Zeitgenosse der Revolution: Goethe 1791. Kreidezeichnung von Johann Heinrich Lips.
Goethe in der Revolution
C.H.Beck
Goethe war kein Freund der Französischen Revolution. Er nannte sie «das schrecklichste aller Ereignisse» und erklärte: «Ihre Greuel standen mir zu nahe.» Gustav Seibts fulminante Untersuchung zeigt, wie wörtlich das zu verstehen ist, und führt uns mitten hinein in die Belagerung von Mainz 1793, die Goethe als Augenzeuge und als Handelnder miterlebte.
Nach «Goethe und Napoleon» widmet sich Gustav Seibt nun in einem weiteren Buch der Revolutionserfahrung Goethes. Was hat sich im Juli 1793 wirklich abgespielt? Warum mündete die Mainzer Republik in Wochen des Bürgerkriegs und reaktionären Terror? Welche Rolle hat Goethe in diesen verstörenden Ereignissen gespielt, und wie hat er sie gedeutet?
All diesen Fragen geht Seibt immer nah an den Quellen nach und beleuchtet dabei nicht nur Goethes Haltung zum wichtigsten Umbruch seiner Epoche neu, sondern wirft auch ein ungewohntes Licht auf eine fatale Weichenstellung in der deutschen Geschichte – Deutschlands Abwendung von den Idealen der Französischen Revolution. Seibts Buch ist eine grandiose Erzählung von Terror und Wut und dem Versuch, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen.
Gustav Seibt ist einer der angesehensten deutschen Feuilletonisten. Nach Stationen bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», der «Berliner Zeitung» und der «Zeit» schreibt er seit 2001 für die «Süddeutsche Zeitung». Für seine Arbeiten wurde er u.a. mit dem «Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa», dem «Literaturpreis der Friedrich-Schiedel-Stiftung» und dem «Hildegard-von-Bingen-Preis» für Publizistik ausgezeichnet. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung (52010).
Für Carl und die Fellows 2012/13
Es ist wahr, ich konnte kein Freund
der Französischen Revolution sein,
denn ihre Greuel standen mir zu nahe.
Gespräche mit Eckermann, 4. Januar 1824
KAPITEL 1 Jagdszenen am Mittelrhein
KAPITEL 2 Lieber eine Ungerechtigkeit als Unordnung
KAPITEL 3 Freiheitsbaum und Galgen
KAPITEL 4 Rechtliches Bedenken
KAPITEL 5 Bürgerlicher Krieg
KAPITEL 6 Belagerung von Maynz
KAPITEL 7 Mit einer Art von Wut
KAPITEL 8 Symbol der gleichzeitigen Weltgeschichte
ANHANG Texte
Dank
Anmerkungen
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis und -nachweis
Personenregister
Vorsatzabbildunegn
Als preußische Truppen Ende März 1793 über den Rhein gingen und die linksrheinischen Gebiete wiedereroberten, die ein halbes Jahr zuvor von den Armeen des revolutionären Frankreich besetzt worden waren, da kam es an vielen Orten zu Ausschreitungen der örtlichen Bevölkerungen, denen die preußischen Soldaten nicht immer Einhalt geboten – im Gegenteil, oft ließen sie sich von der Volkswut anstecken oder stachelten diese sogar an. Die Wut richtete sich gegen Personen, die mit den verjagten Besatzern zusammengearbeitet und an der von Frankreich betriebenen Revolutionierung der Städte und Dörfer Rheinhessens und der Pfalz mitgewirkt hatten oder auch nur im Verdacht standen, dies getan zu haben.
Friedrich Christian Laukhard, der Magister und Pfarrer, der 1792 bis 1795 als preußischer Soldat am ersten Koalitionskrieg teilgenommen hatte und unmittelbar danach umfangreiche Erinnerungen mit seinen Erfahrungen zu Papier brachte, hat solche Szenen geschildert. Im Flecken Wöllstein wurden vier sogenannte «Clubbisten»[1] (also Anhänger jakobinischer Vereinigungen oder auch nur Amtsträger in französischen Diensten) mit Stockschlägen ermordet. In Flönheim wurde ein Gastwirt verprügelt und beraubt, seine Frau «auf die schändlichste Weise mißbraucht». Die Fürsten von Leiningen, der Bischof von Speyer, Beamte des Mainzer Kurfürsten, die Rheingrafen von Grehweiler und Grumbach ließen Jagd auf die Clubbisten machen, «verfolgten und bedrängten sie bis aufs Blut». Das Haus des Pfarrers von Ildesheim wurde geplündert, «seine Frau, ein junges hübsches Weib, aufs ärgste mißhandelt». In Wendelsheim wurde der Wirt vom «Löwen», der wegen seines Reichtums und Ansehens zum «Maire», also zum Bürgermeister oder Ortsvorsteher im neuen republikanischen Regime gemacht worden war, von den Bauern ausgeplündert, und als er sich im Nachbarort bei der preußischen Besatzung rechtfertigen wollte (er hatte versucht, auch unter französischer Besatzung im Sinne der alten Obrigkeit zu agieren und sich als Vermittler betätigt), wurde er auch da erst einmal mit Stöcken halb tot geschlagen. Laukhard notiert, dass viele der Betroffenen Pfarrer, Amtleute und Wirte waren, also Gebildete und Wohlhabende, die an der Spitze der örtlichen Gesellschaft standen; sie hatten sich in den neuen Verhältnissen zur Verfügung gestellt und galten daher als «Clubbisten», ganz unabhängig von der Frage, ob sie wirklich Jakobiner waren.[2]
Worms im Frühjahr 1793: Preußische Truppen lassen einen Freiheitsbaum ausgraben.
