400 Deutsche, Napoleon und
die Entscheidung von Waterloo
Aus dem Englischen
von Wiebke Meier
C.H.Beck
«Der längste Nachmittag» erzählt in einer dichten Beschreibung von einer Schlacht in der Schlacht von Waterloo: der Verteidigung des Meierhofs La Haye Sainte durch die King’s German Legion gegen die anstürmenden Truppen Napoleons. Die Verteidigung misslang zwar letztlich, aber der erreichte Zeitgewinn sorgte dafür, dass die preußischen Truppen unter Feldmarschall Blücher in die Schlacht eingreifen konnten, was entscheidend war für Napoleons Niederlage noch am selben Abend.
Simms’ Buch versieht die blutigen und brisanten Stunden der Verteidigung von La Haye Sainte mit menschlichen Gesichtern. Wir werden nicht Zeugen eines Schlachtgemäldes oder von Strategiespielen, sondern des Schicksals von Individuen: Unbekannte Personen, die an diesem Tag zu Helden wurden, rücken ins Zentrum der Darstellung. Auch die französischen Angreifer werden nicht als eine gesichtslose Masse geschildert, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut. Dazu zieht Simms zahlreiche zuvor nicht ausgewertete oder unbekannte Quellen heran und ist so in der Lage, ein lebendigeres Bild als bislang von der Schlacht innerhalb der Schlacht zu zeichnen, die letztere entschied. Sein Buch schließt mit Überlegungen dazu, ob dieser Nachmittag nicht eine andere Tradition deutscher Militärgeschichte begründen könnte.
Brendan Simms, geb. 1967, ist Historiker und Professor für die Geschichte Internationaler Beziehungen an der Fakultät für Politik und Internationale Studien der Universität Cambridge. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas – 1453 bis heute».
Für Hugh
When thou hast reached La Haye, survey it well,
Here was the heat and centre of the strife;
This point must Britain hold whate’er befell,
And here both armies were profuse of life:
Once it was lost, … and then a stander by
Belike had trembled for the victory.
Robert Southey, The Poet’s Pilgrimage to Waterloo (1816)
Hast du La Haye erreicht, betracht es wohl,
Hier waren Glut und Kern des Kampfes;
Diesen Ort musste England halten, um jeden Preis,
Und hier vergeudeten beide Armeen Leben:
Einmal war er verloren … danach hatte wohl
Ein Zuschauer um den Sieg gebangt.
Vorwort
KAPITEL 1 Vorspiel
KAPITEL 2 Für König und Vaterland
KAPITEL 3 Verhängnisvolle Fehler
KAPITEL 4 Kampf um das Scheunentor
KAPITEL 5 Inferno
KAPITEL 6 Mann gegen Mann
KAPITEL 7 «Glut und Kern des Kampfes»
KAPITEL 8 Das Vermächtnis – ein «deutscher Sieg»?
Anhang
Historische Notiz
Zum Film
Zum zeitlichen Ablauf
Zu den Quellen
Dank
Anmerkungen
Bibliographie
Bildnachweis
Obwohl zweihundert Jahre vergangen sind und im zwanzigsten Jahrhundert Blut in vorher unvorstellbarem Ausmaß vergossen wurde, ist das Echo auf die Schlacht von Waterloo nicht geringer geworden.[1] Überall auf der Welt legen zahllose Städte, Bahnhöfe und Denkmäler davon Zeugnis ab. In die englische wie die deutsche Sprache hat der Ausdruck «sein Waterloo erleben» Eingang gefunden, und der Eurovision-Gewinnersong der Pop-Gruppe ABBA hat ihn gleichsam verewigt. Ihm ist es zu verdanken, dass eine ganze Generation von Teenagern wusste – auch wenn das meistens alles war, was sie darüber wusste –, dass «Napoleon sich bei Waterloo ergeben» hat. Obwohl die Schlacht den Krieg nicht unmittelbar beendete, war sie doch von so großer Bedeutung, dass der Name zum Inbegriff einer vernichtenden Niederlage geworden ist.
