Chevy Stevens
That Night - Schuldig für immer
Roman
Aus dem Amerikanischen von Maria Poets
FISCHER E-Books
www.chevystevens.com
Chevy Stevens bei FISCHER:
›Still Missing – Kein Entkommen‹
›Never knowing – Endlose Angst‹
›Blick in die Angst‹
›That Night – Schuldig für immer‹
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Subbotina Anna/Shutterstock, Hockbridge/Arcangel Images (Blatt), Readymade Images/Plainpicture (Wasser)
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel ›That Night‹ im Verlag St. Martin's Press, New York.
© Chevy Stevens / René Unischewski 2014
Für die deutschsprachige Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400680-2
Für alle Menschen auf der Welt, die Tieren helfen – in Tierheimen, Tierschutzgruppen oder indem sie bedürftige Tiere aufnehmen. Danke.
Ich folgte dem begleitenden Beamten zum Aufnahme- und Entlassungsbereich, den Pappkarton mit meinen Habseligkeiten unterm Arm – eine Jeans, ein paar abgetragene T-Shirts, die wenigen Dinge, die ich über die Jahre angesammelt hatte, heißgeliebte Bücher, meinen CD-Player. Der Rest, alles, was für mich aufbewahrt worden war, wartete auf mich. Ein Beamter ging die Formulare durch. Meine Hand zitterte, als ich die Entlassungspapiere unterschrieb, und die Worte verschwammen. Aber ich wusste, was sie bedeuteten.
»Okay, Murphy, dann sehen wir uns doch mal Ihren persönlichen Besitz an.« Die Wachen drinnen riefen einen immer beim Nachnamen, nie beim Vornamen. Immer nur beim Nachnamen oder einem Spitznamen.
Er leerte einen Karton mit den Gegenständen aus, mit denen ich ins Gefängnis gekommen war. Mit leiernder Stimme listete er sie auf und machte sich dazu auf seinem Klemmbrett Notizen. Ich starrte die Anzughose, die weiße Bluse und den Blazer an. Ich hatte sie so sorgfältig für den Prozess ausgesucht, weil ich dachte, ich würde mich darin stark fühlen. Jetzt konnte ich ihren Anblick nicht ertragen.
Die Hand des Beamten ruhte einen Moment auf meiner Unterwäsche.
»Eine weiße Unterhose, Größe S.«
Er schaute auf die Unterhose herunter, überprüfte das Etikett, befummelte den Stoff. Ich wurde rot. Er warf mir einen kurzen Blick zu, um meine Reaktion abzuschätzen. Er wartete darauf, dass ich austickte, damit er mich wieder zurückschicken konnte, doch ich ließ mir nichts anmerken.
Er öffnete einen Briefumschlag, spähte hinein, warf noch einmal einen prüfenden Blick auf sein Klemmbrett, ehe er den Inhalt des Umschlags in meine ausgestreckte Hand fallen ließ. Die versilberte Uhr, die meine Eltern mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Sie glänzte immer noch, doch die Batterie war leer. Die Halskette, die ich von Ryan bekommen hatte. Der schwarze Onyx fühlte sich kühl an, und das Lederband war ganz weich geworden, weil ich es jeden Tag getragen hatte. Ich starrte den Anhänger an, spürte sein Gewicht in meiner Hand, dachte an damals. Dann schloss ich die Finger darum und stopfte die Kette sicher zurück in den Umschlag. Sie war das Einzige, das mir von ihm geblieben war.
»Sieht so aus, als wär’s das.« Der Beamte hielt mir einen Stift hin. »Unterschreiben Sie hier.«
Ich unterschrieb das letzte Formular und verstaute meine Besitztümer wieder im Karton.
»Haben Sie irgendetwas zum Anziehen?«, fragte er.
»Nur das hier.«
Sein Blick huschte über meine Jeans und das T-Shirt. Manche Insassen bekamen von ihren Familien Klamotten zugeschickt, die sie an ihrem Entlassungstag anziehen konnten. Mir hatte niemand etwas geschickt.
»Sie können in der Anmeldung warten, bis Sie abgeholt werden. Da ist auch ein Telefon, falls Sie jemanden anrufen müssen.«
Ich setzte mich auf eine der Bänke, die Kartons zu meinen Füßen, und wartete auf die ehrenamtliche Betreuerin, Linda. Sie würde mich abholen und mit mir zur Fähre und rüber nach Vancouver Island fahren. Um siebzehn Uhr musste ich im Freigängerhaus in Victoria sein. Linda war eine nette Lady in den Vierzigern, die in einer der Unterstützergruppen mitarbeitete. Ich hatte sie schon vorher kennengelernt, als sie mich für meine Hafturlaube auf die Insel gebracht hatte.
