Autorin
Die Psychologin Dr. Susan Forward hat mit ihren Bestsellern »Liebe als Leid« und »Vergiftete Kindheit« Millionen Menschen in Beziehungskrisen geholfen. Sie ist eine international anerkannte Therapeutin mit eigener Praxis und arbeiter seit Jahren auch für Hörfunk, Fernsehen und Verlage.
Die Veränderung des eigenen Verhaltens ist kein linearer Prozeß und erfolgt auch nicht unmittelbar. Wenn Sie die Fertigkeiten, die Sie hier gelernt haben, zu einem festen Bestandteil Ihres Lebens machen, werden Sie feststellen, daß Ihr Weg nicht ohne Widerstände und Rückschritte verläuft. Vielleicht zögern Sie, oder Sie bekommen Angst, oder Sie geben sich Mühe und scheitern dennoch – daran ist nichts Ungewöhnliches, und dies stößt jedem Menschen dann und wann zu. Aber Sie werden sowohl aus Ihren Siegen als auch aus Ihren Niederlagen lernen.
Der Weg, zu dem Sie aufgebrochen sind, ähnelt einer Bergbesteigung, bei der man den Gipfel niemals erreicht. Kein Mensch ist derart wortgewandt und angstfrei, daß er immer die richtigen Worte findet, um den Druck und die Drohungen eines anderen zurückzuweisen. Gehen Sie freundlich und versöhnlich mit sich um. Während Sie daran arbeiten, diesen Berg der Veränderung zu besteigen, werden Sie vermutlich ab und zu nach oben blicken und denken: »Oh, Gott, der Weg ist noch so weit!« Dann drehen Sie sich einen Augenblick um und sehen hinunter auf die Stelle, an der Ihr Aufstieg begann. Sie werden erkennen, wie weit Sie schon gekommen sind.
Sobald Sie erst einmal aufhören, darauf zu warten, daß andere Menschen sich verändern, und selbst an Ihrem Verhalten zu arbeiten beginnen, können wirklich Wunder geschehen. Indem Sie auch nur eines Ihrer neuen Hilfsmittel zum Einsatz bringen, werden Sie Wellen der Veränderung in jede beliebige Beziehung tragen. Sehen Sie doch nur, was mit Liz und Michael geschehen ist.
»Können Sie sich vorstellen, wie sehr Michael sich verändert hat?« fragte Liz mich eines Tages. »Ich war wirklich keineswegs sicher, daß wir es schaffen würden.«
»Aber wer hat den ersten Schritt gemacht?« wollte ich wissen.
»Ich nehme an, das war ich«, sagte sie. »Ich hatte meine Zweifel, als Sie mir erklärten, wie es funktioniert, aber ich kann jetzt erkennen, daß die Beziehung es nicht überlebt hätte, wenn ich so weitergemacht hätte wie bisher.«
Liz setzte ein breites Lächeln auf, als sie ihre Handtasche öffnete und ein zusammengefaltetes Blatt Papier herausnahm. »Das ist ein Brief, den Michael für seine Therapie geschrieben hat, und er hat mich gebeten, ihn Ihnen zu zeigen.«
Was für ein Brief!
An den Erpresser in meinem Inneren:
Hallo,
ich muß ein paar Worte mit Dir wechseln. Ich hätte gerne Deine ungeteilte Aufmerksamkeit für eine Angelegenheit, die mir besonders wichtig ist.
Du hast mir nun schon seit geraumer Zeit eine Menge Schwierigkeiten bereitet. Ich habe nicht richtig durchschaut, was hier eigentlich los ist, bis mich Liz und John [Michaels Therapeut] auf Dich hingewiesen haben. Seither kann ich viele Dinge sehr viel besser verstehen, und Du und ich müssen jetzt ein ernstes Wort miteinander reden.
Ich leide augenblicklich unter den Spannungen und dem Unglück, die ich Deinetwegen verursacht habe. Wenn ich nur daran denke, wie kurz ich davor stand, alles zu verlieren, was ich liebe, weil ich, dumm wie ich war, daran glaubte, daß ich mich wirklich stark und verantwortlich fühlen würde, wenn ich meine Frau durch Tyrannei und Druck dazu brächte, alles zu tun, was ich wollte, dann bin ich entsetzt und wirklich wütend auf Dich.
Das Ausmaß meiner Gefühllosigkeit überrascht mich. Die Vorstellung, daß ich meiner Frau in die Augen geblickt habe und dabei gemein, erniedrigend und emotional grausam war und glaubte, damit ihre Fehler zu korrigieren, erfüllt mich mit Trauer um die verlorenen Augenblicke, um die verlorene Liebe und darüber, daß ich sie verletzt habe, daß ich genau das Gegenteil dessen getan habe, was ich fühle, daß ich das Allerwichtigste, die Würde und die Individualität des Menschen, weder respektiert noch geachtet haben.
Ich will Dir klarmachen, Herr Erpresser, daß in meinem Inneren kein Raum für Deine Strategie ist. Ich bin nicht bereit, in dieser Angelegenheit irgendwelche Kompromisse zu schließen. Ich mache nicht mehr mit.
Ich weiß, daß es nicht einfach sein wird. Es gibt noch viel zu lernen, viele Gewohnheiten zu durchbrechen und Ängste zu überwinden. Aber ich habe auch früher schon schwere Aufgaben bewältigt, die mir nicht so viel bedeutet haben wie das, also werde ich auch damit fertig werden. Deine Tage sind vorüber, und dieser Tag und der folgende sind etwas Neues.
Auf Nimmerwiedersehen,
Michael
Wie die meisten Opfer emotionaler Erpresser hatte auch Liz auf die Nachgebetaktik vertraut und daran geglaubt, daß sie Stabilität erreichen würde, indem sie Michaels Forderungen erfüllte. Sie konnte nicht wissen, daß sie sein Verhalten, das sie immer weiter voneinander entfernte, lediglich verstärkte. Sobald sie jedoch ihre Reaktionen auf ihn veränderte, öffnete sie die Tür für die Nähe, nach der sie sich beide sehnten.
