Katja Kraus
Freundschaft
Geschichten von Nähe und Distanz
FISCHER E-Books
Acht Jahre lang war Katja Kraus im Vorstand des Hamburger SV und damit die einzige Frau im Management des deutschen Profifußballs auf Vorstandsebene. Zuvor war die studierte Germanistin und Politologin Pressesprecherin bei Eintracht Frankfurt. In ihrer aktiven Karriere als Torfrau wurde sie mit dem FSV Frankfurt von 1986 bis 1998 drei Mal Deutscher Meister und vier Mal Pokalsieger. Sie bestritt sieben Länderspiele und nahm an den Olympischen Spielen 1996 teil. 2013 gründete sie mit Jung von Matt, Christoph Metzelder und Raphael Brinkert die Agentur Jung von Matt/sports. Im selben Jahr erschien ihr Buch ›Macht. Geschichten von Erfolg und Scheitern‹ bei S. Fischer.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Gibt es die »Freundschaft fürs Leben«? Wie ist es, wenn eine Freundin plötzlich Konkurrentin wird? Und was ist eigentlich das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz?
Im Gespräch mit Katja Kraus geben ihre Gesprächspartner aus Politik, Kultur und Sport ungewöhnlich offen Auskunft über ihr Verständnis von Freundschaft, deren Bedeutung in ihrem Leben aber auch über den Umgang mit Brüchen in persönlichen Beziehungen.
Ein Buch, das sich klug mit den verschiedenen Spielarten der Freundschaft auseinandersetzt – und mit den Menschen, die uns oft näherstehen als unsere Familien.
Mit Roger Willemsen, Maria Höfl-Riesch, Barbara Auer, Jürgen Flimm, Egon Bahr, Jürgen Klopp, Gregor Gysi, Claudia Roth, Ali Mahdjoubi, Sahra Wagenknecht, Rene Adler, Manfred Bissinger, Sylvia Bovenschen, Jean Remy von Matt, Benjamin Lebert, Christoph Metzelder, Marina Weisband, Joseph Vogl, Bettina Böttinger, Herbert Hainer und Andrea Fischer.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403040-1
Für meine Freunde
Egon Bahr
»Wir können es ganz kurz machen«, grantelt es mir aus der Tiefe des Schreibtischstuhls entgegen. »Ich sage Ihnen meine Formel für Freundschaft, und damit ist alles gesagt.«
Nach dieser einladenden Eröffnung befiehlt mir Egon Bahr dann doch, vor seinem aufgeräumten Tisch Platz zu nehmen. Er hat gerade ein anstrengendes Telefonat hinter sich und muss jetzt erst mal eine Zigarette rauchen. Normalerweise gilt Rauchverbot im Willy-Brandt-Haus, doch Politiker, die bundesdeutsche Geschichte maßgeblich gestaltet haben, ignorieren solche Regeln mit größtmöglicher Souveränität. Darin will er nicht hinter Helmut Schmidt zurückstehen. Und zetert über diejenigen, die mit lustfeindlichem Regelwerk versuchen, seine Lebensfreude einzuschränken.
Natürlich kann er zu Freundschaft eine Menge mehr als einen Satz sagen, schließlich hat er ganze Bücher darüber geschrieben. Über dieses außergewöhnliche Bündnis mit Willy Brandt, das als zeitloses Zeugnis für die Möglichkeit echter Freundschaft in der Politik gilt. Aber er hat einen vollen Terminplan, erzählt er und zeigt dabei auf den vor ihm liegenden Tischkalender, der für diesen Tag genau einen Eintrag vorsieht.
»Wie viele Freunde haben Sie denn?«, fragt der Zweiundneunzigjährige herausfordernd und übernimmt damit direkt die Gesprächsführung. Er hat nur drei. Drei echte Lebensfreunde. Einen Schulfreund, einen politischen Weggefährten und eben Willy Brandt. Dann sei Schluss, mehr gibt es nicht. Braucht es auch nicht.
Zwei seiner Freunde sind tot, mit dem dritten spricht er inzwischen nur noch in unregelmäßigen Abständen. Neue Freundschaften hat er schon lange nicht mehr geschlossen. Vielleicht weil er noch immer so viel zu tun hat, er erhält nach wie vor reichlich Einladungen zu repräsentativen Anlässen, häufig von internationalen Staatschefs, die von seiner Erfahrung zu profitieren suchen. Vor allem aber deshalb, weil seine Freundschaften weit über den Tod hinaus wirken. Da braucht es keinen Ersatz, obschon er hin und wieder mal jemanden richtig sympathisch findet.
Egon Bahr ist ein brillanter Geschichtenerzähler. Auch wenn er die allermeisten schon unzählige Male erzählt hat, vermittelt er das Gefühl einer exklusiven Konspiration. Er variiert in Lautstärke und Temperament und ist es sichtlich gewohnt, den Gesprächspartner mit seiner akzentuierten Kauzigkeit einzuschüchtern. Signifikant entfaltet sich diese Methode vor allem dann, wenn er gefordert ist, die jahrzehntelang zurechtgelegten Sprachregelungen zu überschreiten. Sobald er sich wieder auf gewohnten Pfaden bewegt, berlinert er im Maße der Entspannung. Und manchmal wird er dabei sogar ganz sanft. Immer dann, wenn er seine Geschichte über Willy Brandt erzählen kann. Über ihre Männerfreundschaft, die keine Beweise brauchte. Und die erst nach dem Tod des Ex-Kanzlers ihre formale Bestätigung bekam.
Sie haben sich lange gesiezt, nachdem ihn Willy Brandt als Regierender Bürgermeister Berlins zu seinem Sprecher machte. Auch in den gemeinsamen Jahren im Bundeskanzleramt, als sie mit dem Wandel durch Annäherung die bundesdeutsche Entspannungspolitik prägten. Im Amt war es ohnehin Ehrensache, in den seltenen privaten Begegnungen duzten sie sich irgendwann. Es brauchte jedoch eine verbindende politische Kabale für den großen Schritt zu ausdrücklicher Vertraulichkeit. »Wir haben ein bisschen unfair gegenüber Ollenhauer agiert«, erinnert sich Egon Bahr mit gespielter Beschämung »und als wir rausgegangen sind, hat der Willy gesagt, Egon wir können uns jetzt auch duzen.«
Dass Freundschaft für ihn vor allem auch das Respektieren der jeweiligen persönlichen Grenzen ist, macht Egon Bahr wiederholt unmissverständlich klar. Ob er diese Grenzen in der Zweisamkeit mit Willy Brandt seinerseits ähnlich gesetzt hätte, beantwortet er mit einem gedankenvollen Schweigen. Es sei nun mal so gewesen, dass man Brandt nur nahe kommen konnte, wenn man ihm nicht zu nah kam. Also hat er dessen »Privacy« immer anerkannt. Und auch, dass der Freund entschied, über welche Themen gesprochen wurde. Und wann.