«Waterloo», schreibt Victor Hugo, «ist keine Schlacht, es ist die veränderte Gestaltung der Welt.»[2] Der Historiker Jeremy Black behauptet, Waterloo habe «die westliche Frage gelöst», nämlich ob Europa fortan von Frankreich oder von einer losen Vereinigung unabhängiger Staaten beherrscht werden würde, deren Gleichgewicht Großbritannien und dessen Verbündete auf dem Kontinent garantierten. Dieser Punkt machte die Schlacht, wie der britische Finanzminister George Osborne kürzlich halb im Scherz und halb im Ernst gegenüber seinem Labour-Vorgänger äußerte, «zu einem eindrucksvollen Sieg der Koalitionskräfte über ein altes, diskreditiertes Regime, das Millionen ins Elend gestürzt hatte».[3] Und ohne das preußische Eingreifen «würden wir heute alle Französisch sprechen», behauptet Ben Macintyre in der Times.[4]
Schon für die Zeitgenossen stand die Bedeutung der Auseinandersetzung außer Frage. Im Februar 1815 hatte Napoleon durch seine Flucht aus dem Exil auf Elba Europa erneut in einen Krieg gestürzt, und selbst wenn die Schlacht von Waterloo verloren gegangen wäre, hätten Russen und Österreicher Napoleon am Ende vielleicht doch gefügig gemacht. Dessen konnte man sich aber nicht wirklich sicher sein, und darum richteten sich aller Augen auf die alliierte Armee in Belgien. «Die Rettung der Welt liegt abermals bei Ihnen», sagte Zar Alexander zu dem Befehlshaber der Alliierten, dem Herzog von Wellington, bevor dieser aufbrach.[5] Kurz nach der Schlacht bezeichnete der Dichter Byron in Childe Harold’s Pilgrimage Waterloo als eine «Schädelstätte», auf der die «vereinten Nationen» über den französischen Tyrannen gesiegt hatten.[6] Damit gab er dem Begriff «vereinte Nationen» einen neuen Sinn. Zwar hatte Napoleon schon früher Truppenkontingente aus allen Teilen des Kontinents kommandiert, so dass man von der Schlacht bei Leipzig 1813 mit Fug und Recht sagen konnte, die eine Hälfte Europas habe gegen die andere gekämpft – bei Waterloo bestand seine Streitmacht jedoch fast ausschließlich aus Franzosen. Dagegen war die alliierte Armee bei Waterloo durch und durch multinational, und die Briten vervollständigten lediglich die bunte Vielfalt von Wellingtons Männern. Byrons Bild von den «vereinten Nationen», die über die Tyrannei triumphieren, erwies sich als so wirkungsmächtig, dass Winston Churchill und Franklin Delano Roosevelt es aufgriffen und damit die Struktur einer neuen Weltordnung bezeichneten, die heute noch besteht.
Man hat das Drama der Schlacht häufig erzählt und gut erzählt. Ein entscheidender Aspekt ist bisher jedoch relativ wenig beachtet worden: die heldenhafte Verteidigung des Meierhofes von La Haye Sainte im Zentrum der alliierten Linien durch die Männer des 2. leichten Bataillons der Königlich Deutschen Legion. Dank der Verfügbarkeit neuer Quellen, einschließlich unveröffentlichter Materialien aus hannoverschen Archiven, wissen wir jetzt sehr viel mehr über diese etwa 400 Schützen, die von einer Kombination aus ideologischer Opposition zu Napoleons Tyrannei, dynastischer Loyalität zum König von England, deutschem Patriotismus, Kameradschaft im Regiment, persönlichen Freundschaften und Berufsethos angetrieben wurden. Diese Männer und ihre Verstärkungen hielten Napoleon lange genug auf, um der Schlacht die entscheidende Wendung zu geben. Hier wird ihre Geschichte erzählt.
Belgien, früher Nachmittag, Samstag, 17. Juni 1815. Am Vortag haben die Franzosen Marschall Blüchers Preußen bei Ligny und die verbündete Armee des Herzogs von Wellington an der Straßenkreuzung von Quatre Bras geschlagen. Nun will Napoleon Wellingtons zurückweichende Armee so schnell wie möglich vernichten, bevor diese sich mit Blücher vereinigen kann.