»Ich kann dazu nur sagen, wenn so etwas möglich ist, dann glaube ich an Wunder«, meinte Liz. »Ich habe Michael zurückgewonnen – und mich ebenfalls.«
Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie, wenn Sie in diese Arbeit einsteigen, immer eine ebenso dramatische Reaktion von dem Erpresser in Ihrem Leben erfahren, wie Liz sie von Michael erhielt. Aber selbst wenn sich die Menschen in Ihrem Umfeld nur sehr wenig verändern: Sie werden verändert sein, und die Welt wird sich Ihnen anders darstellen. Sie werden keinen Zweifel daran haben, daß eine Beziehung, die nur dann eine Überlebenschance hat, wenn Sie den Erpressungsversuchen Ihres Partners nachgeben, daß diese Beziehung keine ist, die Ihr Wohlergehen fördert.
Ein wunderbares Gefühl der Normalität und des Gleichgewichts kehrt zurück, wenn es Ihnen gelingt, den Nebel aus Angst, übertriebenem Pflichtgefühl und Schuldgefühlen zu durchdringen und der emotionalen Tyrannei ein Ende zu setzen. Verwirrung und Selbstanklagen, die ein fester Bestandteil Ihrer Gefühle und Ihres Selbstbilds waren, verschwinden und werden durch ein neues Gefühl des Selbstvertrauens und der Selbstachtung ersetzt.
Mit jedem Schritt, den Sie tun, um Fertigkeiten zu lernen und anzuwenden, die Ihren emotionalen Erpresser entwaffnen, gewinnen Sie den Kern Ihres wahren Selbst zurück – Ihre Integrität. Diese kostbare Ganzheitlichkeit, um die Sie getrauert haben, war nie gänzlich verloren – nur verlegt.
Sie hat auf Sie gewartet.
Die Welt der emotionalen Erpressung ist verwirrend. Während einige Erpresser ihre Drohungen klar und deutlich zum Ausdruck bringen, senden andere möglicherweise sehr unterschiedliche Signale, geben sich die meiste Zeit freundlich und greifen nur ab und an auf emotionale Erpressung zurück. All dies macht es schwer zu erkennen, wann sich ein Manipulationsmuster in einer Beziehung entwickelt.
Selbstverständlich gibt es eindrucksvolle, unzweideutige Erpresser, die durchweg direkte Drohungen hinsichtlich dessen zum Ausdruck bringen, was geschehen wird, wenn man sich ihrem Willen nicht beugt, und die die Folgen mangelnder Unterwerfung in klare Worte fassen: »Wenn du mich verläßt, dann siehst du deine Kinder nie wieder.« »Wenn Sie mein Projekt nicht unterstützen, dann werde ich Sie so lange nicht zur Beförderung vorschlagen, bis Sie es tun.« Eindeutige Drohungen, klare Intentionen.
Sehr viel häufiger jedoch ist emotionale Erpressung viel subtiler und erfolgt im Umfeld einer Beziehung, die im großen und ganzen gut und positiv ist. Das Erpressungsopfer kennt die guten Tage des Erpressers und läßt es zu, daß die Erinnerungen an diese positiven Erfahrungen sein ungutes Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung ist, zudeckt. Emotionale Erpressung schleicht sich ein, schiebt sich leise über die Schwelle zwischen normalem, annehmbarem Verhalten und den Vorgängen, die zunächst das Wohlergehen des Erpreßten nur leicht beeinträchtigen und es dann schließlich zerstören.
Bevor man jedoch das Verhalten eines Menschen als emotionale Erpressung bezeichnen kann, muß es bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Die Diagnose erfolgt auf ähnlichem Wege wie jene, die ein Arzt bei einem Patienten mit körperlichen Beschwerden erstellt: durch die Betrachtung der Symptome. In dem folgenden Beispiel begegnen Sie zwei Menschen, die in einer Liebesbeziehung miteinander verbunden sind. Die Symptomatik stimmt jedoch überein, unabhängig davon, ob es sich bei den im Konflikt verbundenen Personen um Freunde, Kollegen oder Familienmitglieder handelt. Die Ausgangssituation mag unterschiedlich sein, aber die Taktiken und Handlungen sind klar erkennbar immer die gleichen.
Ein junges Paar aus meiner Bekanntschaft, Jim und Helen, ist nun seit etwas länger als einem Jahr zusammen. Helen, eine Literaturprofessorin an einem College, hat riesige braune Augen und ein vollkommenes Lächeln. Sie lernte Jim auf einer Party kennen, und er erschien ihr reizvoll. Er ist großgewachsen, besitzt eine leise, angenehme Stimme und arbeitet erfolgreich als Songschreiber. Beide sind einander sehr zugetan. Doch für Helen ist die Leichtigkeit aus ihrer Beziehung zu Jim verschwunden. Tatsächlich hat ihre Partnerschaft mittlerweile die sechs Stufen emotionaler Erpressung durchlaufen.
Um Ihnen eine klare Vorstellung davon zu vermitteln, wie die sechs Symptome emotionaler Erpressung aussehen und wie sie sich anfühlen, möchte ich Sie durch die vereinfachte Darstellung eines Konflikts führen, den Helen und Jim eines Tages miteinander auszutragen hatten. Sie werden feststellen, daß manche der Symptome sich auf Jims und andere auf Helens Verhalten beziehen.
1. Forderung
Jim will etwas von Helen. Er weist darauf hin, daß sie so viel Zeit miteinander verbringen, daß sie ebensogut zusammenziehen könnten. »Im Prinzip wohne ich ja bereits hier«, sagt er zu ihr. »Laß es uns einfach offiziell machen.« Ihre Wohnung ist riesig, und die Hälfte seiner Sachen ist ja auch bereits dort, fügt er hinzu, also handelt es sich nur um einen einfachen Übergang.