Ich hatte Hunger – heute Morgen war ich zu aufgeregt gewesen, um viel zu essen. Margaret, eine meiner Freundinnen drinnen, hatte mich dazu genötigt, etwas herunterzubringen, und jetzt lag mir der Haferbrei wie ein Klumpen im Magen. Ob Linda wohl irgendwo unterwegs anhalten konnte? Ich malte mir einen Big Mac und Pommes aus, vielleicht einen Milchshake dazu, und ich dachte wieder an Ryan und daran, wie wir unsere Burger immer zum Strand mitgenommen hatten. Um mich von der Erinnerung abzulenken, beobachtete ich, wie ein Beamter eine neue Insassin brachte. Eine junge Frau. Sie wirkte verängstigt und blass, ihr langes, braunes Haar war zerzaust, als sei sie die ganze Nacht wach gewesen. Sie sah kurz zu mir, ihr Blick wanderte von meinem Haar auf das Tattoo an meinem Oberarm. Ich hatte es mir nach und nach stechen lassen – schmale Tribals für jedes Jahr hinter Gittern, die zusammen ein dickeres, durchgehendes Band um meinen Bizeps bildeten und ihn umschlangen.
Der Beamte zerrte die Frau am Arm zur Aufnahme.
Ich rubbelte mir mit den Händen über den Kopf. Mein Haar war jetzt kurz, in der Mitte Iro-mäßig aufgerichtet, aber es war immer noch schwarz. Ich schloss die Augen und dachte daran, wie es auf der Highschool gewesen war. In langen Wellen war es mir bis auf den Rücken gefallen. Ryan hatte es geliebt, seine Hände darin zu vergraben. Im Gefängnis hatte ich es abgeschnitten, nachdem ich eines Tages in den Spiegel geschaut und Nicoles Haar darin gesehen hatte, klebrig von Blut, und mich daran erinnerte, wie ich ihren zerschlagenen Körper in den Armen gehalten hatte, als wir sie in jener Nacht fanden.
»Na, bereit, diesen Ort zu verlassen, Toni?«, fragte eine freundliche Frauenstimme.
Ich öffnete die Augen und blickte zu Linda auf. »Ich kann’s kaum erwarten.«
Sie bückte sich und hob einen meiner Kartons auf, wobei sie leise stöhnte. Linda war eine kleine Frau, nicht sehr viel größer als ich, und ich war mit einem Meter zweiundfünfzig ziemlich kurz geraten. Margaret sagte immer, ein Mäusefurz könne mich umpusten. Aber Linda war fast so breit wie hoch. Sie hatte Dreadlocks, trug lange, fließende Kleider und Birkenstocks und schimpfte ständig über das Gefängnissystem. Ich folgte ihr hinaus zu ihrem Auto, meinen Karton in den Armen, während sie irgendwas vom Fährverkehr plapperte.
»Bis raus zur Horseshoe Bay war der Highway frei, wir werden also gut vorankommen. Wir sollten gegen Mittag da sein.«
Als wir davonfuhren, beobachtete ich, wie das Gefängnis in der Ferne immer kleiner wurde. Ich drehte mich wieder um. Linda kurbelte das Fenster herunter.
»Puh, echt heiß heute. Ehe man es sich versieht, ist der Sommer da.«
Ich zeichnete die Linien meines Tattoos nach, zählte die Jahre und dachte zurück an jenen Sommer. Jetzt war ich vierunddreißig, und ich hatte seit meinem achtzehnten Lebensjahr in Gewahrsam verbracht, seit man Ryan und mich für den Mord an meiner Schwester verhaftet hatte. In jener Nacht waren wir mit ihr allein gewesen, aber wir hatten Nicole nicht schreien gehört. Wir hatten gar nichts gehört.
Ich umklammerte meinen Arm mit der Hand und drückte kräftig. Fast mein halbes Leben hatte ich hinter Gittern verbracht, für ein Verbrechen, das ich nicht begangen hatte.
Die Wut vergeht niemals.
Ich schwänzte die letzte Stunde und traf mich mit Ryan auf dem Parkplatz hinter der Schule, wo das coole Partyvolk herumhing. Neben dem Café in der Arena war es der einzige Ort auf dem Schulhofgelände, an dem wir rauchen konnten. Den nächsten Anwohnern gefiel es nicht, aber sie machten uns selten Ärger, solange niemand seinen Motor aufheulen ließ oder den Ghettoblaster voll aufdrehte. Dann kämen die Cops vorbei, um zu überprüfen, ob wir tranken oder kifften – was irgendwer eigentlich immer machte, aber ich nicht, jedenfalls nicht in der Schule.
Die Woodbridge High war alt und hätte eine gründliche Renovierung dringend nötig gehabt. Die Mauern waren von einem verwaschenen Blau, zumindest dort, wo sie nicht von Graffiti bedeckt waren, die der Hausmeister ständig wegzumachen versuchte. Mehr als fünfhundert Jugendliche besuchten die Schule von der achten bis zur zwölften Klasse. In meinem Abschlussjahrgang waren über hundertzwanzig Schüler, von denen mir neunundneunzig Prozent schnurzegal waren.
Heute waren wir nur wenige, grüppchenweise standen wir um unsere Autos herum. Die Mädchen mit ihren langen Haaren und hochtoupierten Ponys trugen zu viel dunkles Make-up und die Lederjacken ihrer Freunde. Die Jungs mit ihren Kurt-Cobain-Frisuren und ihren Kapuzen hockten auf ihren Trucks und redeten über Vergaser und Hemi-Motoren. Die meisten von uns waren grungemäßig gekleidet mit Flanellhemden, zerrissenen Jeans, zerlumpten Pullovern, und alle trugen dunkle Farben.
