Paige Toon
Ohne dich fehlt mir was
Roman
Aus dem Englischen von Andrea Fischer
FISCHER E-Books
Paige Toon wurde 1975 geboren. Als Tochter eines Rennfahrers wuchs sie in Australien, England und Amerika auf. Sieben Jahre lang arbeitete sie als Redakteurin beim Magazin »Heat«. Paige Toon ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie in London. ›Ohne dich fehlt mir was‹ ist nach ›Lucy in the Sky‹, ›Du bist mein Stern‹ und ›Einmal rund ums Glück‹ und ›Immer wieder du‹ und ›Diesmal für immer‹ ihr sechster Roman.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Kann eine Begegnung für immer in deinem Herzen bleiben?
*** Der neue Sommerroman der englischen Bestseller-Autorin Paige Toon.***
Unbeschwert und glücklich verbringt Alice die Ferien mit Joe. Beiden ist klar, dass ihre Affäre dem Sommer gehört und der Realität niemals standhalten kann. Alice ist ehrgeizig und will in Cambridge studieren; Joe schuftet in der Kneipe seiner Eltern.
Als Alice mit gebrochenem Herzen ihre erste Vorlesung antritt, ermahnt sie sich, dass Jungen wie der begabte Lukas viel besser in ihr Leben passen. Doch die Erinnerung an Joe will nicht verblassen. Und dann sieht Alice ihn wieder: auf der Kinoleinwand. Auch jetzt trennen sie Welten, denn Joe ist ein berühmter Filmstar.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›One Perfect Summer‹ im Verlag Simon & Schuster UK Ltd, London.
© Paige Toon, 2012
Published by Arrangement with SIMON & SCHUSTER UK LTD., London, UK. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Umschlagabbildung: www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402231-4
Für Nigel Stoneman,
der mit fünf kleinen Worten half,
meine Träume wahrzumachen
»There’ll be bluebirds over …«
»Wir fahren nach Dorset, Mum, nicht nach Dover«, unterbreche ich meine Mutter, die schon wieder das Lied The White Cliffs of Dover angestimmt hat.
»Weiß ich, aber ich kann es doch trotzdem singen, oder?« Sie spielt die Beleidigte.
»Bleib mal besser bei Pinsel und Farbe«, necke ich sie. Sie grinst, und ich lächle vom Beifahrersitz zurück.
»Unser Urlaub wird bestimmt lustig!«, ruft sie und greift in Richtung des Autoradios.
Ihre Hand nestelt am Drehknopf, um einen Allerweltssender einzustellen, aber ich kann sie in letzter Sekunde davon abhalten. Mist, so weit außerhalb von London gibt es kein XFM!
»iPod?«, schlage ich hoffnungsvoll vor.
»Na gut, meinetwegen«, gibt sie nach. »Hauptsache, du kommst in Urlaubsstimmung!«
»Ich bin in Urlaubsstimmung«, versichere ich ihr. Ich stöpsele meinen nagelneuen weißen MP3-Player ein, den mir meine Eltern zum Geburtstag geschenkt haben.
Mum schaut mich mit gekräuselter Stirn von der Seite an, bevor sie den Blick wieder nach vorn auf die Straße richtet. »Natürlich bist du enttäuscht, dass Lizzy nicht mitkommen konnte, aber du wirst trotzdem deinen Spaß haben. Außerdem hast du so vielleicht ein paar ruhige Momente, um dir schon mal den Stoff für die Uni anzuschauen.«
»Hm.«
Over von Portishead setzt ein.
»Du liebe Güte, Alice, wenn ich das höre, will ich mir am liebsten sofort die Pulsadern aufschneiden!«, meckert meine Mutter nach einer Weile. »Los, komm!«, setzt sie nach, als ich nicht reagiere. »Ein bisschen was Flotteres, bitte!«
Ich seufze, tue ihr aber den Gefallen. Holiday von Madonna dröhnt aus den Lautsprechern.
»Das ist schon besser.« Sie singt wieder mit.
»Mum!«, stöhne ich. »Deine wahre Begabung liegt woanders.«
Sie lacht. »Große Worte für einen Teenager. Aber schließlich wird meine Tochter ja auf die Cambridge University gehen!«
»Zur Universität in Cambridge, nicht zur University of Cambridge«, berichtige ich sie zum gefühlt hundertsten Mal. Tatsächlich besuche ich bald die Anglia Ruskin University in Cambridge, aber wenn meine Mutter das ihren Bekannten erzählt, vergisst sie gerne das Kleingedruckte.
»Ist trotzdem was Tolles«, sagt sie, und ich widerspreche nicht, weil es schön ist, wenn die Eltern stolz auf einen sind. Sie schmettert: »Holi-day!«
Und bevor ich mich wieder über die schrägen Töne aufrege, singe ich lieber mit.
Meine Mutter ist Künstlerin. Ihre Spezialität sind abstrakte Landschaften in Öl, sie verwendet aber auch andere Materialien, zum Beispiel Metall, Sand und Stein. Seit Jahren versucht sie, damit ein bisschen Geld zu verdienen, und obwohl sich ihre letzte Bilderserie gut verkauft hat, ist mein Vater noch immer der Hauptverdiener. Er arbeitet als Buchhalter in London und wird über die Wochenenden zu uns nach Dorset kommen. Es ist Mitte Juli und wir werden bis Ende August hierbleiben. Mum will in diesen sechs Wochen an einer neuen Serie arbeiten, die zu ihrer Freude im September in einer supercoolen Galerie in East London ausgestellt werden soll.
Ich für meinen Teil hatte diesem langen Sommerurlaub nur zugestimmt, weil meine beste Freundin Lizzy mich begleiten wollte. Im Herbst fängt sie ihr Studium in Edinburgh an, und wir sind beide traurig, weil wir uns dann nur noch selten sehen werden können. In den letzten Jahren waren wir quasi unzertrennlich, und diese Sommerferien sind somit das Ende einer Ära. Wir haben uns ausgemalt, wie wir die langen Sommertage träge im Garten liegen oder mit Mums Auto ans Meer fahren würden. Aber dann wurde bei Lizzys Mutter Susan kürzlich ein Knoten in der Brust entdeckt, der sich als bösartig erwies. Das war ein großer Schock, und mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich daran denke, was meine Freundin und ihre Familie gerade durchmachen müssen. Susan wird diese Woche operiert, und der Knoten wird entfernt. Anschließend muss sie sich einer Chemotherapie unterziehen. Versteht sich von selbst, dass Lizzy jetzt nicht mal an Urlaub denkt.
»Ist das nicht wunderschön?«, fragt Mum.
Ich schaue aus dem Fenster auf die sanft geschwungene grüne Hügellandschaft.
»Guck mal da! Ob das Wildpferde sind?« Sie wartet meine Antwort gar nicht erst ab. »Du könntest hier Reitunterricht nehmen. Und gar nicht weit entfernt von unserer Ferienwohnung, in der Nähe von Swanage, ist ein Schloss. Eine Dampfeisenbahn fährt dorthin.«
»Ich weiß, hast du mir schon erzählt.«
»Na, das wird doch lustig, oder?«
»Klar«, erwidere ich mürrisch. Es hätte lustig werden können – wenn Lizzy dabei wäre. Mannomann, hoffentlich wird das mit ihrer Mutter wieder …
»Vielleicht lernst du neue Leute kennen«, spekuliert Mum hoffnungsvoll.