Glücklicherweise hatten die Schützen des 2. leichten Bataillons der Königlich Deutschen Legion am Vortag die Schlacht bei Quatre Bras verpasst,[1] sie wurden aber Zeugen ihrer schrecklichen Auswirkungen. Der Schütze Friedrich Lindau beschreibt sie mit folgenden Worten: «Es war ein entsetzliches Leichenfeld, welches im eigentlichen Sinne im Blute schwamm, das uns bei jedem Schritte bis über die Knöchel ging.»[2] Der allgemeine Eindruck war, wie Leutnant Emanuel Biedermann sich erinnerte, dass Napoleon die alliierte Armee «unerwartet» beim Mittagsschlaf «überrascht» hatte.[3] Entgegen einer verbreiteten Legende trug aber kein Offizier noch die Kleider, die er ein paar Tage zuvor auf dem Ball der Herzogin von Richmond in Brüssel getragen hatte.[4] Etwa um 14 Uhr wurde das 2. leichte Bataillon angewiesen, die Plänkler, die die nachdrängenden Franzosen abwehrten, zu entlasten, und zog sich zurück. Gemeinsam mit den Schützen des britischen 95. Regiments [5] bildete es die Nachhut für die gesamte alliierte Armee. «Sehr hungrig und ermattet» rasteten die Deutschen auf einer Wiese in der Nähe von Genappe.[6] Obwohl man ihnen mitteilte, sie hätten sich auf eine französische Attacke einzustellen, schliefen die meisten Männer sofort ein. Bald wurden sie jedoch durch ein plötzliches «Donnerwetter und einen wolkenbruchartigen Regen» geweckt. Dann galoppierte eine Abordnung Braunschweiger Husaren heran und forderte sie auf, schleunigst das Feld zu räumen, da der Feind im Begriff stand, sie von allen Seiten zu umzingeln. Im Schnellschritt zogen die Deutschen nun durch in Bäche verwandelte Hohlwege und schlammige Kornfelder zu der nach Brüssel führenden Heerstraße ab.[7] Als sie hinter Genappe waren – wo ihnen «das Wasser bis an die Knie» [8] stand –, erhielt das Bataillon den Befehl, die Straße für zurückweichende alliierte Kavallerie und Artillerie frei zu machen. Also setzten die Schützen ihren Marsch auf beiden Seiten der Straße durch die Felder fort, inmitten von hohem Korn und über einen vom Regen aufgeweichten Boden.
Während sie mühsam nordwärts stapften, drängten die Deutschen sich enger zusammen, um so wenig wie möglich dem strömenden Regen ausgesetzt zu sein. Unter einem bleiernen Himmel erhellten Blitze und das Aufleuchten der Artillerie den Horizont, und das Dröhnen des Donners und das Krachen der Geschütze rollte über die Felder. In regelmäßigen Abständen stürmten alliierte Reiter an ihnen vorbei, um die vordringende französische Kavallerie und Plänkler aufzuhalten. Die Reiter waren am Ende des Tages so verschmutzt, dass die Schützen an den Uniformen nicht mehr erkennen konnten, ob sie Freund oder Feind waren. Zeitweise kamen die Franzosen bis auf hundert Schritt an die Deutschen heran. Um die feindliche Kavallerie abzuwehren, war das Bataillon mehr als einmal gezwungen, zu halten und im Karree Aufstellung zu nehmen, die Flanken starrend von Säbelbajonetten. Die Soldaten wären sehr erstaunt gewesen, wenn sie in Wellingtons späterem Bericht gelesen hätten, der Feind habe nach der Schlacht bei Quatre Bras «nicht versucht, den Rückmarsch zu behindern».[9]
La Haye Sainte an der Straße Brüssel–Charleroi, um 1815. Diese Ansicht ist vermutlich erst nach der Schlacht bei Waterloo entstanden.
