Herausgegeben von
Horst Clages, Leitender Kriminaldirektor a.D.,
Wolfgang Gatzke, Direktor LKA NRW a.D.
Band 21
Standardmaßnahmen
im Ermittlungsverfahren
von
Detlef Averdiek-Gröner
und
Christoph Frings
E-Book
1. Auflage 2014
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2014
ISBN 978-3-8011-0742-0
Buch
1. Auflage 2014
© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2014
ISBN 978-3-8011-0742-0
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-8011-0741-3
epub-ISBN: 978-3-8011-0742-0
www.VDPolizei.de
Dieser Lehr- und Studienbrief richtet sich in erster Linie an die Studierenden der Polizeifachhochschulen der Länder und des Bundes, aber auch an interessierte Beamtinnen und Beamte der kriminalpolizeilichen Ermittlungspraxis und des Wach- und Wechseldienstes.
Das Ermittlungsverfahren und die damit verbundenen Standardmaßnahmen bieten sowohl im täglichen Dienst als auch in der Aus- und Fortbildung vielfältige rechtliche und praktische Problemstellungen. Als solche Standardmaßnahmen haben sich seit Jahrzenten u.a. die Durchsuchung und Beschlagnahme, die vorläufige Festnahme, die erkennungsdienstliche Behandlung sowie die Vernehmung und die Wiedererkennungsmaßnahmen etabliert. Auch in Zeiten des Computers und neuer Ermittlungsmethoden hat sich am Stellenwert dieser Ermittlungsmaßnahmen als „Grundgerüst“ vieler Verfahren wenig geändert. Mit aufgenommen haben wir in dieses Buch die Entnahme von Körperzellen, die sich neben der ED-Behandlung – bei Vorlage der entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen – als Standardmaßnahme etabliert hat.
Mit den nachfolgenden Ausführungen wollen wir einen aktuellen Überblick über rechtliche Rahmenbedingungen, kriminaltaktische Problemstellungen und erfolgskritische Umstände geben. Auch in einem Ermittlungsverfahren ist die Beachtung der Eigensicherung eine unumgängliche Voraussetzung professionellen Einschreitens. Das Einsatzmodell aus der Einsatzlehre bietet auch in kriminalpolizeilich dominierten Einsatzlagen eine wertvolle Struktur für eine erfolgreiche Bewältigung der Lage.
Dem Inhalt vorangestellt ist zum besseren Verständnis ein „Leitsachverhalt“. Zu den denkbaren klausurtypischen Fragestellungen sind am Ende des Buches entsprechende Lösungsskizzen enthalten. Die Inhalte der Fachkapitel werden, soweit möglich, jeweils anhand dieses Leitsachverhaltes erläutert; kenntlich wird das am kursiv geschriebenen Text.
Bei den Organisations- und Ablaufstrukturen haben wir uns an den Gegebenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen orientiert.
Detlef Averdiek-Gröner | Christoph Frings |
Vorwort
Abbildungsverzeichnis
1 | Leitsachverhalt |
2 | Die Polizei im Ermittlungsverfahren |
2.1 | Aufgabenstellung der Polizei im Ermittlungsverfahren |
2.2 | Grundlagen der Beweisführung |
2.3 | Beweisverbote |
2.4 | Aktenführung |
3 | Ermittlungsmaßnahmen |
3.1 | Vorüberlegungen |
3.2 | Aufgaben des Strafprozesses |
3.3 | Doppelfunktionalität staatlichen Handelns |
3.4 | Verhältnismäßigkeitsprinzip und Übermaßverbot |
3.5 | Polizeiliche Zwangsanwendung |
3.6 | Standardmaßnahmen |
4 | Beschlagnahme |
4.1 | Begriff der Beschlagnahme |
4.2 | Ziel der Beschlagnahme |
4.2.1 | Beschlagnahme zur Beweisführung |
4.2.2 | Beschlagnahme von Einziehungsgegenständen |
4.2.3 | Beschlagnahme von Verfallsgegenständen |