Ryan lehnte an seinem Truck und unterhielt sich mit ein paar Freunden. Als er mich sah, lächelte er und gab mir seine Kippe. »Hey, Babe.«
Ich lächelte zurück und nahm einen Zug. »Hey.«
Seit letztem Juli war ich mit Ryan Walker zusammen, seit es in der Kiesgrube zwischen uns gefunkt hatte, dort, wo die Jungs am Wochenende immer mit ihren Geländewagen rumgurkten und Lagerfeuer machten. Er fuhr einen coolen Chevy-Truck, an dem er die ganze Zeit herumbastelte – das Einzige, worüber wir uns je stritten. Ich kannte ihn schon eine ganze Weile und hatte ihn schon immer süß gefunden mit dem braunen, zerzausten Haar und den dicken Brauen, den fast schwarzen Augen mit den langen Wimpern und einem umwerfenden Lächeln, bei dem sich nur die eine Hälfte vom Mund hob. Und dieser Blick, mit dem er einen unter dem Rand seiner Baseballkappe hervor ansah, war einfach supersexy. Ein paar Monate lang hatte er eine Freundin gehabt, eine blonde Tussi. Nachdem sie sich getrennt hatten, schien er sich für niemand anders zu interessieren, als würde er lieber sein eigenes Ding machen oder mit den Jungs abhängen. Er hatte den Ruf, ziemlich hart drauf zu sein, und das fand ich cool. Er prügelte sich nicht grundlos, aber wenn jemand den großen Macker raushängen ließ oder Mist über seinen Dad erzählte, der, seit Ryan klein war, immer wieder mal im Knast saß, machte er denjenigen fertig. Wenn er nicht mit mir zusammen war, verbrachte er seine Zeit meistens mit seinen Freunden, schraubte mit ihnen zusammen an den Trucks herum, angelte oder raste mit dem Geländemotorrad oder Quad durch die Gegend.
Sehr viel mehr gab es auch nicht zu tun. Campbell River ist ein kleiner Küstenort am Nordende der Insel, keine Ahnung mit wie vielen Einwohnern. Ich war dort aufgewachsen, aber Ryans Familie war erst vor zwei Jahren aus dem Norden von British Columbia hierhergezogen. In Campbell River arbeitete man entweder als Holzfäller, in der Papiermühle, den Minen oder auf einem Fischerboot. Ryan jobbte stundenweise in einem der Läden für Outdoorbedarf. Früher war ich dort manchmal hingegangen und hatte getan, als sähe ich mich um, wobei ich vor allem versuchte, seinen Blick einzufangen. Doch er war immer damit beschäftigt, Kunden zu bedienen, so dass ich es schließlich aufgab.
Eines Abends im letzten Sommer war ich mit Freunden zusammen in der Kiesgrube gewesen, wir hatten abgehangen und einen Joint geraucht, als Ryan zu uns kam und anfing, sich mit mir zu unterhalten. Er fragte mich, wie mein Sommer so sei. Ich versuchte, cool zu bleiben, als wäre das gar nichts Besonderes, aber mein Herz pochte wie verrückt. Er sagte: »Hast du Lust, ’ne Runde mitzufahren?« Wir rasten die Kiesabhänge hoch, der Matsch spritzte hinter uns hoch, der Motor war genauso laut wie die Musik – AC/DC, Back in Black. Ich lachte, fühlte mich lebendig und erregt. Er sagte: »Du bist echt total cool.« Später am Lagerfeuer nippten wir zusammen am Southern Comfort, sein Arm ruhte warm an meinem Rücken, während wir über unsere Familien sprachen, über meine ständigen Streitereien mit meiner Mutter und seine Probleme mit seinem Dad. Seit dem Abend waren wir zusammen.
Ich inhalierte den Rauch. Ryan lehnte an seinem Truck, beobachtete mich und lächelte sein träges Lächeln. Ein Auge war halb geschlossen, das Haar lugte unter der Baseballkappe hervor. Seine Freunde hatten sich verzogen. Es war die erste Januarwoche und kalt, aber er trug keine Jacke, nur einen dicken braunen Pullover, der seine Augen aussehen ließ wie dunkle Schokolade. Er schob die Finger in die vorderen Taschen meiner Jeans und zog mich näher heran, bis ich an ihm lehnte. Er trieb nicht oft Sport, aber er leistete viel körperliche Arbeit – sein Körper war fest, die Bauchmuskeln hart. Er war einen Meter achtzig groß, so dass ich mich strecken musste, um ihn zu küssen. Wir knutschten eine Weile, der rauchige, bittere Geschmack des Tabaks auf unseren Zungen vermischte sich, sein unrasiertes Kinn kratzte an meinem. Wir hörten auf, uns zu küssen, und ich legte mein Gesicht in seine warme Halsbeuge, roch seinen Körpergeruch, spürte einen Schmerz in meinem ganzen Körper und wünschte, es gäbe für immer nur uns beide, so wie jetzt.
