Alfred Döblin
Schriften zu jüdischen Fragen
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Hans Otto Horch
Der vorliegende Band versammelt zentrale Texte Alfred Döblins zur prekären jüdischen Existenz und Kultur in Mittel- und Osteuropa seit den 1920er Jahren. Konfrontiert mit dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland, engagiert sich Döblin insbesondere für die ›neoterritorialistische‹ Bewegung, die in Abgrenzung zum politischen Zionismus nicht allein Palästina, sondern auch andere Besiedlungsgebiete in aller Welt als mögliche Heimat des jüdischen Volkes ins Auge fasst. Über das Politische hinaus zeigt der vorliegende Band auch die religiöse Bedeutung des Judentums für den christlich gewordenen Juden Döblin – wobei es dem Autor trotz seines politischen und religiösen Engagements stets um die Bewahrung seiner eigenen personalen und schriftstellerischen Identität geht.
Covergestaltung: bilekjaeger
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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ISBN 978-3-10-403299-3
(1933)
Jeremias: Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, das eurer wartet.
Nachdem über ein Jahrhundert der jüdischen Emanzipation vergangen ist, ist es an der Zeit, zum zweiten Mal nach Herzl, das Resultat zu betrachten und Schlüsse für die weitere jüdische Entwicklung zu ziehen.
Wir werden auf den Gesamtverlauf der Geschichte des unglücklichen, geschlagenen und immer wieder sich erhebenden jüdischen Volkes-Nichtvolkes-Übervolkes einen Blick werfen, werden mit der Strenge und Liebe, die diese Geschichte erfordert, den heute im Westen erreichten Zustand schildern und den Juden, die es noch nicht wissen, seine verdammenswerte Schlechtigkeit und Unwürde zeigen. Und wir werden dies tun, um die, die blind und ziellos sind, aufzurufen im Namen der großen herrscherischen Urmacht, die die Welt baut und von der ihre Gebete sprechen, und ihnen, soweit wir können, die nächsten Aufgaben zeigen, an die sie heranzugehen haben, – unter Abstoßung aller Gegentriebe und aller aus ihrer Mitte, die die Unwürde weiter tragen wollen.
Judentum, das ist ein ungeheuer konzentrierter Wachstumskreis. Er hat etwas Planmäßiges und Übersteigertes an sich wie ein Treibhaus. Volk, Nation ist etwas Offenes, Verbreitetes, trotz der inneren Bindungen und Formungen. Aber das kommt nicht an die Schärfe und Strenge der Bindungen und Formungen heran, die das Judentum hat. Diese Auskristallisierung, diese steinerne, scharfkantige Befestigung im Jehovaglauben! Es gibt keinen Gott neben ihm. Diese Sicherheit: er wird eines Tages der Gott aller sein. Es ist die Übersteigerung, die einmal der Kampf um Tod und Leben erzeugte. Man ist damals nicht ausgelöscht, nicht erlegen – und kurz vor dem Tod, den Tod überwindend hat man diesen Übertrotz und Zorn, dieses Trotzalledem-und-alledem erzeugt: wir leben und werden ewig leben.
Und siehe da: man ist leben geblieben! Es ist eiserner Lebenswille da, Kampfesmut und -wut. Wer so aus dem Tod hervorgegangen ist, ist ungeheuer stark und gestärkt. Nietzsche sagt: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.« So ist die Lawine Babylon und dann die Lawine Rom über sie gedonnert und hat sie zermalmt, aber nicht ganz! Und als die Lawine weiterrutschte, wanden sich aus den Trümmern einzelne todwunde, lahme, kranke Wesen heraus. Den phantastischen Schrecken der Katastrophe aber behielten sie im Gesicht, und er grub sich in ihr Inneres ein. Und so gingen sie weiter und fuhren fort zu leben, aber so, so!