4.2.4 | Beschlagnahme von Führerscheinen |
4.2.5 | Präventiv-polizeiliche Sicherstellung |
4.3 | Beschlagnahme bei Gemengelagen Gefahrenabwehr/Strafverfolgung |
4.4 | Beweissichere Durchführung von Beschlagnahmen |
4.5 | Anordnung der Beschlagnahme / Formvorschriften |
5 | Durchsuchung |
5.1 | Begriff und Ziele der Durchsuchung |
5.2 | Durchsuchung beim Verdächtigen |
5.2.1 | Ergreifungsdurchsuchung |
5.2.2 | Ermittlungsdurchsuchung |
5.3 | Durchsuchung bei Unverdächtigen |
5.4 | Durchsuchung bei Gemengelagen Gefahrenabwehr/Strafverfolgung |
5.5 | Einsatztaktischer Ablauf von Durchsuchungen |
5.5.1 | Vorbereitungsphase |
5.5.2 | Aktionsphase |
5.5.3 | Nachbereitungsphase |
5.6 | Beweissichere Durchführung der Durchsuchung |
5.7 | Anordnung der Durchsuchung/Formvorschriften |
6 | Festnahme |
6.1 | Begriff der Festnahme |
6.2 | Ziel der vorläufigen Festnahme |
6.3 | Rechtsgrundlagen der vorläufigen Festnahme |
6.4 | Einsatztaktischer Ablauf der vorläufigen Festnahme |
6.4.1 | Vorbereitungsphase |
6.4.2 | Aktionsphase |
6.4.3 | Nachbereitungsphase |
6.5 | Anordnung der Festnahme/ Formvorschriften |
7 | Erkennungsdienstliche Behandlung |
7.1 | Begriff der erkennungsdienstlichen Behandlung |
7.2 | Ziel der erkennungsdienstlichen Behandlung |
7.3 | Rechtsgrundlagen der erkennungsdienstlichen Behandlung |
7.4 | Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung |
7.5 | Verbleib und Aufbewahrung der gewonnenen Unterlagen |
7.6 | Rechtsschutzmöglichkeiten |
8 | Entnahme von Körperzellen |
8.1 | Begriff der Entnahme von Körperzellen |
8.2 | Ziel der Entnahme von Körperzellen |
8.3 | Rechtsgrundlagen zur Entnahme von Körperzellen |
8.4 | Durchführung der Entnahme von Körperzellen |
8.5 | Besonderheiten |
8.6 | Anordnung der Entnahme von Körperzellen/ Formvorschriften |
9 | Vernehmung |
9.1 | Begriff der Vernehmung |
9.2 | Ziel der Vernehmung |
9.3 | Differenzierung zwischen polizeilicher, staatsanwaltschaftlicher und richterlicher Vernehmung |
9.4 | Differenzierung zwischen Spontanäußerung, informatorischer Befragung und Vernehmung |
9.5 | Strafprozessuale Belehrungspflichten bei Vernehmungen |
9.5.1 | Belehrung von Zeugen |
9.5.2 | Belehrung von Tatverdächtigen |
9.5.3 | Belehrung von Beschuldigten |
9.6 | Psychologische Aspekte der Vernehmung |
9.7 | Vernehmungsvorbereitung |
9.8 | Vernehmungsdurchführung |
9.9 | Dokumentation der Vernehmung |
9.10 | Qualität der Vernehmung |
9.11 | Vernehmung von Jugendlichen im Ermittlungsverfahren |
9.12 | Anhörung von Kindern im Ermittlungsverfahren |
9.13 | Vernehmung von ausländischen Zeugen und Beschuldigten |
9.14 | Zeugenaussage trotz ärztlicher Schweigepflicht |
9.15 | Zeugen im öffentlichen Dienst |
10 | Wiedererkennungsverfahren |
10.1 | Begriff des Wiedererkennungsverfahrens |
10.2 | Rechtsgrundlagen zu Wiedererkennungsverfahren |
10.3 | Gegenüberstellung |
10.3.1 | Simultane Wahlgegenüberstellung |
10.3.2 | Sequenzielle Wahlvideogegenüberstellung |
10.3.3 | Sequenzielle Wahlgegenüberstellung |
10.3.4 | Identifizierung Beschuldigter im Rahmen von Fahndungsmaßnahmen |
10.4 | Wahllichtbildvorlage |
10.5 | Lichtbildvorzeigekartei |
10.6 | „Phantombilderstellung“ |
10.7 | Öffentlichkeitsfahndung |
10.8 | Lichtbildvergleich/GES-Recherche |
11 | Lösungsskizze zum Leitsachverhalt |
Zu den Autoren
