László Krasznahorkai
Die Welt voran
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming
FISCHER E-Books
László Krasznahorkai wurde 1954 in Gyula/Ungarn geboren. 1993 erhielt er für ›Melancholie des Widerstands‹ den Preis der SWR-Bestenliste-Preis. 1996 war er Gast des Wissenschaftskollegs, 2008 S.Fischer Gastprofessor an der FU Berlin. Bela Tarr verfilmte einige von Krasznahorkais Büchern, darunter ›Satanstango‹ und die ›Melancholie des Widerstands‹ als ›Werckmeisters Harmonien‹. Er ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Zuletzt erschien der Roman ›Krieg und Krieg‹ und sein Buch über Japan: ›Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß‹. László Krasznahorkai wurde für ›Seiobo auf Erden‹ mit dem Brücke-Berlin-Preis 2010 sowie dem Spycher Literaturpreis Leuk 2010 ausgezeichnet. Im Mai 2014 wurde er mit dem Vilencia Award, dem renommiertesten Literaturpreis Zentraleuropas, ausgezeichnet.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ›Megy a világ‹
im Verlag Magvető, Budapest
© László Krasznahorkai, 2013
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagabbildung: Lenke Szilágyi
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Buch wurde
vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401001-4
Im Original deutsch.
Im Original deutsch.
Das Kapitel Der Schwan von Istanbul besteht in der gedruckten Ausgabe aus der Kapitelüberschrift und einer Widmung, es folgen 21 leere Seiten. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich auf eben diese Seiten.
Ich muss hier weg, denn das ist nicht der Ort, an dem man sein kann und an dem es sich zu bleiben lohnt, denn das ist der Ort, den man wegen seines unerträglichen, nicht auszuhaltenden, kalten, traurigen, öden und tödlichen Gewichtes fliehen muss, den Koffer nehmen, vor allem den Koffer, zwei Koffer sind gerade genug, dort alles hineinpacken und die Schlösser zuschnappen lassen, und dann zu den Schustern rennen zum Besohlen und Besohlen und wieder nur Besohlen, denn Schnürstiefel braucht es, ein Paar Schnürstiefel, die auf jeden Fall, ein Paar gute Schnürstiefel und zwei Koffer sind genug, damit können wir schon aufbrechen, insofern wir wissen – denn das ist das Erste –, wo genau der Ort ist, an dem wir uns gerade befinden, es braucht also eine Fähigkeit, ein vollkommen praktisches Wissen und nicht irgendein Richtgefühl oder so ein sich tief im Herzen verbergendes nebulöses Etwas, um zu bestimmen, wo wir uns gerade befinden, demgemäß wir dann die richtige Richtung wählen, einen Sinn, als könnten wir einen besonderen Richtapparat zur Hand nehmen, mit dem wir sagen könnten, hier und hier also befänden wir uns im Raum, und zwar in einem besonders unerträglichen, nicht auszuhaltenden, kalten, traurigen, öden und tödlichen Schnittpunkt, von dem man weg muss, denn das ist nicht der Ort, an dem man imstande ist, sein zu können und bleiben zu können, an diesem morastigen, beunruhigend dunklen Punkt des Raumes ist man zu überhaupt nichts imstande, außer dazu auszusprechen: gehen, sofort gehen, ohne nachzudenken aufbrechen, und nicht zurückblicken, nur, den Blick nach vorn, der zuvor bestimmten Richtung folgen, der richtigen Richtung selbstverständlich, die zu bestimmen keineswegs so quälend schwer erscheint, außer wenn sich herausstellt, dass dieses praktische Wissen, dieser besondere Sinn, nachdem es gelungen ist, die Koordinaten jenes von traurig bis tödlich sich erstreckenden Punktes des Raumes zu identifizieren, auf einmal sagt, »im Normalfall« ist es so, dass wir sagen, von hier aus muss man nach da oder da gehen, das heißt, entweder diese oder die entgegengesetzte ist die richtige Richtung, nur gibt es Fälle, die sogenannten »nicht normalen Fälle«, in denen dieser Sinn, dieses zu Recht hochgeschätzte praktische Wissen erklärt, die Richtung, die wir gewählt haben, ist richtig, also bitte, sie wird es sein, da entlang, schau her, das ist die richtige – richtig aber ist auch die entgegengesetzte, erklärt genau derselbe Sinn, na und dann stellt sich die Irrfahrt im Stehen ein, denn da steht dieser Mensch, mit zwei schweren Koffern in den Händen und einem Paar vortrefflich besohlter Schnürstiefel, und er könnte nach rechts gehen und würde sich nicht irren, doch er könnte ebenso nach links gehen und irrte sich auch dann keineswegs, dann also, wenn dieser Sinn in uns beide, einander aber diametral entgegengesetzte Richtungen als gut, und zwar so als gut beurteilt, dass er allen Grund dazu hat, denn zumindest die Angabe dieser beiden, einander also diametral widersprechenden Richtungen innerhalb jenes praktischen Sinns geschieht schon in einer der Sehnsucht nach beurteilten Struktur, das heißt, »geh nach rechts« ist genauso viel wert wie »geh nach links«, da beide Richtungen in die der Sehnsucht nach entfernteste, von hier am weitesten weg führende Gegend weisen, den in der angegebenen Richtung zu erreichenden Punkt bestimmt nämlich schon keineswegs mehr dieses praktische Wissen, dieser Sinn, diese Fähigkeit, sondern einzig und allein die Sehnsucht, jenes Verlangen, nicht einfach nur so weit weg wie möglich von der augenblicklichen Lage zu gelangen, sondern gleichzeitig auch an den verheißungsvollsten Ort, an dem der