Von Männerabenden an der Bar, kameradschaftlichen Gelagen oder vom Austausch über die realen Nöte eines Politikers fernab der Weltpolitik erzählt er wenig. Die Dimension der wechselseitigen Bedeutung findet ausschließlich in der unanfechtbaren Loyalität, in den geteilten Überzeugungen, in gemeinsam gewonnenen und verlorenen Kämpfen ihren Ausdruck.
Er hatte nie ein Problem damit, in dieser Beziehung der Geber zu sein, der Dienende im besten Sinne. »Ich war sein Architekt, ich habe in Konzepten gedacht, er war der Bauherr und traf die Entscheidungen.« Eine kongeniale Verbindung sei das gewesen. Und ganz und gar zweckfrei. »Der höchste Wert, den eine Freundschaft erfüllen kann«, sagt er leise. Eine vollkommen zweckfreie Verbundenheit wie diese ist ein Geschenk. Und deshalb so selten. Bis heute fällt ihm keine ähnliche Bindung im politischen Geschäft ein. Nicht mal in der Literatur, wenn er recht darüber nachdenkt.
Das haben ihm auch andere bestätigt. Richard von Weizsäcker hat mal gesagt, dass Willy Brandt und Egon Bahr nur mithilfe des jeweils anderen ihre Fähigkeiten entfalten konnten. Dieses Zitat wiederholt er mit unverhohlenem Stolz. »Brandt war ein Mensch, der eine unglaubliche Faszination auf Massen ausübte, diese Gabe habe ich nicht.« Rivalität hat es zwischen ihnen beiden nie gegeben. Allein die rigide Abwehr dieser Frage zeigt, wie groß die Ehrfurcht vor den Fähigkeiten des Freundes ist und wie vermessen die Annahme, er könnte unter dessen Größe dann und wann gelitten, gar mit ihm gewetteifert haben. ›Erkenne dich selbst‹ ist das Motto, das Egon Bahr durch seine politische Laufbahn und vor allem in der Freundschaft zu Willy Brandt getragen hat.
Was Willy Brandt in ihm erkannt hat, was ihn zum womöglich einzig wahren Freund qualifizierte, darüber mag Egon Bahr nicht fabulieren. »Das müssen Sie ihn schon selbst fragen«, sagt er so selbstverständlich, als könne jeder auf eine Weise mit Willy Brandt in Kontakt treten, wie er es bis heute tut. Es war eben einfach so. Brauchte keine Erklärungen. Und doch sei er sich der unerschütterlichen Wertschätzung immer sicher gewesen. Auch wenn sie zumeist unausgesprochen blieb. Selbst in ihrem letzten Gespräch, zwei Tage vor Brandts Tod, ist der Begriff Freundschaft nicht gefallen. Bei der Erinnerung an diesen verschwörerischen Moment grinst er entrückt.
Es gab immer wieder diese Bruchstellen, die Egon Bahrs besondere Bedeutung für den Kanzler unterstrichen. Vor allem solche, die keine öffentlichen Bilder hinterließen. 1972, nach der vorgezogenen Bundestagswahl und zum Zeitpunkt des größten Erfolges der SPD, beginnt er zu erzählen, da hatte Brandt eine depressive Verstimmung. Obwohl das mit dessen angeblichen Depressionen ansonsten alles totaler Unsinn sei. Damals allerdings, da rief ihn Brandts Frau Rut an und bat ihn dringend zu kommen. »Willy war nicht mehr ansprechbar, absolut entschlossen alles hinzuwerfen, beschimpfte die komplette Kabinettsliste einmal hoch und runter. Ich habe ihn versucht umzustimmen, alle Argumente verpulvert und am Ende nur noch mit der Schläue der Verzweiflung gesagt: Du kannst gar nicht zurücktreten, der Bundespräsident ist gerade auf Auslandsreise.« Dann ist er gegangen. Am nächsten Tag kam der Bundeskanzler zur Arbeit, als sei nichts gewesen. Niemand hat je von seiner konkreten Ausstiegssehnsucht erfahren. Das sind diese Erlebnisse, die ihre wechselseitige Loyalität zementierten. Brandt konnte sich immer auf die Diskretion seines Getreuen verlassen. Und Egon Bahr genoss das solitäre Vertrauen, das ihm der Regent entgegenbrachte. Eine unblutige Blutsbrüderschaft unter erwachsenen Männern.
Politische Krisen haben beide in ihren bewegten Bonner Jahren viele geteilt, aber an Spannungen in ihrer Beziehung kann sich Egon Bahr nicht erinnern. »Alles Pipifax«, behauptet er nach einer langen Pause, während der er scheinbar angestrengt abwägt, welches Ereignis die Größe zur Anfechtbarkeit ihrer Symbiose haben könnte. Na ja, die Entscheidung für Brandts letzte Frau, die konnte er nicht verstehen. Gesagt hat er es ihm nicht, auch hierbei war Zurückhaltung der größte Freundschaftsdienst. Es gab ja ohnehin nichts daran zu rütteln und überhaupt galt: »Hauptsache, der Junge ist glücklich.« Doch manchmal, fügt er dann in einer Mischung aus Unverständnis und Bewunderung hinzu, da sei er ein bisschen enttäuscht gewesen, dass Willy Brandt nicht die Fähigkeit von Herbert Wehner hatte, »jemandem mal so richtig in den Arsch zu treten«. Das konnte auch er nicht stellvertretend für ihn erledigen. Brandt war eben ein Mensch, der immer überzeugen wollte, nicht befehlen. Seine Stärke und Schwäche zugleich. Aber dieses Gerede, er sei zu weich gewesen, darüber kann Egon Bahr sich trefflich empören. »Jemand, der vierundzwanzig Jahre lang Vorsitzender der Partei ist, der weiß natürlich genau, wo die Macht ist.« Und wie er sie einzusetzen hat. Dass der Berater seinen Kanzler trotz unterschiedlicher Meinungen und wohldosierter kritischer Auseinandersetzung am Ende meistens verstand, liegt auch daran, dass sie sich ähnlich gewesen sind. »Wir waren beide intelligent und empfindsam«, beschreibt er beseelt, was er für unverzichtbare staatsmännische Eigenschaften hält.