Literaturverzeichnis
Abb. 1: | Grafische Darstellung eines Strafverfahrens |
Abb. 2: | Phasen der Ermittlungsführung |
Abb. 3: | Beweismittel im Überblick |
Abb. 4: | Beweisverbote |
Abb. 5: | Amtliche Inverwahrungnahme von Beweismitteln |
Abb. 6: | Übersicht zur alternativen Beschlagnahme von Beweismitteln |
Abb. 7: | Schaubild zur Sicherstellung/Beschlagnahme von Führerscheinen |
Abb. 8: | Übersicht zur Beschlagnahme von Beweismitteln, Einziehungs- und Verfallsgegenständen |
Abb. 9: | Übersicht zur Durchsuchung beim Verdächtigen |
Abb. 10: | Durchsuchungen bei anderen Personen |
Abb. 11: | Gebäudedurchsuchungen |
Abb. 12: | Chronologischer Ablauf einer (Wohnungs-)Gebäudedurchsuchung |
Abb. 13: | Vorläufige Festnahme |
Abb. 14: | Chronologischer Ablauf einer Festnahme |
Abb. 15: | Rechtsgrundlagen der erkennungsdienstlichen Behandlung |
Abb. 16: | ED-Behandlung |
Abb. 17: | DNA-Analyse im anhängigen Strafverfahren |
Abb. 18: | DNA-Analyse für zukünftige Strafverfahren |
Abb. 19: | Polizeiliche, staatsanwaltschaftliche und richterliche Vernehmung im Überblick |
Abb. 20: | Gesprächsformen im Strafverfahren |
Abb. 21: | Übersicht über Zeugnisverweigerungsrechte |
Abb. 22: | Übersicht zu Belehrungspflichten |
Abb. 23: | Vorbereitung einer Vernehmung |
Abb. 24: | Phasen einer Vernehmung |
Abb. 25: | Aufzeichnungen von Vernehmungen |
Abb. 26: | Einflussgrößen zum Aussageverhalten |
Abb. 27: | Zeugnisverweigerungsrechte des Kindes |
Abb. 28: | Gegenüberstellung im Überblick |
Abb. 29: | Simultane Wahlgegenüberstellung |
Abb. 30: | Sequenzielle Wahlvideogegenüberstellung |
Abb. 31: | Sequenzielle Wahlgegenüberstellung |
Abb. 32: | Wahllichtbildvorlage |
Abb. 33: | Einsichtnahme in die Lichtbildvorzeigekartei |
Abb. 34: | Öffentlichkeitsfahndung |
Im Bereich des Polizeipräsidiums (PP) D-Stadt gibt es derzeit im südlichen Stadtbereich seit ca. 6 Wochen eine auffällige Häufung von Raubüberfällen auf Tankstellen. Im Monat November wurden im südlichen Stadtbereich insgesamt drei Raubüberfälle auf Tankstellen verübt.
Bei allen drei Überfällen wurden nur Tankstellen ohne Nachtschalter überfallen und die nur mit einer Angestellten besetzt waren. Tatzeit war stets freitags zwischen 21.30 und 22.30 Uhr. Hinweise auf ein mögliches Täterfluchtmittel haben sich bislang nicht ergeben.
Nach der derzeit gültigen Zuständigkeitsregelung des PP D-Stadt ist die Bearbeitung dieser Raubdelikte einem Fachkommissariat der Direktion Kriminalität zur Bearbeitung zugewiesen.
Heute, am 21.12. wurde gegen 21.45 auf der Leitstelle Düssel ein Überfall auf die
STERN-Tankstelle in
D- Stadt, Oberrather Str. 59,
ausgelöst. Durch die Leitstelle wurden umgehend 2 Funkstreifenwagen zum Objekt entsandt, weitere Fahrzeuge wurden zur Tatortbereichsfahndung eingesetzt.
Gegen 21.50 Uhr traf am Tatobjekt die Funkwagenbesatzungen Düssel 11/41 und 11/44 ein. Durch die eingetroffenen Kräfte wurden folgende Feststellungen getroffen:
Vor Ort hat offensichtlich ein Raub stattgefunden. In der Tankstelle wird angetroffen die Mitarbeiterin Frau
Hannelore Müller
* 23.11.51/D- Stadt,
Rather Broich 56.
Der Verkaufsraum befindet sich in einem freistehenden, eingeschossigen Flachbau an der Oberrather Str. 59, hinter den Zapfsäulen. An den Verkaufsraum angebaut ist der eingeschossige Werkstattbereich.