Mensch zur Ruhe kommen kann, denn darum geht es, um Ruhe, die sucht dieser Mensch in jener ersehnten Ferne, Ruhe als Antwort auf eine unsagbar beklemmende, schmerzende, wahnsinnige Unruhe, die ihn erfasst, sooft er an seine augenblickliche Lage denkt, an den Ausgangspunkt, an dieses unendlich fremde Land, wo er sich jetzt befindet, und von wo er weg muss, weil alles hier unerträglich ist und nicht auszuhalten und kalt und traurig und öde und tödlich, von wo er aber vom ersten Augenblick bis zur Bestürzung auch nicht weg kann, wenn er dann begreift und tatsächlich bestürzt ist, dass er seinem Wesen nach gefesselt ist, und zwar wegen seines ansonsten fehlerfrei funktionierenden praktischen Sinns gefesselt ist, der gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen weist, dass er einfach aufbrechen soll, es sei gut so, nur wie kann man denn gleichzeitig in zwei einander entgegengesetzte Richtungen aufbrechen, das ist die Frage, und das bleibt sie auch, er steht hier, als hätte man ihn hier verankert, wie ein altes Schiff, steht gebeugt unter der Last der schweren Koffer, steht, regt sich nicht, und so, stehend, reglos, geht er blindlings in eine, schon egal, welche Richtung, und er rührt sich keinen Millimeter, während er schon weit weg ist, und es beginnt die Irrfahrt im Ungewissen, denn während sich seine in Wahrheit reglose, gebeugte Gestalt gleichsam als Statue in das Unverlassbare einprägt, taucht er seinem Wesen nach aber überall auf: Man sieht ihn Tag und Nacht, man weiß von ihm in Amerika und weiß von ihm in Asien, man kennt ihn in Europa und kennt ihn in Afrika, er besteigt die Berge und durchstreift die Flusstäler, er läuft und läuft und unterbricht diese Wanderung für keine einzige Nacht, ruht nur hin und wieder eine Stunde, doch selbst dann schläft er wie ein Tier und schläft wie ein Soldat, und er fragt nichts und sieht niemandem lange hinterher, man erkundigt sich, was machst du denn, du Verrückter, wohin gehst du mit einem derart besessenen Blick, setz dich und ruhe dich aus, schließ die Augen und bleib über Nacht hier, doch dieser Mensch setzt sich nicht und ruht sich nicht aus, er schließt nicht die Augen, weil er nicht über Nacht dort bleibt, weil er nirgends lange bleibt, weil er sagt, wenn er überhaupt etwas sagt, dass er immer gehen muss, und man sieht ihm an, dass sie ihn vergeblich fragen würden, er würde keinem verraten, wohin in so einem Gewaltmarsch, weil er selbst schon nicht mehr wüsste, was er vielleicht gewusst hat früher, hier im Stehen geblieben mit den zwei schweren Koffern in den Händen: Er war aufgebrochen, blindlings in die große weite Welt aufgebrochen, doch einen Weg, den hatte er im Grunde nicht, so dass er ihn auch unterwegs nicht haben konnte, er sah vielmehr aus wie ein jämmerliches Gespenst, vor dem sich niemand fürchtet, man erschreckte mit ihm keine Kinder und murmelte nicht seinen Namen in den Kirchen, damit er die Stadt verschone, wenn er hier und da auftauchte, man winkte nur ab, er ist schon wieder da, denn immer wieder erschien er in Amerika und Asien, immer wieder zeigte er sich in Europa und Afrika, und es entstand der Eindruck, dass er in Wirklichkeit die Welt umrundete, um die Welt herum wie ein Uhrzeiger, und wenn seine Anwesenheit zu Beginn hier und da noch von Interesse gewesen war, wie selbst die eines jämmerlichen Gespenstes es ist, winkte man nur ab, wenn er zum zweiten oder zum dritten oder zum vierten Mal kam, es interessierte wahrlich keinen, daher wurde es immer seltener, dass man versuchte, ihn zu fragen, oder man ihm einen Platz anbot, immer seltener setzte man ihm etwas zu essen vor, wie man ihn im Laufe der Zeit auch nicht mehr gern beherbergte, denn wer weiß, so bemerkte man untereinander, was das Ganze soll, obgleich es offensichtlich war, dass man seiner lediglich überdrüssig war, und zwar endgültig, da er im Gegensatz zu einem Uhrzeiger nichts zeigte, nichts bedeutete, und was die Welt am meisten störte, freilich, wenn diese Welt überhaupt etwas störte, dann war es in erster Linie und zu guter Letzt, dass dieser Mensch nichts wert war, bloß lief und nicht den geringsten Wert hatte, so geschah es, dass die Zeit kam, als er sich bereits so in der Welt bewegte, dass er buchstäblich nicht wahrgenommen wurde, er war verschwunden, seine Materie war quasi verdampft, er war für die Welt zu nichts geworden, das heißt, man hatte ihn vergessen, was natürlich nicht bedeutete, dass er auch in Wirklichkeit angefangen hätte zu fehlen, denn er blieb sehr wohl da, wie er lief, unermüdlich, zwischen Amerika und Asien, Afrika und Europa, nur die Verbindung zwischen ihm und der Welt brach gewissermaßen ab und geriet auf diese Weise in Vergessenheit: Er wurde unsichtbar und blieb somit vollkommen allein, und da nahm es seinen Anfang, dass er an einzelnen Stationen seiner Irrfahrt darauf aufmerksam wurde, dass es aufs Haar die gleichen Figuren wie ihn in dieser Geschichte gab, manchmal nämlich sah er sich aufs Haar solchen gegenüber, die aufs Haar so waren wie er, als schaute er in den Spiegel, zuerst stutzte er und verließ schnell die Stadt oder die Gegend, dann jedoch ließ er manchmal den Blick auf diesen seltsamen Gestalten ruhen und begann sie zu