Auch seine zwei anderen Lebensfreunde glichen Egon Bahr auf eine Weise oder waren zumindest durch geteilte Erlebnisse und eine gleiche Gesinnung verbunden. Anders wäre Freundschaft nicht denkbar, er ist vor allem ein politischer Mensch. Seinen Schulfreund hat er Jahre nicht gesehen, während des Krieges waren sie beide Soldaten an entfernten Orten. Lange später sind sie sich wieder begegnet und haben einfach weitergemacht wie vorher. »Wir haben einander immer geholfen, ich ihm beruflich, er mir beim Denken«, erinnert er sich an seine erste lebensbegleitende Freundesbindung. Auch diese eine komplementäre Einheit.
Gelitten hätten seine anderen Beziehungen unter der Dominanz der politischen Ehe Brandt/Bahr nicht, auch wenn lange Jahre viel zu wenig Raum für ihre Pflege blieb. »Jede Freundschaft ist unverwechselbar.« Und hat ihre Zeit.
Willy Brandt ist sein zeitloser Begleiter, auch nachdem er als Parteivorsitzender zurücktrat und aus der Politik ausschied, sind sie in stetem Kontakt geblieben. Das Verhältnis habe sich kaum verändert, auch wenn der Kanzler a.D. nun ab und an seinen früheren Berater bei dessen politischen Entscheidungen beriet.
Es folgen anschauliche politische Episoden und ausgestellte Zeitdokumente als Nachweis dieses Rollentausches. Mit jeder Geschichte und der fortschreitenden Zeit räuspert sich der glühende Chronist heftiger. Dann beugt er sich vertraulich vor und sagt: »Willy Brandt fehlt mir sehr, ich frage mich oft, was er jetzt wohl tun würde.« Und dann fühlt er eine Leere, weil er es nicht überprüfen kann. Auch wenn er vermutet, es ohnehin zu wissen. »Manchmal«, flüstert er beinah, »träume ich auch von ihm.« Aber das ist nun wirklich ein Geheimnis.
Es scheint, als gäbe es noch so manches Geheimnis, so manche unausgeleuchtete Stelle in dieser einzigartigen Verbindung und auch, als wolle Egon Bahr sie allzu gern genau in diesem Lichte belassen. Als seien all die vielzitierten Ereignisse, die Interpretationen, sämtliche Bücher und Reportagen auch ein Schutz für das, was er ungeteilt wissen möchte. Bedacht gesetzte Offenheit als Obhut für die vielen unsagbaren Sätze und Gefühle in ihm.
So fällt es ihm jetzt auch leichter, über Freundschaft im Allgemeinen zu sprechen. Über seine Verwunderung darüber, dass Politik so wenig Tiefe in der Begegnung zulässt. Selbst Parteifreunde bestenfalls Verbündete sind, im Sinne des gemeinsamen Ziels. Das war früher auch nicht anders, dessen war er sich immer bewusst, und deshalb will er sich auch an keine wirkliche Enttäuschung erinnern: »Enttäuschung heißt ent-täuscht zu sein.« Dass es die Allianz Brandt/Bahr auch heute auf die gleiche, ganz und gar zweckfrei verbundene Weise gebe, davon ist er überzeugt: »Es ist doch nur Technik, die Menschen sind gleich.« Aber eben doch nicht wie er. Deshalb hat er lange schon keinen neuen Freund gefunden, auch wenn er sich darüber freuen würde.
Aber wer ist schon wirklich befreundet? Günter Grass, glaubt er, der ist doch mit Max Frisch ganz eng gewesen. Aber heute, diese Facebookfreundschaften, das sei nun ein Irrglaube der Menschheit: »Wie soll das denn gehen, Verbundenheit in sechs Zeilen?« Er schüttelt verständnislos den Kopf und sortiert dabei seinen Schreibtisch, auf dem neben dem Kalender nur eine Schreibmappe, ein Aschenbecher und zwei seiner eigenen Bücher akkurat arrangiert sind.
Egon Bahr spricht zwangsläufig über Männer, wenn er über Freundschaft resümiert. Freundschaften mit Frauen können ins Erotische kippen, erklärt er nach einer stirnbewegten Gedankenpause, das hat er lieber nicht ausprobiert. Aber seine Ehefrauen sind ihm allesamt auch Freundinnen gewesen. Jede hat auf ihre Weise viel Verständnis für ihn gehabt, vor allem damals, als er sich nicht um die Kinder kümmern konnte, weil er die Welt verändern wollte. Und für seine Beziehung zu Willy Brandt.
Wer er ohne Willy Brandt wäre, wie sehr sein Leben, seine Persönlichkeit von dieser Bindung geprägt sind, darüber muss er nicht nachdenken: »Willy Brandt ist ein vitaler, nicht abtrennbarer Teil von mir.« Dass es umgekehrt so ähnlich gewesen ist, mag er nicht laut aussprechen, aber es ist sichtbar, dass er keinen Zweifel daran hat. Und doch ist es die finale Beglaubigung der Einzigartigkeit, die ihm alles bedeutet. Nach Willy Brandts Tod hat ihm einer seiner Söhne einen Brief geschrieben und darin von seiner letzten Begegnung mit seinem Vater berichtet. Ganz am Ende des Besuchs habe der Sohn den Vater gefragt: Wer waren deine Freunde? Willy Brandt antwortete nur: Der Egon.
Egon Bahr hat diese Geschichte mindestens hundert Mal erzählt, aber seine Rührung ist so gegenwärtig, als habe er das Bekenntnis gerade eben zum ersten Mal gehört: »Dieser Brief ist die höchste Auszeichnung, die ich im Leben bekommen habe.« Er ist nicht stolz darauf, fügt er sacht lächelnd hinzu. Nur dankbar. Sehr dankbar.
Mit Brandts Familie ist er immer verbunden geblieben, »so lebt der Willy weiter in diesen Begegnungen.«
Ach, und dann fällt ihm noch ein, womit er unser Gespräch beginnen und zugleich beenden wollte. Seine Formel für Freundschaft: »Freundschaft ist unauslöschliche Liebe ohne Sex.« Er betont dabei sehr laut jede Silbe von unauslöschlich.
Jetzt braucht er aber endlich wieder eine Zigarette.