Manchmal drücken Erpresser nicht so deutlich wie Jim aus, was sie wollen, sondern überlassen es statt dessen dem Erpressungsopfer, herauszufinden, worum es geht. Jim hätte sein Anliegen auch indirekter vorbringen können, zum Beispiel indem er sich nach einer Hochzeit im Freundeskreis mürrisch zurückzieht, es Helen überläßt, die Erklärung für sein Verhalten aus ihm herauszulocken – »Ich wünschte, wir könnten einander näher sein, ich fühle mich manchmal so einsam« –, und schließlich zugibt, daß er gerne bei ihr einziehen würde.
Auf den ersten Blick wirkt Jims Vorschlag liebevoll und keineswegs fordernd. Doch schon bald wird deutlich, daß er in seinem weiteren Vorgehen festgelegt und nicht bereit ist, es zu diskutieren oder zu verändern.
2. Widerstand
Helen fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken an Jims Einzug und bringt ihren Unwillen zum Ausdruck, indem sie ihm erklärt, daß sie für diese Veränderung in ihrer Beziehung noch nicht bereit ist. Sie empfindet tiefe Zuneigung für ihn, aber sie möchte, daß er seine eigene Wohnung hat.
Wenn Helen ein weniger direkter Mensch wäre, dann würde sie vielleicht auf andere Weise Widerstand leisten. Sie könnte sich zurückziehen und weniger liebevoll sein oder ihm erklären, daß sie die Wohnung neu streichen lassen wolle und daß er daher seine Sachen zu sich zurücknehmen müsse, bis die Arbeiten erledigt seien. So wie die Dinge jedoch liegen, bringt sie ihren Widerstand unmittelbar zum Ausdruck. Die Antwort ist Nein.
3. Druck
Als Jim klar wird, daß Helen nicht so reagiert, wie er es will, versucht er nicht, ihre Gefühle zu verstehen. Vielmehr drängt er sie, ihre Meinung zu ändern. Anfangs tut er so, als sei er bereit, mit ihr über die Angelegenheit zu reden, aber das Gespräch wird einseitig und entwickelt sich zu einem Vortrag. Er verwandelt Helens ablehnende Äußerung in eine Feststellung ihrer Schwächen und bringt seine eigenen Wünsche und Forderungen in der positivsten Sprache zum Ausdruck: »Ich will nur das, was für uns am besten ist. Ich will dir nur mehr geben können. Wenn zwei Menschen einander lieben, dann sollten sie auch ihr Leben miteinander teilen wollen. Warum möchtest du das deine nicht mit mir teilen? Wenn du nicht so ichbezogen wärst, dann könntest du dein Leben ein wenig mehr für mich öffnen.«
Dann läßt er wieder seinen Charme spielen und fragt: »Liebst du mich denn nicht genug, um mich die ganze Zeit bei dir haben zu wollen?« Ein anderer Erpresser würde vielleicht den Druck erhöhen, indem er unerbittlich darauf besteht, daß sein Einzug die Beziehung verbessern und beide näher zusammenbringen würde. Welchen Stils der Erpresser sich auch bedient, Druck wird auf jeden Fall ins Spiel kommen, auch wenn er hinter wohlwollenden Worten verborgen ist – zum Beispiel indem Jim Helen zu verstehen gibt, wie sehr ihm ihr Zögern weh tut.
4. Drohungen
Da Jim auch weiterhin auf eine Mauer des Widerstands stößt, läßt er Helen wissen, daß sie mit Konsequenzen rechnen muß, wenn sie ihm nicht gibt, was er will. Ein Erpresser kann seinem Opfer drohen, ihm weh zu tun oder es unglücklich zu machen. Vielleicht gibt er ihm auch zu verstehen, wieviel Leid er mit seiner Weigerung verursacht. Möglicherweise versucht der Erpresser sein Opfer auch mit Versprechungen darüber zu betäuben, was er ihm alles geben und wie sehr er es lieben wird, wenn es doch nur auf seine Linie einschwenkt. Jim bearbeitet Helen mit verschleierten Drohungen: »Wenn es dir nach allem, was wir einander bedeuten, nicht möglich ist, dich auf diese Weise an mich zu binden, dann sollten wir vielleicht darüber nachdenken, ob es an der Zeit ist, andere Menschen kennenzulernen.« Er droht nicht direkt damit, die Beziehung zu beenden, doch Helen kann unmöglich überhören, was zwischen den Zeilen mitschwingt.
5. Unterwerfung
Helen will Jim nicht verlieren und sagt sich, trotz ihres fortbestehenden unguten Gefühls, daß es vielleicht falsch war, ihn nicht einziehen zu lassen. Sie und Jim sprechen nur oberflächlich über ihre Bedenken, und Jim macht keinen Versuch, sie zu zerstreuen. Wenige Monate später gibt Helen ihren Widerstand auf, und Jim zieht ein.
6. Wiederholung
Jims Sieg leitet eine ruhige Periode ein. Nun, da er seinen Willen durchgesetzt hat, übt er keinen weiteren Druck aus, und die Beziehung scheint sich zu stabilisieren. Helen fühlt sich noch immer nicht ganz wohl damit, wie sich die Dinge entwickelt haben, aber sie ist auch erleichtert darüber, daß der Druck fortgenommen ist und daß sie Jims Liebe und Anerkennung zurückgewonnen hat. Jim hat erlebt, daß er seine Ziele sicher erreicht, wenn er Helen unter Druck setzt und in ihr Schuldgefühle weckt. Und Helen hat festgestellt, daß sie Jims Taktik, sie unter Druck zu setzen, am schnellsten beendet, wenn sie ihm nachgibt. Damit ist das Fundament für ein Muster aus Forderungen, Druck und Unterwerfung gelegt.
Diese sechs Symptome stehen im Zentrum jeder emotionalen Erpressung, und ich werde daher im Verlauf dieses Buches immer wieder auf sie zurückkommen, um sie tiefer zu erforschen.
Diese Symptome erscheinen so deutlich und so beunruhigend, daß man glauben könnte, alle Alarmglocken müßten losschrillen, sobald sie auftauchen. Doch oft ist man tief in emotionaler Erpressung verstrickt, noch bevor man diesen Umstand zu durchschauen vermag. Teilweise ist dies darauf zurückzuführen, daß emotionale Erpressung sich eines Verhaltens bedient, mit dem man sowohl aktiv als auch passiv andauernd konfrontiert ist: der Manipulation.
