguistik und Literaturwissenschaft vorwegnahmen, etwa indem sie die antike Dichotomie von Form und Inhalt mit dem Begriff der «Ordnung» oder «Struktur» (naẓm) überwanden, durch die sich eine poetische Idee ausdrückt. Die arabischen Rhetoriker diskutierten Koran und Poesie in einem Atemzug, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Einem hochrangigen Theologen des elften Jahrhunderts wie dem Iraner Abdulqaher al-Dschurdschani, der wie selbstverständlich zugleich der bedeutendste Poetologe seiner Zeit war, geht es durchgängig um das Spezifische des Vorzugs, der einem Vers zukommt, gleich ob er aus dem Koran oder von einem Dichter stammt. Und er analysiert dieses Spezifische, indem er Koran und Dichtung durchgehend aufeinander bezieht – eine Verschränkung von Theologie und Literaturwissenschaft, die in der heutigen arabischen Welt nicht mehr ohne weiteres mögliches ist.
Ist also die Literaturwissenschaft durch den Koran überhaupt erst angestoßen worden, um bald schon autonom zu werden, so hatte der Koran auf die Dichtung selbst eine paradoxe Wirkung – er hat sie gewissermaßen säkularisiert. Mit dem Sieg des Islams gab die Poesie ihren metaphysischen Anspruch zunächst auf und konzentrierte sich auf weltliche Motive, auf die Liebe, das höfische und städtische Leben oder die Tugenden. Später dann, im achten und neunten Jahrhundert, positionierten sich die Dichter an den abbasidischen Höfen und Städten neu, indem sie sich vom Islam absetzten. In bewußter Konkurrenz zur prophetischen Offenbarung beriefen sie sich auf andere Inspirationsquellen als den Einen Gott, auf Dschinne und Satane. Die berühmtesten Satansverse stammen von Abu Nuwas, dem vielleicht bekanntesten Dichter der arabischen Literaturgeschichte. Freilich war die Berufung auf übersinnliche Mächte, ähnlich wie im Europa der Neuzeit, mehr ein literarisches Motiv, als daß sie eine reale Erfahrung meinte; wichtig war, das Inspirationsmonopol des Islams zu durchbrechen. Die Dichter konkurrierten mit dem Koran, sie trachteten danach, ihn stilistisch zu übertreffen. «Dein Gedicht ist schöner als der oder jener Vers des Korans», riefen sich im achten Jahrhundert Poeten und Literaten zu, die sich in Zirkeln trafen; «jene Zeile wieder ist schöner als dieser andere Koranvers». Bis weit ins elfte Jahrhundert haben Intellektuelle wie al-Mutanabbi oder al-Maʿarri die Unerreichbarkeit der koranischen Sprache angefochten. Zugleich aber blieb der Koran selbst für jene, die den Wundercharakter der koranischen Sprache zu widerlegen suchten, Modell und Maßstab. So soll einer der besonders libertären Köpfe jener Zeit, der Dichter Baschar ibn Burd, einmal von einem seiner liebsten Gedichte gesagt haben, daß es noch schöner sei als die 59. Sure. Ganz schlecht kann er die Sure also nicht gefunden haben.
Als unmittelbare Konkurrenz des Korans war die Poesie in gewisser 4