»Kannst du heute Abend kommen?«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich lächelte an seiner Haut. »Vielleicht.«
Obwohl ich Ende Dezember achtzehn geworden war, musste ich unter der Woche abends pünktlich zu Hause sein. Am Wochenende waren meine Eltern nicht ganz so streng – ich musste nur anrufen, wo ich hinwollte, damit sie wussten, dass mit mir alles in Ordnung war, aber ich durfte nicht die ganze Nacht wegbleiben, es sei denn, ich schlief bei einer Freundin. Meine Mutter war echt ein harter Brocken und machte einen Riesenstress, wenn ich nur eine Minute zu spät kam. Ich versuchte, so viel Zeit wie möglich mit Ryan zu verbringen, wir fuhren durch die Gegend, trieben es in seinem Truck, seinem Keller und wo wir sonst noch allein sein konnten. Nachdem wir zwei Monate zusammen waren, hatten wir das volle Programm durchgezogen – er war der erste Junge, mit dem ich je geschlafen hatte. Sein Dad saß in der Kneipe, seine Mutter, eine Krankenschwester, arbeitete in der Spätschicht im Krankenhaus. Wir rauchten einen Joint, dann machten wir auf seinem Bett herum. Im Hintergrund lief leise Nirvana, süßer Kerzenduft vermischte sich mit dem des Marihuanas. Ich war aufgeregt, in meinem Kopf drehte sich alles vom Kiffen. Ich rieb meinen Körper an seinem, meine nackte Brust lag warm auf seiner. Die restliche Kleidung zogen wir ganz schüchtern unter der Decke aus. »Möchtest du, dass ich aufhöre?«, flüsterte er.
»Nein«, sagte ich und starrte bewundernd in sein Gesicht. Wie konnte ein Junge nur so schön und seine Art zu sprechen, seine Stimme, die weichen Lippen, dunklen Augen, einfach alles, nur so verdammt sexy sein? Und ich fühlte mich ebenfalls schön, als richtige Frau, so wie er mich ansah, als könnte er nicht glauben, dass ich da war, in seinem Bett. Ich war nervös und verlegen, doch dann übernahm einfach mein Körper das Kommando, drängte und zog und packte ihn. Er stöhnte mir in den Mund, und ich hielt den Atem an, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Unsere Blicke ließen einander nicht los. Ich spürte, wie er sich in mir bewegte, und wusste, dass er der einzige Junge war, mit dem ich zusammen sein wollte, mit dem ich das hier tun wollte.
Hinterher war er total lieb, fragte, ob es mir gutgehe, brachte mir ein Handtuch und ein Glas Wasser. Wir kuschelten uns aneinander, ich legte den Kopf auf seine Brust und zeichnete seine Rippen mit den Fingern nach. Der feine Schweißfilm glänzte im Kerzenlicht, ich küsste die Narbe an seiner Seite, die geblieben war, nachdem sein Dad ihn aus dem Truck gestoßen hatte. Schüchtern sagte er: »Ich liebe dich, Toni.«
Ich hörte Gelächter und schaute nach links. Shauna McKinney und ihre Mädels hockten auf der Heckklappe des Trucks von einem der Typen. Ich hasste es, wenn sie hier herumhingen. Kim, Rachel und Cathy waren nicht ganz so schlimm wie Shauna, aber zusammen waren sie ein Haufen fiese Zicken; die Sorte »Geht-mir-alles-wo-vorbei-und-du-vor-allem«-Zicken. Shauna mit ihrem langen, kastanienbraunen Haar und den großen blauen Augen war hübsch und beliebt, trieb viel Sport und hatte einen superathletischen Körper.
Sie schien immer das aktuellste technische Spielzeug und ständig neue Klamotten zu haben, und sie war die Erste in unserer Klasse, die ein anständiges Auto hatte, einen weißen Chevrolet-Sprint, den ihr Dad ihr gekauft hatte. Sie strotzte vor Selbstbewusstsein und hatte etwas an sich, als würde sie sich von niemandem einschüchtern lassen. Klug war sie auch noch und hatte richtig gute Noten, aber hinter dem Rücken der Lehrer zog sie über diese her, so dass die anderen Jugendlichen sie trotzdem total cool fanden.
Die meisten Mädchen in unserem Jahrgang hatten entweder Angst vor ihr oder wollten unbedingt ihre Freundin sein, was meiner Meinung nach auf dasselbe hinauslief. Rachel Banks war ihre treuste Anhängerin. Früher als kleines Kind war sie ziemlich pummelig gewesen und hatte eine Menge einstecken müssen, selbst nachdem sie in der Highschool abgenommen hatte, doch dann fing sie an, mit Shauna abzuhängen, und die Leute hörten auf, sie zu ärgern. Sie war immer noch rundlich, hatte dichtes, glattes braunes Haar und trug ständig Minikleider mit Strumpfhosen oder kurze Karo-Röcke und Kniestrümpfe.