Allerdings erging es den Deutschen immer noch besser als den unglücklichen belgischen Zivilisten, die versuchten, den vorrückenden Franzosen zu entkommen. Leutnant Emanuel Biedermann empfand Mitleid, als er sah, wie die«Männer, ihr Vieh vor sich hertreibend, andere mit Bündeln bepackt, Weiber ihre Kinder tragend und nachziehend, … jammernd und weinend» flohen.[10]
Am Abend des 17. Juni, etwa gegen 19.30 Uhr, erreichten die ersten Schützen die Anhöhe des Mont St. Jean in der Nähe des Dorfes Waterloo. Bei der Ankunft der letzten Soldaten war es bereits dunkel, obwohl der Nachthimmel hin und wieder von Mündungsblitzen erhellt wurde und die Luft von Gewehrschüssen und Befehlsrufen erfüllt war, als die zurückweichenden Kolonnen an der Straßenkreuzung kurz hinter dem ansehnlichen Gutshof von La Haye Sainte, der an der Straße Brüssel–Charleroi lag und entweder nach der Dornenkrone Jesu oder nach der Brombeerhecke einer nahe gelegenen Wiese benannt war, neu aufgestellt wurden. Noch später war es, als die ungefähr vierhundert Deutschen den Befehl erhielten, den Hof zu besetzen.[11] Der Rückzug war beendet.
La Haye Sainte, der Meierhof, in dem das 2. leichte Bataillon seine berühmteste Tat vollbringen sollte, bestand aus Kuh- und Pferdeställen, einem Schweinestall, einem stattlichen Wohnhaus, einer niedrigen Mauer und einem Teich, gruppiert um einen kleinen Innenhof. Es handelte sich um einen in der Gegend recht verbreiteten Gebäudetyp. Der Bauer und seine Familie waren geflohen. Das Wohnhaus war sehr groß, hatte stellenweise meterdicke Wände und hohe Decken. Im ersten Stock befanden sich große Gaubenfenster, in dem Stock darüber, der keine Fenster hatte, lagerten Heu und Stroh. Zwischen den Ställen führte ein schmaler Verbindungsweg zu den Feldern auf der westlichen Seite; das Haupttor und eine Pforte ermöglichten einen Zugang zur Straße im Osten. Ein Durchgang und zwei Türen öffneten sich auf den Küchengarten unmittelbar nördlich des Hauses. Dessen nördlicher und westlicher Teil waren von einer Hecke umgeben, sein östlicher Teil, der sich zur Straße hin erstreckte, von einer Mauer; im Garten befanden sich ein Brunnen und ein Schuppen. Genau im Süden der Hauptgebäude lag ein ausgedehnter Obstgarten, der an drei Seiten ebenfalls von einer Hecke eingefasst war und dessen vierte Seite eine geräumige (etwa dreißig Meter lange) Scheune und eine niedrige Mauer bildeten, durch die ein Tor auf den Innenhof führte. Die Gebäude waren nicht beschädigt, aber weil La Haye Sainte unmittelbar neben der Hauptrückzugslinie der Alliierten lag, war das Gehöft bereits von durchziehenden Soldaten geplündert worden. Die Soldaten hatten insbesondere das sich auf das links liegende Feld öffnende Scheunentor niedergerissen, um Feuerholz für einige der an die Tausende zählenden elenden Männer zu haben, die auf dem umliegenden Land kampierten. Ein Hauptmann des 95. Schützenregiments auf der anderen Straßenseite, Jonathan Leach, beschreibt den Boden zum Schlafen als so morastig wie einen «Schnepfensumpf». Auch für den Schützen Simon Lehmann des 1. leichten Bataillons muss die Nacht, die er im Hohlweg hinter dem Hof verbrachte, äußerst ungemütlich gewesen sein.[12]
Zum Pech für die Deutschen war der größte Teil des Heus aus den Scheunen schon weggeschafft worden. Die Tiere wurden jetzt geschlachtet, und das Fleisch teilte man mit dem benachbarten Linienbataillon der Legion; nur das Kalb im Schweinestall übersahen die Schützen.[13] An der Verpflegung zeigten die Männer zunächst wenig Interesse: Im Augenblick war es für sie das wichtigste, trocken zu bleiben oder zu werden. Die Glücklicheren konnten innerhalb der Gebäude Schutz finden. Der Soldat Friedrich Lindau zog ein schlechtes Los und gehörte so zu den vom Glück weniger Begünstigten. Seine Kompanie wurde in den Obstgarten geschickt, in dem es keinerlei Schutz vor den Naturgewalten gab und wo sie dem Feind so nahe waren, dass sie kein Feuer machen durften. Immerhin gelang es Lindau, eine Tasche voll Erbsen, die er im Wohnhaus fand, mitgehen zu lassen.