Laukhards Berichte lassen sich aus anderen zeitgenössischen Quellen bestätigen. In Dürkheim sprang ein Glaser aus Angst vor den Morddrohungen seiner Mitbürger aus dem Fenster, wurde aber am nächsten Tag von preußischen Soldaten doch verhaftet und beim Verhör schwer misshandelt. Danach, so berichtete er, «wurden wir Patrioten [ein anderer zeitgenössischer Ausdruck für Anhänger der Revolution] alle geschlagen und in einem Zug zur Schau und Wohlgefallen unserer Feinde und Verfolger in die Prison geführt. Die fürstlichen Beamten und Diener stunden da, und freuten sich mit Hohngelächter und Händeklatschen. Ich wurde in doppelte Ketten und Banden gelegt, und an einen Stein geschlossen. Zwei Monate musste ich in diesem Elend schmachten.» Viele der Gejagten und Verhöhnten waren sogar froh, wenn sie verhaftet wurden, weil sie das vor mörderischer Volkswut schützte. Ein moderner Historiker, der diese und viele andere Beispiele in den Archiven erforscht hat, spricht von einer «Pogromstimmung» gegen alle Neuerer und Unruhestifter: «Nicht etwa die Kollaboration mit den Franzosen, sondern die ‹französische Anhänglichkeit› oder besser: die demokratische Gesinnung erschien als das eigentliche Vergehen.»[3] So wurde in Bingen genau unterschieden zwischen den normalen Bedürfnissen einer fremden Armee und ihrer Soldaten, wie sie im Krieg immer erfüllt werden müssen, und den «heillosen französischen Grundsätzen, die manchen von ihnen selbst zum Abscheu waren»; Personen, die in diesem Sinne hervorgetreten waren, wurden namhaft gemacht. In Speyer mussten die Clubbisten wie an vielen anderen Orten den unter französischer Ägide errichteten Freiheitsbaum niederreißen, ihre Schriften und Verordnungen öffentlich verbrennen und zwei Wochen Schanzarbeit leisten. Auch Dürkheimer Patrioten wurden von ihrer Leiningisch-Hardenburgschen Obrigkeit zu Schanzarbeit verurteilt, teilweise «in Ketten und Banden». Christoph Girtanner, der unermüdliche, eigentlich gegenrevolutionär eingestellte Zeithistoriker, berichtet im zwölften Band seiner «Historischen Nachrichten zur französischen Revolution» mit Unbehagen von Ausschreitungen und Bestrafungen der Clubbisten in Worms. Die meist angesehenen und gebildeten Bürger – darunter viele Ärzte und Geistliche – wurden gezwungen, den über Monate angehäuften Unrat, den Dreck und die Fäkalien aus dem Schloss, das die Franzosen zur Kaserne gemacht hatten, zu kehren, bestenfalls mit einem Besen, oft auch mit den bloßen Händen. «Dabei wurde das Preußische Exerzitium mit der Haselnußstaude nicht vergessen.» Wenn ein Clubbist nicht greifbar war, musste seine Frau die ekelerregende Arbeit tun, «und dieses Loos traf ein paar hochschwangere Bürgersfrauen, wovon Eine vor Schrecken, oder vor Gestank und Ungemach, in Ohnmacht fiel, aber wieder zu sich gebracht und zur Arbeit angestellt wurde. Nach verrichteter Arbeit wurde der ganze, ziemlich zahlreiche Trupp, unter dem Gespötte der zuchtlosen Jugend, an den Platz geführt, wo der Freiheitsbaum gestanden hatte. Hier mussten sie den zurück gelassenen Block ausgraben, denselben in Stücken zerhauen, jeder einen Splitter davon nehmen, und, unter dem Geleite der Gassenjungen, an ich weiß nicht welchen Ort tragen.»[4]
Zur körperlichen Misshandlung kam also oft auch noch die öffentliche Demütigung. Spektakulär und in vielen zeitgenössischen Quellen erwähnt sind Vorgänge in Frankfurt am Main vom April 1793. Bei Oppenheim am Rhein war es den Preußen am 30. März gelungen, einige Mainzer Clubbisten, die sich vor der Belagerung der Stadt ins Elsaß hatten flüchten wollen, zu verhaften, darunter die Konventsabgeordneten Blau, Scheuer und einen Kaplan namens Arensberger. Als die etwa fünfzig Gefangenen auf die Festung Königstein geführt wurden, kam der Zug durch Frankfurt, wo sich am Roßmarkt hässliche Szenen abspielten, wie Girtanner referiert: «Auf dem Balkon standen Damen und Herren. Das Häuflein Klubisten war kaum von der unabsehlichen Menge Volks zu unterscheiden, welches mit tobendem Ungestüme dasselbe von allen Seiten umgab. Rache, Schadenfreude und Neugierde, waren beinahe auf allen Gesichtern gleich stark ausgedrückt.» Die an der Spitze stehenden und zusammengefesselten Honoratioren, der Professor Blau, der Kaplan Arensberger und ein Mediziner mussten sich nicht nur beschimpfen und anpöbeln, sondern auch mit faulen Eiern und Äpfeln bewerfen, ja in die Rippen stoßen und anspucken lassen.[5] Die Erbitterung des Publikums gegen die «Clubbisten» sei grenzenlos, schrieb der Anatom Samuel Thomas Soemmerring, der in Frankfurt Augenzeuge dieser Vorgänge war, an den Philologen Christian Gottlob Heyne: «Gerechter Himmel! was mußte ich in diesen Tagen für grausame Wünsche anhören, von Leuten, von denen ich’s nie erwartet hätte, daß sie ihren Mund mit solchen Worten besudeln könnten.»[6]
Eine regelrechte Jagd auf die Clubbisten fand in diesen Frühjahrswochen statt, und auch wenn die preußischen Soldaten hier zuweilen mitmachten oder zu wenig dagegen unternahmen und bei den Verhaftungen oft schikanös verfuhren, so kam die Wut in der Mehrzahl der Fälle doch aus der einfachen Bevölkerung. Darin stimmen alle Berichte überein. Und auch das steht fest, dass sich hier der Hass einer Mehrheit gegen eine verschwindend kleine Minderheit von meist überdurchschnittlich gebildeten, zuweilen wohlhabenden politischen Aktivisten richtete. «Die einzige Massenbewegung im Rheinland während der Revolutionszeit war die konterrevolutionäre Bewegung», stellt T. C. W. Blanning, einer der besten Kenner der Franzosenzeit an Rhein und Main, mit Blick auf die Jahre bis 1800 fest.[7] Während man das winzige Häuflein Jakobiner in den Quellen kaum auffinden könne, sehe sich der Historiker einem «embarras de richesse» gegenüber, wenn er Berichte über konterrevolutionäre Vorfälle suche: «Freiheitsbäume wurden umgehauen, französische Soldaten wurden angegriffen, verwundete Franzosen verhöhnt, französische Denkmäler geschändet, französische Niederlagen und österreichische Siege gefeiert.» Der exzessive, über normales Kriegsgeschehen hinausreichende Charakter dieser Ausschreitungen ist auch den Zeitgenossen immer wieder aufgefallen. «O wie unedel handeln die Deutschen, die sich nun dem fränkischen [französischen] Gesindel gleich setzen und ähnliche Barbareien und Grausamkeiten ausüben», so beantwortete Heyne aus Göttingen Soemmerrings Bericht gleich nach drei Tagen, am 11. April 1793, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Nachrichten von den Pariser Septembermorden von 1792 und von der Hinrichtung Ludwigs XVI. das deutsche Publikum schon längst erschreckt hatten. «Wie viele Schande machen ihnen [den Deutschen] die Prügeleien an den Unglücklichen (…). Ich habe es immer gesagt: alle Greuel der Sansculotten werden von den Siegern und Aristokraten noch übertroffen werden.»[8] Und der Magister Laukhard sprach von «Kannibalischen Gräuelscenen», die er nur als «Adels-, Pfaffen- und Soldaten-Robespierismus» begreifen konnte, als Ausdruck einer die politischen Lager übergreifenden Enthemmung.[9]
Der Erz-Clubbist wird aus dem Wagen gezerrt. Aus einem zeitgenössischen Stich von Johann Martin Will.