Kim Gunderson war eine zierliche Balletttänzerin und etwa so groß wie ich. Sie trug oft schwarze Kleidung, Leggins mit übergroßen Pullovern und coolen Stiefeln, und sie redete unglaublich schnell. Ich hatte Gerüchte gehört, sie sei lesbisch, aber keiner wusste das mit Sicherheit. Cathy Schaeffer war fast so hübsch wie Shauna, hatte langes, weißblondes Haar, blassgrüne Augen und eine gewaltige Oberweite. Cathy war verrückt und witzig und trieb es auf Partys ziemlich wild. Sie rauchte ebenfalls, weshalb die Mädchen überhaupt hierherkamen.
Ich kannte sie alle, so lange ich denken konnte, ich war sogar einmal mit Shauna befreundet gewesen. Als wir zwölf oder dreizehn gewesen waren, hatte sie sich einen Spaß daraus gemacht, ein Mädchen anzurufen und sie zu uns einzuladen, um sie dann zwei Stunden vorher erneut anzurufen und zu sagen, wir wollten doch nicht mehr, dass sie käme. Manchmal waren wir einfach auch weggegangen, kurz bevor das Mädchen kam. Shauna war ziemlich gut darin, andere Leute nachzumachen – einmal hat sie mit der Stimme eines anderen Mädchens einen Jungen angerufen und gesagt, sie sei total in ihn verknallt.
Als ich Shauna sagte, ich wolle diese Spielchen nicht länger mitspielen, sprach sie eine ganze Woche nicht mehr mit mir. Ich war am Boden zerstört, vor allem, wenn sie und ihre Freundinnen im Korridor an mir vorbeigingen, als würde ich gar nicht existieren, und dabei flüsterten und die Augen verdrehten. Jeden Tag kam ich weinend nach Hause. Schließlich kam Shauna nach der Schule zu mir und sagte, ich würde ihr fehlen. Ich war so erleichtert, dass ich vergaß, wie der Streit überhaupt angefangen hatte, vergaß, dass es mir nicht gefiel, wie sie die Leute behandelte.
Shauna war die Tochter eines Cops, Frank McKinney. Jeder kannte ihn. Er trainierte Baseball- und Hockeyteams und solche Sachen. Als wir noch jünger waren, war McKinney, wie die meisten Leute ihn nannten, nicht oft zu Hause, normalerweise war er auf dem Polizeirevier. Shaunas Mutter war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Shauna fünf war, und ihre Großmutter passte auf sie auf, aber sie war nicht sonderlich bei der Sache. Zum Geburtstag setzte sie uns Unmengen von Pommes und Hot Dogs vor, legte einen Film ein und verschwand für die nächsten Stunden in einem anderen Zimmer. Als Shauna zur Welt kam, waren Frank McKinney und seine Frau gerade achtzehn oder so. Er war ziemlich groß und breit, aber nicht fett, nur muskulös und hochgewachsen und stolzierte ziemlich selbstbewusst durch die Gegend. Er hatte einen Schnauzer wie Tom Selleck, eine tiefe Stimme, trug Sonnenbrillen und kaute Kaugummi, den er zwischen den Zähnen zerplatzen ließ. Selbst wenn er in Zivil war, merkte man ihm wegen seiner abgehackten Sprechweise den Cop an – er benutzte viele kurze Wörter und Abkürzungen und so was. Und man merkte, dass ihm sein Job echt wichtig war – er gab seine Uniform in die Reinigung, die Schuhe waren immer blankpoliert und der Streifenwagen immer sauber.
Manchmal hatte ich den Eindruck, er sei irgendwie einsam – er verbrachte viel Zeit allein, saß in der Küche und las ein Buch oder sah sich die Nachrichten an. Ich glaube nicht, dass er oft ausging, und mit den wenigen Frauen, die er kennenlernte, schien es nie lange gutzugehen. Uns allen tat es leid, dass Shauna keine Mutter hatte, und wir wussten, dass es sie ebenfalls bedrückte. Wir merkten es daran, wie sie mit unseren Müttern redete, wenn sie bei uns zu Hause war. Sie war höflich und liebenswürdig und half nach dem Abendessen beim Aufräumen, als wollte sie unbedingt, dass sie sie mochten.
Die meisten Jugendlichen hatten Angst vor McKinney, aber ich nicht. Mir tat er einfach nur leid, obwohl ich mir nie sicher war, warum. Wann immer ich über ihn nachdachte, kam mir stets dieses eine Bild in den Sinn, wie er stundenlang in der Küche saß, die Zeitung oder ein Buch vor sich, daneben eine Tasse Kaffee. Ab und zu blickte er auf und schaute aus dem Fenster, als wünschte er, er wäre da draußen in seinem Wagen, unterwegs auf Streife. Als wünschte er, er wäre überall, nur nicht in diesem Haus.