mustern, suchte den Unterschied zwischen seinem und ihren Gesichtern, doch wie die Zeit verging und das Schicksal ihn mit immer mehr aufs Haar solchen Irrfahrern zusammenführte, wurde immer offensichtlicher, dass auch die Koffer gleich waren, der gebeugte Rücken gleich, alles, wie er sich unter dem Gewicht hielt und wie er sich jeweils vorwärtsschleppte, alles glich sich, beziehungsweise es glich sich nicht nur, es war tatsächlich aufs Haar gleich, selbst die Schnürstiefel, mit der meisterlichen Besohlung, auch das beobachtete er, als er einmal in eine größere Halle einkehrte, um Wasser zu trinken, auch die Besohlung ist genauso meisterlich, und ihm gefror gleichsam das Blut in den Adern, er sah, dass die ganze Halle voll mit Menschen war wie ihm, er trank schnell und verließ eilig jene Stadt und jene Gegend, und von da an setzte er nicht einmal mehr auch nur einen Fuß dorthin, wo er vermutete oder spürte, er würde solche Irrfahrer treffen, von da an mied er sie also, und so blieb er endgültig allein, und seine Wanderung verlor ihre besessene Zufälligkeit, doch er lief weiter, unermüdlich, und diese Wanderung trat in eine ganz neue Phase, denn er war sich sicher, dass er nur durch die Entscheidung, sich in ein Labyrinth zu zwingen, die ihm aufs Haar Gleichenden schnellstmöglich umging, dass also erst da die Träume begannen, er schlief nämlich an völlig zufälligen Orten und zu völlig zufälligen Zeiten, kurz und oberflächlich, und in einer seltenen Periode dieser kurzen und oberflächlichen Träume begann er, wie bis dahin noch nie, zu träumen, und zwar immer haargenau den gleichen Traum, einen Traum davon, dass seine Wanderung endet und er eine riesige Uhr oder ein Rad oder eine sich drehende Werkstatt, das konnte er nach dem Aufwachen nie mit Sicherheit sagen, vor sich sieht, auf jeden Fall erreicht er irgend so etwas oder eine Kombination davon, betritt diese Uhr oder das Rad oder die Werkstatt, bleibt in der Mitte stehen, und in der unsagbaren Müdigkeit, in der er bis dahin sein Leben verbracht hat, sinkt er zu Boden, als wäre er angeschossen worden, stürzt wie ein in sich zusammensinkender Turm, legt sich auf die Seite fallend nieder, um endlich zu schlafen, wie ein bis zum Äußersten abgerackertes Tier, und dieser Traum wiederholte sich, sooft er in irgendeinem Winkel den Kopf auf die Brust senkte oder eine Pritsche erwischte, er sah immer wieder haargenau den gleichen Traum, dabei hätte er etwas ganz anderes sehen müssen, wenn er den Blick hob, wenn er den während seiner jahrhundertelang scheinenden Wanderung ewig gesenkten Kopf einmal aufrichtete, denn dann hätte er sehen müssen, dass er noch immer dort steht, die zwei Koffer in den Händen, an seinen Füßen die meisterlich besohlten Schnürstiefel, und er ist so mit dem sohlengroßen Stück Land verankert, auf dem er steht, dass es nicht einmal die Hoffnung gibt, er könne sich irgendwann von dort wegbewegen, denn dort muss er bis zum Ende aller Zeiten stehen, in zwei richtige Richtungen gleichzeitig gefesselt, bis zum Ende aller Zeiten muss er dort stehen, weil dieser Punkt sein Zuhause ist, genau dorthin wurde er geboren, und dort muss er einmal auch sterben, zu Hause einst, zu Hause, wo alles kalt und traurig ist.
Ich will die Erde hinter mir lassen, biege auf der Wiese an der Bachbrücke ab, biege hinter der Futterkrippe für die Hirsche aus dem Walddunkel, biege bei Monowitz an der Ecke Schuhkammer und Kleiderkammer[1] auf die Straße, und ich will schneller sein als die Erde, in welche Richtung auch immer ich das Denken begann, alles führte hierher: Lass jetzt alles, und lass die Erde hinter dir, und ich bog hinaus und begann zu laufen, und instinktiv begann ich richtig zu laufen, denn nicht nach Osten oder Süden oder Norden oder Westen oder in irgendeinem Winkel zu diesen schlug ich den Weg ein, vielmehr ging ich direkt und unbändig auf das Ganze drauflos, weil ich dachte, wenn man die Erde hinter sich lassen will, ist es das Beste, sich geradeheraus gegen sie zu wenden und auf sie loszugehen, also wandte ich mich geradeheraus gegen sie und ging auf sie los, und ich begann zu rennen, und zuerst sah es tatsächlich so aus, dass ich gut daran getan hatte, denn die ganze zur Aufgabe sich auswachsende wahnsinnige Wut, das Gebäude, die morgendliche Küche, der Tisch mit der Tasse, die Tasse mit dem smaragdfarben dampfenden Tee und wie der Duft sich nach oben schlängelte und die ganzen Grashalme auf der vom Morgentau perlenden Wiese und die leere Futterkrippe für die Hirsche im Walddunkel, all das stand mir im Kern zweifellos entgegen, ich also, der schneller sein wollte als die Erde und an der Ecke, auf der Wiese oder aus dem Walddunkel gebogen war, ich musste haargenau auf all das losgehen, was die Erde ist, so war es egal, wohin ich aufbrach, denn alles, die ganze geschaffene Welt, die ganzen, Milliarden mal Milliarden Bestandteile dieser ungeheuer großen Welt drehten sich einfach mit einer unfassbaren Geschwindigkeit irgendwoher irgendwohin, das heißt dieses Ganze mir entgegen, ich also, der schneller sein wollte und die eigene Geschwindigkeit instinktiv mit der überphysikalischen Plötzlichkeit der entgegengesetzten Richtung, das heißt mit einer