Den bis heute berühmtesten dieser Berichte von gegenrevolutionärer und antijakobinischer Gewalt enthält Goethes Spätwerk «Belagerung von Maynz», der Anhang seiner erst später so genannten «Campagne in Frankreich 1792», die 1822 zunächst unter der Überschrift «Aus meinem Leben. Zweyter Abtheilung Fünfter Theil» und somit als Fortsetzung von «Dichtung und Wahrheit» erschienen war. Die dort geschilderten Szenen sind die krassesten Darstellungen körperlicher Gewalt, die Goethes Werk überhaupt enthält. An keiner zweiten Stelle wurde er so explizit: «Der Wagen ward angehalten, fand man Franzosen oder Französinnen, so ließ man sie entkommen, wohlbekannte Clubbisten keineswegs. Ein sehr schöner dreyspänniger Reisewagen rollt daher, eine freundliche junge Dame versäumt nicht sich am Schlage sehen zu lassen und hüben und drüben zu grüßen; aber dem Postillion fällt man in die Zügel, der Schlag wird eröffnet, ein Erz-Clubbist an ihrer Seite sogleich erkannt. Zu verkennen war er freylich nicht, kurz gebaut, dicklich, breiten Angesichts, blatternarbig. Schon ist er bei den Füßen herausgerissen; man schließt den Schlag und wünscht der Schönheit glückliche Reise. Ihn aber schleppt man auf den nächsten Acker, zerstößt und zerprügelt ihn fürchterlich; alle Glieder seines Leibes sind zerschlagen, sein Gesicht unkenntlich. Eine Wache nimmt sich endlich seiner an, man bringt ihn in ein Bauernhaus, wo er auf Stroh liegend zwar vor Thätlichkeiten seiner Stadtfeinde, aber nicht vor Schimpf, Schadenfreude und Schmähen geschützt war. Doch auch damit ging es am Ende so weit, daß der Offizier niemand mehr hineinließ; auch mich, dem er es als einem Bekannten nicht abgeschlagen hätte, dringend bat: ich möchte diesem traurigsten und ekelhaftesten aller Schauspiele entsagen.»[10]
Eine ungeheure Szene in einem ungeheuren Zusammenhang, die allein geeignet ist, alle Behauptungen über Goethes Neigung zum stilistischen Euphemismus, zum Herabdämpfen historischer Wirklichkeit, zu relativieren. Es gibt solch verhüllendes Andeuten natürlich bei Goethe. Aber dass er zu anderem im Stande war, zeigt diese Szene. Dass sie aus seinem übrigen Werk heraussticht und sich in ihrer Gewaltsamkeit nur noch mit der Darstellung des Endes von Philemon und Baucis im zweiten Teil des «Faust» vergleichen lässt, sichert ihr eine besondere Stellung in Goethes Werk.[11] Zumal sie hinleitet zur berüchtigtsten und umstrittensten aller politischen Äußerungen, die Goethe getan hat, zu der Stelle, wo er sagt, es liege nun einmal in seiner Natur, er wolle lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen.
Am 27. Juli 1793, vier Tage nach der Kapitulation der französischen Besatzung von Mainz und dem damit verbundenen Ende der Mainzer Jakobiner-Republik, schrieb Goethe an seinen Freund Friedrich Heinrich Jacobi: «Es widersteht mir etwas aufzuschreiben von dem was ich sehe und höre, sonst hätte ich ein schönes Tagebuch führen können. Die Letzten Tage, der Capitulation, der Übergabe, des Auszugs der Franzosen gehören unter die interessantesten meines Lebens, ich wünsche dir einmal davon zu erzählen.»[1]
Und Goethe hat davon erzählt, wenn auch erst ein Vierteljahrhundert später. Er, der fast sechzig Jahre im Umkreis kleiner und großer Politik gelebt hat, der 1778 das Herzogtum, dem er diente, durch die Kriegsgefahr zwischen zwei benachbarten verfeindeten Großmächten zu steuern hatte, der zu diesem Zweck sogar nach Berlin und Potsdam reiste und das Arbeitszimmer Friedrichs des Großen betrat und bei dessen Bruder dinierte, der später auf Feldzügen vor Monarchen und Ministern aufwartete, der noch im hohen Alter lange politische Gespräche mit Wilhelm von Humboldt und dem Fürsten Metternich führte, der jahrzehntelang eine Korrespondenz mit dem Grafen Reinhard, der rechten Hand Talleyrands, unterhielt und der seine Unterredungen mit Napoleon im Oktober 1808 für einen Höhepunkt seines Lebens hielt – dieser welterfahrene, bis in die Details von Verwaltung und Gesetzgebung kundige dichtende Staatsmann hat über keinen einzelnen politischen Vorgang seiner eigenen Erfahrung ausführlicher erzählt als über die Kapitulation von Mainz im Juli 1793.[2]
Es ist keine glänzende Geschichte auf den Höhen der Gesellschaft, wo Fürsten, Feldherren und Diplomaten um die Geschicke ihrer Länder ringen, sondern ein hässlicher Vorgang von Hass und Wut, von Gewaltakten, von Menschen, die aus ihren Kutschen und von ihren Pferden gerissen werden, um dann so grausam verprügelt zu werden, dass ihre Gesichter unkenntlich werden. Eine Szene entfesselter Gewalt, die bis zum Mord zu eskalieren droht: Das ist das ausführlichste Bild zeitgenössischer Geschichte, das in Goethes Werken enthalten ist.
Die 1822 erschienene Darstellung, die Goethe fast am Ende seiner miteinander verbundenen Kriegschriften «Campagne in Frankreich 1792» und «Belagerung von Maynz» gibt, umfasst in einer modernen Ausgabe ziemlich genau sieben Druckseiten.[3] Die Skizze zur Unterredung mit Napoleon ist in Worten nicht einmal halb so lang. Nimmt man hinzu, dass schon der Brief an Jacobi von 1793 eine ganze Seite dichter Informationen dazu enthielt und dass der große Krach in der Rahmenhandlung der «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» von 1795 sich an Fragen entzündet, die mit dieser Kapitulation verbunden sind, dann darf man feststellen: Es war nicht einfach so dahingesagt, wenn Goethe von den interessantesten Tagen seines Lebens sprach. Zumal sich selbst in dem bürgerlichen, nur im Vordergrund idyllischen, vor dem Horizont des Revolutionszeitalters spielenden Epos «Herrmann und Dorothea» von 1797 Spuren von dieser politischen Erfahrung nachweisen lassen.