Als wir in die Highschool kamen, wurde ich es allmählich leid, dass Shauna ständig versuchte, den Rest von uns gegeneinander auszuspielen, indem sie behauptete, eine von uns hätte schlecht über die andere geredet, jemanden bei einer Einladung überging oder gemeine Bemerkungen über unsere Klamotten und Haare machte, um dann nachzuschieben: »War doch nur ein Witz!« Am nächsten Tag erzählte sie dir, du wärst ihre beste Freundin und schenkte dir eines ihrer Lieblingskleidungsstücke, Schmuck oder eine CD, die sie nur für dich gebrannt hatte, woraufhin die anderen eifersüchtig wurden. Gefühlt jede Woche gab es einen Wutanfall, und irgendjemand war wieder traurig. Außerdem hatte ich es satt, nicht anziehen zu können, was ich wollte – Jeans und T-Shirt anstatt Rock und Bluse, die Shauna zu unserer Uniform auserkoren hatte.
In der neunten Klasse bemerkte ich eines Tages Shauna gegenüber, dass mir ein Junge namens Jason Leroy gefiel. Sie sagte, sie würde mir helfen. Sie gab eine Party bei sich zu Hause und lud ein paar Jungs ein. Ihr Dad arbeitete, und ihre Großmutter sollte eigentlich aufpassen, aber sie verschwand mit einem Glas irgendwas und einem vagen »Viel Spaß, Kinder« im Fernsehzimmer. Vor der Party hatte Shauna mir erzählt, sie habe gehört, Jason würde mich mögen, aber er stünde eher auf »echte Frauen«. Sie sagte, ich müsste ihm unbedingt einen blasen, sonst wäre ich ein Feigling – sie hätten es alle schon getan. Auf der Party war ich ziemlich nervös, aber Jason lächelte mich ständig an und fragte mich, ob ich mit ihm in eines der Schlafzimmer gehen wollte. Nachdem wir ein wenig herumgealbert hatten, ließ er beiläufig fallen, dass ich ihm einen blasen solle. Als ich mich zierte, sagte er, Shauna habe ihm versprochen, dass ich es machen würde und dass er nur deswegen mit seinen Freunden gekommen sei. Wenn ich es nicht machte, würde er jedem erzählen, er habe es zu dritt mit Shauna und mir getrieben.
Nach der Party erzählte ich Shauna, was er gesagt und zu was er mich gezwungen hatte. Sie wurde wütend. Sie rief Jason an und sagte, wenn er irgendjemandem erzählte, was passiert war, würde sie jedem an der Schule erzählen, er hätte einen winzigen Schwanz. Wir hörten nie wieder etwas von ihm, aber später am selben Abend fing Shauna an zu kichern und gestand, dass keines der anderen Mädchen schon einmal einem Jungen einen geblasen hatte – ich war die Erste.
Ich war echt sauer, weil ich in die Falle aus Shaunas Lügen getappt war, aber ich versuchte, es zu vergessen, weil sie sich ja auch für mich eingesetzt hatte. Zum Teil genoss ich sogar meine neue Rolle als das sexuell erfahrenste Mädchen der Gruppe. Doch einen Monat später verknallte Shauna sich in Brody, einen Jungen aus meinem Werkkurs. Wir blieben oft noch länger, um an einem Projekt zu arbeiten, und eines Tages kam sie vorbei, als wir gerade über irgendetwas lachten. Ich stand nicht auf Brody und wollte nichts von ihm, aber das zählte nicht. Nach der Schule taten alle Mädchen, als würde ich nicht existieren. Also fragte ich Shauna, was los sei.
»Du hast mit Brody geflirtet.«
»Hab ich nicht! Ich finde ihn nicht mal besonders süß.«
»Er ist total süß, und du bist schon seit Wochen in ihn verknallt.«
Alle Mädchen standen da und starrten mich an.
Ich wusste, was sie wollte. Ich sollte mich entschuldigen, dann würde sie mich eine Weile ignorieren, bis sie beschloss, mir zu vergeben. Aber ich hatte die Schnauze voll von Shauna, von ihren Machtspielchen und Intrigen. Ich hatte genug.
»Du kannst mich mal, Shauna. Glaub doch, was du willst, aber es nicht meine Schuld, das Brody dich nicht mag. Nicht jeder fährt total auf dich ab, weißt du.« Ich ging davon. Hinter mir hörte ich die anderen nach Luft schnappen, dann folgte wütendes Geflüster.
Ich wusste, dass sie sich rächen würde, aber ich wusste nicht, wie schlimm es werden würde, bis ich am nächsten Tag zur Schule kam. Wie sich herausstellte, hatte Shauna den ganzen Abend damit zugebracht, das Gerücht zu verbreiten, ich sei mit einem Penis geboren worden und hätte versucht, mich an sie heranzumachen. Außerdem erzählte sie jedem Einzelnen, was ich jemals Schlechtes über sie oder ihn gesagt hatte – obwohl ich das meiste davon gar nicht selbst gesagt hatte, sondern einfach nur Shauna zugestimmt hatte. Nachdem sie damit fertig war, hatte ich mehrere Monate lang keine Freunde mehr und musste ständiges Gewisper und Angestarrtwerden ertragen. Ich schämte mich so sehr über meinen Loser-Status, dass ich meiner Familie nichts davon erzählte, obwohl meine Mutter mich ständig fragte, warum die Mädchen nicht mehr anriefen. Nicole, die jünger als ich war, aber auf dieselbe Schule ging, wusste, dass irgendetwas passiert war, und fragte mich danach, aber selbst ihr erzählte ich nichts. Meine Schwester war die einzige Person, die in der Schule mit mir sprach, ohne sie wäre ich noch einsamer gewesen.