selbstverständlichen Freiheit auszuwählen gedachte, und der darauf schiss, dass die Erde sich dreht, musste dem entgegen, ja, gegen diese ungeheure Welt und alles, was in ihr die Ecke, die Wiese und das Walddunkel ist – beziehungsweise nein, so bohrte es sich plötzlich in mich, ganz und gar nicht entgegen, weh mir, gerade nicht entgegen, an der Ecke, auf der Wiese und aus dem Walddunkel war ich instinktiv gerade falsch abgebogen, denn es ist keineswegs egal, in welche Richtung, denn man kann nicht einfach so auf sie losgehen, wenn man wirklich auf sie los will, sondern muss die Richtung sehr wohl bedenken und richtig auswählen, oh, verdammt, in der Sekunde drehte ich mich einmal um meine eigene Achse, wie konnte ich nur instinktiv denken, dass, wenn ich mit einem »egal wohin«-Entschluss in meinem Kopf auf die Erde losgehe, ihre Geschwindigkeit und meine einander berücksichtigen, respektieren und sich in diesem Respekt summieren würden, es die der Erde gebe, die sich von West nach Ost dreht, und meine, der ich, die königliche Reglosigkeit seines Ausgangspunktes als absoluten Wert voraussetzend, gut separierbar auf diese losgeht, das kleine Kleine im Großen Ganzen, die kleine Gegenrichtung gegen die Große Richtung, unabhängig voneinander, miteinander nur in einer einzigen Beziehung, dass nämlich die Große Richtung der Kleinen Gegenrichtung in sich selbst einen Platz gibt und sich so aufzehrt, was für ein Kurzschluss, stellte ich fest und drehte mich schon um, doch warum nur hatte ich so etwas gedacht, noch dazu instinktiv, denn wenn wir schon von einer einzigen Beziehung sprechen, dann kann diese einzige Beziehung nichts anderes sein, als dass das eine das andere umfasst, das eine das andere enthält, das andere Teil des einen ist, diesem unterworfen, dessen kleiner Bruder, kleine Schwester, die die Große dorthin mitnimmt, wohin sie geht, und die Erde eben, die schritt ganz richtig und ausschließlich von West nach Ost voran, und in ihr war ich, der schneller sein wollte, selbstverständlich in Relation zu ihr, und zwar in der strengstens logischen Relation, dass nämlich jene Geschwindigkeit, die der Erde, diese Geschwindigkeit, die meines Rennens, enthielt, so oder so, doch auf jeden Fall enthielt, wenn es von einem Großen Standpunkt aus betrachtet auch sein mag, dass es nicht zählte, dass ich gegen sie anrannte, weil dann minus, beziehungsweise, wenn mit ihr in eine Richtung, dann plus, doch für mich, von meinem bitteren Standpunkt aus, nicht wahr, zählte es nur allzu sehr, denn ich, nicht wahr, wollte genau das, schneller sein als die Erde, ich brauchte also gerade das Plus, das heißt nicht das Große Freie Großganze und darin das Kleine Unabhängige Kleinganze, sondern dass ich in der Großen Physikimmanenz einfach renne, nun aber schon richtig, das heißt von West nach Ost, zusammen mit der Erde, denn gerade so, gerade auf diese Weise, na klar, dass so, wenn ich schneller sein will als die Erde, und ich rannte zusammen mit der Erde, von West nach Ost, aus westlicher Richtung in östliche Richtung, und ich war auch schon schneller, die Erkenntnis schlug wie der Blitz in mich ein, ich habe die Geschwindigkeit der Erde ohne eine einzige Bewegung, und so erst recht, wenn ich auf ihrer Oberfläche voran nach Osten renne, das liegt auf der Hand, ich atmete immer glücklicher, es war frisch hier draußen, eine Freie Nacht, oder ein Freier Morgen, oder eher etwas dazwischen, da war ich eingesperrt, doch hatte ich mich vollkommen beruhigt, vollkommen, von dem Gedanken, dass ich nun schon in die richtige Richtung rannte, um schneller zu sein als die Erde, denn die Erde ist der Gedanke, hatte ich noch zu Beginn gedacht, und ich will schneller sein als der Gedanke, den Gedanken hinter mir lassen, das war mein Jähziel gewesen, und das hatte ich verfolgt, als ich bei Monowitz an der Ecke Schuhkammer und Kleiderkammer und an der perlenden Wiese bei der Bachbrücke oder bei der leeren Futterkrippe für die Hirsche aus dem Walddunkel gebogen war, um dann beim Aufbrechen zwar zuerst einen Fehler zu machen, instinktiv, mich aber dann zu korrigieren und innerhalb eines Augenblicks die Richtung anzupeilen, von West nach Ost, als Kleines Ganzes im Großen Ganzen, wo ich seiner Geschwindigkeit nur meine hinzufügen musste, und sie auch hinzufügte, beziehungsweise nun schon rannte, so schnell ich konnte, unter dem von der Nacht in den Morgen übergehenden gewaltigen Himmel die Beine in die Hand nahm, und ich hatte auch nichts anderes im Kopf, nur dass alles gut so ist, ich nur seiner meine hinzufüge, seiner Geschwindigkeit meine Geschwindigkeit, als es mich plötzlich erneut durchbohrte, schön und gut, aber wie viel bin ich denn schneller als die Erde, und überhaupt, ist das überhaupt von Interesse? wie viel ich schneller bin?, nein, es ist nicht von Interesse, sagte ich mir, während ich meine Beine ordentlich in die Hand nahm, denn alles in allem ist von Interesse, dem Gedanken zuvorzukommen, das heißt schneller zu sein als die Erde, als jedoch in meinem Kopf mein kleiner Bruder zu rechnen begann, da ist also die Geschwindigkeit der Erde, dieses würdevoll sich drehende ungeheuer Ewige pro Sekunde, und dort ist das durch meine Laufleistung erzeugte