Die meisten Schützen verfielen in Lethargie, ihre Sinne waren betäubt von Müdigkeit, Hunger und dem unaufhörlichen Regen. Anstatt sich in der Feuchtigkeit hinzulegen, lehnten sie an Mauern und Bäumen oder saßen auf ihren Tornistern und starrten ins Leere. Außerhalb der Hauptgebäude versuchten nur wenige, Feuer zu machen – zugegeben kein leichtes Unterfangen in dem Platzregen – oder das frische Fleisch, das ihnen zugeteilt worden war, zu kochen. Stattdessen wärmten sie sich mit Alkohol. Der unternehmungslustige Lindau schlich in den Keller und füllte dort seine Feldflasche mit Wein, den er mit seinen Kameraden und Soldaten des in der Nähe stationierten 1. leichten Bataillons teilte. Es dauerte nicht lange, bis Deutsche, die etwas weiter weg biwakierten, wie der Obergefreite Meyer des Bremer Feldbataillons, herüberkamen, um sich gleichfalls etwas zu trinken zu holen. Wiederholte Ausflüge in den Keller stellten sicher, dass die Männer im Obstgarten und wahrscheinlich der größte Teil der Besatzung für die Nacht ausreichend mit Alkohol versorgt waren. Schließlich legte Lindau sich am äußersten Ende des Obstgartens im Angesicht des Feindes mit griffbereiter Büchse zum Schlafen nieder. Leutnant Biedermann, der ebenfalls unter den Bäumen zu schlafen versuchte, erinnert sich, dass «auf das Getümmel des Tages … Ruhe und tiefe Stille» folgten.[14]
Auf der anderen Seite des Tals bereiteten sich die nachfolgenden Franzosen ebenfalls auf die Nachtruhe vor. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Veteranen Napoleons, die sich bereits viele Jahre bewährt hatten, andere waren junge Rekruten.[15] Sie waren häufig von glühender Loyalität gegenüber dem Kaiser erfüllt. Zwei Tage vor der Schlacht beobachteten die vorrückenden Kolonnen «einen jungen Soldaten oder vielmehr den Rumpf eines Mannes», der beide Beine durch eine Kanonenkugel verloren und schwere Gesichts- und Brustverletzungen hatte, die noch nicht verheilt waren. Beim Anblick seiner Kameraden hob der Unglückliche die Hände empor und rief: «Es lebe der Kaiser! Ich habe beide Beine verloren, aber das ist mir egal. Der Sieg ist unser! Es lebe der Kaiser!»[16] Wie ihre deutschen Gegner verbrachten auch die Franzosen Nachmittag und Abend des 17. Juni im Regen. «Die Nacht war schrecklich», erinnert sich der französische Befehlshaber gegenüber von La Haye Sainte, «es regnete in Strömen, was das Manövrieren mit der Artillerie sehr erschwerte. Die Männer hatten die Nacht ohne Schutz verbracht, und niemand hatte ein Feuer machen können.»[17] Es war zu nass, um zu kochen; also hielten sich Männer wie der Obergefreite Canler vom 28. Linienregiment an das Schaf, das sie in der Nähe eingefangen und am Morgen gebraten, sowie an das kleine Stück Butter, das sie am Tag zuvor ergattert hatten.[18] Er und seine Kameraden waren Teil von Bourgeois’ 2. Brigade aus der 1. Division von Alix, einer von vier Divisionen aus dem Ersten Korps von d’Erlon. Wie die Deutschen von La Haye Sainte hatten auch d’Erlons Männer am Kampf bei Quatre Bras nicht teilgenommen und den Tag aufgrund widersprüchlicher Befehle mit fruchtlosen Vor- und Rückmärschen vergeudet. Nachdem er von Napoleon gerügt worden war – seiner Erinnerung nach in einem sehr «ärgerlichen Ton» –, war d’Erlon entschlossen, nicht noch einmal Anlass zum Tadel zu geben.[19]
Als die Schützen in La Haye Sainte ihr Nachtlager aufschlugen, wussten sie, dass ihnen wahrscheinlich eine größere Kampfhandlung bevorstünde, sobald die französische Hauptstreitmacht einträfe. Leutnant Biedermann erinnert sich, dass er in dieser Nacht viele Männer in ernste Gedanken versunken sah. «Auch ich frug:», schreibt er, «Wirst du wohl die Heimath und deine Theuern wieder sehen; oder rafft wohl auch dich ein feindliches Schwerdt aus diesem unruhigen Leben hinweg? … So an der Pforte des Todes erscheint einem das Vergangene und die Zukunft in weit ernsterm Licht als sonst.»[20] Doch weder Biedermann oder Lindau noch der Rest des Bataillons konnte vorhersehen, in welchem Ausmaß sie am folgenden Tag auf die Probe gestellt werden würden.