Ich brauche einen stillen Ort in Berlin, um die Klangfülle der gemeinsamen Stunde wirken zu lassen. Um mich zu befreien aus der geschichtsprallen Ehrfurcht, die sich in einer Begegnung mit Egon Bahr trotz seiner Lebhaftigkeit in den Kleidern festsetzt. Um zu erfassen, warum bei all der Einsicht in die Freundschaft Brandt/Bahr und des Episodenreichtums so vieles vage bleibt. Warum es so wenige Szenen außerhalb des Politischen gibt, die die Verbindung zweier Männer sichtbar macht. Was eine solch prägende Figur für das Leben eines Menschen bedeutet, der sich so bereitwillig zum Dienenden macht. Oder ob sich eine eigene Größe im Dienen ermisst, die größer als die vereinzelte Größe ist? Ob im Altruismus nicht doch auch ein Zweck liegt? Auch wenn er das bestmöglich erfüllt.
Braucht es zur uneingeschränkten Hingabe an einen Menschen die Fähigkeit der Verklärung? Auch die Bereitschaft, eigene Bedürfnisse und Lebensthemen zurückzustellen? Und wenn das so ist, wie viel bedeutet dann die Bestätigung, dem Richtigen gedient zu haben? Viel mehr als Dienender zu sein.
Willy Brandt hat seinem Freund Egon Bahr diesen Beweis im letztmöglichen Moment erbracht.
Mit diesen und vielen anderen Fragen reise ich weiter. Zu ganz verschiedenen Menschen, die mich im Zusammenhang mit Freundschaft interessieren. Die zahllose Facetten von Freundesverhältnissen in den unterschiedlichsten Farben ausmalen. Zu Schriftstellern, die Freundschaft in ihren Werken umkreisen, zu Politikern, um etwas über die Möglichkeit echter Bindung in der vielzitierten Kälte des politischen Milieus zu erfahren. Zu Sportlern, die Kameraden sein sollen und doch häufiger Rivalen sind. Zu Rivalinnen, die um ihre Freundschaft ringen. Zu Menschen, die sich in der Beziehung zu anderen schöpferisch bereichern; zu solchen, für die sich die Tugenden der Freundschaft in Notsituationen auf eine besondere Weise bewährt haben. Oder auch nicht. Zu Repräsentanten unterschiedlicher Generationen, zu Kulturschaffenden und Wirtschaftsmanagern, zu Menschen, die uns in ihren Rollen und Funktionen allgegenwärtig sind und uns als Freunde oder Liebende zumeist verborgen bleiben.
Marina Weisband
Ich fahre nach Münster zu Marina Weisband. Die ehemalige Parteivorsitzende der Piraten ist ein Gesicht der digitalen Freundschaftskultur.
Meine ersten elektronischen Anfragen bleiben unbeantwortet. Erstaunlich für eine Frau, die in Echtzeit twittert und die verbindende Kraft des Internets beschwört. Ihre Erklärung wiederum ist plausibel, die Vielzahl von Mailkontakten lassen einzelne schon mal unbesehen in der Masse verschwinden. Die Verabredung erfolgt dann in Chatgeschwindigkeit, aber sie weist vorsorglich darauf hin, dass die Verschlechterung ihres körperlichen Zustandes eine kurzfristige Absage nötig machen könnte.
Es geht ihr gut an diesem Tag. Die undefinierte Immunschwächekrankheit, die sie als ›Tschernobyl-Kind‹ seit ihrem zweiten Lebensjahr plagt, gönnt ihr heute Beschwerdefreiheit. Wir treffen uns in einem Studentencafé in der Nähe des Bahnhofs. Die Piratin, die mit einer bemerkenswerten Unauffälligkeit im Schatten des Raums auf mich wartet, wirkt in ihrer frappierenden Zerbrechlichkeit noch deutlich jünger als das legere Publikum des Cafes.
Marina Weisband hat gerade ihr Psychologiestudium abgeschlossen. Sie könnte jetzt also wieder richtig Politik machen, aber die ruinöse Piratenpartei bietet ihr dafür keine Basis. Stattdessen versucht sie, den Menschen in Deutschland die Situation in ihrem Geburtsland, der Ukraine, verständlich zu machen. Zu vieles wird aus ihrer Sicht missverständlich berichtet. Diese Situation kennt sie aus der Zeit, als sie der Führung der Piratenpartei angehörte. Sie wünscht sich, dass ihre Vermittlungsversuche diesmal besser gelingen.
Die sechsundzwanzigjährige Frau, die vor einigen Monaten noch als aufgehender Stern am Politikhimmel galt, hat sich einen neuen Wirkungsraum geschaffen, am Maidan und in den vielzähligen Fernsehstudios des Landes. Ein Zuhause, an dem sie sich verortet fühlt, kennt sie hingegen nicht. Sie lebt im ICE zwischen Münster und Berlin und in zwei weit mehr als vierhundert Kilometer voneinander entfernten Welten.
Hier, in diesem sympathisch schrammeligen Café an ihrem ersten Wohnort, wirkt Marina Weisband wie ein Fremdkörper. Sie trägt ein Kopftuch, das ihr zartes Gesicht beinah verschluckt. Eigentlich unvorstellbar, dass sich viele Kommentatoren in der längst vergessenen Zeit, als die Piratenpartei antrat, das etablierte politische System zu entern, vor allem wegen ihrer Attraktivität und Strahlkraft für die Chefpiratin begeisterten. Doch als sie zu sprechen beginnt, entfaltet sie eine einnehmende Wucht. Ihre Sätze sind kurz, präzise und vor allem zweifelsfrei.
Sie lebt gern in zwei Welten, sagt sie dann. In Berlin, da ist sie Politikerin. Da hat sie Freunde, die sich in der Partei engagieren, in Kommunen leben, polyamourös, allesamt links. In Münster ist sie bis vor kurzem noch Studentin gewesen, eine von vielen. Hier lebt sie unter Menschen, die sie nicht als die von Medien kreierte Lichtgestalt sehen. Und mit ihrem Ehemann. Der hat sie bislang nur einmal, zu ihrem Geburtstag, in der Hauptstadt besucht. Der Versuch, die erste Lebenswelt mit der zweiten zu mischen, ist ziemlich schiefgegangen: »Das war seltsam, beinah surreal.«
Surreal erscheint ihr so manches. Auch die Ereignisse der vergangenen Jahre, die sie zur Lichtgestalt gemacht haben. Wie es dazu kommen konnte, wie sie so rasant zur Heldin einer hoffnungsvollen Bewegung und damit zur Politikerin wurde, das kann sie sich nicht wirklich erklären. Sie habe sich mitreißen lassen, sagt sie lässig, und man fragt sich unweigerlich, welche Kraft es wohl braucht, damit sich diese beinah unheimlich analytische junge Frau zu etwas hinreißen lässt. Drei Nächte lang hat sie nur geweint, nach der Wahl zur Parteivorsitzenden. Hat sich mit Zweifeln und der Last der Verantwortung geplagt und gedacht: »Damit komme ich niemals klar, das ist zu groß für mich.« Als die Panikattacken auch Wochen später nicht weniger wurden, hat sie sich mit Freunden darüber beraten, zu welchem Zeitpunkt es vertretbar ist zurückzutreten: »Meine Freunde haben immer gesagt: ›Halte durch, du schaffst das‹.«
Später haben sie ihr auch gelegentlich eine Verwarnung erteilt, wenn die Rolle zu präsent wurde und die Selbstberauschung gefährlich. »Ich habe das Potential, arrogant zu sein«, bekennt sie, deshalb braucht sie ihre Freunde auch als Korrektiv. Zuhause hat sie einen Glastisch im Wohnzimmer, unter dem Zeitungen liegen, auch solche, die über sie berichteten. Ein Freund neckte sie irgendwann mal halb spaßig wegen der unbeabsichtigten Ausstellung ihrer Popularität. Seither packt sie die Zeitungen immer weg.