Sie hat Goethe also beschäftigt wie kaum eine andere. Daher ist es nicht einmal verwunderlich, dass einer der bekanntesten, am häufigsten bemühten Sätze Goethes zur Politik aus diesem Zusammenhang stammt. Selbst wer wenig von Goethe als Staatsmann und von seinem komplizierten Verhältnis zu den Umbrüchen seiner Zeit weiß, pflegt ihn mehr oder weniger genau zu kennen: «Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen.» Er steht am Ende des späten Berichts von der Mainzer Kapitulation und dient dort der Rechtfertigung für ein riskantes Einschreiten des Weimarer Geheimrats gegen eine wütende Menge, die sich anschickt, einen abziehenden «Clubbisten» – vielleicht ein Nutznießer oder Akteur der soeben ruhmlos zu Ende gegangenen Mainzer Republik – anzugreifen und möglicherweise sogar totzuschlagen. Es geht also ums Einschreiten in einer jener jakobinerfeindlichen Jagdszenen, wie sie sich schon im Frühjahr 1793 an vielen Orten in den zurückeroberten Rheinlanden ereignet und das Entsetzen einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Deutschland erregt hatten.
Gerechtigkeit und Ordnung: Heinrich und Thomas Mann im Jahre 1905.
Goethe entwickelt die Szenerie und die Umstände mit handgreiflicher Deutlichkeit, und doch hat sich sein ominöser Satz im 20. Jahrhundert eine Zeit lang aus seinem Kontext gelöst und verselbständigt. Seine herausgehobene Position am Ende des autobiographischen Gesamtwerks «Dichtung und Wahrheit» mag dazu beigetragen haben. War hier nicht in einer Maxime das Vermächtnis des revolutionsskeptischen Dichters insgesamt zusammengefasst, den die einen als Fürstenknecht schmähten, während die anderen ihn als unpolitischen Sachwalter bürgerlich-monarchischer Ordnung lobten?
Als Thomas Mann in bitterer Fehde mit seinem Bruder Heinrich 1918 in den «Betrachtungen eines Unpolitischen» die Figur des demokratisch gesinnten Zivilisationsliteraten zu einer feindseligen Karikatur stilisierte, berief er sich auf Goethe: «Der Zivilisationsliterat steht im ganzen nicht gut mit Goethe, dem Anti-Revolutionär, dem Quietisten, dem Fürstenknecht. Hundertmal hat er Voltaire gegen ihn ausgespielt, den Mann der Calas-Affaire gegen den, der zu sagen wagte, daß er lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung dulden wolle.»[4] Nun, das war nicht nur ungenau zitiert, es war auch leicht übertrieben: Genau ein Mal, 1910, hatte Heinrich Mann in einem Essay Goethe und Voltaire miteinander konfrontiert, allerdings mit scharfen Worten: «Goethe hat zur Menschheit die hohe, ferne Liebe eines Gottes zu seiner Schöpfung. Voltaire kämpft für sie im Staub (…). Sein [Goethes] Werk, der Gedanke an ihn, sein Name haben in Deutschland nichts verändert, keine Unmenschlichkeit ausgemerzt, keinen Zoll Weges Bahn gebrochen in eine bessere Zeit. Hinter seinem Sarge ging die Familie keines Calas. Er hat den Menschen, die schuldig werden müssen, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit nur in jenen Gefilden verheißen, mit denen Dichtung uns tröstet.»[5] Darauf antwortete nun Thomas Mann: Goethe habe nicht im Ernst an Freiheit «und» Gleichheit geglaubt. «Seine Sache ist die der sozialen Freiheit. Er ist der Feind der Demokratie, sofern diese sich als doktrinärer Selbstzweck und nicht als Mittel gebärdet.»
Goethe, der Feind der Demokratie und sogar der Gerechtigkeit, das ist es, was zunächst hängenblieb. Romain Rolland, der Deutschland verbundene französische Schriftsteller, griff den Zwist im Hause Mann 1927 noch einmal auf, als die Brüder sich schon wieder ausgesöhnt hatten. Im dritten Band seines Romans «Verzauberte Seele» lässt er einen jungen Menschen auftreten, der sich enttäuscht von Goethe abwendet. Er nennt ihn den «großen Egoisten, dem die Weltordnung lieber war als das Wohl des Nächsten und dem die Ruhe der Anschauung lieber ist als gefährliches Bekämpfen gegenwärtigen Übels». Und dann schloss dieser moderne Jüngling von 1927: «Was einem Goethe erlaubt ist, gilt nicht für uns. Die ewige Ordnung genügt uns nicht. Wir atmen in irdischer Ordnung. Und wenn die von Ungerechtigkeit verpestet ist, muss man den Glaskasten zertrümmern, damit man atmen kann.»[6] Also auch der Egoist Goethe, dessen kaltes Bildnis längst durch viel frühere Kritiker wie Ludwig Börne etabliert war, wurde mit dieser Sentenz verbunden. In seinem Stück «In Goethes Hand» ließ Martin Walser noch 1982 Ferdinand Freiligrath, den Freiheitsdichter des «Jungen Deutschland», die Sentenz von Ungerechtigkeit und Unordnung zitieren, um dann fortzufahren: «Das ist die Reaktion. Goethe hat immer nur der Selbstsucht, der Lieblosigkeit geschmeichelt; darum lieben ihn die Lieblosen. Er hat die gebildeten Leute gelehrt, wie man gebildet sein kann und doch ein Selbstling! Der große Dichter ist kein Vorbild für das richtige Leben und Handeln.»[7] Sicher, das ist Figurenrede, und doch spiegelt es ein geläufiges Goethe-Bild, dessen kritische Akzente immer wieder abrufbar bleiben.
Wie ungenau Goethes Diktum dabei nicht nur zitiert, sondern auch verstanden wird, hatte allerdings schon 1931 ein Essay von Paul Amann, dem deutschen Übersetzer von Rolland und Korrespondenzpartner von Thomas Mann, im «Jahrbuch der Sammlung Kippenberg» herausgearbeitet, der zwar in deutscher Sprache verfasst ist, aber als Verbeugung vor Romain Rolland einen französischen Titel trägt: «Plutôt une injustice qu’un désordre». Der Verfasser, der sich auf die gründlich-solide Erforschung der Mainzer Geschichte und Kriegsgeschichte von 1792/93 stützte, die im positivistischen 19. Jahrhundert von deutschen und französischen Autoren geleistet worden war, wollte mit einer Erinnerung an den historischen Kontext von Goethes auch in Frankreich sprichwörtlich gewordenem Satz der deutsch-französischen Annäherung einen Stein aus dem Weg räumen. Goethe, der Unordnung allgemein nicht leiden konnte, hatte einen Lynchmord verhindert – was war daran ungerecht? Auf welcher Seite lag hier überhaupt «Ordnung» und «Gerechtigkeit»? Wenn man genau hinsah, löste sich hier sogar der Gegensatz Voltaire-Goethe auf. Amanns dichter, allerdings ohne Einzelbelege daherkommender Aufsatz lieferte den Kommentaren in den modernen Goethe-Ausgaben, überhaupt der Germanistik noch bis übers neue Einsetzen der Jakobiner-Forschung in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hinaus das Faktenmaterial.[8] Seither ist es nicht mehr möglich, Goethes berühmten Satz aus dem konkreten Zusammenhang zu lösen, in den sein Urheber ihn selbst gestellt hatte.