Die Deutschen des 2. leichten Bataillons hatten schon einen weiten Weg hinter sich.[1] Sie waren nicht einfach in La Haye Sainte, «weil sie da nun einmal waren». Ihr Weg nach Waterloo hatte zwölf Jahre vorher begonnen, im Jahr 1803, als ihr norddeutsches Heimatland Hannover von Napoleon überrannt worden war.[2] Viele waren in die neue «King ’s German Legion (KGL)» eingetreten, die ihr Herrscher Georg III. von England, der auch Kurfürst von Hannover war, am Ende jenes Jahres gegründet hatte. Andere schlossen sich später an, um den Unbilden der französischen Besetzung zu entgehen, indem sie von Hamburg über Husum und Helgoland oder über Barth bei Stralsund in Schwedisch-Pommern nach England reisten.[3] Die zwei Schützeneinheiten – das 1. und das 2. leichte Bataillon – waren die ersten ihrer Art, die eingerichtet wurden; Linienregimenter, Artillerie- und Kavallerieeinheiten folgten später, als immer mehr Flüchtlinge vom Kontinent in England ankamen. Der Zustrom trocknete in den Jahren 1809/10 zu einem Rinnsal aus, als die Besatzungsbehörden schärfer vorgingen. In den Jahren 1811/12 wurden mehrere Hannoveraner von den Franzosen hingerichtet, weil sie für die Legion Rekruten angeworben hatten. Ursprünglich hatte man erwartet, es würden sich viele verschiedene Nationalitäten für diese Legion melden. Doch 1811 schrieb das Britische Kriegsministerium vor, dass die Legion nur «solche Personen anwerben sollte, die in Deutschland geboren sind und deutsch sprechen oder zumindest verstehen, einschließlich der aus allen deutschen, jetzt nach Frankreich eingegliederten Ländern, desgleichen diejenigen aus den Besitzungen des Hauses Österreich sowie den früher zu Russland und Holland gehörigen»; die Aufnahme von «Franzosen, Italienern, Dänen, Schweden, Russen, Spaniern oder Portugiesen» wurde ausdrücklich ausgeschlossen.[4]
In der Schlacht von Waterloo waren die Linienbataillone die am stärksten durchmischten Einheiten: Etwa fünfzig Prozent der einfachen Soldaten kamen nicht aus Hannover, sondern aus anderen deutschen Gebieten, besonders aus Preußen, und – trotz des ausdrücklichen Befehls des Kriegsministeriums – selbst aus Russland und Dänemark. In den leichten Bataillonen war der Anteil der Hannoveraner im Allgemeinen höher, dadurch waren sie homogener und hielten sehr wahrscheinlich deswegen auch fester zusammen. Abgesehen davon stammte etwa ein Drittel der Männer von La Haye Sainte (zumindest den Verlusten nach zu urteilen) aus Preußen, Bayern und anderen Teilen des Heiligen Römischen Reiches, darunter befanden sich auch Polen (wie Alexander Dobritzky von der 3. Kompanie) und Flamen (wie Baptist Charrier von der 5. Kompanie).[5] Doch allen Männern, einerlei woher sie kommen mochten, stand eine lange Odyssee bevor, als sie sich für das 2. leichte Bataillon anwerben ließen: Sie führte sie von Hannover, über das englische Ausgangslager der Legion in Bexhill an der Kanalküste, Feldzüge in Norddeutschland und Garnisonsdienste in Irland während der Jahre 1805/06, Züge ins Baltikum in den Jahren 1807/08, auf die Iberische Halbinsel 1808/09, an die Schelde 1809, zurück auf die Iberische Halbinsel 1811–1813, durch Südfrankreich und – im Schatten der Demobilisierung infolge von Napoleons Verbannung nach Elba – bis zu den Hängen des Mont St. Jean in Belgien.