Viele Formen von Manipulation sind nicht im geringsten beunruhigend. Jeder greift dann und wann im Umgang mit anderen auf Manipulation zurück und wird selbst manipuliert. Die meisten Menschen beherrschen eine Vielzahl von Varianten, um andere dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollen. Eine meiner liebsten lautet: »Ach, ich wünschte, jemand würde das Fenster öffnen«, statt: »Könntest du bitte das Fenster öffnen?«
Es ist erstaunlich, wie vielen Menschen es schon bei den kleinsten Dingen schwerfällt, direkt zu sein – von großen Projekten, bei denen viel auf dem Spiel steht, oder von bedeutenden Wünschen ganz zu schweigen. Warum fragt man nicht einfach? Weil Fragen riskant ist. Was geschieht, wenn der andere nein sagt? Andere Menschen auf direkte und klare Weise wissen zu lassen, was man will, ist etwas, wozu nur wenige bereit sind. Man fürchtet, sich in die Schußlinie zu begeben, indem man dem anderen sagt, was man will oder was man fühlt. Was ist, wenn man wütend wird oder, schlimmer noch, eine Zurückweisung einstecken muß? Wenn man nicht direkt fragt, dann ist auch das Nein des anderen kein direktes Nein, nicht wahr? Folglich läßt sich das unangenehme Gefühl wegerklären.
Außerdem vermeidet man es, zu aggressiv oder zu bedürftig zu erscheinen, wenn man seine Bedürfnisse nicht geradeheraus zum Ausdruck bringt. Es ist leichter, den Mitmenschen seine Wünsche auf indirektem Wege zu signalisieren, in der Hoffnung, daß sie zwischen den Zeilen lesen und erkennen, was man will: »Der Hund sieht so aus, als müsse er mal vor die Tür« (Wink mit dem Zaunpfahl).
Manchmal gelingt einem dies sogar ohne Worte. Eindeutige oder subtile Anspielungen – ein Seufzen, ein Schmollen, dieser berühmte Blick –, selbst in den besten Beziehungen wird auf sie zurückgegriffen. Doch es gibt eine klare Grenze zwischen alltäglicher Manipulation und ihrer bei weitem schädlicheren Variante. Manipulation wird zu emotionaler Erpressung, wenn sie vom Erpresser wiederholt dazu eingesetzt wird, den Erpreßten auf Kosten seiner eigenen Wünsche und seines Wohlergehens zur Einwilligung in die Forderungen des Erpressers zu zwingen.
Spricht man über emotionale Erpressung, dann geht es automatisch auch um Konflikte, Macht und Rechte. Wenn der eine etwas will und der andere nicht, wie sehr darf dann jeder von beiden drängen, um sich durchzusetzen? Zu welchem Zeitpunkt überschreitet ein Mensch mit dem Druck, den er auf einen anderen ausübt, die Grenze? Das ist eine verworrene Angelegenheit, insbesondere da heute so viel Wert auf den Ausdruck der Gefühle und das Ziehen von Grenzen gelegt wird. Denken Sie daran, es ist wichtig, nicht jeden Konflikt zum Ausdruck starker Gefühle oder vor allem jede Situation, in der auf gesunde Weise Grenzen gesetzt werden, als emotionale Erpressung zu bezeichnen.
Um Sie darin zu unterstützen, zwischen diesen Möglichkeiten klar zu unterscheiden, möchte ich Ihnen im folgenden mehrere Situationen vorstellen, in denen es um angemessenes Grenzensetzen geht, und Sie diese dann mit solchen vergleichen lassen, in denen die Schwelle zur emotionalen Erpressung überschritten wurde.
Keine emotionale Erpressung
Kurz nachdem meine Freundin Denise einen Verlag für einen Fotobildband gefunden hatte, in dem fast ein Jahr Arbeit steckte, berichtete sie mir von der folgenden Situation, die zwischen ihr und ihrer Freundin Amy entstanden war. Amy war ihre Kollegin gewesen in einer Werbeagentur und hatte sich wie Denise schließlich selbständig gemacht. Denise fragte sich, ob Amy sie emotional erpreßte.
Hier ist Denises Bericht:
Von Anfang an konnten wir über alles miteinander reden. Wir haben Stunden damit zugebracht, unsere Erfahrungen als Einzelkämpferinnen und bei der Gewöhnung an kleinere Rahmenbedingungen zu vergleichen – ursprünglich sind wir beide für große Agenturen tätig gewesen und vermissen das manchmal. Wir sprechen oft darüber, wie furchterregend es sein kann, wenn man auf sich allein gestellt ist, und tun viel, um uns gegenseitig zu unterstützen. Wir waren wirklich eng befreundet, bis ich ihr davon erzählte, daß ich an diesem Buch arbeitete.
Es hörte sich so an, als ob sie sich für mich freute, aber schon kurz darauf rief sie mich an und sagte mir: »Weißt du was, ich bin ein bißchen eifersüchtig. Ich arbeite im Augenblick gerade so hart, und trotzdem kann ich nicht viel in Bewegung setzen. Ich wäre dir dankbar, wenn du für eine Weile nicht über deine Arbeit reden könntest und darüber, wie aufregend sie für dich ist – das ist ein wunder Punkt für mich.« Also willigte ich ein. Und als ob nichts geschehen wäre, wechselten wir das Thema und fingen an, darüber zu sprechen, woran sie gerade arbeitete.
Wenn ich jetzt das Buch auch nur erwähne, dann unterbricht sie das Gespräch und sagt: »Es wäre besser, wenn du und ich nicht über dieses Thema reden würden.« Es fängt langsam an, sich für mich wie Druck anzufühlen, aber ich mag sie, und ich versuche, mich anzupassen und nach ihren Regeln zu spielen.