Schließlich ließ ich einmal nach dem Sportunterricht in der Mädchenumkleide meine Hose runter und forderte die anderen auf, genau hinzuschauen. Eines der Mädchen, Amy, fand das lustig. Sie war ziemlich cool und zog sich wie ich gerne jungenhaft an – seit Shauna mich fallengelassen hatte, trug ich, was ich wollte, Militaryhosen und enge, schwarze T-Shirts oder klobige Armeestiefel zu ausgeblichenen Jeans und dazu ein Arbeitshemd meines Vaters. Am nächsten Tag stellte Amy beim Mittagessen ihr Tablett neben meins und sagte: »Mädchen mit Schwänzen fand ich immer schon gut.« Seitdem waren wir beste Freundinnen, aber es fiel mir schwer, anderen Mädchen zu vertrauen, nach dem, wie Shauna mich behandelt hatte – mit Jungs fühlte ich mich wohler.
Nach dieser Geschichte suchte Shauna sich andere Zielscheiben, freundete sich mit Cathy, Kim und Rachel an – die umgehend auf der sozialen Leiter aufstiegen – und beachtete mich jahrelang gar nicht. Manchmal war sie sogar halbwegs freundlich, sagte hallo oder lächelte, wenn sie vorbeiging. Doch dann fing das mit Ryan und mir an. Erst später fand ich heraus, dass Shauna jedes Wochenende in die Kiesgrube gegangen war, in der Hoffnung, sich ihn angeln zu können. Er hatte sie einmal nach Hause gefahren, als sie megabetrunken gewesen war, aber da war nichts passiert, obwohl sie es versucht hatte. Am nächsten Wochenende kamen Ryan und ich zusammen. Seitdem hasste sie mich, noch mehr als damals, als ich ihr wegen Brody blöd gekommen war.
Seit ich nicht mehr mit Shauna befreundet war, war ich Frank McKinney nur ein paarmal über den Weg gelaufen. Als er Ryan und mich eines Abends am See erwischte, hielt er uns eine gewaltige Predigt, aber schließlich beschlagnahmte er nur unseren Alkohol und befahl uns, nach Hause zu fahren. Im selben Sommer wurde Ryan dabei erwischt, wie er Benzin aus einem Holzlaster absaugte. McKinney nahm keine Anzeige auf, sondern ging nur mit ihm ins Gefängnis und führte ihn dort herum. Dann sagte er ihm, er solle zur Vernunft kommen und dass er ihn von nun an im Auge behalten würde. Und wir wussten, dass er das ernst meinte.
Ich war mir ziemlich sicher, dass McKinney nicht wusste, was Shauna nach dem Tod ihrer Großmutter in ihrer Freizeit trieb, wahrscheinlich glaubte er, sie würde zu Hause sitzen und lernen. Sie schien genug zu tun, um ihren Notendurchschnitt zu halten, obwohl sie sich zu meinem Ärger keine große Mühe zu geben brauchte, aber meistens hing sie mit ihren Freundinnen herum oder feierte.
Jetzt beobachteten mich die Mädchen von ihrem Platz auf dem anderen Truck, flüsterten miteinander und kicherten.
Ich schmiegte mich enger an Ryan und zog seinen Kopf für einen weiteren langen Kuss nach unten. Ich fuhr total darauf ab und schlang meine Arme fest um ihn. Ich liebte es, seine Hände an meinem Hintern zu spüren und lächelte unter seinen Lippen, als ich daran dachte, dass Shauna zuschaute.
Als ich wieder aufblickte, waren Shauna und die Mädchen verschwunden.
Am nächsten Tag stand ich nach der Schule auf dem Parkplatz und wartete rauchend neben seinem Truck auf Ryan, als ein Wagen so dicht neben mich fuhr, dass er mich beinahe streifte. Shauna in ihrem weißen Sprint.
»Hey, du Schlampe«, rief sie und stieg aus. Cathy und Kim kletterten vom Rücksitz, Rachel vom Beifahrersitz. Sie kreisten mich ein.
»Was hast du für ein Problem?«, fragte ich.
»Du bist mein Problem«, sagte Shauna.
Die Mädchen lachten. Ich musterte sie rasch. Rachel hatte einen fiesen, finsteren Blick aufgesetzt, und Cathy zeigte ihr breites, dümmliches Lächeln. Na klasse. Es gibt doch nichts Schöneres, als den Spielball für ein paar gehässige Zicken zu geben.
»Ich hab dir nichts getan«, sagte ich. »Ich kann nichts dafür, wenn Ryan keine billigen Tussen mag.«
Sie baute sich direkt vor mir auf, so nah, dass ich ihr Parfüm riechen konnte, irgendetwas Fruchtiges, wie Mandarine.