»Ich bin doch kein Kind mehr«, entgegne ich mit gequältem Lächeln.
»Ich weiß, aber es wird dir trotzdem gut gefallen«, beharrt sie.
Ich glaube, sie muss sich selbst und mir Mut zusprechen.
Das Cottage, das wir gemietet haben, liegt weitab vom Schuss. Es ist aus hellem Stein. Um einen kleinen Garten mit Rasen zieht sich eine alte Mauer. Vor dem Haus steht eine Bank im Sonnenschein. Ich stelle mir vor, wie ich dort sitzen und meine Bücher für Englische Literatur lesen werde.
Das Ferienhaus wurde vor kurzem renoviert, es macht einen sauberen, gemütlichen Eindruck. Mum stellt den Wasserkessel an und holt Milch aus der Kühlbox, während ich mich an den Küchentisch setze und mir das von den Vermietern hinterlegte Handbuch vorknöpfe.
Meine Mutter ist groß und schlank, hat schulterlanges blondes Haar und grüne Augen. Ich komme mehr nach meinem Vater und seinem Teil der Familie. Ich bin relativ klein, nur 1,63 Meter groß, und habe langes dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Meine Augen sind denen meiner Mutter ähnlich, haben aber einen leicht asiatischen Einschlag. Meine Großmutter väterlicherseits war Chinesin. Leider starb sie noch vor meiner Geburt.
»Und, steht da drin, was man hier so alles machen kann?«, erkundigt sich Mum und stellt eine Tasse Tee vor mich.
»Ungefähr dasselbe, was du mir schon erzählt hast«, antworte ich. »Es gibt wohl ein paar nette Wanderwege oben auf den Klippen.« Ich zeige in die Richtung, aus der wir mit dem Auto gekommen sind. »Außerdem soll es einen Pub geben, zu dem man zu Fuß hingehen kann.«
»Das klingt doch vielversprechend. Sollen wir da vielleicht für ein frühes Abendessen vorbeischauen und dann die Beine vor dem Fernseher hochlegen?«
Obwohl wir fast drei Stunden im Auto gesessen haben, fahren wir mit dem Wagen zum Pub. Es fehlt uns an Energie für einen Spaziergang. Das Dorf ist wunderschön. Cottages aus weißem Kalkstein mit blau und grün gestrichenen Fensterrahmen säumen die Straßen, zwischen den Hügeln glitzert das Meer.
Wir steigen die Stufen zum Pub hinauf. Im Biergarten, der einen Blick aufs Meer bietet, stehen graue Steintische und -bänke. Bevor wir uns hinsetzen, gehen wir hinein an die Theke, um uns ein bisschen umzusehen und etwas zu bestellen.
Beim Eintreten fällt mein Blick auf ihn, den Typen, der hinter dem Tresen steht. Er ist groß – um die 1,80 Meter, 1,85 Meter –, hat kinnlanges, glattes schwarzes Haar und einen silbernen Ring in der rechten Augenbraue. Mit gesenktem Blick zapft er ein Pint, dann schaut er auf, und seine dunklen Augen blicken in meine. WUMM! Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich habe das Gefühl, dass mein Herz mir gerade aus der Brust gesprungen ist.
Er senkt den Blick wieder, füllt das Glas bis zum Rand und bringt es, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten, einem Mann mittleren Alters am anderen Ende der Theke. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Mum reißt mich aus meiner Starre.
»Der könnte ungefähr so alt sein wie du.« Sie knufft mich fröhlich in die Seite und weist mit dem Kinn auf den unglaublich attraktiven Barkeeper.
»Psst!«, ermahne ich sie und sterbe innerlich vor Scham.
Vergeblich versuche ich, den Blick von ihm loszureißen, als er Geld von dem Gast entgegennimmt und zur Kasse geht. Er nähert sich uns, mein Puls beschleunigt sich. In diesem Moment taucht ein untersetzter Mann mit kurzem, zurückgegeltem schwarzen Haar und großflächigen Tätowierungen auf den Armen vor uns auf.
»Was kann ich Ihnen bringen?«
Große Enttäuschung meinerseits, weil uns nicht der coole Typ bedient.
»Ein Glas Weißwein, bitte«, bestellt meine Mutter freundlich. »Und du, Alice?«
»Hm …« Mein Blick huscht zu dem Jungen hinüber, aber der kümmert sich bereits um den nächsten Gast. »Einen kleinen Cider, bitte.«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, geht der tätowierte Dicke seiner Arbeit nach. Er trägt ein weißes Unterhemd, darunter zeichnet sich seine dunkle Brustbehaarung ab. Ich frage mich, ob er der Vater des hübschen Jungen ist. Schon knallt er das Glas mit honiggoldener Flüssigkeit vor mich, es schwappt ein bisschen über, aber er entschuldigt sich nicht. Nicht einmal das kleinste Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, als er uns den Preis nennt und Mum anschließend das Wechselgeld herausgibt. Irgendwie ist mir unbehaglich zumute.
»Haben Sie eine Speisekarte für uns?«, fragt Mum.
»Wir machen kein Essen«, lautet die schroffe Antwort.
Ich folge meiner Mutter nach draußen in den spätnachmittäglichen Sonnenschein.
»Wie schön es hier ist«, sagt Mum, als wir uns setzen. »Der Typ eben war ja ganz schön schnuckelig, was?« Wieder stupst sie mich an, was mich endgültig aus meinen Tagträumen reißt.
»Mum, das sagt man nicht mehr.« Ich gebe mich unbeteiligt, obwohl es in mir heftig rumort.
Meine Mutter versucht sich in einem dieser Mutter-Tochter-Gespräche, aber es dauert nicht lange, da klirren leise hinter uns Gläser, und ich drehe mich um. Mit flatternden Nerven sehe ich, dass der schwarzhaarige Typ das Leergut von den jüngst verlassenen Tischen einsammelt.
»Hallo!«, ruft ihm meine Mutter fröhlich zu.
Mein Gott nochmal, Mum, halt die Klappe!
»Hallo, alles klar bei Ihnen?« Er lächelt ihr verhalten zu, sein Blick huscht zu mir hinüber.
WUMM! Wieder dieses Gefühl, als wäre ich aus Metall und er ein starker Magnet. Was ist bloß in mich gefahren?
»Wir machen hier Urlaub«, erklärt Mum. »Können Sie uns irgendwas Nettes empfehlen, was man hier unternehmen kann?«
»Hm …« Er richtet sich auf und überlegt kurz, die eingesammelten Gläser in den Händen. »Waren Sie schon in Corfe Castle?«
»Wir sind heute erst angekommen.« Lächelnd zuckt sie mit den Schultern.
Er trägt eine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit einem Aufdruck einer Indie-Rock-Band. Genau mein Typ.
»Wo wohnen Sie denn?« Wieder schielt er zu mir hinüber.
Ich bekomme kein Wort heraus, zum Glück antwortet Mum.
»In einem kleinen Cottage hinter den Feldern. Wir sind sechs Wochen lang hier, also, wenn Sie noch irgendwelche Ideen haben …«
Irgendwo bellt ein Hund. Der Barkeeper sieht sich panisch um. Wie auf Kommando kommt der Dicke aus dem Pub gestürmt.