Wie lebten sie denn weiter? Als Menschen, die sich langsam erholten und wieder wurden wie früher? Nein. Sie haben die Katastrophe nicht vergessen. Es können sonst Völker Kriege, Niederlagen, ja politisch-geographische Auslöschungen ertragen. Sie durchdringen sich mit dem Siegervolk, das Ringen geht kulturell und auf dem Wege der Klassenschichtung weiter. Es sind ganze Völker scheinbar spurlos untergegangen; wo findet man noch die Goten und andere. Aber da war etwas an den Juden, das diesen Kompromißuntergang des Aufgehens in andere Völker verhinderte. Millionen einzelner Juden sind ja im Laufe der Jahrtausende in andere Völker eingegangen, aber es ist ein Kern geblieben, der es sich gestatten konnte, diese Massen abzugeben und zu verlieren, ohne sich zu schwächen, er blieb doch leben. Was ist der Grund dieser enormen Zähigkeit? Was hielt den Kern zusammen?
Sie sind aus der sehr schwächlichen und gefährdeten Form eines bloßen Volkes, das Boden erwirbt, erobert, festhält, sehr früh in die unangreifbare Form des Priestervolks, des messianischen Volks gewichen. Gewichen – denn diese Dauerform ist eine Notform.
Aber es war eine ungeheure, beispiellose Leistung, ein Beweis der großartigen Energie und Zähigkeit des Volkes.
Gott bleibt die Sondersache ihres Volkes. Er heißt Jehova. Sie widersetzen sich ihm, er straft sie, aber er zieht, wie früher in der Wüste, immer vor ihnen her. Er ist ein »verzehrendes Feuer, ein eifervoller Gott«, aber »der Ewige, dein Gott« ist auch »ein barmherziger Gott, er wird von dir nicht lassen, er wird des Bundes mit deinen Vätern nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat«. Und es heißt schon in ihrem ältesten Buch: »Der Ewige wird euch unter die Völker zerstreuen, und in geringer Zahl werdet ihr übrig bleiben unter den Nationen. – Von dort werdet ihr dann suchen den Ewigen euren Gott, und du wirst ihn finden, so du ihn suchest mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele.«
Dies war es, was die feste Dauerform, eine Zwischenform schuf, Volk und Nichtvolk, Übervolk.
Welche Art Not bewerkstelligte das? Was sie als Volk vor zwei Jahrtausenden betraf, war eine langsame Dauerkatastrophe. Es traf sie von innen und von außen.
Die innere ständige Rebellion. Es ist ein furchtbar eigensinniges, halsstarriges, widerspenstiges Volk, dieser unbezähmbare Freiheitssinn, die antiautoritäre Gesinnung. Der Mann Mose hat sie aus Ägypten geführt, wo sie Knechte hatten sein müssen. Kaum ist er auf dem Berg Sinai verschwunden, auf dem die »Herrlichkeit Gottes ruhte«, um Jehovas Worte entgegenzunehmen in vierzig Tagen und Nächten, nach kaum vierzig Tagen laufen sie zu Aron und machen ein goldenes Kalb aus den Ringen ihrer Frauen, Söhne und Töchter, essen, trinken, bringen Brandopfer und belustigen sich. Vor dem Kalb sagen sie, eben dem ägyptischen Schrecken durch Moses Führung entronnen: »Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Lande Ägypten herausgeführt haben.« Was konnte Mose vor diesem Volk anderes, als die Gesetzestafeln im Zorn zerbrechen. Das goldene Kalb verbrannte er, die Asche streute er in Wasser und ließ die Kinder Israel davon trinken. Aber es blieb nicht bei diesem Einzelfall. Von solchen Rebellionen, Entartungen, ist die Geschichte des Volkes voll. Aber immer war eine kleine Masse Starker da, manchmal nur Einzelne – die hämmerten seit Beginn des Volkes an seiner Form. Sie hämmerten die eiserne Achse, von der das Rad nicht herunterfiel.
Und sie wurden in ihrer Arbeit unterstützt durch den nie nachlassenden Krieg an den Grenzen. Das Volk in seiner stählernen Dauerform also – entstand zwischen zwei Feuern.
Stählerne Dauerform? Wie sieht nun diese Dauerform aus? Sie haben die Jahrtausende in dieser Dauerform überlebt, die gewaltige Leistung haben sie vollbracht, das sagen sie und rühmen sie immer, aber sie sagen nicht wie. Und sie verschweigen zweitens den Sinn dieser Dauerform, welche nur eine Notform zur Überwinterung ist.