Für solche Korrekturen ist sie dankbar, auch wenn dieses Beispiel für sie nicht als Beleg ihrer Arroganz taugt, sondern eher Unbedarftheit ausdrückt.
»Freunde sind Menschen, vor deren Urteil ich keine Angst habe.« Eine Kritik, die aus Liebe geboren ist, empfindet sie immer als wohlwollend.
Sie selbst hält sich für eine gute Freundin. Weil sie immer für ihre Freunde da ist, selbst als die Parteiarbeit ihr siebzig Stunden Einsatz in der Woche abverlangte. Und sie ist versöhnlich, »ich vergebe alles, das ist leicht«. Dafür erwartet sie unbedingte Akzeptanz. In Wahrheit sei das mit der Freundschaft ja auch nicht so kompliziert, philosophiert die Psychologin. Man muss nur kommunizieren können, die gleiche Sprache sprechen. Mit jemandem zu reden, der nur emotional und nicht rational argumentiert, das findet sie schwer.
Sprache ist ein zentrales Thema in Marina Weisbands Biographie, womit sich das bemerkenswerte Feingefühl in ihrem Ausdruck erklärt, das im Widerspruch zu ihrem strengen Tonfall steht. Sie ist sich der Wirkung bewusst und auch die Erklärung dafür folgt sofort. Die Politik hat sie härter gemacht. Vielleicht hat auch einfach das Leben sie härter gemacht. Ihre Geschichte.
Die ersten Freundinnen hat sie mit sechs Jahren verlassen müssen, als sie mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Deutschland gekommen ist. Fünfmal sind sie umgezogen, von einer Notwohnung in die nächste, ehe sie einen festen Ort in der fremden Welt fanden. Ein Mittel der Kommunikation mit den Freundinnen in der Ukraine gab es für sie als Kind nicht. »Es war, als wären wir gestorben.« In Deutschland war sie lange ein Sonderling, nicht nur, weil sie wenig Deutsch sprach. Sie hatte merkwürdige Hobbies, verschlang russische Bücher, schwänzte die Schule, um Japanisch zu lernen. Und scheiterte mit ihren Versuchen, beliebt zu sein. Verbrachte die Pausen allein und gewöhnte sich daran, dass die anderen Kinder sagten: »Was Marie angefasst hat, fasse ich nicht an.«
Sie hat inzwischen gelernt, mit Verlusten umzugehen, und für sich verstanden, dass Freundschaft etwas Phasisches ist. »Ich finde immer neue Menschen«, betont sie pragmatisch, deshalb sei es leicht, ein Sozialleben an einem Ort abzubrechen und an einem anderen wieder aufzubauen: »Es ist in meiner Generation kein Gütemaßstab mehr, seit zwanzig Jahren befreundet zu sein.«
Ich erzähle ihr von meiner Begegnung mit Egon Bahr, von lebensbegleitender Freundschaft und darüber hinaus. Von der absoluten Hingabe an einen Menschen und von Erwartungslosigkeit. Sie hört aufmerksam zu, rührt dabei in ihrem Früchtequark, ohne zu essen, und antwortet zum ersten Mal nicht blitzschnell und ausformuliert: »Ich beneide den Anspruch an lebenslange Bindung.« Mit Bitterkeit denke sie daran, dass sie diese Option nie hatte. Dass es für ihre Generation diese Bindungsform gar nicht gibt, »weil Ältere uns zwingen, mobil zu sein, die Bereitschaft zu haben, für einen Job den Ort zu wechseln, ganz unabhängig vom Grad der Verwurzelung.«
Die Einwanderin sieht sich deshalb als Repräsentantin für junge Erwachsene, die eine geringere Wertschätzung gegenüber lebenslanger Treue empfinden. Im Moment des Aussprechens erschrickt sie über ihre eigene These, und auch wenn sie nicht bewerten möchte, was besser oder schlechter ist, so weiß sie genau, dass ihre Worte schrecklich klingen müssen für Menschen, die seit Kindertagen befreundet sind.
Nach Zugehörigkeit, fügt sie matt lächelnd hinzu, habe sie in etwa die gleiche Sehnsucht wie in ihrer Kindheit danach, eine Märchenprinzessin zu sein. Aber diesem Wunsch sei sie unterdessen schon viel näher gekommen.
Andere Zeiten also. Die Verbindung Brandt/Bahr als Utopie einer Generation, die zur Entwurzelung erzogen ist. Aber die verbindende Kraft einer geteilten Ideologie, einer politischen Idee, die hat sie auch gespürt, in der Hochzeit der Piraterie.
Sie hing viel rum mit den Leuten aus der Partei, hat diskutiert und die Gemeinsamkeiten genossen. Irgendwie gab es die Verheißung, auf eine andere Art Politik zu machen. Bezogener, wärmer. Doch als es um die Wurst ging, relativierte sich so manches. Da haben sich viele auf Kosten anderer profiliert und angefangen, Schuldige zu suchen. »Wenn der Pioniergeist wegbricht, dann bricht auch oft die Bindung weg«, erinnert sie sich an die Momente der Entidealisierung. Übereinstimmung im Inhalt sei nur eine Chance, aber dann kommt es auf die ganz normale Kompatibilität an. Und die hat sie in ihrer Partei irgendwann nicht mehr empfunden. Ein bekanntes Gefühl aus Kindertagen und doch eine Enttäuschung, die sie verändert hat.