»JOE! Kümmer dich um die Töle!«, brüllt er.
Joe … Der hübsche Junge hat einen Namen … Na klar hat er einen Namen, Alice!
»Komme!«, ruft Joe genervt zurück. »Muss mal mit meinem Hund rausgehen«, erklärt er entschuldigend.
»Können Sie vielleicht Gesellschaft gebrauchen?«, ruft meine Mutter ihm hoffnungsfroh nach. Wieder fährt sie den Ellenbogen aus und stößt mir in die Rippen. »Alice würde gerne Leute in ihrem Alter kennenlernen.«
»Lass das, Mum!«, zische ich gedemütigt.
Besagter Joe schaut mich an; ich werde knallrot und würde alles dafür geben – wirklich alles –, damit sich die Erde vor mir auftut oder ein riesengroßer Flugsaurier vom Himmel herabstößt und mich mitnimmt.
»JOE!«, ruft der Dicke erneut, womit sich jede Antwort des Barkeepers erübrigt.
»Nein, schon gut, geh ruhig«, bringe ich hervor.
»Okay. Bis dann mal!« Schnell verschwindet er.
Ich schlage die Hände vor mein rotglühendes Gesicht. »Das war so was von peinlich!«, stoße ich aus.
»Warum?«, fragt Mum.
»Das war echt das Letzte, was du gerade gemacht hast«, stöhne ich.
»Herrgott nochmal, Alice, das ist doch nur ein Junge«, erwidert sie flapsig.
Doch das ist er nicht. Er ist nicht ›nur ein Junge‹. Keine Ahnung, woher ich das weiß, aber irgendwo tief in mir drin ist mein Herz bereits gebrochen, und ich glaube zu wissen, dass dieser Joe allein die Ursache dafür ist.
Zurück im Cottage lege ich mich ins Bett, starre an die Decke und denke an den Barkeeper. Irgendwann kommt mir die Idee, dass ich ihn vielleicht zufällig treffen könnte, wenn er mit seinem Hund unterwegs ist … Ich laufe nach unten.
»Ich mache einen Spaziergang.«
Mum reißt den Blick von ihrem Skizzenblock los. »Wir können auch zusammen fernsehen, hast du Lust?«
»Nee, ich brauche frische Luft.«
Da der Wind aufgefrischt hat, drehe ich meine Haare zu einem lockeren Knoten zusammen und schlüpfe in Regenjacke und Gummistiefel, falls die Wege schlammig sein sollten. Ich schlage den linken Weg ein und folge einem Schild zum Priest’s Way. Nach einer Weile sehe ich einen anderen Wegweiser, der zu etwas führt, das sich »Dancing Ledge« nennt. Tanzender Felsvorsprung? Hört sich interessant an. Es sind nur wenige Leute unterwegs, und immer wenn ich einen Hund ohne Herrchen sehe, zucke ich vor Aufregung zusammen. Ich weiß, ich spinne, aber mir ist langweilig; da darf man ruhig tagträumen.
Mein Gott, er sieht so super aus. Schon bei dem Gedanken daran, Joe wiederzusehen, werde ich nervös. Morgen werde ich Mum in den Pub schleppen, ob sie will oder nicht.
Ich biege nach links ab auf ein Feld und folge einem steinigen, von Wildblumen gesäumten Pfad. Vor mir liegt das Meer – dunkelblau schimmert es im dunstigen Abendlicht. Ich halte kurz inne, um die frische Luft einzuatmen.
Plötzlich fällt mir wieder ein, dass Mum Joe erzählt hat, ich würde »sooo gerne Leute kennenlernen« – und wie knallrot ich geworden bin! Auch ihm war die Situation sichtlich unangenehm. Mich verlässt der Mut, ich bin kurz davor, zum Ferienhaus zurückzukehren. Aber nun bin ich schon so weit gelaufen, dass ich mir genauso gut auch diesen Dancing Ledge ansehen kann, was auch immer das sein soll. Ich gehe durch ein Weidentor, der Weg wird schmaler, steiniger und steiler. Er führt zwischen hohen Ginsterhecken bergab, und dann auf einmal … also, ich bin ja nicht besonders naturverbunden, aber als ich den Hohlweg hinter mir lasse, verschlägt mir der Ausblick fast den Atem. Vor mir fällt ein grasbewachsener Hang nach unten ab und scheint schlagartig im Nichts zu enden. Links von mir schieben sich weitere Klippen ins Meer hinaus. Die Aussicht ist überwältigend, ich kraxele ein bisschen weiter nach unten und setze mich ins Gras. Kein Wunder, dass meine Mutter unbedingt nach Dorset wollte – das Panorama vor mir ist malerisch.
Ein großer, zotteliger schwarzer Hund schießt um die Ecke und stürmt an mir vorbei. Er läuft zum Rand der Klippe, doch anstatt weiterzurennen, dreht er um und kommt auf mich zu. Ich halte ihm lächelnd die Hand hin – ich mag Hunde – und er wedelt wie verrückt mit dem Schwanz und zeigt mir das breiteste Hundegrinsen, das ich je gesehen habe.
»Hallo!«, begrüße ich ihn und tätschele liebevoll seinen Kopf. Aus reiner Neugier drehe ich mich um … Nein! Kann ich tatsächlich hellsehen, oder was? Das darf doch nicht wahr sein! Aber da ist er, JOE! In meinem Bauch tummeln sich unzählige Schmetterlinge.
»DYSON!«, ruft er und fuchtelt zornig umher. »WEG DA!«
Dyson, offenbar der Hund, fängt an, wie ein Irrer zu bellen und seinen eigenen Schwanz zu jagen. Belustigt schüttelt Joe den Kopf. Plötzlich macht Dyson einen Riesensatz auf mich zu, und ich falle rücklings ins Gras.
»Oh, Scheiße! Entschuldigung!«, ruft Joe und zerrt seinen Hund von mir herunter. »AUS, DYSON!«, schreit er. »Ist alles in Ordnung?«, schiebt er dann besorgt nach.
»Alles okay«, bringe ich hervor.
Ein breites Grinsen zieht sich über Joes Gesicht. »Ach, du bist das.«
»Jawohl, ich.«
Meine Nerven haben sich sonderbarerweise komplett aufgelöst. Joe lässt sich neben mir ins Gras fallen. Ich bekomme fast einen Herzinfarkt.
»Alice, oder?«
»Yeah.«
»Ich bin Joe.«
»Hallo.« Weil ich schon wieder rot werde, schaue ich schnell auf Dyson. »Ich dachte schon, dein Hund fällt von der Klippe.«
»Keine Sorge, das geht zwar ganz schön steil runter, aber unten ist ein Zaun.«
»Na, dann ist ja gut. Dyson – lustiger Name für einen Hund.« Besagtes Tier liegt ausgestreckt neben seinem Herrchen.
»Ich habe ihn nach diesem Staubsauger benannt.« Joe tätschelt seinen Hund. Dysons Rute klopft ins Gras.
»Warum?«
»Er schluckt alles hinunter, was nicht niet- und nagelfest ist.«
»Bah!« Ich verziehe das Gesicht und lache.