Gelegenheitsgeborene pro Sekunde, da schien es auf einmal, als reichte, um schneller zu sein als die Erde, jeder beliebige Wert, mit dem ich die Erde überholen kann, dann aber muss ich gar nicht so sehr laufen, dachte ich, denn meine Gesamtgeschwindigkeit ändert sich fast gar nicht, wenn ich meine Laufgeschwindigkeit ein wenig drossele, so drosselte ich sie sofort, plötzlich zeigte sich, dass ich unermesslich viele Möglichkeiten hatte, schneller zu sein als die Erde, es war genug, wenn ich weiterhin Kurs von West nach Ost hielt, und genug, wenn ich rannte, denn ohne jetzt die von den Breitenkreisen angebotenen Verführungen zu erwähnen, die sie potenzieren würden, gibt es unsagbar viele Geschwindigkeiten, die ich wählen kann, unendlich viele Werte meiner Laufgeschwindigkeit, ja, dachte ich bei mir, während ich diese Laufgeschwindigkeit auch weiterhin drosselte, eigentlich ist es genug, wenn ich … gehe, wenn ich einen Fuß vor den anderen setze, Hauptsache, ich gehe von West nach Ost, es ist genug, wenn ich nicht stehen bleibe, und dafür, nicht stehen zu bleiben, gibt es Milliarden und Abermilliarden Geschwindigkeitsmöglichkeiten, während ich frei bin, vollkommen frei, bemerkte ich, und meine Schritte verlangsamten sich instinktiv und zunehmend, ich kann vollkommen frei wählen, wie schnell ich gehe, um schneller zu sein als die Erde, und auf diese Weise schneller als der Gedanke, weil die Erde der Gedanke ist, darüber hatte ich nachgedacht, bevor ich kurz zuvor aufgebrochen war, darüber, als ich auf der Wiese bei der Bachbrücke abgebogen war, als ich hinter der Futterkrippe für die Hirsche aus dem Walddunkel gebogen war, als ich bei Monowitz an der Ecke Schuhkammer und Kleiderkammer abgebogen war. Wenn ich nicht die falsche Richtung wähle, sagte ich zu mir, und die Richtung halte, wenn ich einfach nur vorwärtsgehe oder auch nur in der frischen Morgenluft spaziere, erreiche ich ebenso mein Ziel und werde schneller sein als die Erde – nur jenes Walddunkel entfernt sich immer weiter, nur jene Wiese, jene Ecke, nur der Duft jenes smaragdfarbenen Dampfes entschwindet für immer in der Zeit, ins Unendliche, unwiederbringlich.
Wir sind mitten in einer zynischen Selbstabrechnung; als nicht allzu vorzügliche Kinder einer nicht allzu vorzüglichen Zeit, die als Epoche sich selbst nur dann als wirklich vollendet betrachtet, wenn jedes in ihr sich windende Wesen, in einem der tiefsten Schatten der menschlichen Geschichte herumliegend, sein trauriges und vorübergehend klares Ziel: das Vergessen, endgültig erreicht. Es will vergessen, dass es selbst alles, was es hatte, verspielt hat, dass es nichts dafür verantwortlich machen kann, keine fremde Macht, kein Schicksal, keine ferne, unheilvolle Einmischung, es ist schuld, dass es keinen Gott und keine Ideale mehr hat. Vergessen will es, weil es nicht einmal seine bittere Niederlage mit Würde zu ertragen vermochte, weil der höllische Rauch und der höllische Alkohol seinen Charakter zerfressen haben, weil tatsächlich nur das, der Rauch und die billigen Schnäpse von dem Verlangen des einstigen metaphysischen Passagiers auf dem Weg zum Engelreich geblieben sind – von der Sehnsucht ein schmutziger Rauch, von dem rasend machenden Trank der Besessenheit ein in der Nase stechender Sprit.
Die Geschichte ist nicht zu Ende, nichts ist zu Ende, wir können uns nicht mehr vormachen, dass mit uns was auch immer zu Ende geht. Wir setzen nur etwas fort und erhalten es irgendwie aufrecht, etwas setzt sich fort, etwas besteht fort.
Kunstwerke bringen wir noch hervor, aber wir sprechen gar nicht mehr darüber, wie, so wenig erhebend ist das. Als Grundlage nehmen wir, was sich bis jetzt auf das Wesen der condition humaine bezog, und tauchen wieder pflichtbewusst, in Wahrheit einfallslos, mit strenger Disziplin, in Wahrheit als Gefangene eines auf Grund gelaufenen geistigen Zustandes, im schlammigen Wasser der darstellbaren Ganzheit dieser menschlichen Existenz. Nicht einmal den Fehler der jungen Wilden begehen wir mehr, die behaupten, unser Urteil ist das Weltgericht, und auch nicht den, zu erklären, von hier geht es nicht weiter. Wir können nicht sagen, es gibt, weil es in den Dingen keinen Sinn gibt, für uns in den Werken keine Zeit und keine Geschichte mehr, wie wir auch nicht sagen können, dass sich damit, was also dann der Sinn in den Dingen wäre, ein anderer außer uns jemals auskennte, hingegen behaupten wir, für uns sei es erwiesen, dass wir vergeblich versuchen, in unserer Enttäuschung von uns abzusehen und einem edleren Ziel, einer höheren Kraft zuzustreben, unser Versuch nimmt immer ein schmähliches Ende. Denn vergeblich wollen wir über die Natur reden, die Natur will es nicht, vergeblich wollen wir über das Göttliche reden, auch das Göttliche will es nicht, und überhaupt, vergeblich wollen wir, wir vermögen außer über uns selbst über nichts zu reden, weil wir nur über die menschliche Geschichte reden können, über den Zustand des Menschen, über jene sich nie ändernde Beschaffenheit, deren Kern lediglich für uns ein so heikler Bezug ist, ansonsten, aus der Perspektive des »göttlichen Ansonsten« ist dieser Kern, vielleicht tatsächlich, von aller Ewigkeit an und für alle Ewigkeit: egal.