Sind sie aus Stahl? Seht sie euch an! Lest ihre Geschichte, die seit dem sechsten Jahrhundert vor Christi strotzt von Verfolgungen, Niederlassungen, Kämpfen, Verjagen, Ausrottungen, Pogromen, sie blieben leben –. Wie? Versteckt, weggestoßen, von früh an verachtet und gehaßt. Als Verachtete und Gehaßte haben sie überall seit zweieinhalb Jahrtausenden zittern müssen um ihr nacktes Dasein. Kein Recht gab es für sie, denn das Recht gab ein anderer, und der konnte die Laune wechseln. Anpassung, Anpassung, Verstecken: das sind ihre Hauptworte. Sich ducken, sich unsichtbar machen, Mimikry: das sind ihre Hauptgebote. Ein stählerner Charakter? Ein stählerner, unsichtbarer, unfaßbarer Widerstandswille seit Nebukadnezar und Titus und Vespasian, aber zugleich eine gequälte Art Mensch, eine zum Hund, zum Speichellecker und zum Knecht verdammte. Gescheit und überklug mußten sie werden – verflucht, daß sies werden mußten, es ist die Klugheit der tausendjährigen Notwehr, und die erbärmliche Klugheit der Angst, die Klugheit der Knechte, die Sklavenschläue. Und dafür sind sie leben geblieben. Ein Einzelner kann schwach sein und wird seine Schutzmauern um sich bauen, er weiß sich keinen Rat – aber ein ganzes Volk, wie kommt das, in zweitausend Jahren findet es keinen Ausweg und stirbt nicht und bleibt in der geschützten Dauerform, in dieser? Darf es das? Soll es das dürfen?
Sie waren nicht immer wie heute.
In der Bibel sehen wir sie als ein tapferes, kriegerisches Volk mit starkem Gottesglauben. Es ist ein weltliches Volk unter Königen und Richtern. Sie stecken in einem gefährlichen Wetterwinkel zwischen Großmächten, Ägypten und Babylon, Assyrien, später kommt Persien, sie kämpfen fabelhaft. Rom muß enorme Anstrengungen machen, sie niederzuwerfen. Auszurotten die Juden gelingt auch Rom nicht, trotz der grauenhaften Metzeleien. Grob gesehen kam das daher, daß die Juden sich aus der hochentwickelten und ebenso gefährdeten Form eines Wirbeltiers früh in die Form des Regenwurms umbildeten; alle Glieder können sich zu einem ganzen Tier regenerieren. Schlug man die Juden in Jerusalem nieder, so lebten Gemeinden in Babylon, rottete man sie in Alexandrien aus, so wohnten welche in Arabien und Italien. Und überall sie zugleich auszurotten war keine Möglichkeit und bestand kein Anlaß, sie übten Funktionen.
Sie waren nicht immer wie heute. Liest man die Bibel, so weiß man: dies ist ein Kriegsvolk. Die Erde wird von ihrem Gott geschaffen, damit sie sich ihrer bedienen. Nicht jüdisches Wort ist es, wenn es später heißt: wenn dich einer schlägt, halte ihm die andere Backe hin. Bei ihnen heißt es hart: Auge um Auge, Zahn um Zahn, und es regnet Todesstrafen, Steinigungen. Ihr Staat war vernichtet, es ist das Jahr 116, Kaiser Trajan herrscht über das Römische Reich, da erheben sich die Judäer in Kyrene und Afrika, ziehen auf das römische Ägypten, verwüsten Alexandrien, der römische Statthalter Lupus kann ihnen nicht standhalten. Auch auf Zypern erheben sie sich bewaffnet. Sie haben nicht die überlegene Bewaffnung der Römer. Die kavalleristische Kriegstechnik siegte, Martius Turbo »beendigte« den Aufstand. Es herrscht Kaiser Hadrian, fünfundsechzig Jahre nach dem Fall Jerusalems, da setzt die gewaltige Erhebung Bar Kochbas ein. Es ist der Riese Bar Kochba, der sagte: »Herr, wenn du uns nicht helfen willst, so hilf wenigstens unsern Feinden nicht, dann werden wir nicht unterliegen.« Er kämpfte über zwei Jahre. Er ließ sich auf das Gerede von der römischen Übermacht nicht ein. Man muß alle Dinge erst erproben. Er erprobte, Rom war stärker. Die Festung Bethar fiel. Was machte es. Er fiel groß.