Das Gebäude ist außen mit großflächigen Fenstern versehen, die einen ungehinderten Blick ins Gebäudeinnere erlauben. Die Tankstelle hat keinen Nachtschalter, zur Tatzeit bedient in der Tankstelle lediglich eine Mitarbeiterin. Eingang und Zufahrt zur Tankstelle befinden sich auf der Gebäudevorderseite zur Oberrather Straße hin gelegen.
Die Geschädigte Müller gab in einer ersten informatorischen Befragung an, dass gegen 21:45 Uhr ein dunkel gekleideter Mann den Verkaufsraum betreten habe.
Der Mann habe eine schwarze Lederjacke und eine schwarze Skimaske mit Gesichtsausschnitt getragen. Der Täter sei ca. 1,85 m groß, schlank und habe akzentfreies Deutsch gesprochen. Unter der Skimaske habe etwas rotblondes Haar hervorgeschaut.
Er habe sie dann – so Frau Müller weiter – mit einer Waffe bedroht. Die Waffe sei direkt auf ihren Kopf gerichtet gewesen, der Täter habe dann gefordert: „Alles Geld her, sonst knallt’s, aber zack zack!“ Dabei habe er ihr eine weiß/blaue Plastiktüte mit der Aufschrift „ALDI“ gereicht. Sie habe dann schnell das in der Kasse ausliegende Geld in die Tüte gestopft. Dabei sei es ihr auch gelungen einige registrierte Geldscheine mit in die Tüte zu stopfen. Insgesamt habe der Täter ca. 3.000 Euro erbeutet.
Ferner teilte Frau Müller mit, dass sie dann den zu Fuß flüchtigen Täter zunächst verfolgt habe. Als der Täter das bemerkte habe, habe er sich umgedreht, die Waffe gehoben und einmal ohne zu zielen in ihre Richtung geschossen. Sie habe rechts von sich etwas gegen einen Baum klatschen gehört, der Baum habe ca. 5 m entfernt gestanden. Von einer weiteren Verfolgung des Täters habe sie dann abgesehen und nur noch beobachtet, wie der Täter mit einem schwarz/roten Mountainbike über die Oberrather Straße geflüchtet sei. Dabei habe er sich die Skimaske vom Kopf gezogen und versucht diese in seine Jackentasche zu stopfen. Dabei sei die Maske heruntergefallen.
Laut Frau Müller werden die Tankstelle und der Verkaufsraum videoüberwacht. An die Aufnahmen kommt aber nur der Inhaber heran.
Kräfte der Polizeiinspektion (PI)-Nord richten auf der Theodorstraße / Auffahrt BAB A 52 eine Kontrollstelle ein.
Gegen 22.05 Uhr wird dann von Düssel 12/41 im Erholungsgebiet Volkardey, Parkplatz Grüner See, Volkardeyer Straße, eine männliche Person überprüft. Die Person ist ca. 1,80 m groß, dunkel gekleidet und hat rötlich-blonde lange Haare. Die Person ist gerade im Begriff einen dunkelblauen Pkw, Ford Fiesta, Kennzeichen D-C 56 zu besteigen. 10 m von dem Pkw entfernt lehnt an der Umzäunung des Parkplatzes ein schwarz-rotes Mountainbike der Marke Race. Der Parkplatz ist durchgängig mit grauem Splitt geschottert.
Auf Befragen gibt die Person an, sie habe sich mit dem Pkw verfahren und den Parkplatz nicht zu Fuß verlassen. Wem das Mountainbike gehöre, wisse er nicht. An den Schuhen der Person werden durch die Beamten frische gelbliche Lehmanhaftungen festgestellt. Von der Farbe her stimmen die Lehmanhaftungen mit dem Waldboden am nordwestlichen Parkplatzbereich überein. Durch Düssel 12/41 werden die Personalien der Person festgestellt. Es ist der
Horst Seemann
* 15.01.61/Neustrelitz,
D- Stadt, Kreuzweg 10
Die Datenabfrage (ADV) ergibt, dass Seemann nicht zur Fahndung ausgeschrieben, jedoch polizeilich bekannt ist. Es liegen die personengebundenen Hinweise (PHW) „gewaltätig“ (GEWA) und "„bewaffnet“ (BEWA) vor.
Eine Durchsuchung der Person verlief negativ, im Pkw des Seemann wird eine Walter PPK, Kal. 7.65 mm gefunden. Die Waffe ist durchgeladen und gesichert, im Magazin sind 5 Schuss enthalten. Für diese Waffe hat Seemann weder einen Waffenschein, noch eine Waffenbesitzkarte. Seemann wird festgenommen und dem PG zugeführt.