Auf den ersten Blick kann es so scheinen, als ob Amy Denise unter Druck setzt, um sich durchzusetzen, und das Geschehen zwischen ihnen kontrolliert, indem sie darüber entscheidet, worüber gesprochen werden darf und worüber nicht. In Wahrheit aber gesteht Amy ehrlich ihre Gefühle ein und sorgt gut für sich, indem sie Grenzen festlegt hinsichtlich dessen, wieviel von Denises guten Neuigkeiten sie vertragen kann. Amy hat das Recht, sich so zu verhalten. Es ist menschlich, Neid zu entwickeln, wenn ein anderer das erreicht, was man sich selbst wünscht, vor allem dann, wenn man sich gerade an einem Tiefpunkt im Leben befindet. Es gibt für jeden Menschen Zeiten, in denen man bestimmte Themen lieber meidet, und wie Amy hat jeder Mensch das Recht, in einem solchen Fall Grenzen zu ziehen. Denise hat ebenfalls das Recht zu entscheiden, daß sie die Grenzen, die Amy gezogen hat, nicht mag, und ihr Mißbehagen darüber auszudrücken oder weniger Zeit mit Amy zu verbringen.
In der geschilderten Situation hat Amy weder direkt noch indirekt Drohungen darüber ausgesprochen, was geschehen wird, wenn Denise ihrer Bitte nicht nachkommt. Außerdem wird auch nicht wirklich Druck ausgeübt; es werden lediglich Bedürfnisse und Gefühle zum Ausdruck gebracht. Ein Konflikt ist vorhanden, das stimmt. Ja, Denise fühlt sich unwohl mit der Veränderung in ihrer Beziehung. Ja, auch starke Gefühle spielen in dieser Situation eine Rolle. Aber nein, es handelt sich dennoch nicht um emotionale Erpressung.
Die Schwelle überschreiten
Nun möchte ich mit Ihnen die gleiche Situation betrachten und die typischen Merkmale für emotionale Erpressung hinzufügen. Ich denke, Sie werden deutlich wahrnehmen, wie anders die Atmosphäre ist und wie sehr sich das Szenario verändert. Angenommen, Amy reagiert auf Denises Neuigkeiten auf die folgende Weise: »Ich freue mich ja so, von deinem Buchprojekt zu hören! Du wirst natürlich schrecklich viel Arbeit damit haben. Wäre es nicht wunderbar, wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden? Ich könnte deine Assistentin sein.«
Wenn Denise entgegnet, daß sie diese Art Hilfe nicht braucht, dann sagt Amy: »Ich dachte, du seist meine Freundin. Du weißt doch, daß die Dinge für mich gerade nicht so gut laufen. Es war schon schwer genug, sich von Roger zu trennen, und dazu kommen noch, wie du weißt, meine finanziellen Probleme, seit ich diese großes Steuernachzahlung hatte. Ich bin die ganze letzte Zeit so deprimiert gewesen, daß ich kaum arbeiten konnte. Ich dachte, du seist die Sorte Mensch, die eine Freundin in der Not unterstützt.«
Da sie weiterhin auf Widerstand stößt, erhöht Amy den Druck und appelliert an Denises Großzügigkeit. »Ich kann nicht sehen, auf welche Weise es dir schaden könnte, dein Glück mit mir zu teilen«, sagt sie. »Du weißt doch, ich würde mich dir gegenüber genauso verhalten.« Sie fängt an, Denise als egoistisch und gierig zu bezeichnen und betont die Hoffnungslosigkeit ihrer eigenen Situation. Gleichzeitig droht sie damit, die Freundschaft abzubrechen, wenn Denise sie nicht als ihre Assistentin akzeptiert. Schließlich gibt Denise nach.
Dieses zweite Szenario enthält alle Symptome der emotionalen Erpressung: eine Forderung, Widerstand, Druck, Drohungen und die Unterwerfung. Und es ist eine Situation, die sich jederzeit wiederholen kann.
Einen anderen darum zu bitten, nicht über heikle Themen zu sprechen, ist zunächst einmal völlig harmlos. Wie aber verhält sich die Sache, wenn es sich bei dem Thema um eine ernstere Angelegenheit handelt: um die Affäre eines Partners, ein Alkoholproblem, Unehrlichkeit am Arbeitsplatz? In solchen Fällen sagen Menschen einander oft furchtbare Dinge, und das Ziehen von Grenzen mag sich noch mehr nach emotionaler Erpressung anhören, weil die Gefühle so stark sind. Doch gibt es auch hier einen deutlichen Unterschied zwischen angemessener Grenzsetzung und emotionaler Erpressung. Auch dies möchte ich anhand typischer Situationen zeigen.
Die Affäre
Ich kenne meinen Freund Jack und seine Frau Michelle seit Jahren, und ich habe schon immer die Qualität ihrer Ehe bewundert. Zwischen beiden – sie sind Musiker im Symphonieorchester – besteht ein großer Altersunterschied – Jack ist 15 Jahre älter als Michelle –, doch fühlen sie sich durch eine seltene Intimität verbunden. Eines Abends bot Jack an, mich zu der Operngruppe zu fahren, der wir beide angehören, und auf dem Rückweg ergab sich die Gelegenheit für ein Gespräch. »Woher kommt es, daß es so gut klappt zwischen euch beiden?« wollte ich wissen. »Wer hat euch das Geheimnis einer perfekten Ehe verraten?«
Jacks Antwort fiel anders aus, als ich erwartet hatte.
Um dir die Wahrheit zu sagen, die Dinge sahen nicht immer so gut aus zwischen uns. Jedenfalls war ich in meinem Verhalten nicht immer so korrekt. Ich werde dir etwas erzählen, wovon nur sehr wenige Menschen wissen. Vor drei Jahren bin ich in eine dumme Sache hineingeraten. Ich begann, mich mit einer jungen Frau zu treffen, die als Gastviolonistin im Orchester arbeitete. Die Affäre war kurz, aber ich hatte unglaubliche Schuldgefühle. Es war dumm. Einfach kurzsichtig. Ich konnte es nicht ertragen, die Affäre vor Michelle geheimzuhalten, und ich wußte, ich würde ihr nie wieder wirklich nahe sein, wenn ich sie ihr nicht beichtete. Also beschloß ich, daß es am besten für mich wäre, ihr die Wahrheit zu sagen und die Folgen, welche auch immer es sein würden, in Kauf zu nehmen.