Allerdings macht ihn das nicht unbedingt leichter verständlich, wie drei Beispiele zeigen mögen. Hans Mayer, der marxistische Literaturwissenschaftler, der auch Jurisprudenz studiert hatte, begriff ihn und die Episode, die Goethe auf ihn zulaufen lässt, als zugespitztes Beispiel für positivistisches bürgerliches Rechtsdenken. Wo Gerechtigkeit mit dem positiven Recht zusammenfällt, verschwindet auch der Gegensatz von Ordnung und Gerechtigkeit; gesetzliche Ordnung ist die Gestalt bürgerlicher Gerechtigkeit, die sich gegen die absolutistische Legitimität, also eine traditionale Form der Ordnung, durchsetzt: «Allein hier in Mainz», schrieb Mayer in seinem Goethe-Buch von 1973, «drohte nicht bloß, sondern vollzog sich gegenrevolutionäre Ungesetzlichkeit. Darum der persönliche, durchaus nicht gefahrlose Einspruch und Einsatz: es ging um bürgerliches Ordnungsdenken, nicht um absolutistische Legitimität.» Mayer rühmt die «literarische Sachlichkeit» von Goethes Erzählstil und zitiert verwandte Sätze aus den «Maximen und Reflexionen»: «Es ist besser, daß Ungerechtigkeiten geschehen, als daß sie auf ungerechte Weise behoben werden.» Und: «Es ist besser, es geschehe dir ein Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze.»[9] Und so kann Mayer zusammenfassen: «In einem schroffen juristischen Positivismus, der im Grunde bereits alle Thesen der Reinen Rechtslehre von Hans Kelsen vorwegnimmt, setzt Goethe die Gerechtigkeit gleich der Rechtspositivität.»[10]
So wurde aus dem vermeintlichen Fürstenknecht, der lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen wollte, unversehens ein gemäßigter, wenn auch kompromissloser Rechtsreformer. Der «Code Civil» lässt grüßen in dieser gewissermaßen napoleonischen Lesart, die gesellschaftliche Fortschrittlichkeit in durchaus autoritären Formen aufscheinen lässt.[11] Das fand der klassisch liberale Germanist Hans-Jürgen Schings 2009 nicht völlig falsch, aber «gewunden». Schings versteht Goethes Satz, der einen Lynchmord an Revolutionsanhängern untersagen soll, durchaus als Einspruch gegen die Revolution, nämlich als Umkehrung des Mottos «fiat justitia, et pereat mundus». Denn er richte sich gegen die «‹absolute› Gerechtigkeit der Volksjustiz und die todbringende ‹Unordnung›, die damit einherzugehen pflegt, vor Mainz wie in Paris».[12] Man könnte auch sagen: Mob bleibt Mob, gleichgültig, ob er Jakobiner zerfleischen will oder die Prinzessin von Lamballe. Und gegen die volkszornige «Gerechtigkeit» solchen Mobs helfen nur «Tabuzonen von Recht und Zivilisation», also eine «Ordnung», die auch mit Affektbeherrschung einhergeht.
Damit spitzte Schings die breiter angelegte Interpretation zu, die sein Schüler Michael Jaeger in einer großen Darstellung von «Goethes Phänomenologie der Moderne» gegeben hatte, die 2004 unter dem Titel «Faust Kolonie» erschien. Jaeger versteht die beiden späten Kriegsschriften Goethes als zeitdiagnostische Traktate über einen drohenden allgemeinen Bürgerkrieg zwischen Anhängern und Gegnern der Revolution. Gegen solches Eskalieren der «Parteiwut» im Zeichen intoleranter Gerechtigkeitsideen und ihrer ebenso intoleranten Feinde stelle Goethes Einschreiten und sein großer Satz «die Autorität des historisch bedingten positiven Rechts», jenes rule of law, das eine liberale Gesellschaftsphilosophie als Grundvoraussetzung der Freiheit begreife.[13]
Damit schließt sich der Kreis und führt wieder zurück zu jener «sozialen Freiheit», die Thomas Mann mit Berufung auf Goethe schon 1918 gegen die Demokratie als doktrinären Selbstzweck und zugleich gegen den Bruder Heinrich in Stellung brachte. Michael Jaegers Verständnis weiterdenkend, könnte man auch so argumentieren: Vor Mainz, im Juli 1793, verteidigte Goethe durch beherztes Eingreifen gegen eine rasende Menge das obrigkeitliche Gewaltmonopol («die Ordnung»), vielleicht autoritär (mit einer «Ungerechtigkeit» im Einzelnen), aber doch als Voraussetzung jener liberalen Ordnung, in der über Gerechtigkeit überhaupt erst sinnvoll gestritten werden kann.[14]
Alle diese sehr weitreichenden, ins Grundsätzliche gehenden Auslegungen von Goethes viel zitiertem Satz können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in einer unübersehbaren Spannung zur dargestellten Situation steht. Ob hier wirklich ein Widerspruch zwischen Ordnung und Gerechtigkeit bestand, und ob die Verhinderung einer wilden Lynchjustiz nicht ebensoviel mit alteuropäischer Legitimität zu tun hat wie mit bürgerlichem Rechtspositivismus – beides kann mit Blick auf die rechtliche Begrifflichkeit, mit der Goethe selbst seine Erzählung durchwirkt hat, durchaus bezweifelt werden. Wir kommen darauf zurück.
Vor dem Hintergrund solcher Fragen und Zweifel irritiert auch die ganz andere Tonlage, die Goethe ein Vierteljahrhundert früher, unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse, angeschlagen hatte. In dem Brief an Jacobi vom 27. Juli 1793, in dem er von den interessantesten Tagen seines Lebens spricht, deutet er kurz auf die Szenen hin, die er später so ausführlich darstellen sollte: «Am Chausseehauße [wo Goethe untergebracht war] schrie das Volk sein kreuzige», und dazu erwähnt Goethe einen Clubbisten, der ohne die Contenance französischer und preußischer Offiziere vom Pferd gerissen worden wäre. Andere werden tatsächlich erwischt, beraubt und verprügelt; in Mainz selbst wurde geplündert und weiter geprügelt. Dann Goethes Resümee: «Der Modus daß man die Sache gleichsam dem Zufall überließ und die Gefangennehmung von unten herauf bewirckte, deucht mich gut. Das Unheil das diese Menschen angestiftet haben ist groß. Daß sie nun von den Franzosen verlassen worden, ist recht der Welt Lauf und mag unruhigem Volck zur Lehre dienen.» Wie immer man die näheren Umstände rekonstruiert, auf die Goethe hier anspielt, unüberhörbar ist eine fast behagliche Zustimmung zu der irregulären Vorgehensweise («Zufall») einer Bestrafung durchs Volk («Gefangennehmung von unten herauf»). Volk also bestraft Volk – ist man da nicht ganz nah an jenem «bürgerlichen Krieg», vor dem Goethes späterer Bericht so eindringlich warnte? Erstaunlicherweise hat erst Karl Otto Conrady in seiner Goethe-Biographie von 1982 mit Entschiedenheit auf diese Inkongruenz hingewiesen: Goethes Brief vom 27. Juli 1793 widerspreche «wortwörtlich der später in den Memoiren behaupteten Version, er habe sich den Übergriffen widersetzt und sie verabscheut».