Die Liebe zu Menschen mag sie sich durch diese Erfahrungen nicht nehmen lassen. »Alles, was ich mache, mache ich für Menschen.« Ein großer Satz. Der mächtigste humanistische Imperativ, ausgesprochen von einer Frau, die sich schmerzfrei von Menschen zu entbinden gelernt hat. Beglaubigt durch ihr Leiden. Und ihre Bereitschaft, darüber hinweg politisch zu wirken.
Auch in ihrer Leidenschaft für Kunst findet Marina Weisbands Philanthropie Ausdruck. Beinah alle Zeichnungen, die sie dann und wann ausstellt, haben Beziehungsszenen im Mittelpunkt, und auch das Psychologiestudium ist ein Versuch, die Menschen noch besser zu erkennen.
Sie selbst hat sich erstmals wirklich verstanden gefühlt, als sie das Internet als Kommunikationsform für sich entdeckte. Dort fand sie Leute, die waren wie sie. »Ich habe nirgends so zartfühlende Menschen kennengelernt wie im Netz.« Allesamt klassische Nerds auf eine Weise, bestätigt sie längst überholte Klischees und diagnostiziert: »Sie waren so früh im Internet, weil sie alle ihr Päckchen zu tragen hatten.«
Im Netz fand sie Zugehörigkeit, reale Freundschaften und sogar ihre erste Beziehung. Die Hemmschwelle, sich wirklich etwas zu sagen, sei im Internet viel geringer. Mit japanischen Comics begannen die Chat-Unterhaltungen in der Community meistens und endeten bei der Situation zuhause, dem Streit der Eltern, der geteilten Verlorenheit.
Später gab es regelmäßige Forumstreffen in Nordrhein-Westfalen und die Entdeckung analoger Jugendfreuden wie Diskobesuche und nächtelange philosophische Debatten.
»Das Netz überwindet Raum, damit erreiche ich eine Vielzahl von Menschen und darunter sind schon nach dem Gesetz der großen Zahlen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit solche, die mir entsprechen«, erklärt sie ihre Befreiung aus der langjährigen Isolation mit einfacher Mathematik.
Heute erreicht Marina Weisband die, die sich mit den gleichen Themen beschäftigen, auf ihren vielen Reisen, bei Vorträgen oder Kongressen. Deshalb sucht sie keine Kontakte mehr im World Wide Web. Überhaupt hat sie aktuell keine Energie, neue Freundschaften zu schließen. Aber die bestehenden, die pflegt sie am liebsten über Twitter.
Sie hat sich ein privates Umfeld geschaffen, das ihr besondere Stabilität gibt. Für den Moment zumindest. Mit ihrem Mann, dem besten Freund und Partner in einer ihrer Lebenswelten. Mit einem befreundeten Paar, das gerade das fünfte Kind bekommen hat. Üblicherweise sind Kinderkrankheiten, erste Laufschritte oder die Schulauswahl keine Themen, die sie fesseln. Aber die Tatsache, dass die Freundin ihr zuallererst von der jüngsten Schwangerschaft erzählte, dieses Vertrauen hat sie dann doch ungemein eingenommen. Ansonsten ist ihr die Münsteraner Welt fremder geworden, nach dem Ausflug in die Berliner Bedeutung. Sie hat ihren Freundeskreis vernachlässigt, weil sie keine Zeit hatte. Ihre Peergroup zerbombt nennt sie das. Aber sie kam auch anders zurück, als sie losgegangen ist, und fand wieder mal keine Bindung mehr. Brettspieleabende, die sie früher vergnüglich fand, scheinen ihr inzwischen unwirklich.
Freundschaft ist für die Piratin das, was Verbundenheit erzeugt und darin eine Substanz hat. Geteilte Erlebnisse. Sie schließe schnell tiefe Freundschaften. »Ich täusche mich nie.« Und lässt sie auch wieder los.
Ihre familiären Vorbilder haben ihr früh gezeigt, dass loslassen zu können eine wirkungsvolle Schutzfunktion ist. Ihr Vater hat seine Freundeskreise wie Unterhemden gewechselt. »Er war gut darin, Freundschaften zu schließen, und schlecht, sie zu pflegen«, vergleicht sie ihre ersten unfreiwilligen Impulsgeber für Bindungsverhalten: »Meine Mutter hingegen war sehr stationär.« Fähig zu Lebensfreundschaften, aber unflexibel, das habe sie nach dem Umzug nach Deutschland sehr einsam gemacht.
Marina Weisband ist jetzt, nach zwei Stunden Gespräch und nur wenigen beiläufigen Löffeln Früchtequark viel zugänglicher geworden, die Stimme weicher, das bestimmte Stakkato der Sätze hat sich in einen ruhigen Erzählfluss aufgelöst.
So erzählt sie nun von ihren charakterlichen Mitbringseln aus der verlorenen Heimat. Von den bleischweren Erwartungen, mit denen sie in der Ukraine aufgewachsen ist. Immer sollte sie still sein, unauffällig und bedacht. »Wenn ich zu schnell schrieb, hat meine Mutter immer die ganze Seite des Heftes rausgerissen, weil die Schrift hässlich war.« In Deutschland wurde sie aufgefordert zu toben, dafür ausgeschimpft, wenn sie zu langsam ging oder auf einer Bank ein leises Lied vor sich hin sang. In dieser Zeit hat sie gelernt, sich jeder Situation anzupassen, die Rollen ständig zu wechseln. Wie eine Schauspielerin habe sie sich gefühlt. »Heute bin ich integrierter als Person«, resümiert sie mit spürbarer Entlastung. Extrem anstrengend sei der Wandel zwischen den Identitäten gewesen.
Bei ihrem besten Freund hat sie nie schauspielern müssen. Schon deshalb verdient er den Superlativ. Weil er sie nicht spielen lässt, sondern auf ihren Grund sieht. »Beinah gruselig« ist dessen Fähigkeit, sie zu durchschauen.
Sie findet es bei aller Furcht vor der totalen Durchleuchtung wertvoll, sich wirklich gesehen zu fühlen, auch oder gerade über den effektiven Gestus hinweg. Glücklich sei sie dann, wenn Freunde eine Entdeckung an ihr, eine Eigenschaft verbalisieren, die ihr selbst nicht vertraut ist. Licht auf die blinden Flecken werfen. Hilfe zur Selbsterkenntnis, auch eine Freundschaftsfunktion, die ihr viel bedeutet.