Anfangs dachte ich, sie würde mich umbringen. Ein paar Wochen lang redete sie kaum ein Wort mit mir, und ich zog nach unten ins Fernsehzimmer. Doch dann überraschte sie mich. Sie erklärte mir, daß sie über alles nachgedacht habe und zu dem Schluß gekommen sei, daß wir einen Plan benötigten, wenn wir den Rest des Lebens miteinander verbringen wollten. Sie sagte, daß sie furchtbar wütend sei, aber daß sie mir trotzdem einen Handel vorschlagen wolle. Sie versprach, die Sache fallenzulassen, mich nicht immer wieder mit der Nase auf das zu stoßen, was ich angerichtet hatte, und die Angelegenheit nicht als Druckmittel einzusetzen, wenn sie etwas von mir wollte. Aber wenn ich mich ihr nicht wieder in einer ausschließlichen Partnerschaft überantworten, auf solche Dummheiten verzichten und mit ihr zu einer Beratungsstelle gehen würde, dann hätten wir keine Chance, es zusammen zu schaffen. Und wenn ich mich nicht dazu imstande sähe, diese Verpflichtungen einzugehen, dann könne sie die Ehe nicht aufrechterhalten, weil sie nicht dazu bereit sei, ein Leben voller Unsicherheit und Mißtrauen zu führen.
Ich erklärte Jack, daß er mit Michelle großes Glück habe, da sie auf gesunde Weise Grenzen zu ziehen wisse, ein Vorgang, den ich hier lediglich beschreiben und erst im zweiten Teil des Buches detaillierter betrachten möchte. Michelle brachte das Folgende klar zum Ausdruck:
Jeder Mensch hat das Recht, den anderen wissen zu lassen, daß sein Handeln unannehmbar ist. Jeder Mensch hat das Grundrecht, eine vergiftete Beziehung zurückzuweisen, egal ob dieses »Gift« in Form von Unehrlichkeit, Sucht oder einer beliebigeren Form von Mißbrauch auftritt.
Wenn sich der eine dem anderen wegen einer Entgleisung entgegenstellt, so wie Michelle dies bei Jack getan hat, dann kommen starke Worte und Gefühle zum Ausdruck, doch wenn Drohungen und Druck fehlen, dann handelt es sich nicht um emotionale Erpressung. Das angemessene Setzen von Grenzen hat nichts mit Zwang, Druck oder der wiederholten Darstellung des anderen als fehlerhaft zu tun. Es ist eine Aussage darüber, welche Art von Verhalten man in seinem Leben zulassen kann und welche nicht.
Die Vorgehensweise des Erpressers
Als Gegenbild zu Michelles Umgang mit einer solchen Krise dient das Beispiel eines Paares, das vor mehreren Jahren zu mir in die Praxis kam. Stephanies und Bobs Ehe war in Gefahr, und sie wechselten kaum noch ein Wort miteinander, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie waren ein gutaussehendes Paar Ende Dreißig. Bob arbeitete als Steuerprüfer und Stephanie als Immobilienmaklerin. Da es Bobs Idee gewesen war, zu mir zu kommen, bat ich ihn zu berichten.
Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann. Vor 18 Monaten habe ich einen furchtbaren Fehler gemacht, und das zerstört nun unsere Beziehung. Ich hatte eine kurze Affäre mit einer Frau, die ich auf einer Dienstreise kennengelernt hatte. Ich allein bin dafür verantwortlich. Es hätte nie geschehen dürfen. Aber es ist nun einmal passiert. Und ich tue mein Möglichstes, um Stephanie wieder zu versöhnen, denn ich liebe sie und möchte bei ihr bleiben. Wir führen ein gutes Leben miteinander und haben zwei wunderbare Kinder. Aber, Herrgott, sie behandelt mich wie einen Massenmörder. Sie will die Sache einfach nicht als erledigt betrachten.
Jetzt erwähnt sie den Vorfall jedesmal, wenn sie etwas von mir will. Sie bestimmt, wann ihre Eltern kommen und wie lange sie bei uns bleiben dürfen, alberne Sachen, wie in welchen Film wir gehen und was ich ihr kaufen muß, um sie zu besänftigen. Im Augenblick will sie, daß wir eine Reise nach Europa machen, obwohl ich gerade an einem wichtigen Fall arbeite und unmöglich Urlaub nehmen kann. Ich fände es wunderbar, wenn sie statt mit mir mit einer Freundin fahren würde, aber wenn sie sich einmal entschieden hat, dann will sie sich auch durchsetzen. Sie erwartet von mir, daß ich alles fallenlasse und ihr augenblicklich zur Verfügung stehe. Als ob das die natürliche Folge ist, weil ich sie betrogen habe. Sie sagt: »Du schuldest mir das. Und selbst wenn du tausend Jahre alt wirst, was du mir angetan hast, kannst du nie wiedergutmachen.« Wenn ich ihr nicht in allem nachgebe, dann erinnert sie mich ständig daran, was für ein Schuft ich war. Sie hat sogar einen gelben Haftzettel im Bad auf das Medizinschränkchen geklebt, auf dem sie mich als Betrüger beschimpft. Wie könnte ich mich da ihrem Willen nicht beugen? Ich fürchte, daß sie mich verläßt, wenn ich es nicht tue. Es ist wahr: Ich habe sie wirklich betrogen, und ich fühle mich deshalb entsetzlich, aber so kann es nicht weitergehen. Wie kommen wir aus diesem Sumpf wieder heraus?