1.1Beurteilen Sie den Personal- und den Sachbeweis!
1.2Erläutern Sie ausführlich die Maßnahmen, die im Rahmen des Auswertungsangriffs durch die Kriminalwache durchzuführen oder zu veranlassen sind!
1.3Erläutern Sie die Maßnahmen, die im Rahmen der Sachbearbeitung bis zur Haftvorführung des Beschuldigten durch die Fachdienststelle zu veranlassen oder durchzuführen sind, nennen Sie die absehbar weiteren zu veranlassenden bzw. durchzuführenden Maßnahmen!
Hinweis:
Die Lösungsskizze mit einer ergänzenden Lagefortschreibung und Aufgabenstellungen zu Problemkreisen der Einsatzlehre und des Eingriffsrechts finden sich am Ende des Lehr- und Studienbriefes (Nr. 11, Seiten 133 ff., problemorientierte Ausführungen anhand einer Lagefortschreibung aus der Sicht der Einsatzlehre und des Eingriffsrechts auf den Seiten 144 ff.).
Der Polizei sind durch Gesetz Aufgaben und Befugnisse zu Ermittlungen im Strafverfahren und im Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen.
„Ziel ist das Erforschen aller Umstände, die für die Beurteilung tatbestandsmäßiger Sachverhalte sowie für die Tataufklärung von Bedeutung sein können, einschließlich des Feststellens von Tatverdächtigen bzw. Betroffenen, Zeugen und Opfern.“1)
Die Aufgabe der Polizei zur Ermittlungsführung im Rahmen der Strafverfolgung ergibt sich aus § 1 IV PolG NRW2) i. V. m. § 163 StPO. Nach § 163 I Satz 1 StPO haben „Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um eine Verdunklung der Sache zu verhüten.“ Die Formulierung des § 163 StPO beinhaltet nicht nur die Zuständigkeit entsprechende Ermittlungen durchzuführen, sondern verpflichtet unmissverständlich in jedem Fall beim Vorliegen des Anfangsverdachts einer Straftat zwingend Ermittlungen aufzunehmen ( Legalitätsprinzip). Es ist, anders als in manchen europäischen Ländern, nicht in das Ermessen der Polizeibehörde gestellt, ob beim Anfangsverdacht einer Straftat ein Ermittlungsverfahren durchzuführen ist.
Ermittlung kann hierbei ausgelegt werden als „taktischer Sammelbegriff für fallbezogene polizeiliche Maßnahmen des systematischen Sicherns und Auswertens von Beweisen sowie des Aufspürens der selbigen durch Ermittlungskräfte“.3)
Unter Ermittlungen im weiteren Sinne können „alle Untersuchungshandlungen von Ermittlungspersonen zur Aufdeckung strafbarer Handlungen sowie zur Aufklärung von Straftaten […] und anderen kriminalistisch relevanten Ereignissen,“ verstanden werden, die „vor allem der Verdachtsgewinnung […], der Verdachtsüberprüfung und der Beweissicherung […]“4) dienen.
Nach § 163 StPO wird keine Differenzierung zwischen einzelnen polizeilichen Organisationseinheiten vorgenommen. Adressat des Ermittlungsauftrages ist hier die Polizei insgesamt. Zuständig für die Verfolgung von Straftaten ist demnach nicht nur die Kriminalpolizei, sondern auch der Wach- und Wechseldienst. Es kommt nicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten polizeilichen Organisationseinheit an, sondern auf die Polizeibeamteneigenschaft des Amtsträgers an sich. „Ihre Aufgaben und Befugnisse nimmt die Polizei wahr durch
– selbstständige Ermittlungshandlungen
– Ermittlungshandlungen auf Weisung
– Erfüllung ihrer Zeugen- und Sachverständigenfunktion.“5)
Die polizeiliche Ermittlungsarbeit in einem Strafverfahren ist kein Selbstzweck, sondern erster und fester Bestandteil eines justiziellen Verfahrens. Eine Entscheidung, ob ein Ermittlungsverfahren fortgeführt oder eventuell eingestellt wird, steht nicht der Polizei, sondern der Staatsanwaltschaft zu. Sie entscheidet auch darüber, ob in einem Strafverfahren nach Lage der Ermittlungsergebnisse eventuell die öffentliche Klage erhoben wird oder nicht.