Dass Frauen in ihren Freundschaftsgeschichten bislang keine Rolle spielen, fällt ihr erst auf Nachfrage auf. Aber es stimmt, sie tut sich schwer mit Frauen und sie hat auch eine Begründung dafür: »Frauen, die ich mag, sind in ihrer Rolle als Frau nicht sonderlich definiert.« Vermisst hat sie eine beste Freundin bisher nicht. Irgendwie fühlt sie sich eher verstanden von Männern. Von ihrem besten Freund sogar besser als von ihrem Ehemann. Auch wenn der ihr natürlich am nächsten steht. Überhaupt sind die drei festen Liebesbeziehungen ihres jungen Lebens auch Freundesbeziehungen: »Freundschaft schält sich aus Liebe heraus.« Mit ihrem Mann hat sie sich gerade für den Abend verabredet. »Unsere Begegnungen sind keine Selbstverständlichkeit, ich möchte alles teilen und viel Zeit mit ihm verbringen, aber wir lassen uns auch viel Raum.« Heute hat sie ihn ausnahmsweise gebeten, einem Freund abzusagen, um Rollenspiele mit ihr zu spielen. Live-Action-Role-Playing, ihre gemeinsame Leidenschaft.
Bevor sie sich zum Aufbruch bereitmacht, frage ich sie noch, ob sie sich wieder eine Gemeinschaft suchen wird, eine Behausung, die an die Stelle der Webgemeinde oder der Piratenpartei tritt. Sie denkt einen Moment nach. Womöglich hat sie diese Gemeinschaft längst gefunden. In der Synagoge. Menschen wie sie, mit dem gleichen Humor. Aus aller Herren Länder, aber in einem ungekannten Einverständnis. Beinah surreal. Eine wirkliche Freundschaft hat sie dort geschlossen aus vielen Seelenverwandtschaften, ein Junge aus Mexiko, der sie Cousine nennt. Sie lacht jetzt zum ersten Mal und wirkt nun nicht nur äußerlich ganz jung. »Wir waren nie grundlos beleidigt, haben nie aneinander vorbeigeredet«, trotz verschiedener Sprachen und kultureller Hintergründe, »jüdisch sein hat uns geeint, das ist sehr powerful.«
Jüdisch sein ist ihre Bestimmung. Welche Rolle sie am Abend spielen wird, weiß sie noch nicht genau.
Die Rückfahrt ist bestimmt von der Vorstellung der Eisenbahn als Lebensort. Eine Metapher für Heimatlosigkeit und entwurzelnde Mobilität. Meine Faszination für die schonungslose Analytik dieser so verletzten jungen Frau hält, ebenso wie die Verstörtheit darüber, deutlich länger als die Zugfahrt nach Hamburg an.
Berührt davon, wie sehnsüchtig und zugleich abgeklärt Marina Weisband als Vertreterin einer vereinzelten Generation nach Unterkunft in der Gemeinschaft sucht. Auch in der virtuellen.
Mich bewegt die Frage danach, wie sehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe Einsamkeit zu lindern vermag. Identität verleiht. Ich erinnere mich daran, dass ich selbst erst durch den Sport, im Zusammensein mit meinen Mannschaftskameradinnen das Gefühl von Aufgehobensein kennengelernt habe. Wie fremd ich mich hingegen oft mit Mitschülerinnen und Mitschülern fühlte, obwohl uns die gleichen Kindheitsgeschichten, Fernsehsendungen und der Verdruss über Noten und Lehrer verbanden. Wie glücklich ich gewesen bin über die geteilte Begeisterung für eine gemeinsame Sache. Wie viel sicherer ich wurde in meiner Persönlichkeit und meinem Auftreten, als ich eine Rolle einnehmen konnte, die eine Bedeutung für meine Mannschaft hatte. Und welche Stabilität ich daraus in andere Lebensbereiche mitgenommen habe. Lange ist mein Sport für mich Mittelpunkt meines Lebens gewesen und Handlauf durch ein widriges Erwachsenwerden. Weil sich aus der Gruppe echte, tiefe Freundschaften herausgebildet haben, die bis heute prägend sind, auch wenn der Sport als verbindender Inhalt durch nichts Vergleichbares ersetzt wurde.
Später habe ich im Berufsleben diese Form der Identifikation mit einer Sache erlebt, die sich durch die Verbundenheit mit Gleichgesinnten noch verstärkt. Im Austausch mit Befreundeten vertieft sich die Bedeutung der Inhalte und oft auch die Bindung. Als ich aus den jeweiligen Umfeldern herausgetreten bin, hat sich so manche intensive Beziehung zusammen mit dem gemeinsamen Thema auch wieder verflüchtigt.
Die Erfahrung eines unfreiwilligen Abschiedes klärt Bündnisse noch einmal unter einem ganz neuen Belastungsgrad. Es ist ein wertvoller Gradmesser für Freundschaften, wenn sie einer solchen Prüfung ausgesetzt sind. Und eine wichtige Erkenntnis, dass sich manches Verhältnis, und sei es für eine Zeit noch so nah, nur über den Zweck begründet. Doch auch erprobte Beziehungen ächzen unter gravierenden Veränderungen und der Auflösung statuierter Rollenbilder. Als ich aus einer etablierten Funktion in eine wackelige Phase der Neuorientierung geschubst wurde, haben auch enge Freunde eine Zeit der Sortierung gebraucht. Es fiel manchem nicht leicht, Unsicherheit und Verzagtheit als Teil von mir anzunehmen, auf vertraute Entschiedenheit zu verzichten und eigene Funktionsmuster neu zu ordnen.
Auch umgekehrt gibt es diese Befremdungsgefühle im Rollenwechsel. Die Entdeckung neuer Anforderungen an eine Freundschaft, weil sich Lebensparameter ändern oder Geschehnisse den Menschen. Der Tod meines Vaters hat mich auf diese Weise verändert, die alles Dagewesene berührt, alles in Frage stellt. Und in der Trauer nach Verbindungen mit Menschen suchen ließ, die einen solchen Verlust kennen, weil nur darin das Gefühl von uneingeschränktem Verständnis liegt. Fremde sind mir in dieser Zeit ganz nah gekommen und Vertraute fremd geworden. Mir selbst wurde dabei offenbar, wie fern ich Freunden trotz aller Nähe geblieben bin, wenn sie in einer vergleichbaren Situation gewesen sind. Wenn sie etwas erschüttert oder mindestens beschäftigt hat, was ich nicht selbst erfahren habe. Dass bei allem Bemühen um Einfühlung manchmal die größte Vorstellungskraft versagt. Und damit auch das Verständnis.