Denn nicht nur Goethes Urteil über die dargestellten allgemeinen Vorgänge scheint in dieser früheren Version vollkommen anders, er erwähnt auch mit keinem Wort ein besonderes eigenes Einschreiten zugunsten der bedrohten Jakobiner. Bei einem so spektakulären, in der späteren Version über mehrere Seiten ausgedehnten, in glanzvoll dramatisierter Form dargestellten Vorgang, darf man das verwunderlich nennen. Das Fehlen des kleinsten Hinweises darauf in dem unmittelbar danach geschriebenen Brief nährt den Verdacht, die große Szene könnte überhaupt eine spätere Erfindung sein.[15]
Der Vergleich zwischen Goethes frühem, aus unmittelbarer Augenzeugenschaft verfasstem brieflichen Bericht von der Kapitulation von Mainz im Juli 1793 und der viel breiteren, szenisch ausgestalteten, sentenziös abgeschlossenen Darstellung, die er ein Vierteljahrhundert später davon gab, führt unweigerlich zu einer doppelten Irritation: Erstens scheint unklar, was Goethes eigene Rolle bei diesem Vorgang war, zweitens – und wichtiger – erscheinen auch die moralisch-rechtlichen Beurteilungen, die er über wilde gegenrevolutionäre Volksjustiz zu den zwei verschiedenen Zeitpunkten abgab, diametral entgegengesetzt zu sein, und das bei einem Ereignis, das in Goethes mutmaßlich berühmteste, am häufigsten zitierte und am widersprüchlichsten interpretierte politische Maxime mündete.
Was ist 1793 wirklich passiert? Gab es überhaupt eine positiv formulierbare Rechtslage? Was war Goethes Rolle bei diesen Ereignissen, und wie haben sie in seiner späteren Reflexion über die Politik seiner Zeit nachgewirkt? Diese Fragen sollen in den folgenden Kapiteln beantwortet werden. Goethe, Deutschlands größter Dichter, war dabei, als der erste deutsche Demokratie-Versuch, die Jakobiner-Republik von Mainz, in wilden Prügeleien, in grausamen Szenen von Menschenhatz, zu Ende ging, und gerade dieser Vorgang hat ihn literarisch so intensiv beschäftigt wie kein anderer seiner Zeit. Also dürfen diese Fragen auch unser Interesse beanspruchen. Beantworten lassen sie sich allerdings nur, wenn man rückblickende Verallgemeinerungen und Nutzanwendungen[16] vergisst und versucht, die Ereignisse aus den Quellen und in der Sprache ihrer Zeit zu begreifen. Denn auf diese Sprache reagieren auch die Texte, die Goethe dem ersten, grausam gescheiterten Versuch gewidmet hat, die Revolution von Frankreich nach Deutschland zu verpflanzen.
Als im Herbst 1792, «in jenen unglücklichen Tagen, welche für Deutschland, für Europa, ja für die übrige Welt die traurigsten Folgen hatten» – um Goethes Formulierungen aus dem Ende 1794 niedergeschriebenen Beginn der «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» aufzunehmen –, «das Heer der Franken durch eine übelverwahrte Lücke in unser Vaterland einbrach»[1], da wollten die Soldaten der französischen Republik nicht als Eroberer kommen, sondern als Befreier. Die französische Nationalversammlung hatte, lange bevor der Krieg zwischen dem revolutionären Staat und dem Alten Europa begonnen hatte, am 22. Mai 1790 feierlich auf Eroberungskriege verzichtet und künftige Gebietserweiterungen Frankreichs von der Zustimmung der Betroffenen abhängig gemacht.[2]
Diese Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker enthüllte allerdings in dem Augenblick seine Vieldeutigkeit, als es tatsächlich zur Anwendung kommen sollte. Im Oktober 1792 besetzten französische Truppen Worms, Speyer, Mainz und Frankfurt am Main. In einem raschen Siegeslauf hatte der französische General Adam-Philippe de Custine nach dem Tag der Wende des Kriegsglücks bei Valmy am 20. September, an dem die Armeen der Preußen und Österreicher, die auf Paris marschierten, in einer langen Kanonade zum Stehen gebracht worden waren, viele linksrheinische Gebiete des Reiches erobert. Sie waren in der Tat «übelverwahrt», weil niemand in Deutschland mit militärischen Erfolgen des neuen revolutionären Regimes gerechnet hatte. In dieser Lage erklärte der Konvent in Paris am 19. November 1792 «im Namen der französischen Nation, dass er allen Völkern, die ihre Freiheit wiedererlangen wollen, Brüderlichkeit und Hilfe gewährt; er beauftragt die ausführende Gewalt, den Generalen die notwendigen Befehle zu geben, um diesen Völkern Hilfe zu leisten und die Bürger, die drangsaliert werden sollten oder um der Freiheit willen werden könnten, zu verteidigen».[3] Mit dem Irrealis – «qui auraient été vexés ou qui pourraient l’être pour la cause de la liberté» – war bereits eine auch präventive, also kaum eingrenzbare Lizenz zum Eingreifen postuliert worden. Und standen damit nicht auch schon die Verfassungsverhältnisse der besetzten Gebiete zur Disposition?
Haudegen mit Schnurrbart: Bürger General Custine auf einem deutschen Stich von 1793.
Einen Tag nach der Übergabe von Mainz, der symbolträchtigen, wohlhabenden Residenz des Erzbischofs und Kurfürsten, der als Erzkanzler und höchster Reichsstand den Vorsitz im Kollegium für die Wahl des deutschen Kaisers führte, erklärte General Custine am 22. Oktober 1792 in einer Ansprache, in der er seine Soldaten zu rücksichtsvollem Auftreten in der besetzten Stadt ermahnte, dass es sich nicht mehr um einen reinen Verteidigungskrieg handle: «Zugleich aber wollen wir die Freiheit und die Glückseligkeit, deren wir uns erfreuen, auch andern Völkern bringen. Betragt euch daher würdig unserer Gesetze und unserer Nation.»[4] Das überwiegend gute Auftreten der so ermahnten Soldaten ist übrigens in allen Quellen übereinstimmend bezeugt. Einen Tag später erläuterte Custine dies in einer Proklamation, die nicht nur an die Stadt Mainz gerichtet war, sondern als «Aufruf an das gedrückte Volk deutscher Nation» firmierte – unter diesem Titel war sie in deutscher Sprache sogleich in der «Mainzer Zeitung» zu lesen. Sie war also von Anfang an nicht als Maßgabe für eine örtliche Besatzung, sondern als Befreiungsprogramm für ein ganzes Volk, die deutsche Nation insgesamt, entworfen: angesichts der raschen ersten Kriegserfolge der Franzosen kein leeres Versprechen.