Wie Michelle war auch Stephanie mit ihrer Wut im Recht. Doch ihre Reaktion auf Bob war bestrafend und kontrollierend. Tatsächlich handelte es sich dabei um Erpressung. Verängstigt und unsicher, wie sie sich nach Bobs Affäre fühlte, glaubte Stephanie fälschlicherweise, daß sie ihn an sich binden könnte, indem sie in ihm solche Schuldgefühle auslöste, daß er alles tun würde, was sie von ihm wollte. Fortwährend stempelte sie ihn als unmoralisch ab und setzte dabei seinen Fehltritt als Waffe ein. Ihre Drohung war klar und beständig: »Wenn ich von dir nicht bekomme, was ich will, dann sorge ich dafür, daß du unglücklich bist.« Ihre Botschaft lautete: »Jetzt habe ich die Kontrolle.«
Eine beispielsweise durch eine Affäre ausgelöste Krise kann eine gefährliche, aber auch eine Erfahrung voller neuer Möglichkeiten sein. Sie ist auch eine jener komplizierten Lebenssituationen, die das Potiential der emotionalen Erpressung in sich tragen. Michelle nutzte ihre Erfahrung als Chance, um ihre Beziehung mit Jack neu auszurichten und um klarzustellen, was sie von ihm, sich selbst und ihrer Partnerschaft erwartete. Doch Stephanie blieb in ihrer Wut und in ihren Rachegedanken stecken.
Jede Beziehung, die man trotz eines Fehlverhaltens aufrechterhält, birgt in sich die Möglichkeiten von Verletzung und Heilung: der Betrug durch einen Kollegen, ein zerstörerischer Riß in einer Familie, die Entdeckung, daß man von einem Freund hintergangen wurde. Doch wenn beide Parteien guten Willens und wirklich bereit sind, die Krise, welche die Beziehung beeinträchtigt, zu bewältigen, dann ist kein Platz für emotionale Erpressung.
Wie kann man herausfinden, ob der andere mehr daran interessiert ist, die Auseinandersetzung zu gewinnen oder das Problem zu lösen? Er wird es kaum offen zum Ausdruck bringen. Er wird sicherlich nicht vortreten und sagen: »Es ist mir vollkommen egal, was du willst, ich bin nur daran interessiert, meinen Willen durchzusetzen.« In einer emotional aufgeladenen Situation verschwimmt die Wahrnehmung, und dies nimmt noch zu, wenn der Druck wächst. Die folgende Liste wird Sie darin unterstützen, emotionale Erpressung als solche zu durchschauen, indem Sie die Ziele und Motive, die hinter dem Verhalten des Erpressers stehen, klarer erkennen.
Wer einen Konflikt mit Ihnen fair und liebevoll lösen will, der wird:
Wie an dem Beispiel von Michelle und Jack deutlich zu sehen war, ist es sehr wohl möglich, auf einen anderen Menschen wütend zu sein, ohne ihn aber emotional fertigmachen zu wollen. Meinungsverschiedenheiten, selbst gravierende, müssen nicht mit Beleidigungen oder Verurteilungen vermischt werden.
Wer vor allem als Sieger aus einem Konflikt mit Ihnen hervorgehen möchte, der wird:
Wenn Sie feststellen, daß ein anderer Mensch sich um jeden Preis durchzusetzen versucht, koste es Sie, was es wolle, dann sind Sie der grundlegendsten Verhaltensweise des emotionalen Erpressers begegnet.
Da wir uns hier mit Situationen beschäftigen, die vielleicht in emotionale Erpressung hineindriften könnten, und da wir nach entsprechenden Symptomen und Motiven suchen, stelle ich Ihnen eine weitere Frage: Wie beweglich sind Sie, und wieviel Flexibilität lassen Sie in der Beziehung zu?
Wenn emotionale Erpressung in einer Partnerschaft Fuß faßt, dann verändert sich die Atmosphäre erheblich. Wie sich dem Beispiel von Stephanie und Bob entnehmen läßt, gerät die Beziehung in eine Sackgasse. Drohungen und Druck gehören plötzlich zum alltäglichen Umgangston. Emotionale Kälte breitet sich aus, und es wird fast unmöglich, mit der gewohnten Beweglichkeit durch die größeren und kleineren Stürme zu navigieren.
Ist ausreichend Flexibilität vorhanden, dann nimmt man sie leicht als gegeben hin. Jeden Tag handelt man ohne große Schwierigkeiten oder traumatische Erfahrungen die unzähligen Einzelheiten des Lebens aus – in welchem Restaurant man ißt, in welchen Film man geht, welche Farbe die Wände im Wohnzimmer haben sollen oder wohin der Betriebsausflug gehen wird. Tatsächlich spielt es in vielen Fällen gar keine so große Rolle, welche Entscheidung schließlich getroffen wird, und meist setzt sich die Person mit den stärksten Vorstellungen durch, weil sich die übrigen nicht genau äußern. Doch trotz normaler Meinungsverschiedenheiten und Manipulationen gibt es dennoch ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen, ein Gefühl für Ausgewogenheit und Fairneß. Es ist nicht schwer, auch ohne negative Nebenwirkungen in vielen Dingen nachzugeben und die Bedürfnisse des Ichs auf andere Weise rasch und effektiv zu erfüllen. Dabei geht man automatisch davon aus, daß der andere ebenfalls von Zeit zu Zeit nachgibt.
Wenn jedoch die Bereitschaft zum Kompromiß zu verschwinden droht, dann wird der Status quo zur Schablone für die Zukunft. Es fühlt sich an, als seien jegliche Veränderungen und das Ablegen einer nicht immer ganz passenden Rolle plötzlich verboten. Man fühlt sich wie erstarrt.
Als ich ein Kind war, da habe ich mit meinen Freunden ein Spiel gespielt, das Brennball heißt. Wer vom Ball getroffen wurde, der war gebannt, mußte in der Position stehenbleiben, die er im Augenblick der Berührung eingenommen hatte, und durfte sich nicht mehr bewegen, bis das Spiel vorbei war. Eine Wiese, auf der dieses Spiel stattfand, sah aus wie ein Skulpturengarten, übersät mit Kindern, welche die merkwürdigsten und witzigsten Haltungen einnahmen. Emotionale Erpressung erinnert stark an Brennball, doch es handelt sich dabei nicht um ein Spiel. Sobald Erpressung sich in einer Beziehung breitmacht, erstarrt diese und bleibt in Mustern aus Forderungen und Kapitulationen stecken. Auf einmal ist es nicht mehr möglich, die eigene Einstellung zu einer Sache zu ändern oder die Position zu wechseln.