Arabische Juden saßen auf Schlössern und Festungen, besonders in Südarabien. Sie führten blutige Fehden. Ganze arabische Stämme gingen zum Judentum über (was sagen die Rassetheoretiker). Es gab um 500 in Jemen einen jüdischen König Abu Kariba und ein jüdisches Reich.
Sie waren nicht immer wie heute. Sogar innerhalb anderer Staaten bildeten sie manchmal machtvolle Gemeinwesen aus und suchten annäherungsweise zum vollen alten Dasein zu gelangen. Unter den Kalifen breiteten sie sich in dem ihnen nur zu gut bekannten Babylon aus. Sie hatten einen politischen jüdischen Fürsten, der Steuern einzog und öffentliche Würde genoß, den Exilarchen. Der religiöse Lehrer, der Gaon, stand ihm zur Seite. Die Juden hatten in Arabien gegen Mohammed gekämpft. Als die Nadhir, einer ihrer Stämme, in ihren Burgen besiegt waren, zogen sie mit klingendem Spiel ab. Sogar im Abendland verloren sie lange nicht ihr Gesicht. Verschweigen wir, wie viele der alten Städte ihnen ihr Dasein verdanken. Sie waren Kolonisatoren. Marseille hieß »die hebräische Stadt«. Im Fränkischen und Burgundischen Reich haben sie Schiffahrt, Ackerbau, Gewerbe und Handel betrieben. Sie führten die Waffen. An den Kämpfen zwischen Chlodewig und den Feldherrn Theoderichs bei der Belagerung von Arles nahmen sie teil. Später, während sie selbständig unter den andern lebten, kam der Haß der Intellektuellen, hier der Geistlichen. Der Schwall der Demütigungen durch das Papsttum setzte ein. Man ging zu Zwangsbekehrungen über. Es gab genug tapfere, freie Männer, die den Scheiterhaufen vorzogen.
Nach den siegreichen und tragischen Kämpfen der staatshistorischen Zeit, nach den Beschwörungen und Verzweiflungsrufen der Propheten geschah der Talmud und geschah Jesus von Nazareth.
Jesus aus einer abseitigen Sekte, die sich kasteite, reinigte: er war nicht so abseitig, wie es aussieht. Er blieb ja nicht draußen in der Wüste. Er drang in die Städte ein. Er versuchte es noch einmal mit ihnen. Auch er! Es mißglückte. Die theologische Bürokratie ist schon stärker. Sie sitzen schon fest in dem Sattel, es rührt sich keine Hand für ihn.
Daraus wird dann eine Weltreligion. Es ist ein merkwürdiger Weg. Die allerechtesten, wahrsten, revolutionärsten und zugleich konservativsten Juden waren von ihrer Bürokratie, ihrem Bonzentum expropriiert. Auf die feinste Art hatten sie illegal die Erhebung unter den Römern betrieben, der Anfang mußte Eigensäuberung des Volkes sein – damals wie heute, hier wie anderswo! Als es mißlang und Jesus umkam, schwebten sie in der Luft. Die Sekte agitierte noch weiter. Sie war nach Jesus Tod führungs- und willenlos und nun gänzlich außerhalb der Judäer. Da rutschte das ganz in die mystische Sektenekstase hinein, in die Atmosphäre von Wundern, Gesichtern und Verzückung: »Am Pfingsttag, wo sie einmütig beieinander waren, da geschah ein Brausen vom Himmel, und es erschienen ihre Zungen zerteilt wie von Feuer, und wurden alle voll des Heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit anderen Zungen, nach denen der Geist ihnen gab auszusprechen.« In dieser Luft, in der die von ihrem Volk Verstoßenen lebten, stieß zu dem trauervollen Gedanken von dem toten jüdischen Messias, dem Erfüller der Gesetze, die Wunderfabel von dem orientalischen Gottessohn. Die alte orientalische Fabel des sterbenden und auferstehenden Gottessohnes, sie wurde siegreich, wurde Weltreligion. Aber wo ist noch der mutige Sektierer, der Wahrheitsfanatiker, der wahrste Freund seines Volkes, Jesus?