Soldaten der Königlich Deutschen Legion: Linieninfanterist, leichter Infanterist, Husar (von links nach rechts), Aquatinta von Charles Hamilton Smith, 1815.
Anders als die meisten Ausländer-Einheiten, die in den Koalitionskriegen gegen Napoleon fochten, war die Königlich Deutsche Legion Teil der regulären britischen Armee. Für diejenigen, die sich noch nicht in königlichen Diensten befanden, waren die Bestallungen bis August 1810 vorläufig und wurden dann in Anerkennung der Leistungen der Legion auf der Iberischen Halbinsel per Gesetz in dauerhafte umgewandelt. Besonders im 2. leichten Bataillon waren einige Offiziere wie die Zahlmeister Engländer;[6] ihr Bankier war die Londoner Firma Greenwood, Cox and Company in Craig’s Court in Whitehall (die später in der Bank Lloyds aufging).[7] Die Befehlssprache war im Allgemeinen Englisch, ebenso die Struktur der Dienstgrade; die Männer des 2. leichten Bataillons waren standardmäßig mit Baker-Büchsen ausgerüstet und trugen dieselben charakteristischen grünen Jacken wie die Schützenregimenter der Briten.[8] Wenn sie sich in England meldeten, wurde den Rekruten das gleiche Handgeld wie anderen königlichen Untertanen ausgezahlt. Sie legten denselben Eid ab und waren – wie die offizielle Erklärung lautete – generell «denselben Vorschriften und Kriegsartikeln unterworfen wie die britischen Truppen Seiner Majestät».[9] Die Legion übernahm die englische Begeisterung für körperliche Ertüchtigungen wie Rudern, Ringen, Stockfechten und Boxen und für Mannschaftssportarten wie Fußball und Kricket.[10] Die Offiziere konnten die Vorteile einer fortschrittlichen militärischen Erziehung nutzen und durften Kurse der Artillerie in Arithmetik, Zeichnen, Geometrie, Geographie und «Feldbefestigungskunst» besuchen.[11] Als Korps dienten die Deutschen niemals alleine, sondern wurden bei Operationen immer zusammen mit anderen britischen Einheiten eingesetzt, obwohl der Divisionskommandeur bei Waterloo General von Alten war, ein Hannoveraner.[12] Dort verfügte die Legion zusammen mit den übrigen Truppen Wellingtons über eine mehr als zehnjährige Kampferfahrung.[13] Von insgesamt 30.000 Legionären, die während der Auseinandersetzung Dienst taten, fielen etwa 1300, und fast 5900 starben aufgrund anderer Ursachen.