»Es ist wirklich abartig«, sagt Joe liebevoll. »Du bist also sechs Wochen lang hier?«
»Ja.« Ich konzentriere mich auf seine klobigen schwarzen Stiefel und bekomme kein Wort heraus. Los, Alice, sag was, sonst ist er weg! »Meine Mutter ist Malerin«, erkläre ich schnell.
»Oh, aha. Ist ja cool.«
»War das dein Vater, eben im Pub?«
Joe verdreht die Augen und reißt eine Handvoll Gras aus. »Yeah.«
»Versteht ihr euch nicht gut?«
Er sieht mir ins Gesicht. Seine Augen sind unglaublich dunkel. »Nicht besonders.«
In dem Moment habe ich wieder das Gefühl, als würde mich ein Magnet zu ihm ziehen. Um Himmels willen, ich hab zwar befürchtet, ich könnte hellsehen, aber wenn das so weitergeht …
»Wohnst du schon lange hier?«, frage ich in dem Bemühen, möglichst gelassen zu wirken.
»Erst seit Mai.« Joe wendet den Blick ab, ich bin erleichtert. Er stützt sich auf die Ellenbogen.
»Wo hast du vorher gewohnt?«
»Erst in Somerset, dann in Cornwall. In Dorset haben wir aber auch schon mal gelebt. Wir hatten früher einen Pub in Lyme Regis.«
»Wow! Du bist viel rumgekommen.«
»Nicht freiwillig«, gesteht er und kontert schnell, bevor ich weiter nachfragen kann: »Und woher kommst du?«
»Aus London.«
»Welcher Stadtteil?«
»Aus dem Norden: East Finchley. Kennst du das?«
»Nein. Ich kenne London nicht sehr gut. Aber ich ziehe bald dahin.«
»Wirklich?« Mein Herz macht einen Sprung und setzt dann kurz aus, als mir einfällt, dass ich im September nach Cambridge gehe. Ich erzähle es ihm.
»Echt? Warum?«
»Zum Studieren.«
Er macht große Augen.
»Am ehemaligen Polytechnikum«, erkläre ich schnell. »Für die richtige Universität bin ich nicht schlau genug.«
»Ich bin für gar keine Uni schlau genug«, erwidert Joe.
»Das stimmt doch nicht«, fühle ich mich gezwungen zu sagen.
»Doch.« Schulterzuckend schaut er in die Ferne. »Aber ich hau hier ja eh ab.« Er steht auf. »Ich muss zurück. Morgen ist Quizabend«, sagt er abschätzig. »Ich muss mir noch die Fragen ausdenken. Welchen Weg gehst du zurück?«
»Da hoch.« Ich rappele mich auf und weise auf den Ginsterpfad.
»Ich bring dich nach Hause.« Yippie! »Da du ja sooo gerne Leute kennenlernen möchtest und so«, fügt er hinzu.
Ich bekomme einen roten Kopf, er stößt mich neckend mit dem Ellenbogen an.
»Du kannst mich mal«, gebe ich zurück, doch bei seinem Lachen wird mir ganz warm.
Er hat sich einen grauen Kapuzenpulli um die Taille geschlungen, seine Arme sind gebräunt. Diesen Sommer hatten wir eine regelrechte Hitzewelle, was nur selten vorkommt. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Regenjacke auf, um ein wenig zu lüften. Gemeinsam klettern wir über den steinigen Pfad nach oben.
Ich greife unser Gespräch wieder auf. »Hier ist es doch so schön. Warum willst du fort?«
»Ja, klar ist es hier schön, aber … Keine Ahnung. Ich bin weg, sobald ich ein Auto habe.«
»Nimmst du Dyson mit?«
»Natürlich!« Joe runzelt die Stirn. »Den würde ich doch nicht bei meinen Eltern lassen!«
»Warum arbeitest du überhaupt für sie?«, frage ich.
»Ich kann es mir noch nicht leisten auszuziehen, aber durch die Arbeit kann ich wenigstens meine Miete zahlen.«
»Du musst Miete zahlen?«
»Tja, ich bin schließlich achtzehn. Gerade geworden.« Er schnaubt verächtlich. »Allerdings stehe ich schon seit mehreren Jahren hinter der Theke …«
»Ist das nicht verboten?«
»Klar.«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir meine Eltern jemals Geld dafür abnehmen würden, dass ich bei ihnen im Haus wohne, oder dass sie mich noch als Kind zum Arbeiten hinter eine Theke gestellt hätten. Aber vielleicht bin ich ja naiv.
Dyson stürmt voran. Als wir ihn einholen, versucht er gerade, einen riesengroßen Ast unter einem Baum hervorzuziehen. Er lässt ihn fallen und knurrt, dann bellt er Joe schwanzwedelnd an.
»Du bist so dämlich!« Joe schüttelt den Kopf. »Mit so einem Ding kann man nicht spielen.« Dyson bellt wieder. »Such dir einen kleineren Stock. Los!«
Nichts da. Dyson will den dicken Ast.
»Den werfe ich nicht«, beharrt Joe.
Ich finde es irgendwie niedlich, wie er mit seinem Hund spricht.
Wuff!
»Nein.«
Wuff, wuff, wuff!
»Verdammt nochmal«, murmelt Joe, greift nach dem Ast, hebt ihn an einer Seite hoch und tritt kräftig dagegen. Krachend bricht das Holz entzwei. Ich verfolge schmunzelnd, wie Joe den Stock weit aufs Feld schleudert und Dyson wie ein fröhlicher Irrer hinterherrast.
»Du hast ein gutes Herz«, sage ich.
»Viel zu gut.« Joe wirft mir einen Seitenblick zu.
»Wie lange hast du ihn schon?«, will ich wissen.
»Rund zwei Jahre. Als wir in Cornwall wohnten, ist er mir aufgefallen, weil er immer am Strand herumstreunte. Er lief mir bis nach Hause nach, und ich machte den Fehler, ihm was zu fressen zu geben. Danach wich er mir nicht mehr von der Seite.«
»Wem er wohl gehört hat?«
Dyson bringt den Stock zurück, damit Joe ihn erneut werfen kann.
»Wer weiß? Er hatte kein Halsband um. Er war so abgemagert und dürr, dass er entweder schlecht behandelt wurde oder sich schon eine ganze Zeitlang allein herumtrieb. Mein Vater ist fast ausgeflippt, als er merkte, dass ich die Reste aus der Küche an einen Hund verfütterte.«
»Häh, aber das konnte ihm doch egal sein, oder? Die wollte doch eh keiner mehr essen …«
»Er kann Hunde nicht leiden.«
»Warum durftest du ihn dann trotzdem behalten?«
»Weil mein Vater damals mit anderen Sachen beschäftigt war.«
»Womit?«
»Wenn das so weitergeht, kennst du bald meine ganze Lebensgeschichte.« Grinsend wechselt Joe das Thema. »Also gut, Superhirn, hilf mir mal, ein paar Fragen für dieses dämliche Quiz zu formulieren.«
Als wir am Cottage ankommen, habe ich in Erfahrung gebracht, dass Joe denselben Musik-, Fernseh- und Filmgeschmack hat wie ich. Der Rückweg war unterhaltsam; wir versuchten, uns gegenseitig mit unserem Wissen über Indie-Rock, englische Comedy-Klassiker und Science-Fiction-Filme zu übertrumpfen.