Wie schön wäre eine Welt, und wie schön wäre es, diese Welt so zu beenden, dass wir irgendwo in dieser sich verabschiedenden Welt eine Vortragsreihe organisierten und ihr den Untertitel »Landschaftstheoretische Vortragsreihe« gäben, wo aus jedem Teil der Welt, aufeinanderfolgend wie in einer Zirkusmanege, ein Physiker, dann ein Kunsthistoriker, ein Dichter, ein Geograph, ein Biologe, ein Musikwissenschaftler, ein Architekt, ein Philosoph, ein Anarchist, ein Mathematiker, ein Astronom und so weiter einen landschaftstheoretischen Vortrag hielten, wo dieser Physiker, dieser Kunsthistoriker, dieser Dichter, dieser Geograph, dieser Biologe, dieser Musikwissenschaftler, dieser Architekt, dieser Philosoph, dieser Anarchist, dieser Mathematiker, dieser Astronom und so weiter vor einem ständigen, sich nie ändernden Publikum erzählten, was sie von ihrem Standpunkt aus von der Landschaft hielten, doch wo der Titel der Vortragsreihe lautete »Es gibt keine Landschaft« und damit andeutete, dass hier schon das Verhältnis zwischen Titel und Gegenstand ein besonderes ist, wo Künstler und Wissenschaftler, aus den Richtungen der Dichtung, der Musik, der Mathematik, der Architektur, der bildenden Kunst, der Geographie, der Biologie, der dichterischen Sprache und der Physik, der Philosophie und der Anarchie kommend, darüber redeten, was sie über die Landschaft denken und was wir auf ihre Vorschläge hin über sie denken sollen – all das unter einer summarischen Aussage, die leugnet, dass dieser Gegenstand, die Landschaft, überhaupt existiert. Der Gegensatz jedoch wäre nur ein scheinbarer: Diese Reihe könnte (bitter) genauso den Titel »Alles ist Landschaft« tragen, wie sie den Titel »Es gibt keine Landschaft« (objektiv) trägt. Sie würden sich nämlich darüber äußern, was für sie und für uns jenes Wesen bedeutet, aus dessen Perspektive es Landschaft gibt, wenn es auf das Universum blickt, darüber, welches Gewicht jene Frage hat, ob nämlich die zweifellose Beschränktheit der menschlichen Anschauung uns wohl zu der gewichtigen, weil unbeweisbaren Feststellung führen kann, wonach auch eine andere, nicht bloß die menschliche, Perspektive anzunehmen möglich ist – wenn die Situation schon die ist, dass es keine Landschaft gibt, wenn die Sache schon so steht, dass für uns hingegen, wohin wir auch schauen, in Trümmern und unversehrt: alles Landschaft und Landschaft und überall ist, wenn es schon so ist, dass wir gefangen im magisch engen Raum der menschlichen Anschauung am zufälligen Ende eines qualvollen Weges erkennen müssen: Außer an dieser magischen Enge halten wir eigentlich an nichts anderem mehr fest, an nichts anderem, an keinerlei Sein, nicht einmal mehr am Sein, nur an der Verheißung, dass wir einst in einer Landschaft in der tiefsten Schönheit und im tiefsten Verfall etwas erblicken können: etwas, jenes, das sich auf uns bezieht.
Vor gut hundert Jahren, 1889, an einem ähnlichen Tag wie heute, tritt Friedrich Nietzsche durch das Tor des Hauses Via Carlo Alberto Nummer sechs, vielleicht um spazieren zu gehen, vielleicht auf dem Weg zur Post, um seine Briefe abzuholen. Unweit, oder da schon allzu weit von ihm entfernt, müht sich ein Droschkenkutscher mit seinem – angeblich! – störrischen Pferd. Vergeblich treibt er es an, das Pferd bewegt sich nicht, worauf der Kutscher – Giuseppe? Carlo? Ettore? – die Geduld verliert und das Tier mit der Peitsche schlägt. Nietzsche erreicht den vermutlichen Menschenauflauf, und damit hat das unbarmherzige Schauspiel des vor Wut sicher bereits schäumenden Kutschers auch schon ein Ende. Der riesige Herr mit dem dichten Schnurrbart nämlich springt plötzlich – zur kaum verborgenen Freude der Zuschauer – zu dem Kutscher hin und fällt dem Pferd schluchzend um den Hals. Nietzsche wird von seinem Gastgeber nach Hause gebracht, zwei Tage liegt er reglos und stumm auf einem Kanapee, spricht noch die verbindlichen letzten Worte (»Mutter, ich bin dumm«), um danach als sanftmütiger Verrückter unter der Aufsicht seiner Mutter und seiner Schwester noch zehn Jahre zu leben. Was aus dem Pferd geworden ist, wissen wir nicht.
Diese an sich unglaubwürdige Geschichte – der man mit der hier zu erwartenden natürlichen Willkür dennoch Glauben schenkt – wirft wie ein Modell des Dramas der Vernunft ein besonders scharfes Licht auf das Endspiel unseres Geistes. Der teuflische Star der lebendigen Philosophie, der faszinierende Antipode der »universalen menschlichen Wahrheiten«, der unnachahmliche Meister, der zu Mitgefühl, Vergebung, Güte, Anteilnahme beinahe erstickend nein gesagt hatte – am Hals des geschlagenen Pferdes? Gemein ausgedrückt, was unverzeihlich aber unvermeidlich ist: wieso nicht an dem des Kutschers?
Bei allem Respekt vor Doktor Möbius, für den all das lediglich der simple Fall des Ausbruchs einer Paralysis progressiva infolge einer Syphilis ist, wir aber, die späten Nachgeborenen, sind Zeugen der blitzartig aufleuchtenden Erkenntnis eines tragischen Irrtums: Damit hat Nietzsches Wesen nach so langem und qualvollem Kampf zu Nietzsches in seinen Konsequenzen besonders teuflischem Gedankengang nein gesagt. Thomas Mann schreibt, der Irrtum bestehe darin, dass dieser feinsinnige Prophet des ruchlosen Lebens »Leben und Moral … als Gegensätze behandelt. Die Wahrheit ist«, fügt er hinzu, »daß sie zusammengehören. Ethik ist Lebensstütze, und der moralische Mensch ein rechter Lebensbürger.« Dieser Ausspruch Thomas Manns, diese Unbedingtheit der edlen Äußerung ist so schön, sie verdiente es gar, dass wir eine Zeitlang innehielten, auf ihr weiterschipperten, dennoch tun wir es nicht, unser Schiff steuert jetzt der Turiner Nietzsche, und das bedeutet nicht nur andere Gewässer, es erfordert auch andere Nerven, quasi – um es mit der wie gerufen kommenden Wendung zu sagen – Nerven wie Schiffstaue. Und die werden wir auch brauchen, denn zu unserer größten Erschütterung erreichen wir genau den Hafen, in den dieser Mann’sche Satz uns geführt hätte, wir werden sie brauchen, weil wir uns dort, auch wenn der Hafen derselbe ist, anders fühlen werden, als Mann es versprochen hat.