Manche Freundschaften sind von allen Einflüssen unbeeindruckt, trotzen jeder Entwicklung und haben sich auf eine unzertrennbare Weise mit dem eigenen Leben verwoben. Andere definieren sich mit den Einschnitten neu und einige gehen dabei verloren.
Ich reise weiter und möchte wissen, ob es im Sport noch heute so ist, wie ich es mir gern aus meiner Vergangenheit verkläre. Wie sich echte Freundschaften behaupten, seit das Spiel vor allem ein Geschäft geworden ist. Wenn der Fußball nicht in erster Linie geteilte Leidenschaft, sondern ein anspruchsvoller Verdrängungsberuf ist, der Mitspieler nicht zuallererst Spielkamerad, sondern Konkurrent. Aber ich frage mich auch, ob es überhaupt gepflegte Zweisamkeit und intensive Bindungen braucht, wenn man sich täglich in einer Gruppe mit zwanglosen Kontakten bewegt.
Um mich den Antworten zu nähern, fahre ich zu einem Trainer, der in den vergangenen Jahren einen ganz eigenen Stil geprägt hat. Einem Menschenfreund, der bei all den Möglichkeiten der charakterlichen Irreführung, die das schillernde Bundesligageschäft anbietet, auf eine erfrischende Weise er selbst geblieben ist. Der es geschafft hat, auch im überragenden Erfolg und bei aller Verehrung nicht Jürgen Klopp zu spielen, sondern Jürgen Klopp zu sein. Der in sich so zweifelsfrei wirkt, so autonom, dass ich allzu gern erfahren möchte, welche Bedeutung Bindungen für ihn haben. Mit wem er seine Siege feiert, wenn er die Mannschaftskabine verlassen hat. Wem er seine Zweifel und Ängste anvertraut, so es denn überhaupt welche gibt.
Jürgen Klopp
Jürgen Klopp ist extrem entspannt. Gerade hat er beim Müllraustragen sein Mobiltelefon zerlegt, und beim gestrigen Spiel ist sein wichtigster Verteidiger verletzt ausgefallen. Beides ziemlich ärgerlich, aber für ihn kein Grund, lange Trübsal zu blasen.
Jetzt hat er Lust, über Freundschaft zu reden. Der langjährige Pressesprecher von Borussia Dortmund, ein zurückhaltender, formvollendeter Herr, der nun Jürgen Klopps ganz persönlicher PR-Berater ist, hat eine Loge des Westfalenstadions mit Brötchen und Getränken eindecken lassen. Nachdem er mich an meinen Gesprächspartner übergeben hat, entschuldigt er sich kurz, er will mal nachhören, ob die Reparatur des Trainertelefons vorangeht.
Zuvor, auf dem Weg durch die Katakomben des Stadions, hatte mir der Sprecher ganz zutraulich erzählt, dass er irgendwann für zu alt befunden wurde, um eine tragende Rolle in den Zukunftsplanungen des Clubs zu spielen. Ein herber Schlag für den langjährigen Mitarbeiter, auch wenn die längst vergessenen wechselhaften Jahre des BVB ihre Spuren hinterlassen hatten. »Dann hat der Jürgen gesagt, der Josef bleibt bei mir«, und damit den Clubverantwortlichen die Entscheidung vorgegeben. Ein Meistertrainer muss selten Widerspruch fürchten. Seine beste Zeit sei das, seit der Jürgen da ist. Und es scheint, als wolle er mir mit dieser feinen Begebenheit eine kurze Einführung ins Thema Freundschaft und den speziellen Charakter von Jürgen Klopp geben.
Ja, das sei schon so gewesen, lacht Jürgen Klopp die Dankbarkeit seines Mitarbeiters beherzt weg. Aber keine große Sache, wenn er Freunden helfen kann, ist das doch eine Selbstverständlichkeit. Schließlich ist es ja auch in seinem Sinn, jemanden in seiner Nähe zu haben, dem er hundertprozentig vertraut. Und der ein bisschen so ist wie er. Wenn auch nicht auf den ersten Blick erkennbar. Überhaupt ist es ihm ein Rätsel, warum Leute glauben, sie brauchen Reibung und Andersartigkeit in ihrem Umfeld, um sich vollständig entfalten zu können. »Was für ein Schwachsinn«, redet er sich prompt in Rage, »wenn ich mit meiner Frau die Tagesschau sehe und sie sagt: guck mal, der ist ein guter Typ, und ich denke, was für ein Idiot, wie anstrengend ist das denn?« Er schüttelt entrüstet den Kopf, als wolle er sagen: mein Leben ist anstrengend genug.
Seine Co-Trainer sind allesamt seine Freunde, einer sogar seit der Schulzeit. Er sieht auch keinen Sinn in Stimulation durch einen Gegenpol: »Meine Eigenmotivation ist sowieso riesig.«
Der Fußball-Maniac weiß, dass er trotz aller Freundschaft der Chef ist, doch er will nicht in Hierarchien denken. Ob sich seine Kumpels ihrerseits auch auf Augenhöhe mit ihm sehen, vermag er nicht zu sagen, er hofft schon. Mit seinem Manager zum Beispiel, der ein echter Freund ist, hat er schon spektakulären Mist erlebt. Geschadet hat das ihrer Verbindung nicht. Dann setzt er an, um von einem Vorfall zu erzählen, der verdeutlichen soll, was für ihn spektakulärer Mist ist.
Sein Managerfreund hatte ihm eine Anfrage des Maler- und Lackiererhandwerks unterbreitet. Ein Werbefoto für deren Branchenzeitung sollte er machen, »für unvernünftig viel Geld«. Also hat er zugesagt und ist zum Shooting nach Düsseldorf gefahren. In Malerklamotten auf der Leiter stehend musste er immer wieder den originellen Slogan »Bei jedem Einsatz Höchstleistung« aufsagen. Im Laufe der Aufnahmen bemerkte er, dass er nicht für ein einfaches Foto posiert, sondern ein Video gedreht wurde. Er hat gleich danach ziemlich zornig den Manager angerufen, der ihn damit zu besänftigen versuchte, dass der Spot nur im Pay-TV ausgestrahlt werden würde. »Und dann saßen wir jedes Wochenende mit der Mannschaft im Hotel zusammen, haben Bundesliga geschaut und es lief achtmal am Abend dieser dämliche Heimwerkerspot.« Das war ihm so peinlich, »dass ich alle umbringen wollte«. Ob der Manager in der Phase des Furors um die Freundes- oder mindestens Geschäftsbeziehung fürchtete, kann er nicht sicher sagen. Für ihn hat es jedenfalls nichts davon angetastet.