»Jetzt muss ich auf jeden Fall zu eurem Quizabend kommen, weil ich dann gewinne«, sage ich.
Lachend lehnt sich Joe gegen das cremeweiß gestrichene Holztor. Auf einmal werde ich wieder nervös.
»Ich habe noch nicht alle Fragen zusammen. Vielleicht nehme ich noch eine über Big Brother dazu, nur um dir eins auszuwischen.«
»Dann müsstest du dir das ja angucken. Bist du dir sicher, dass du Lust auf so eine Recherche hast?«, gebe ich trocken zurück.
»Ehrlich gesagt: nein.« Er schaut mir in die Augen, und die Schmetterlinge flattern wieder wie wild. »Heißt das, du kommst morgen Abend in den Pub?«
»Wäre das in Ordnung?«
Er lächelt. »Auf jeden Fall.«
Ich erwidere sein Lächeln. »Cool.«
»Also gut. Bis morgen.«
»Bis morgen.«
Unbeholfen stehen wir uns gegenüber, dann wird ihm klar, dass er mir den Weg versperrt. Er springt zur Seite und öffnet mir den Riegel.
»Danke.« Ich kann gar nicht aufhören zu grinsen. »Bis morgen dann«, wiederhole ich, als er die Pforte hinter mir schließt.
»Bis morgen.« Er wendet sich ab und schnippt Dyson zu. »Komm, Junge!«
Ich blicke ihnen nach, bis sie außer Sicht sind.
»Wie lautet der Name des Raumschiffs, in dem Luke Skywalker zum ersten Mal Prinzessin Leia sieht?«
Schnell kritzele ich die Antwort auf mein Blatt.
»Alice …«
Ich schaue hoch ins tadelnde Gesicht meiner Mutter. »Was?«
»Meinst du wirklich, dass es richtig ist, an diesem Quiz teilzunehmen, wenn du beim Ausdenken der Fragen geholfen hast?«
»Ich hab überhaupt nicht bei allen Fragen geholfen!«, gebe ich zurück. »Diese hier hat er sich ganz allein ausgedacht. Außerdem ist es doch nicht meine Schuld, wenn wir denselben Geschmack haben.«
Ich schaue hinüber zu Joe, der hinter der Theke steht. Belustigt hört er zu, wie seine Mutter – eine stämmige Frau mit krausem, blondgefärbtem Haar, stark geschminkten Augen und künstlicher Bräune – die nächste Frage vorliest.
»Wer hat in diesem Jahr am zwanzigsten Tag das Big-Brother-Haus verlassen?«
»Mistkerl!«, artikuliere ich lautlos in Joes Richtung. Er lacht und zapft das nächste Bier.
»Was? Weißt du das etwa nicht?«, fragt Mum ironisch.
»Nein. Jetzt zufrieden?«
Sie zieht die Augenbraue hoch. »Denke schon.«
Der heutige Tag ist mir wie einer der längsten meines Lebens erschienen. Meine Mutter malte, und ich habe vergeblich versucht, mich in den Stoff für die Uni einzulesen. Ständig musste ich daran denken, wann ich Joe wiedersehen würde. Wenn es nicht so verzweifelt gewirkt hätte, wäre ich schon mittags zum Pub rübergegangen.
»Meine Damen und Herren, wir machen jetzt eine kleine Pause. Gleich geht’s weiter!«, verkündet Joes Mutter in schwerfälligem West-Country-Akzent. Seltsamerweise spricht Joe nicht ansatzweise so stark Dialekt wie seine Eltern, obwohl er in dieser Gegend aufgewachsen ist.
»Ich gehe mal schnell aufs Klo. Soll ich dir auf dem Rückweg noch eins mitbringen?« Mum weist auf mein Glas.
»Ja, gern.«
Ich überfliege mein Quizblatt und prüfe die Antworten.
»Alles klar?«
Erschrocken schaue ich auf, und Joe steht vor mir.
»Rück mal ’n Stück!« Er stupst mich an, ich rutsche auf der Bank einen Platz weiter.
»Big Brother?«, sage ich mit erhobener Augenbraue.
»Musste aufs Internet zurückgreifen. Wart’s ab, bis du die Frage zu Pop Idol hörst.«
Ich stöhne übertrieben, er muss lachen.
»Was hast du morgen vor?«
»Nichts«, antworte ich voller Hoffnung.
»Hast du Lust, mit mir nach Corfe Castle zu fahren?«
Will er sich mit mir verabreden?
»Gerne!«
»Wir könnten mit dem Bus bis nach Swanage fahren und von da den Zug nach Corfe Castle nehmen.«
»Meinst du diese Dampfeisenbahn?«
»Yeah.«
»Wir könnten auch mit dem Auto bis Swanage fahren, wenn du willst. Ich kann mir den Wagen von meiner Mutter ausleihen.«
»Wenn das so ist, kannst du uns direkt bis nach Corfe Castle fahren.«
»Ach, das macht doch keinen Spaß! Ich will doch mal mit dem Zug fahren …«
»Ich auch, ehrlich gesagt.«
»JOE!«, knurrt seine Mutter hinter der Theke.
»Komme«, erwidert er genervt. »Bis später.« Er will gerade gehen, da hält er inne, beugt sich vor und flüstert mir ins Ohr: »Die Antwort lautet: Darius Danesh.« Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Seine Augen funkeln trotz der schwachen Beleuchtung. Dann ist er fort.
Meine Mutter kommt mit neuen Getränken zurück.
»Danke«, sage ich und trinke einen Schluck.
»Was grinst du denn so?«, fragt sie mit wissendem Blick.
»Nichts«, antworte ich fröhlich.
»Und das hat nichts mit einem gewissen Jemand hinter der Theke zu tun, was?«
»Hör auf, Mum.«
Sie kichert nervtötend, dann runzelt sie neugierig die Stirn. »Sieht aus, als würde seine Mutter ihm gerade eine kleine Standpauke halten.«
Mein Blick huscht zur Theke hinüber. Joe und seine Mutter starren uns an. Joe wendet den Blick schnell ab, aber seine Mutter sieht mir finster in die Augen. Ich bekomme ein ungutes Gefühl, und ehe ich mich versehe, stürzt sie auf uns zu.
»Du schummelst!«, beschuldigt sie mich.
»Nein, tut sie nicht!«, verteidigt mich meine Mutter.
»Mein Sohn sagt, sie hätte ihm bei den Fragen geholfen!«
Voller Entsetzen merke ich, dass es im Pub ganz still geworden ist und alle Gäste unseren wenig freundlichen Austausch beobachten. In so einem Moment könnte ich den guten alten Flugsaurier hervorragend gebrauchen. Joe eilt zu uns.
»Sie hat mir wirklich nicht bei den Fragen geholfen«, sagt er. »Sie kennt nur dieselben Sachen wie ich. Und guck da …« Er nimmt meinen Quizzettel und zeigt ihn seiner Mutter. »Siehst du. Die Frage mit Big Brother hat sie nicht gewusst.«
»Sandy! Die Antwort weiß ja sogar ich!«, ruft ein Betrunkener am Tisch nebenan und lacht grölend.