Ungewöhnlich an den beiden leichten Bataillonen in der Legion war, dass sie weder die britischen Exerziervorschriften noch die englische Sprache vollständig übernahmen.[14] Im 2. leichten Bataillon blieb das Deutsche in Gebrauch, aber für den Wachdienst, wo es lebenswichtig war, Missverständnisse zu vermeiden, und für Paraden war das Englische vorgeschrieben. Majore und Adjutanten wurden im Hinblick auf ihre Englischkenntnisse ausgewählt. Viele Offiziere sprachen bereits fließend Englisch. Die anderen nahmen Privatunterricht, oft bei weiblichen Tutoren, wo sie bemerkenswerte Fortschritte machten. Einige Offiziere, die ihre Tagebücher auf Deutsch begonnen hatten, beendeten sie auf Englisch.[15] Häufig wechselten sie im Gespräch und in Briefen zwischen den beiden Sprachen hin und her. Ein Verzeichnis über Verluste und Neuzugänge enthält zum Beispiel bei der Kampfkraft unter «Joined» («Eingetreten») und «Total effectives» («Gesamtstärke») auch Eintragungen auf Deutsch wie «gestorben» und «ohne Pension verabschiedet».[16] Einige ältere Offiziere wie Sir Carl von Alten, der die Leichte Division in Spanien befehligte, und Sir Julius von Hartmann[17] erfanden sich selbst als eine Art englisch-deutscher Gentleman neu, indem sie Verhaltensweisen und Kleidung ihrer Gastgeber nachahmten. In den Mannschaften war es üblich, englische Vornamen anzunehmen oder zugewiesen zu bekommen: Ein Verzeichnis enthält einen John Hennes, einen Frederick Almutz und einen Henry Ebeling ebenso wie den eher deutschen Wilhelm Witz.[18] Damit war das «deutsche» 2. leichte Bataillon der Königlich Deutschen Legion bei Waterloo tatsächlich bereits zweisprachig. Heute würde man es als einen Träger «kulturellen Transfers» bezeichnen.
Die Vorgänger der Hannoveraner im achtzehnten Jahrhundert, die von England während der Schrecken der französischen Invasion im Siebenjährigen Krieg eingesetzten Hilfstruppen, hatte man als Handlanger des königlichen Despotismus verachtet.[19] Diese Ansicht war im Verlauf der Revolution und der napoleonischen Zeit in den Hintergrund gerückt, aber keineswegs ganz verschwunden.[20] Noch 1810 wurde der Radikale William Cobbett als Folge seiner Diatriben gegen die Königlich Deutsche Legion ins Gefängnis geworfen. Das war auch der Grund, warum man die Königlich Deutsche Legion mit einiger Besorgnis betrachtete, als sie zu ihrem Lager in Bexhill an der Südküste Englands marschierte und unterwegs auf Gemeindeländereien kampierte. Zwei Offiziere gingen auf dem Weg zum Wirtshaus an einigen Bauern vorbei und hörten dabei folgendes Gespräch mit an: «Wohin gehst du, Jack?», fragte einer. «Wir gehen zur Gemeindewiese, um die wilden Deutschen zu sehen», antwortete der andere.[21] Bei ihrer Rückkehr ins Lager bemerkten sie, wie die essenden Männer von erstaunten Dorfbewohnern beobachtet wurden: «Sieh mal», riefen die Dorfbewohner, «sie haben Löffel, Messer und Gabeln wie wir.» Bald wurde die Legion jedoch in der englischen Gesellschaft auf allen Ebenen akzeptiert. Besonders ihre stark ausgeprägte Musiktradition machte Eindruck auf die Bevölkerung. Viele Offiziere und einfache Soldaten heirateten ein einheimisches Mädchen.[22] Hauptmann Philip Holtzermann vom 1. leichten Bataillon, das später unmittelbar neben La Haye Sainte seine Stellung hatte, war einer von ihnen; er heiratete 1812 Mary-Ann Pumphrey, die Tochter des Zollbeamten von Bexhill. Weiter zu nennen sind beispielsweise der Schütze Henry Bush vom 2. leichten Bataillon, der im September 1810 Harriet Haselden heiratete, und der Schütze George (Gottfried) Heinz, ebenfalls zum 2. leichten Bataillon gehörig, der im Januar 1813 die ortsansässige Mary Anne Burt ehelichte.[23] Selbst heute erinnert das Straßenbild von Bexhill on Sea, wie es jetzt heißt, weiterhin an die alte Verbindung: Die Kasernen und die Deutschen sind längst nicht mehr da, aber es gibt noch immer eine «Barrack Road», ganz in der Nähe ein «Hanover Close» und auf der alten High Street ein «Hanover House».
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