In diesem Manifest unterschied der General zwischen den «Despoten», gegen deren Aggression die Franzosen sich verteidigen mussten, und den von ihnen unterdrückten Völkern, denen sie Freiheit und Verbrüderung anbieten, vor allem aber politische Selbstbestimmung. Die folgenden Sätze wurden im Lichte der Zwangsmaßnahmen, die später kamen, immer wieder zitiert: «Euer eigener ungezwungener Wille soll Euer Schicksal entscheiden. Selbst dann, wenn Ihr die Sklaverei den Wohlthaten vorziehen würdet, mit welchen die Freiheit Euch winkt, bleibt es Euch überlassen, zu bestimmen, welcher Despot Euch Eure Fesseln zurückgeben soll.» Doch ließ bereits der Abschluss dieser ersten Proklamation unmissverständlich die Grenzen der Selbstbestimmung erkennen, denn Custine kündigte an, die Festung Mainz «in den fürchterlichsten Verteidigungszustand zu setzen» und sie selbst dann noch zu behaupten, «wenn das ganze Heer unserer Feinde sich gegen dieselbe verbinden sollte». Der eroberten Reichsfestung wurde eine neue Aufgabe zugewiesen: «Möge sie zur Brustwehr der Freiheit (le boulevard de la liberté) aller Völker des deutschen Reiches gedeihen! Mögen aus ihrem Busen diese Grundsätze ewiger Wahrheiten hervorgehen! Möge die Klarheit dieser Grundsätze alle Menschen ergreifen, deren Nacken noch unter dem Joch der Knechtschaft gebeugt ist.»[5]
Damit war von Anfang an – und noch vor den Konventsbeschlüssen vom 19. November und vom 15. Dezember – unmissverständlich ausgesprochen, dass es sich bei der französischen Okkupation der linksrheinischen Städte nicht um ein Besatzungsregime nach alteuropäischem Kriegsgebrauch handelte. Ein solches hatte Goethe als Kind erlebt, als französische Truppen Frankfurt im Siebenjährigen Krieg besetzten und damals auch sein Elternhaus mit Einquartierung belegten.[6] Selbstverständlich bedeutete auch eine einfache kriegerische Besatzung eine Suspension der hergebrachten obrigkeitlichen Verhältnisse. Besatzer mussten in solchen Situationen Unterkunft finden, sich ernähren, sich im Notfall gegen eine feindselige Umwelt sichern und verteidigen. Dafür arbeiteten sie mit den örtlichen Regierungen zusammen, und dabei schreckten sie naturgemäß auch vor Zwangsmaßnahmen nicht zurück. Doch hob das Kriegsrecht im Prinzip nicht die hergebrachte Verfassung und die autochthone Legitimität eines besetzten Territoriums auf. Auch eine gewöhnliche kriegerische Besatzung bedeutete unvermeidlich die begrenzte Aufhebung des Normalzustands, sie konnte ohne Zwang nicht bestehen, doch dieser Zwang wurde in der Regel pragmatisch eingesetzt – nur im Einzelfall mit Brutalität –, und grundsätzliche Verfassungsfragen stellten sich dabei erst einmal nicht. Das wird natürlich anders, wenn einer okkupierten Festung nahegelegt wird, dass aus ihrem Busen Grundsätze ewiger Wahrheiten hervorgehen mögen.
Wie grundsätzlich sich diese Fragen vom ersten Moment an stellten, zeigt das Beispiel von Goethes Geburtsstadt Frankfurt, die einen Tag nach Mainz, am 22. Oktober 1792, von den französischen Revolutionseinheiten besetzt, allerdings bereits am 2. Dezember von preußischen und hessischen Truppen zurückerobert wurde. Dabei genügten die wenigen Wochen der Besatzung nicht nur zur Eintreibung enormer Kontributionen, sondern auch zu einer fordernden Revolutionspropaganda, die den Frankfurter Bürgern im Kampf mit einer angeblich unterdrückerischen Obrigkeit einen ähnlichen Verfassungswechsel nahelegte, wie er gleichzeitig in Mainz ins Werk gesetzt wurde. Berühmt und oft zitiert ist die Antwort, die die Frankfurter Zünfte am 30. November dem «fränkischen Bürger und General Herrn Custine» auf solche Aufforderungen, die auch Anstiftungen zum sozialen Kampf zwischen oben und unten waren, gaben. Die Zunftmitglieder, deren Unterschriften allein einen ganzen Band füllten, erklärten in dem Sendschreiben ihre hohe Befriedigung mit der Obrigkeit, «die alle Lasten gemeinsam mit ihnen trägt», mit den Reichen in der Stadt, «die mit allen Kräften bemüht sind, das Elend der Armen zu lindern»; sogar mit den geringen Abgaben erklärten sie sich einverstanden und beteuerten, dass sie alle glücklich, alle zufrieden seien, und schlossen mit dem Wunsch, «dass die fränkische Nation mit ihrer neuen Verfassung so glücklich sein möge, als wir mit der unsrigen waren. Also erwarten wir von Ihnen, dass Sie uns bei dem für uns schätzbarsten Gut unserer bisherigen Verfassung und unserem davon abhängenden Wohlstand unverkürzt lassen.»[7]
Frankfurt war anders als Mainz nicht zugleich Residenzstadt, sondern nur eine Stadtrepublik mit bürgerlich-ständischer Selbstverwaltung, einer komplex austarierten Machtbalance zwischen Handwerkern, Kaufleuten, Patriziern, die wirtschaftliche und politische Verhältnisse gleichermaßen regelte. Diese traditionelle Stadtbürgerlichkeit hatte eigene, überkommene Freiheitsbegriffe, die sich von den abstrakten, universalistischen «Grundsätzen ewiger Wahrheiten» (principes d’ éternelles vérités), zu deren Brustwehr Custine die Festung Mainz hatte erklären wollen, so fundamental unterschieden wie Edmund Burkes revolutionskritisches Freiheitsverständnis von der Erklärung der Menschenrechte. Es bleibt bemerkenswert, dass sich dieser dann eine ganze Generation in Atem haltende Grundsatzkonflikt zwischen «Liberté» und «Libertät» schon beim allerersten Zusammenstoß der neuen und der alten Mächte auf deutschem Boden, in der Heimat Goethes an Rhein und Main, so klar artikulierte. «Wir sind bereits seit Jahrhunderten ein Freistaat», hieß es in einem «Schreiben eines Bürgers aus Frankfurt an Herrn Custine».[8]
Es ist für die Zwecke unserer Untersuchung nicht nötig, die überaus gründlich erforschte und oft erzählte Geschichte der Mainzer Republik samt ihrem Vorlauf in allen Einzelheiten zu wiederholen.[9] Dass die von dem Theologen Georg Wilhelm Böhmer im Auftrag von Custine begründete «Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit» – der Mainzer Jakobinerclub, zu dessen führenden Mitgliedern bald auch Georg Forster aufstieg – mit seinen 492 anfänglichen Mitgliedern einen durchaus beachtlichen Zulauf gewann und darüber hinaus viel Neugier erweckte, kann anerkannt werden, auch wenn man nüchtern festhält, dass weder in Mainz noch in den benachbarten Städten und Dörfern der Pfalz und Rheinhessens beim Eindringen der französischen Armee eine auch nur ansatzweise revolutionäre Situation herrschte. Bei schätzungsweise in der Stadt verbliebenen 20.000 Einwohnern, darunter etwa 7000 volljährigen Männern, bedeuten annähernd 500 Clubmitglieder (oder auch nur Club-Interessenten) eine Mobilisierung von etwa 6 Prozent der berechtigten Bevölkerung, was, wie moderne Parteienforscher wissen, mehr ist als der heutige prozentuale Mitgliederanteil an sämtlichen politischen Parteien. Dass diese Mitglieder sich überproportional aus Beamten und Intellektuellen, also dem Bildungsbürgertum, rekrutierten, und weniger aus Bauern, Unterschichten oder gar jenen Handwerkern, die in den alten Zünften ihr Auskommen gefunden hatten, kann nur von einem verbohrten rousseauistischen Standpunkt aus als Schönheitsfehler angesehen werden. Doch fand diese Mobilisierung eben unter der Anwesenheit von etwa 18.000 Besatzungssoldaten statt, einem Militärregime, das den allgemeinen Geschäftsgang der Verwaltung und die regulären Abgaben zunächst zwar weiterlaufen ließ, das aber gegenüber den Behörden, die nun modern zu einer «Munizipalität» umetikettiert wurden, immer das weisungsgebende letzte Wort behielt.[10]
Parteiversammlung statt Hofball: Mainzer Clubbistensitzung im kurfürstlichen Schloss.