„Ermittlungsverfahren [ist ein] vorbereitendes Verfahren, das eingeleitet ist, sobald entweder die Staatsanwaltschaft (vgl. § 161 I StPO), eine Behörde oder ein Beamter des Polizeidienstes (vgl. § 163 StPO) eine Maßnahme trifft, die darauf abzielt, gegen jemanden strafrechtlich vorzugehen. Dies gilt auch dann, wenn der Beschuldigte (namentlich) nicht bekannt ist …“.6)
Die Polizei ist bei der Führung ihrer Ermittlungen nicht frei und ungebunden, sondern an die Weisungen der Staatsanwaltschaft gebunden. Der Staatsanwaltschaft steht im Ermittlungsverfahren eine Sachleitungsbefugnis zu. „Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes sind verpflichtet, dem Ersuchen oder Auftrag der Staatsanwaltschaft zu genügen […].“7) Wenngleich es nur in wenigen Verfahren vorkommt, dass die Staatsanwaltschaft direkt zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens sachleitend tätig wird, so z.B. bei Tötungsdelikten durch den Kapitaldezernenten.
Auch wenn der Staatsanwalt den Sachverhalt nicht selbst aufklärt, sondern seine Ermittlungspersonen8), die Behörden und Beamten des Polizeidienstes oder andere Stellen damit beauftragt, hat er die Ermittlungen zu leiten, mindestens ihre Richtung und ihren Umfang zu bestimmen. Er kann dabei auch konkrete Einzelweisungen zur Art und Weise der Durchführung einzelner Ermittlungshandlungen erteilen.9) Als Grundsatz ist festzuhalten, dass die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens ist.
Die Polizei ist in den meisten Fällen die Organisation, die als erste in einem Strafverfahren tätig wird und die ersten Ermittlungen durchführt. Ziel polizeilicher Ermittlungstätigkeit ist nicht die Durchführung eines rein polizeilichen Zwecken dienenden Verfahrens zur Informationserhebung, sondern die Schaffung einer Informationsgrundlage für weiterreichende Entscheidungen der Staatsanwaltschaft (so z.B. die Entscheidung über Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung) und des zuständigen Gerichts (z.B. Vorbereitung der Hauptverhandlung).
Gemeinhin geht der Bürger laienhaft davon aus, dass die Durchführung eines Strafverfahrens Aufgabe der Kriminalpolizei ist. Dies greift jedoch zu kurz. In den häufigsten Fällen ist es nicht die Kriminalpolizei, die zuerst am Tatort einer Straftat auftaucht, sondern es sind als Erstes die Kräfte des Wach- und Wechseldienstes (WWD) vor Ort und treffen dort erste unaufschiebbare Maßnahmen, bis die Kräfte der Kriminalwache (Kriminaldauerdienst) vor Ort erscheinen oder eine Fachdienststelle der Kriminalpolizei die Ermittlungen übernimmt. In dieser ersten Phase treffen die Kräfte des WWD ihre Maßnahmen eigenständig und eigenverantwortlich.
Der polizeiliche Part in einem Ermittlungsverfahren kann – in den Verfahren, in denen eine Tatortaufnahme in Betracht kommt – vereinfachend in drei Phasen der polizeilichen Ermittlungsführung eingeteilt werden.
In vielen Verfahren gilt es, unmittelbar nach der Tat erste unaufschiebbare Maßnahmen unter hoher zeitlicher Dringlichkeit zur Tatortabsicherung und später zur Tatortaufnahme zu treffen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt sind dann u.a. am Tatort gesicherte Spuren zur Untersuchung zu versenden, auszuwerten und auszuermitteln. Unaufschiebbare Ermittlungshandlungen, die sofort vorgenommen werden müssen, erfordern die permanente Präsenz von Personal für diesen Zweck zu jeder Tageszeit. Diese Aufgaben werden vom Wach- und Wechseldienst (Schutzpolizei) und von der Kriminalwache oder dem Kriminaldauerdienst (Kriminalpolizei) wahrgenommen.
Bereits in der Phase des Ersten Angriffs sind durch die Kräfte des Wach- und Wechseldienstes im Rahmen des Sicherungsangriffs u.a. zur
• Absperrung und Durchsuchung des Tatortes
• Notsicherung von Spuren
• Täternacheile und Feststellung von Tatverdächtigen und Beschuldigten
• Suche und Sicherung von Zeugen und Durchführung erster Vernehmungen
unaufschiebbare Eingriffsmaßnahmen, die sich rechtlich u.a. als Beschlagnahme, Durchsuchung, Vernehmung und vorläufige Festnahme qualifizieren, durchzuführen oder zu veranlassen.