Der Blick von Joes Mutter bringt ihn zum Schweigen. Sie reißt Joe meinen Zettel aus der Hand und stellt mir die nächste Frage, um mich zu prüfen: »Welche Band spielt das Lied, das beim Vorspann von The Royle Family läuft?«
Ich verziehe das Gesicht, bevor ich die Antwort nenne: »Oasis, Half the World Away.«
»Siehst du? Sie kriegt sogar den Extrapunkt, weil sie den Titel weiß. Sie schummelt!«, keift die Alte.
»Nein!«, wehre ich mich. »Ich weiß das einfach. Joe hat recht: Wir haben denselben Geschmack.«
»Na, selbst wenn ihr denselben Geschmack habt. Eines weißt du aber nicht: Joe kann die Scheißsendung nicht ausstehen.« Sie holt tief Luft und spricht so laut weiter, dass jeder im Pub mithören kann. »Wer wurde in der ersten Staffel von Pop Idol Dritter?«
»Hm …« Mein Blick huscht zu Joe hinüber. Er macht ein erschrockenes Gesicht. »Weiß ich nicht«, muss ich zugeben.
»Du lügst!«, höhnt seine Mutter und verzieht den lachsfarben geschminkten Mund zu einem schmalen Strich. »Du bist disqualifiziert.«
»Das ist doch nicht fair!«, ruft meine Mutter.
»Doch, ist schon okay«, beende ich den Streit. »Ich mache nicht mehr mit.«
»Sie schummelt nicht!«, verteidigt mich Joe, doch ich merke, dass er diese Frau nicht überzeugen wird.
Joes Mutter wendet sich mit dröhnender Stimme an alle Gäste: »Wir machen weiter. Für die von euch, die die letzten beiden Fragen nicht gehört haben, lese ich sie noch mal vor: Welche Band spielt das Lied, das beim Vorspann von The Royle Family läuft?«
Mit immer noch errötetem Gesicht sehe ich zu Joe hinüber. Auch sein Blick signalisiert, dass er peinlich berührt ist.
»Joe! Zurück an die Arbeit!«
Diesmal brüllt sein Vater quer durch den Raum. Joe wendet sich ab, aber ich sehe die Entschuldigung in seinen Augen.
»Komm, hauen wir ab.« Meine Mutter packt ihre Sachen zusammen.
»Nein.« Ich lege ihr die Hand auf den Arm.
»Warum nicht?«, fragt sie ungläubig.
»Ich will nicht, dass es aussieht, als würden wir weglaufen.«
Sie schaut mich lange an, dann greift sie widerwillig zu ihrem Weinglas und trinkt einen Schluck. »Na gut, wir trinken erst noch aus.«
Ehrlich gesagt, will ich auch gehen. Selbst Joe, so toll er auch ist, ist kein Grund, um hierzubleiben. Wenn es eins gibt, was mir einen Typen madig macht, dann ist es eine schreckliche Familie.
Es ist mir zu peinlich, den Pub zu verlassen, solange das Quiz noch läuft, doch sobald es vorbei ist und der Geräuschpegel wieder steigt, verdrücken wir uns. Joe will ich nicht Tschüss sagen, so lange seine Eltern in der Nähe sind, doch zum Glück bedient er gerade einen Gast an unserer Seite der Theke und sieht auf, als wir vorbeigehen.
»Wir sind weg«, sage ich.
Er weist auf die Tür, wirft mir einen vielsagenden Blick zu und gibt mir lautlos zu verstehen: »Warte draußen!«
Ich nicke und gehe zur Tür.
»Komme sofort«, sage ich zu Mum, die aufs Auto zusteuert.
Sie hebt die Augenbrauen, aber sagt nichts.
Ich warte, trete von einem Bein aufs andere, aber dann kommt Joe. Vorsichtig nimmt er meinen Arm und führt mich um das Gebäude herum. Trotz all der Peinlichkeiten, die ich in der letzten halben Stunde ertragen habe, pocht mein Herz wie wild bei seiner Berührung.
In der Dunkelheit sieht er mich an. »Es tut mir leid. Die beiden sind einfach nur furchtbar!«
»Mach dir keine Gedanken«, murmele ich.
»Ich würde es dir nicht übelnehmen, wenn du keine Lust mehr auf den Ausflug nach Corfe Castle hast.«
»Nein, nein«, sage ich schnell. »Da will ich trotzdem hin.« Unangenehmes Schweigen. »Natürlich nur, wenn du auch noch Lust hast …«
»Klar, ich will auch!« Er sieht mir tief in die Augen. »Scheiße«, murmelt er plötzlich und schiebt sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich halt das nicht mehr lange aus.« Er blickt hinüber zu den dunklen Hügeln und dem Meer in der Ferne. »Egal«, bricht er ab und streift meinen Arm kurz mit den Fingern. »Wann sollen wir losfahren? Um elf?«
»Gerne«, erwidere ich.
»Bis morgen dann.« Er geht rückwärts. »Wir treffen uns oben am Hügel.«
»In Ordnung.«
Als er weg ist, grübele ich über meine Gefühle. Bingo. Selbst die unglaublich fiesen Eltern können mich nicht von ihm abhalten.
»Ich hol die Fahrkarten«, sagt Joe am Ticketschalter des Bahnhofs in Swanage.
»Nein, ich hab selbst Geld dabei.«
»Lass mal. Ich zahle.«
Das ist also eine richtige Verabredung!
»Wenn du so mit dem Geld um dich wirfst, kannst du dir niemals ein Auto leisten«, sage ich mit einem Lachen, das mir augenblicklich vergeht, als mir klar wird, dass er diesen Ausflug durchaus schon mit anderen Mädchen gemacht haben mag.
»Das ist das Mindeste, was ich nach gestern Abend tun kann«, gibt Joe zurück.
»Bist du schon öfter in Corfe Castle gewesen?«, frage ich befangen.
»Nein, ist das erste Mal.«
Ich weiß nicht, warum ich erleichtert bin – selbst wenn er noch nicht mit einem anderen Mädchen in diesem historischen Zug gefahren ist, wird er definitiv schon Freundinnen gehabt haben. Und zwar viele, seinem Aussehen nach zu urteilen.
Die Dampflok wartet bereits am Bahnsteig, Dyson zieht heftig an der Leine in Joes Hand.
»Ruhig, Junge«, sagt er leise zu seinem Hund. »Er hasst es total, angeleint zu sein.«
Heute Morgen war ich ein wenig überrascht, als ich zum Hügel kam und Joe dort mit Dyson warten sah. Ich hatte nicht damit gerechnet, hündische Gesellschaft zu haben. Es stört mich nicht, aber ich habe so ein Gefühl, dass man Joe nur zusammen mit seinem Hund haben kann. Wenn ich Dyson nicht leiden könnte, hätte ich wohl keine Chance bei ihm.
Ich schaue hoch zu den verrosteten Trägern des Bahnhofsdaches und betrachte die altmodischen Schilder vor dem Gebäude. Als wir in den Zug steigen und uns an einen Holztisch setzen, fühle ich mich wie auf einer Zeitreise in die Vergangenheit.
Da es heute ziemlich warm ist, habe ich das Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Ich trage cremeweiße Shorts und ein blassrosa T-Shirt. Auch wenn ich eigentlich Indie-Rock- und Emo-Jungs mag, wollte ich mich heute nicht so trübsinnig kleiden.