Nietzsches Turiner Drama suggeriert, einem Leben im Geiste des moralischen Gesetzes gebühre keine Ehre, da ich sein Gegenteil nicht wählen kann. Ich kann gegen dieses Gesetz leben, doch befreie ich mich damit nicht von seiner geheimnisvollen und in der Tat unbenennbaren Kraft, die mich untrennbar mit ihm verbindet. Wenn ich es nämlich versuche und gegen das Gesetz lebe, kann ich mich ganz sicher in dem vom Menschen eingerichteten und daher ohne jegliche Überraschung jämmerlichen gesellschaftlichen Sein zurechtfinden, in dem – mit Nietzsches Worten – »leben und ungerecht sein Eins ist«, doch kann ich mich nicht in dem unlösbaren Konflikt zurechtfinden, der mich von Zeit zu Zeit ins Zentrum der Sehnsucht nach dem Sinn meines Seins stellt. Denn so, wie ich Teil dieser gesellschaftlichen Welt bin, genau so bin auch Teil dessen, was ich, wer weiß, warum, unaufhörlich als größeres Ganzes bezeichne, als größeres Ganzes, das mir – mit Blick auf den unvermeidlichen Kant – jenes und gerade jenes Gesetz eingepflanzt hat, zusammen mit der traurigen Ermächtigung der Freiheit, es brechen zu können.
An dieser Stelle schiffen wir bereits durch die Bojen des Hafens, etwas blind, denn das schlafende Personal des Leuchtturms kann uns bei diesem Manöver nicht helfen, um schließlich in dem Zwielicht vor Anker zu gehen, das unsere Frage, ob dann dieses größere Ganze den höheren Sinn des Gesetzes spiegelt, auf der Stelle verschlingt. Da stehen wir nun und wissen nichts, sehen nur, wie aus tausend Himmelsrichtungen, langsam, unsere Gefährten nahen, sagen nichts, sehen sie nur an und schweigen voller Mitgefühl. Wir glauben, dieses Mitgefühl in uns sei richtig, und auch in den nahenden Gefährten sei es richtig, denn auch wenn heute nicht, dann wird es morgen so sein … oder in zehn … oder dreißig Jahren.
Spätestens in Turin.
Es war ziemlich gut gefesselt, doch jetzt löste es sich irgendwie, und man weiß nur, dass dasselbe es löste, das es seinerzeit gefesselt hatte, mehr nicht, zumindest wäre mehr zu sagen, darzustellen, kategorisch zu benennen eine große Dummheit, die Kraft, gerade diese Auflösung der Kraft nämlich, das unermessliche, unüberschaubare System, das wirklich Unermessliche, das wirklich Unüberschaubare, das heißt: das für uns in alle Ewigkeit unverständliche Wirken des unvermeidlichen Zufalls also, in dem wir Gesetze suchten und fanden, haben wir während der vergangenen und heroischen Jahrhunderte im Grunde überhaupt nicht erkannt, wie wir sicher sein können, dass wir es auch in Zukunft auf keinen Fall erkennen werden, weil wir nur die Folgen dieses unvermeidlichen Zufalls zu erkennen in der Lage waren und sind und sein werden, jene entsetzlichen Augenblicke, wenn die Peitsche knallt, die Peitsche auf unseren Rücken knallt, und irgendwie knallt die Peitsche auch in diesem Welt genannten zufälligen Universum, und es löst sich, was gefesselt war, wenn sich also – wie jetzt – erneut losreißt, auf die Welt losgelassen wird, was wir, Menschen, immer wieder nur als neu und nie als erfahren bezeichnen, wenngleich es nun wirklich weder als neu noch als bis dahin nicht erfahren bezeichnet werden kann, weil es seit der Erschaffung der Welt hier war, genauer gesagt mit uns zusammen ankam, noch genauer: durch uns, und immer so, dass wir seine Ankunft nur mit retrospektivem Verstand zu erkennen in der Lage waren und sind, es ist schon da, wenn wir begreifen, dass es wieder da ist, immer trifft es uns unvorbereitet, obwohl wir wissen müssten, dass es kommt, dass sein Gefesseltsein nur vorübergehend ist, wir müssten hören, wie sich seine Ketten surrend lockern, wie sich die Knoten der bis dahin festen Seile zischelnd lösen, wir müssten kraft unserer inneren Sensibilität WISSEN, dass es sich losreißt, und so hätte es auch diesmal sein müssen, wir hätten wissen müssen, dass es so sein wird, dass es kommen wird, doch uns wurde nur bewusst, wenn uns überhaupt etwas bewusst wurde, dass es da ist und es ein Problem gibt, wir stellten fest, dass wir machtlos sind, womit wir nur sagen wollten, dass wir auch machtlos waren, denn das sind wir – wenn von ihm die Rede ist – seit Ewigkeiten, machtlos und wehrlos, und gerade darüber nachzudenken, verspürte man in den ersten Stunden des Angriffs keine rechte Lust, also beschäftigten wir uns damit, aufzuklären, was passiert war, wie es passiert war, wer es gewesen war und warum, wir beschäftigten uns damit, dass jene beiden Großen Türme eingestürzt und das Pentagon eingefallen waren, und wie sie eingestürzt waren und wie es eingefallen war, und damit, wer es gewesen war und wie die es gemacht hatten, die sie einstürzen und einfallen ließen, dabei hätten wir uns vor allem damit beschäftigen müssen, wie wir uns nun wirklich damit beschäftigen müssen, endlich zu begreifen: Was tatsächlich geschehen ist, verstehen wir nicht, und das ist übrigens auch gar nicht so verwunderlich, denn die Anwesenheit dessen, das bis jetzt ziemlich gut gefesselt war, doch sich nun irgendwie gelöst hat, signalisiert immer, ausnahmslos, wir sind in eine neue große Epoche der Welt eingetreten, signalisiert, das Alte ist zu Ende und ein Neues hat