»Pass auf, was du sagst.«
»Sonst was?«
Sie hob die Arme und schubste mich. Ich stolperte gegen den Truck.
Ich ließ meine Zigarette fallen und schubste sie kräftig zurück. Und dann waren wir auch schon mittendrin, die Fäuste flogen, und wir zogen uns an den Haaren. Ich hörte andere Schüler schreien, als sie herbeirannten und uns anfeuerten. Die Mädchen schrien: »Mach sie fertig, Shauna!« Shauna war größer als ich und gewann rasch die Oberhand, aber ich schaffte es, mich zu befreien, und wollte sie gerade ins Gesicht schlagen, als sich ein Arm um meine Hüfte legte und mich hochhob.
»Hör auf damit«, hörte ich Ryans Stimme an meinem Ohr.
Ich war immer noch fuchsteufelswild und wischte mir die Haare aus dem Gesicht, als er mich wieder auf die Beine stellte. Ein anderer Typ zog Shauna fort. Ihre Freundinnen schrien mir Beleidigungen entgegen. Ryan schob mich in seinen Truck und warf meinen Rucksack auf den Rücksitz.
Er startete den Motor und versuchte zurückzusetzen. Shauna stand immer noch neben ihrem Auto.
»Was hängst du dich in Tonis Kämpfe rein?«, brüllte sie.
Er brüllte zurück: »Halt die Schnauze, Shauna.«
Sie zeigte ihm den Finger.
Wir fuhren zu Ryan nach Hause. Seine Mom arbeitete mal wieder Spätschicht, und sein Dad, Gary, wie ich ihn nennen sollte, saß übernächtigt vor dem Fernseher.
Als wir eintraten, blickte er auf. »Bring mir noch ein Bier, Ry.«
Ryan brachte es ihm. »Wir sind in meinem Zimmer.«
Sein Dad zwinkerte ihm zu. »Viel Spaß.«
Ich zuckte zusammen, aber es war nett, nicht schikaniert zu werden, was nicht heißen sollte, dass Ryans Dad seinem Sohn nicht oft genug das Leben schwermachte. Wenn Gary im Knast saß, dann meistens wegen Kneipenschlägereien oder weil er im Suff irgendetwas hatte mitgehen lassen. Ryan sagte, sein Vater habe keine langen Finger, sondern Whiskeyfinger. Wenn er richtig betrunken war, ging er ziemlich grob mit Ryan um. Im letzten Jahr hatten sie sich ein paarmal geprügelt – jetzt, wo Ryan größer und kräftiger war, schien sein Dad ihn noch häufiger fertigmachen zu wollen, als wolle er beweisen, dass er immer noch der Stärkere war. Gary arbeitete als Holzfäller, eine Saisonarbeit, doch Ryan erledigte alle Arbeiten rund ums Haus und half seiner Mom. Ich weiß nicht, warum sie Ryans Dad nicht schon längst verlassen hatte. Sie hieß Beth und schien eine nette Frau zu sein. Sie arbeitete viel, aber kümmerte sich immer noch um Ryan, strich ihm das Haar zurück und fragte ihn, ob er genug zu Abend gegessen habe oder mehr Geld für die Schule brauche. An der Art, wie sie über seine Witze lachte und ihn voll Stolz ansah, merkte man, dass sie ihren Sohn aufrichtig liebte.
Wir gingen in Ryans Zimmer, und ich warf mich aufs Bett, während er seinen Ghettoblaster einschaltete.
»Du darfst dich nicht von Shauna provozieren lassen«, sagte er.
»Sie hat angefangen.« Auf dem Heimweg hatte ich Ryan den Grund für den Kampf erklärt.
»Na und? Ignorier sie.«
»Klar, so wie du jemanden ignorierst, der dir das Leben schwermacht?«
»Bei Jungs ist das was anderes. Wenn bei uns jemand wen verprügelt, gibt der Verlierer danach Ruhe, aber Shauna fährt darauf ab, dich zur Weißglut zu reizen, und du gibst ihr genau das, was sie will. Wenn du sie ignorierst, machst du sie wütend.«
Ich starrte an die Decke und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Es stimmte, je heftiger ich reagierte, desto mehr schien Shauna es zu genießen.
»Vielleicht hast du recht. Vielleicht verliert sie irgendwann die Lust.«
Er ließ sich neben mich fallen, drehte mit einem frechen Grinsen seine Baseballkappe zurück und begann, an meinem Hals zu schnuppern. Er schob sich auf mich und griff unter mein T-Shirt. Die rauen Hände fühlten sich kratzig auf der Haut an und schickten mir Schauder über den Rücken, so dass ich mich am liebsten ganz klein zusammengerollt hätte. Ich ließ mich vom harten Rhythmus der Heavy-Metal-Musik, seinen Berührungen, seinem warmen Mund davontragen. Ich würde nicht weiter an Shauna denken, würde sie nicht gewinnen lassen. Aber eine leise, zweifelnde Stimme konnte ich nicht zum Verstummen bringen. Würde sie mich jemals in Ruhe lassen?