»Hast du deinen Eltern erzählt, dass du dich heute mit mir triffst?«, wage ich zu fragen.
»Bist du verrückt?«
»Was glauben sie denn, wo du bist?«
»Was weiß ich? Denen ist es scheißegal, was ich tue. Hauptsache, sie müssen Dyson nicht sehen.«
Unter Pfeifen und Zischen setzt sich die Dampflok in Bewegung und verlässt den Bahnhof. Joe, der mir gegenübersitzt, stützt den Fuß an meinem Sitz ab.
»Wie kommt es eigentlich, dass du in deinem Alter noch mit deinen Eltern Urlaub machst?«
Ich erzähle ihm von Lizzy, und er wird ernst.
»Wie übel.«
Gestern Abend habe ich Lizzy angerufen. Es war ein beklemmendes Gespräch. Heute Nachmittag wird ihrer Mutter der Knoten aus der Brust operativ entfernt. Lizzy ist ganz nervös. Ich will sie später anrufen und nachfragen, wie es gelaufen ist.
»Hast du hier viele Freunde?«, frage ich Joe.
»Nee. Wir sind erst vor wenigen Wochen hergezogen, und ich gehe nicht mehr zur Schule, von daher …« Er verstummt. »Und es lohnt sich nicht richtig, neue Leute kennenzulernen, wenn ich eh bald wieder weg bin.«
»Stimmt, du willst ja nach London«, necke ich ihn grinsend. »Was willst du da machen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht. Arbeiten. Mal sehen, was sich so ergibt. Keine Ahnung, wohin mich das Leben führt …«
»Du bist ja echt locker drauf. Das könnte ich nicht. Ich muss immer alles planen.«
»Hab ich schon gemerkt.«
»Woran?« Ich bin ein wenig verdattert.
Er grinst schelmisch. »Ach …«
»Tja, vielleicht erlebst du noch eine Überraschung mit mir.«
»Wer weiß?« Er sieht mir tief in die Augen.
Mein Bauch fängt an zu flattern. Je mehr Sekunden vergehen, ohne dass einer von uns den Blick abwendet, desto intensiver wird das Gefühl. Irgendwann rührt sich Dyson zu unseren Füßen und holt uns in die Realität zurück. Ich muss mich wirklich in den Griff bekommen.
Der Zug macht Station in Herston Halt und Harman’s Cross, wo hübsche Blumen in Kübeln neben den Bahnhofsbänken stehen. Dann kommen wieder Meile um Meile grüne Felder, bis wir in Corfe Castle eintreffen.
»Wozu hast du Lust?«, fragt Joe, als wir die Straße entlanglaufen, die in das kleine Stadtzentrum führt. »Hast du Hunger?«
Mein Magen grummelt die Antwort, aber Joe kann ihn zum Glück nicht hören. »Ein bisschen schon. Wo sollen wir hingehen?«
»Keine Ahnung. Ich bin auch zum ersten Mal hier, schon vergessen?«
»Ach ja. Ich kann mir irgendwie gar nicht vorstellen, dass du nicht schon mit anderen Mädchen hier warst.«
Er bricht in Lachen aus. »Ich hab noch gar keine anderen Mädchen getroffen!«
»Geht ja auch gar nicht. Du hast ja ziemlich schnell mich kennengelernt.«
»Deine Mutter hat uns vorgestellt. Den Rest hat Dyson erledigt. Außerdem wohne ich hier noch nicht lange genug, um jemanden zu kennen.«
»Was ist mit Mädchen, die Urlaub machen?« Ich habe keine Ahnung, warum ich so selbstbewusst bin, ihm diese Fragen zu stellen. Mit ihm zu reden, ist erstaunlich leicht.
»Die Sommerferien haben doch gerade erst angefangen.«
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen.
»Damit wollte ich nicht sagen …« Schnell korrigiert er sich. »Ich meine, hier ist überhaupt niemand in meinem Alter unterwegs, weder Mädchen noch Jungen. Aber da du ja jetzt hier bist, kannst du mir Gesellschaft leisten.« Pause. »Wenn du Lust hast.« Er wird rot.
Er läuft wirklich rot an!
»Na klar, hab ich Lust«, sage ich selig. Ich bin also nicht die Einzige, die etwas empfindet. »Ah, guck mal! Da ist das Schloss.«
Wir steigen hinauf zur Schlossruine auf dem steilen Berg. Efeu rankt an den baufälligen Mauern empor, Touristen bummeln über die grasbewachsenen Hänge.
»Sollen wir in das Café da gehen?« Ich weise geradeaus.
Wir betreten das Café und gehen direkt in den Garten. Corfe Castle erhebt sich über uns in den Himmel. Es ist schon toll, an einem Tisch mit so einer Aussicht sitzen zu können. Joe trägt ein verblasstes gelbes T-Shirt von Kingmaker und eine schwarze Jeans. Ich weise mit dem Kinn auf sein Shirt.
»Kingmaker finde ich super.«
»Was ist dein Lieblingslied?«
»Really Scrape the Sky ist klasse, aber am allerbesten finde ich You and I Will Never See Things Eye to Eye.«
Er grinst. »Ich auch. Ich finde, das wäre geil als Intro zu einem Film.«
»Genau! Wie der Bass immer kurz vor dem Sänger einsetzt … total cool.«
»Ja, stimmt.«
Ich lache. »Wenn ich jemals einen Film sehe, in dem das Lied vorkommt, werde ich an dich denken.«
»Vielleicht bringe ich im Quiz nächste Woche eine Frage zu Kingmaker unter«, scherzt Joe.
»O Gott, besser nicht!« Ich schlage die Hände vors Gesicht. »Gestern Abend war so peinlich!« Ich spähe durch die Finger zu ihm hinüber, aber er lächelt nicht.
»Es tut mir leid. Aber meine Eltern hassen mich einfach.«
»Das kann doch nicht sein.«
Er schüttelt den Kopf mit verbittertem Gesichtsausdruck, dann senkt er den Blick auf die Hände.
»Hast du keine Geschwister?«, frage ich vorsichtig.
Er sieht mich an, dann schaut er beiseite, ohne etwas zu antworten.
»Hast du keine …?«
»Doch«, unterbricht er mich und seufzt. »Ich habe einen Bruder, einen älteren Bruder.«
»Und wo ist der?«
»Im Knast.«
»Oh.«
»Yep. Das hätte ich dir wohl besser gesagt, bevor der Zug nach Swanage zurückgefahren ist.«
»Warum?« Ich verstehe seine Bemerkung nicht.
»Dann hättest du direkt wieder einsteigen können.«
»Sei nicht albern«, wiegele ich ab. »Warum ist er im Gefängnis?«
»Weil er ein Wichser ist.«
»Ich meinte, was hat er angestellt?«
»Ich weiß, was du wissen willst. Aber so lange ich denken kann, sitzt er irgendwo ein: wegen Autodiebstahl, Drogenhandel, alles Mögliche. Das Letzte, was ihn hinter Gitter gebracht hat, war ein bewaffneter Raubüberfall.«
»Meine Güte!«
»Tja, meine Familie ist einfach super«, sagt er sarkastisch. »Und weißt du, was das Beste daran ist? Meine Eltern glauben immer noch, dass Ryan die Sonne aus dem Arsch scheint.«
Ryan wird wohl sein Bruder sein.