Anschließend sind durch die Kräfte der Kriminalwache bzw. des Kriminaldauerdienstes gleichfalls im Rahmen des Ersten Angriffs zur Tatortaufnahme unaufschiebbare Standardmaßnahmen, so u.a. zur
• Spurensuche/Spurensicherung am Tatort
• Sicherstellung/Beschlagnahme von Beweismitteln
• ggf. Beschlagnahme des Tatortes
• Ergänzenden Zeugensuche und Zeugenvernehmung
• Ermittlung von Tatverdächtigen/Beschuldigten
durchzuführen.
Das Personal der Fachkommissariate steht hingegen häufig nur während der Tagesdienstzeiten zur Verfügung. Für besondere Fälle gibt es Bereitschaftsdienste (z.B. Mord- und Brandbereitschaft). Die dem Ersten Angriff folgenden Ermittlungen werden in Nordrhein-Westfalen regelmäßig durch Kräfte der Kriminalpolizei aus den Fach- oder Regionalkommissariaten vorgenommen.
Für ihre späteren Entscheidungen benötigen die Staatsanwaltschaft und das Gericht eine belastbare Daten- und Faktenlage, ein Urteil vor Gericht kann später nur auf in der StPO benannte Beweismittel gestützt werden. Diese gilt es bereits in der Erstphase des Ermittlungsverfahrens durch die Polizei möglichst umfangreich zu sichern und zu erheben.
„Der historische Gesetzgeber stellte sich ursprünglich kein ausgedehntes Ermittlungsverfahren, sondern ein knappes „Vorverfahren“ als Filter vor dem gerichtlichen Prozess vor. […] Der Schwerpunkt der Beweiserhebung sollte in die Hauptverhandlung verlegt werden. In Wirklichkeit erfolgt aber […] die Weichenstellung im Vorverfahren. Mängel der Ermittlungsführung in dieser Phase erweisen sich häufig als unkorrigierbar; die Hauptverhandlung erschöpft sich nicht selten in einem routinierten Nachvollzug der im Vorverfahren gesammelten Beweise oder in der Verifizierung und Abrundung der bisherigen Ermittlungsergebnisse. Dies mag beklagenswert sein, ist aber letztlich auf die kriminalistische Grunderfahrung zurückzuführen, dass die frühesten Ermittlungen die wichtigsten sind.“10)
„Beweisen heißt, dem beurteilenden Gericht einen Sachverhalt durch jedermann überzeugende und beliebig oft reproduzierbare Fakten so darzustellen, dass ein vernünftiger Zweifel an dem von den Strafverfolgungsorganen (Staatsanwaltschaft und Polizei) bei vorläufiger Tatbewertung angenommenen Tatgeschehen nicht möglich ist.“11)
Nach dem polizeilichen Sprachgebrauch wird die Beweisführung über Personal- und Sachbeweise geführt. Immer wieder wird die zunehmende Bedeutung des Sachbeweises diskutiert, da z.B. die Kriminaltechnik immer neue Möglichkeiten bietet. Die Begrifflichkeiten Personal- und Sachbeweis des kriminalistischen Sprachgebrauchs sind in der Strafprozessordnung nicht zu finden. Diese Begrifflichkeiten werden in der Phase des Ermittlungsverfahrens häufig verwendet. „Das Beweisverfahren wird unterschieden nach Strengbeweis und Freibeweis“12). Im Gegensatz zur Beweisführung im Ermittlungsverfahren ist die Beweisführung in der Hauptverhandlung vor Gericht eng normiert. Es sind nur die festgelegten Beweismittel zur Urteilsfindung zulässig:
• Sachverständiger
• Augenscheinbeweis
• Urkunde
• Zeuge
• Eid
• (glaubwürdiges) Geständnis
„Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.“13)
Das Gericht ist also zu einer eigenständigen Beweisaufnahme von Amts wegen verpflichtet, ein Rückgriff auf die Erkenntnisse der (polizeilichen) Ermittlungsakte zur Urteilsfindung ist mithin unzulässig. Gleichwohl sind die Ermittlungsakte und die darin dokumentierten Erkenntnisse unverzichtbar für die Vorbereitung der Hauptverhandlung durch den (vorsitzenden) Richter.