Georg Forster im Jahre 1785.
Die Freiheit der Presse wurde eingeführt, und eine lebhafte revolutionäre Publizistik entstand, die noch bewundernswerter wäre, wenn Schriften «gegen das Volkswohl» nicht von vornherein von der neuen Freiheit ausgenommen worden wären.[11] Dass der Zulauf zu den neuen Ideen von Anfang an nicht zufriedenstellend war, zeigt eine Aktion des Clubs, an die später von der gegenrevolutionären Propaganda immer wieder mit beißendem Hohn erinnert wurde und für die sich hinterher sogar Georg Forster schämte. Am 8. November wurden in Mainz auf Initiative des Clubs zwei Bücher öffentlich ausgelegt, eines in rotes Saffian gebunden, das andere in schwarzes Papier. Das rote trug den Titel «Buch des Lebens», das schwarze war mit Ketten umwunden und auf ihm stand «Sklaverey». Die Bürger von Mainz wurden aufgefordert, sich in eines der beiden Bücher einzutragen. Im roten Buch sollten sie dabei einen Text unterzeichnen, dessen Kernsätze lauteten: «Wir Unterzeichnete huldigen dem Gesetz, welches die höchste Gewalt in die Hände des Volkes legt und dem Volke seine Rechte wieder gibt, diese Gewalt durch Personen ausüben zu lassen, die es sich selbst von Zeit zu Zeit wählt. Wir erkennen Freyheit und Gleichheit als die Hauptgrundsätze, worauf eine gute Staatsverfassung gebaut werden muß.»[12] Das Bekenntnis schloss mit dem Versprechen, die vorbildliche französische Verfassung zu übernehmen, vorbehaltlich einiger Anpassungen an die örtlichen zünftischen Verhältnisse.
Pressefreiheit gab es nur für Bürgerfreunde.
Mainz hatte unter dem Regime der französischen Verfassung also eine Freiheitsgesellschaft, eine revolutionäre Presse, aber keine echte Opposition. Dafür hatten die Bürger die Freiheit, öffentlich zu wählen zwischen dem «Leben» und der «Sklaverey». Diese Inszenierung kommentierte Georg Forster schon ein Dreivierteljahr später, nach dem Fall der Festung Mainz, in seiner Fragment gebliebenen, im fernen Arras verfassten «Darstellung der Revolution in Mainz» mit der Bemerkung, sie scheine eher «für die allegorisierende Einbildungskraft orientalischer Völker als für den kalten deutschen Sinn gemacht zu sein» und fragte: «Bleibt dort noch eine Wahl, wo Schande und Mißhandlung desjenigen wartet, der nicht zum rothen Buche geht?» Ja, der revolutionäre Forster geht noch weiter und erklärt, wer sich jenen Drohungen zum Trotz ins schwarze Buch eingeschrieben hätte, der hätte durch ein redendes Beispiel gezeigt, «was Freiheit und Unabhängigkeit des Willens sei». Man hätte also Freiheitssinn durch einen Eintrag im Buch der Sklaverei beweisen sollen, so weit hatte es die Mainzer Revolution bereits nach zwei Wochen gebracht. Forster schloss: «Zur Schande der deutschen Aristokratie fand sich kein Einziger, der diese kleine Kühnheit gezeigt hätte.»[13] Eine schale Kritik, da der Club hatte verlauten lassen, wer sich in keines der beiden Bücher eintrage, werde automatisch der schwarzen Partei zugerechnet, und im selben Moment andeutete, dass dieser Personenkreis bevorzugt für die Lasten der militärischen Besatzung herangezogen werde.[14] Neutralität sollte es in der neuen Freiheit nicht mehr geben dürfen.[*]
Immerhin 1500 Unterschriften fanden sich am Ende im «Roten Buch».[15] Doch die Wahl zwischen den beiden Büchern, was immer ihr rechtlicher Status war, konnte niemand im Ernst als Angebot zu freier Entscheidung verstehen; das Bekenntnis zu einer freien Verfassung wurde in einen Loyalitätsbeweis mit Zwangscharakter verwandelt. Das geschah noch vor dem berüchtigten Dekret des Pariser Konvents vom 15. Dezember 1792, das mit allen Vorstellungen von Wahlfreiheit und ungezwungenem Willen aufräumte. Französische Armeen waren im Winter 1792 an allen Fronten, in Belgien, am Rhein und in Savoyen über die alten Grenzen der Monarchie vorgestoßen.[16] Und nun wollte die Regierung in Paris, vor allem ihr Finanzminister, zwei Dinge miteinander verbinden: die Revolutionierung der unmittelbaren Nachbarländer bis zu den «natürlichen Grenzen» Frankreichs zur Sicherung der jungen Republik[17] und die Finanzierung dieser enormen kriegerischen Anstrengung. Beiden Zwecken diente das Dezemberdekret, das auch für die Mainzer Besatzung verbindlich wurde.
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