begonnen, und uns »hat keiner gefragt«, ja, wir haben nicht einmal bemerkt, wann das alles geschah, wir konnten noch nicht einmal anfangen, von »Wende« oder »großem Epochenwandel« zu sprechen, als wir schon, gerade den Wende-Charakter, das heißt die Zeitlichkeit der Wende oder des Wandels lächerlich machend, sahen: Auf einmal leben wir in einer neuen Welt, sind in eine radikal neue Epoche hinübergelangt, und wir verstehen nichts von ihr, weil alles, was wir haben und sind, alt ist, alt sind unsere Reflexe, mit denen wir das Wesen eines Prozesses aufzudecken versuchen, dass »also« »das alles« von da nach da führte, alt ist unsere Überzeugung, uns auf unsere Erfahrungen zu berufen, auf den gesunden Menschenverstand, um auf diese gestützt die Gründe und die Beweise suchen zu können, dass uns das tatsächlich widerfahren ist, nicht existierende oder für uns nicht erreichbare Gründe und die Beweise, dass wir in eine brandneue Epoche hinübergelangt sind, kurzum, hier stehen wir nun, einer wie der andere lauter alte Menschen, die allesamt auf so alte Weise umherblinzeln und mit ihrer Streitbarkeit ihre alte Unsicherheit verraten, mit einer dummen Streitbarkeit, während sie noch nicht einmal begonnen haben, sich wirklich zu fürchten, noch lügen sie, nein, keine Rede von radikaler Wende in der Welt, keine Rede davon, dass eine Epoche der Welt zu Ende gegangen ist und das hier nun schon eine andere ist, lauter, lauter alte Menschen, und unter ihnen bin natürlich auch ich so alt, wie man nur sein kann, in seit langem nicht empfundener Gemeinschaft mit den anderen, alt also, und eigentlich im tiefsten Sinne des Wortes auch sprachlos, denn am 11. September schlug es wie ein physischer Schmerz in mich ein: Mein Gott, wie alt meine Sprache ist, in der ich jetzt sprechen könnte, wie heillos alt, wie ich aneinander reihe, wie ich drehe und wende, wie ich sie voranschleppe und -zerre, wie ich sie quäle und, ein uraltes Wort an das andere reihend, vorankomme, wie nutzlos, wie machtlos, wie plump ist diese Sprache, die ich habe, und wie wundervoll ist sie doch gewesen, wie glänzend, wie geschmeidig und wie treffend und erschütternd, die jetzt ihren Sinn, ihre Kraft, ihre Weite und Genauigkeit sämtlich und restlos verloren hat, und dann dachte ich tagelang darüber nach, probierte, ob es mir wohl möglich wäre, ob ich wohl fähig wäre, jetzt auf einmal eine andere Sprache zu lernen, denn ohne das ist es völlig hoffnungslos, das wusste ich sofort, ich betrachtete die brennenden einstürzenden Türme, später dachte ich immer wieder an sie zurück und wusste, dass es ohne eine brandneue Sprache unmöglich wäre, diese brandneue Epoche, in der ich mich plötzlich zusammen mit den anderen wiederfand, zu verstehen, ich grübelte, zerbrach mir den Kopf, quälte mich tagelang, bis ich mir dann auf einmal eingestehen musste, nein, es ist mir nicht möglich, jetzt auf einmal eine neue Sprache zu lernen, dazu bin ich, zusammen mit den anderen, zu sehr im Alten gefangen, also bleibt mir nichts anderes übrig, dachte ich, als die Hoffnung aufzugeben, ich könnte verstehen, was hier geschieht, ich saß nur finster da, sah aus dem Fenster, draußen stürzten und stürzten und stürzten die zwei großen Türme immer wieder und wieder nieder, ich saß da, sah hinaus, und mit den alten Worten ging ich daran niederzuschreiben, was ich, zusammen mit den anderen, von dieser jetzigen Welt sehe, ich ging daran niederzuschreiben, was ich empfinde, dass ich es nicht verstehen kann, und schon begann die alte Sonne in der alten Welt unterzugehen, schon begann es in meinem alten Zimmer vor dem Fenster auf alte Weise dunkel zu werden, als langsam eine furchtbare Angst über mich hereinbrach, ich wusste nicht, aus welcher Richtung sie in mir aufkam, ich spürte nur, dass sie wuchs, eine Angst, die mich nicht wissen ließ, welcher Art sie war, nur, dass es sie gab und sie stärker wurde, und ich saß nur in völliger Ohnmacht da, beobachtete, wie diese Angst in mir wuchs, wartete, dass ich ahnen würde, was für eine Angst das war, doch so kam es nicht, überhaupt nicht, diese Angst verriet, während sie ständig stärker wurde, nichts über sich, teilte ihren Inhalt einfach nicht mit, und ich begann mich verständlicherweise noch besonders vor ihr zu fürchten, was soll ich nun tun, ich kann hier doch nicht bis in alle Ewigkeit in dieser ihren Inhalt verbergenden Angst sitzen, aber ich saß nur starr vor dem Fenster, draußen stürzten und stürzten und stürzten jene zwei Türme nieder, als auf einmal ein surrendes Geräusch an mein Ohr drang, als klirrte irgendwo in der Ferne eine verschlungene Kette, als auf einmal ein surrender Ton an mein Ohr drang, als rutschte ein fest verknotetes Seil langsam auseinander – ich hörte nur das surrende Geräusch und jenen erschreckenden Ton, ich dachte wieder an meine alte Sprache, die völlige Sprachlosigkeit, in die ich gestürzt war, ich saß da, sah nach draußen, und allein einer Sache konnte ich mir in dem vollkommen dunkel werdenden Zimmer sicher sein: es hat sich schon losgerissen, nähert sich, ist schon hier.
Nun schon: für Samuel Beckett
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