Sowohl der Verlauf der Hauptverhandlung als auch die zulässigen Beweismittel sind in den §§ 244 – 256 StPO, ergänzt um den Grundsatz der Mündlichkeit, ausdrücklich geregelt. Im Ermittlungsverfahren gilt hingegen das Freibeweisverfahren, hier gibt es keine engen gesetzlichen Bindungen; als Regelung für das Ermittlungsverfahren kann § 163 StPO angesehen werden.
Eine vergleichende Gegenüberstellung zwischen den Beweismitteln im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung könnte wie folgt aussehen:
Wenngleich die Regeln des Strengbeweises für das Ermittlungsverfahren keine Anwendung finden, so ist es doch unabdingbar, dass die wesentlichen Regeln auch einem Polizeibeamten bekannt sind.
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz, den § 250 StPO im Interesse möglichst zuverlässiger Beweisgewinnung aufstellt, gilt nur für Wahrnehmungen von Zeugen und Sachverständigen und nur im Strengbeweisverfahren […].14)
„Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person (z.B. eines Mitbeschuldigten, Zeugen oder Sachverständigen), so muss das Gericht diese Person in der Hauptverhandlung vernehmen. […] Der Hintergrund der Regelung besteht darin, dass der unmittelbare Eindruck des Richters von der Aussage einer Person weit höheren Informationswert besitzt, als die Verlesung einer schriftlichen Erklärung, über deren Zustandekommen der Richter keine näheren Kenntnisse besitzen kann.“15)
D.h., es kann nicht einfach auf die Niederschrift einer polizeilich erlangten Vernehmung zurückgegriffen werden, sondern der Beschuldigte oder der Zeuge muss grundsätzlich erneut vor Gericht aussagen. Der ehemals ermittelnde Polizeibeamte hat vor Gericht dann auch nur noch den Status eines Zeugen und muss sowohl die Fragen des Gerichtes und des Staatsanwaltes, als auch des Beschuldigten oder dessen Verteidigers beantworten.
Von dem Grundsatz der Unmittelbarkeit kann nur in wenigen Fällen abgewichen werden, so u.a.:
• Zusage der Vertraulichkeit (Inanspruchnahme von Informanten/Vertrauenspersonen)16)
• Aufzeichnung der Zeugenvernehmung auf Video ( §§ 58a, 255a StPO)
• Verlesen des Protokolls früherer Aussagen des Angeklagten aus einem Richterlichen Protokoll ( § 254 StPO).
Der Unmittelbarkeitsgrundsatz bedeutet den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis, aber auch vor dem Augenscheinsbeweis.17)
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.18) Das Gericht ist bei der Bewertung von Zeugenaussagen frei und nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden (z.B. bezüglich der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage). Eingeschränkt wird dieser Grundsatz aber durch:
• bestimmte naturwissenschaftliche Erkenntnisse (wenn Tatsachen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse feststehen, z.B. Blutalkoholwert)
• Schweigerechte von Beschuldigten und Zeugen.
Für eine Verurteilung „[…] genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige und nicht bloß auf denktheoretischen Möglichkeiten begründete Zweifel nicht mehr aufkommen.“19)
Bestehen für das erkennende Gericht hingegen begründete Zweifel am Beweis von Tat oder Täterschaft, so ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ zu verfahren und folglich der Angeklagte nicht zu verurteilen.
Daher erfordern Ermittlungen für ein optimales Ergebnis grundsätzlich
• unvoreingenommenes und unbewertetes Aufnehmen von Sachverhalten
• planmäßiges Vorgehen
• systematisches Denken und Handeln
• vermeiden von einseitigen oder vorzeitigen Festlegungen.20)
Grundlage für die Entscheidung ob es zur Erhebung der öffentlichen Klage kommt oder nicht und wenn ja, auf welche Beweismittel die Klage gestützt wird, sind die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens (Vorverfahren).
Zur Abrundung soll hier ein kurzer Überblick über den Themenbereich der Beweisverbote21) gegeben werden. Eine umfassende Behandlung würde den Umfang des Buches sprengen. Hier sei auf die einschlägige juristische Fachliteratur verwiesen. Zu differenzieren ist zunächst grundsätzlich zwischen den Begrifflichkeiten „Beweiserhebungsverbot“ und „Beweisverwertungsverbot“. Nicht jedes Beweismittel, was unter Umgehung eines Beweiserhebungsverbotes erlangt wurde, unterliegt im Verfahren später auch einem Beweisverwertungsverbot.