»Hast du Geschwister?«, will Joe von mir wissen.
»Nein.«
»Sei froh.«
»So habe ich das nie gesehen. Als ich kleiner war, hab ich mich immer allein gefühlt.«
»Besser allein als grün und blau.«
»Hat er dich geschlagen?«, rufe ich entsetzt.
Joes Gesichtsausdruck verrät mir, dass ihm dieses Geständnis unbeabsichtigt herausgerutscht ist.
»Da kommt das Essen«, sagt er abrupt. Er will offensichtlich schnell das Thema wechseln – und wer will ihm das verübeln?
»Das war richtig schön heute«, sage ich später im Auto, als ich in der Nähe des Pubs halte.
Er grinst mich an. »Ja, das war es wirklich.«
»Musst du heute Abend arbeiten?«
»Leider ja. Was hast du morgen vor?«
Ich bin total erleichtert, dass er diese Frage stellt. »Nichts. Und du?«
»Ich kann bei dir vorbeikommen, wenn du Lust hast, mit uns spazieren zu gehen?«
Mit uns meint er wohl sich und Dyson.
»Ja, total gerne!«
»Gut. Dann sehen wir uns gegen halb elf.«
»Super.«
Befangenes Schweigen. Plötzlich kläfft Dyson wie von Sinnen einen anderen Hund an, der mit seinem Herrchen vorbeigeht. Wir erschrecken uns.
»Ich bringe ihn besser nach hinten. Bin eh schon spät dran.«
»Machen deine Eltern jetzt Ärger?«
Joe legt den Kopf schräg. »Hoffentlich nicht.« Dann steigt er aus. »Bis morgen dann.«
Ich atme tief durch, und ein wenig löst sich die Anspannung, die ich den ganzen Tag gespürt habe. Eine positive Anspannung, aber trotzdem. Mit einem melancholischen Gefühl sehe ich auf die Uhr. Es ist kurz nach sechs. Das sind genau ein, zwei, drei … In Gedanken zähle ich die Stunden zu unserer nächsten Verabredung. Sechzehneinhalb Stunden, bis ich ihn wiedersehe. Wie soll ich bloß die Zeit herumkriegen?
Wenn Lizzy mich jetzt sehen könnte, würde sie glauben, ich hätte den Verstand verloren. Scheiße, Lizzy! Ich muss sie anrufen. Ich hatte ihr versprochen, mich um fünf Uhr zu melden. Sobald ich im Ferienhaus bin, werde ich das nachholen.
»Sie versucht, tapfer zu sein, aber sie hat große Schmerzen.«
»Das tut mir so leid«, bringe ich hervor.
Dem Telefonat mit Lizzy entnehme ich, dass meine beste Freundin noch im Krankenhaus bei ihrer Mutter ist.
»Wie geht es Tessa?«, frage ich. Lizzy hat eine Schwester, die drei Jahre jünger ist als wir.
»Weiß nicht. Sie sagt nichts und kommt kaum aus ihrem Zimmer raus.«
»Sie hat bestimmt Angst.«
»Haben wir alle.«
»Ich würde dich so gerne grad in den Arm nehmen«, sage ich traurig.
»Würde ich auch gerne«, erwidert Lizzy, und ich weiß, dass sie Tränen in den Augen hat.
Da ist sie nicht die Einzige.
»Wie ist es in Dorset?«, fragt meine beste Freundin.
»Ganz okay.« Ich würde ihr gerne von Joe erzählen, habe aber das Gefühl, dass es unangebracht ist.
»Wie geht es ihr?«, fragt Mum, als ich wieder nach unten komme.
Ich erstatte Bericht.
»Die Arme«, sagt sie voller Mitgefühl. »Hattest du denn wenigstens einen schönen Tag?«
»Doch.« Ich nicke. Irgendwie kann ich meine Mundwinkel nicht davon abhalten, sich nach oben zu ziehen.
»Du magst ihn, nicht?«
»Kann sein«, erwidere ich gesenkten Blicks.
»Schade, dass seine Mutter so merkwürdig ist«, bemerkt sie.
»Hm. Ich war auch nicht gerade begeistert von ihr. Joe war es übrigens total peinlich.«
»Tja, egal«, sagt Mum. »Wir sind ja nur sechs Wochen hier.«
Mir rutscht das Herz in die Hose. Auf der Fahrt in den Urlaub fühlten sich sechs Wochen noch wie eine Ewigkeit an – jetzt kommt mir die Zeit viel zu kurz vor. »Was meinst du mit ›nur sechs Wochen‹?«, frage ich.
»Na ja, du hast ja wohl nicht vor, dich in ihn zu verlieben, oder? Er wird kaum ein fester Bestandteil deines Lebens werden können. Und außerdem, stell dir mal vor, mit seiner Mutter klarkommen zu müssen! Und sein Vater … So wie der geguckt hat, als er mir das Wechselgeld gab, dachte ich, ihm würde eine Arterie platzen, wenn er mal kurz lächelt …«
Ich höre ihrem Geläster nicht mehr richtig zu, weil ich in Gedanken immer noch bei der Sache mit dem Verlieben bin. So ausgeschlossen erscheint mir die Möglichkeit nicht.
Um Viertel nach zehn am nächsten Vormittag sitze ich draußen auf der Bank und versuche, Titus Andronicus zu lesen. Meine Mutter war ein wenig beunruhigt, als sie hörte, dass ich Joe so schnell wiedersehe. Deshalb habe ich ihr versprochen, ein paar Bücher mit auf die Wanderung zu nehmen. Vielleicht bleibe ich oben auf der Klippe und lese noch ein bisschen weiter, wenn Joe zurück zum Pub muss.
Dyson taucht vor seinem Herrchen an unserem Gartentor auf. Ich zwinge mich, gemächlich die Bücher in die Tasche zu packen, bevor ich Joe begrüße.
»Dachte, ich setze mich oben auf die Klippen und lese ein bisschen«, erkläre ich und werfe mir die Tasche über die Schulter.
»Was willst du eigentlich in Cambridge studieren?«, fragt er, als wir den Weg zum Dancing Ledge einschlagen.
»Englische Literatur. Wahrscheinlich stinklangweilig, wenn alles so ist wie Shakespeare.«
»Wird bestimmt trotzdem ganz lustig.«
»Hoffentlich.«
»Freust du dich schon?«
»Ja, irgendwie doch. Aber ich bin auch nervös. Bisher war ich noch nie länger fort von daheim.«
»Wo ist dein Vater?«, fragt er.
»In London. Er kommt morgen Abend rüber und bleibt das Wochenende bei uns.«
»Und, macht ihr dann das ganze Wochenende einen auf Familie?«
Ich zucke mit den Achseln. »Nein, eigentlich nicht. Ihr denn?« Es soll beiläufig klingen, aber innerlich hoffe ich verzweifelt, dass wir uns sehen können.
»Ich muss arbeiten. Am Wochenende ist viel los im Pub.«
»Ah, verstehe.« Sosehr ich mich auch bemühe, kann ich meine Enttäuschung nicht verhehlen.
»Kommt doch vorbei!«
»Ich glaube nicht, dass deine Eltern davon sonderlich erbaut wären.«