Allen ist ein lebhafter, lustiger Mann, der ein kleines Möbelhaus besitzt. Doch als er das erste Mal zu mir kam, um seine Schwierigkeiten mit seiner neuen Frau Jo zu schildern, da war sein Gesichtsausruck düster.
»Ich dachte, Jo ist genau das, was ich will – sie ist hinreißend, hat einen wunderbaren Sinn für Humor, und sie ist klug«, begann er.
»Hört sich gut an für mich«, sagte ich. »Warum also das lange Gesicht?«
Ich weiß einfach nicht, ob das funktionieren kann. Ich weiß, daß sie mich liebt, aber mir gefällt nicht, was mit uns geschieht. Wenn ich andeute, daß ich Zeit ohne sie verbringen will – meine Freunde versuchen immer mich zu überreden, mit ihnen ins Kino oder nach der Arbeit noch einen trinken zu gehen –, dann gibt sie sich tief verletzt. Sie sieht mich mit diesen großen, traurigen Augen an und sagt: »Was ist los? Langweilst du dich mit mir? Möchtest du nicht mehr mit mir zusammensein? Ich dachte, du bist verrückt nach mir.«Wenn ich entsprechende Pläne schmiede, dann schmollt sie, rechtet mit mir und läßt mich mit klaren Worten wissen, wie unglücklich ich sie mache. Ich hatte keine Ahnung, daß sie so anlehnungsbedürftig ist. Mir macht es nichts aus, wenn sie mit ihren Freunden losziehen will, aber daran ist sie immer weniger interessiert. Es kommt mir so vor, als befände sie sich am liebsten in meiner Tasche. Einmal habe ich tatsächlich den Mut aufgebracht, trotzdem mit meinen Freunden auszugehen. Danach hat sie den Rest der Woche nicht mehr mit mir gesprochen. Ich dachte, sie ist die Richtige – sie ist großartig –, aber inzwischen spüre ich eine Menge Groll. Wir haben in so vielerlei Hinsicht eine gute Beziehung. Aber verdammt, sie ist ganz schön versessen darauf, sich durchzusetzen.
Wenn unselbständige Menschen sich auf eine Beziehung einlassen, dann geraten sie leicht in Panik, wenn ihre Partner Aktivitäten nachgehen wollen, die sie ausschließen. Sie sehen sich der Angst vor dem Verlassenwerden und vor der Zurückweisung ausgesetzt, und statt über diese Gefühle zu sprechen, halten sie sie unter Verschluß. Schließlich sind sie ja erwachsen und sollten unabhängig sein und sich nicht wie ängstliche kleine Kinder fühlen. Als Jo feststellen mußte, daß Allen mehr Freiraum für sich brauchte, da drückte sie ihre Gefühle indirekt aus, statt sie klar zu verbalisieren. Sie sorgte dafür, daß Allen sich schuldig fühlte, wenn er eine vollkommen normale Sache tun wollte, nämlich alleine ausgehen.
Allen gab sich viel Mühe, sie zu verstehen.
Sie hat es als Kind schwer gehabt, und ich weiß also, warum sie so hilflos ist. Ich mache es ihr nicht zum Vorwurf, daß sie sich unsicher fühlt. Manchmal fühlt es sich auch großartig an, eine Frau zu haben, die mich so sehr will, daß sie mich nicht aus den Augen läßt. Aber, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, das fängt an, mich runterzuziehen. Sie bekommt immer, was sie will, indem sie mir furchtbare Schuldgefühle macht. Und ich fühle mich wie ein Schwächling, weil ich ihr immer nachgebe.
Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, erkannte Allen sehr wohl, daß sich hinter Jos bittenden Blicken und diesen bezaubernden, scheinbar liebevollen Aussagen eine Forderung verbarg, die durch gut plazierten Druck unterstützt wurde. Jo erwartete von ihm, daß er all seine freie Zeit mit ihr verbrachte – das war die einzige Rolle, die sie ihm bereitwillig zugestehen wollte. Er durfte keinen eigenen Interessen oder Aktivitäten nachgehen. Doch Allen reagierte auf eine Weise, wie es viele Opfer emotionaler Erpressung vor allem anfangs tun: Er entschied im Zweifelsfall zu ihren Gunsten und entschuldigte ihr Klammern mit ihrer schwierigen Kindheit.
Außerdem reagierte er wie viele Menschen, die von Hilflosigkeit oder Besitzdenken unter Druck gesetzt werden: Er interpretierte es falsch als Zeichen dafür, wieviel sie sich aus ihm machte. Im Verlauf des Buches wird noch klarwerden, daß Verständnis und Mitgefühl bei einem emotionalen Erpresser zu nichts führen. Tatsächlich wirken sie so, als gieße man noch Benzin in die Flammen der Erpressung.
Wenn Sie gelernt haben, die Symptome der emotionalen Erpressung in einer beliebigen Beziehung zu unterscheiden, dann fühlen Sie sich vielleicht so, als habe man Ihnen den Teppich unter den Füßen fortgezogen. Plötzlich wird Ihnen bewußt, daß Sie Ihren Partner, einen Elternteil, Ihren Bruder, Ihren Vorgesetzten oder Freund gar nicht kennen. Es ist etwas verlorengegangen. Der Spielraum für Kompromisse oder Beweglichkeit ist eingeschränkt. Das Gleichgewicht der Macht ist gestört, denn der eine scheint sich permanent auf Kosten des anderen durchzusetzen. War anfangs keine »Bezahlung« für Liebe und Respekt erforderlich, ist es nun, um nicht in Ungnade zu fallen, zunehmend wichtiger, ob der Erpresser seine Bedürfnisse durchsetzen kann.