Nein, das Christentum ist kein Abkömmling des jüdischen Glaubens, sondern ein orientalischer Glaube, der sich ein Stück bitterster jüdischer Geschichte angekoppelt hat. Da schrieb einer: »Die Lehre Jesu ist der jüdischen Entwicklung fremd und nur aus der nordischen Rassenseele erklärbar.« Die Lehre Jesu ist der jüdischen Entwicklung nicht so fremd, wir werden noch von dem Umschlagen der jüdischen Diesseitigkeit in Jenseitigkeit und Askese sprechen, wir kennen eine rachitische Erkrankung des jüdischen Volkes, eine Verkümmerung in der Kellerexistenz. Die christliche Lehre ist um den orientalischen Kern eines sterbenden und auferstehenden Gottessohnes gewachsen, den der Jude als heidnisch ablehnt, und um den Kern liegt die tragische Geschichte des jüdischen Volksreformators Jesu, und weiter die messianische Hoffnungsidee eines unterjochten Volkes, das nur noch betet. Den Nordischen müßte eigentlich diese Lehre noch fremdartiger erscheinen als den Juden, aber – sie wirkte bezaubernd! Sie enthielt dazu Möglichkeiten der Zähmung und Bändigung, war elastisch und konnte sich dem alten harten Volksglauben und der Vielgötterei anpassen. Aber wir wollten vom unglücklichen Reformater Jesu sprechen.
Er wollte reformieren, von Grund aus. »Jesus ging in den Tempel und jagte alle Verkäufer und Käufer zum Tempel heraus und warf die Bänke der Taubenkrämer um und sagte: Es steht geschrieben, mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.«
Er ließ sich auf die orthodoxen Lehren nicht ein, nicht einmal auf die wichtigsten. Am Sabbat rupften seine Jünger im Vorübergehen Ähren. Auf den Tadel, daß sie am Sabbat arbeiteten, antwortete er: »Der Sabbat ist um der Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen. Also ist der Mensch Herr über den Sabbat.« So kämpfte er gegen die Buchstabengläubigkeit – vergeblich. »Auf den Stuhl Moses«, klagte er, »haben sich die Schriftgelehrten und Sadduzäer gesetzt.« Und wir hören von der blühenden Pfaffenwirtschaft: »Was sie tun, das tun sie, um von den Leuten gesehen zu werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Mänteln lang. Sie sitzen gerne obenan bei Gastmählern und in den Synagogen und wollen auf dem Markt begrüßt und von den Leuten Rabbi angeredet werden. Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler, die ihr Becher und Schüsseln äußerlich rein haltet, inwendig aber sind sie gefüllt mit Raub und Fraß. Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäern, die ihr übertünchten Gräbern gleicht, die von außen hübsch erscheinen. Aber inwendig sind sie voller Totengebein und Unflats.«
Mit Grauen und Schrecken liest man diese Worte, man sieht diese »Führer« vor sich und versteht, mit Schmerz und Entsetzen, wohin das Volk kommen mußte. Man sieht – die Schuldigen!
Wie war der Zorn des Reformators stark. Er raste: »Ein Feuer auf die Erde zu werfen bin ich gekommen. Und wie sehr wünschte ich, es wäre schon entfacht.« Er wollte ihre Familienversippung und -genügsamkeit auseinanderreißen: »Glaubt ihr, ich sei gekommen, Frieden auf Erden zu bringen? Nein, sage ich euch – sondern Zwietracht! Denn von nun an werden fünf in einem Hause widereinander sein, drei wider zwei, und zwei wider drei. Der Vater wider den Sohn und der Sohn wider den Vater, die Mutter wider die Tochter und die Tochter wider die Mutter.«
Ja, das waren neue Töne, revolutionäre Fanfarentöne in dem friedlich verstumpften, bürgerlich versimpelten Volk, das sich noch immer rühmte, dem Gesetz Gottes anzuhängen. Dieser Jesus wollte das alte Wort vom Volk der Priester wieder zum Leben erwecken, es war schon lange damit vorbei, es war zu spät, hier waren schon andere Kräfte am Werk, er mußte Schiffbruch erleiden. Wie er sie überschwenglich lockte: »Eure Väter haben in der Wüste Manna gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das aus dem Himmel herabkommt, damit nicht stirbt, wer davon ißt. Der Geist ist es, der lebendig macht. Es kommt die Zeit, wo die wahren Verehrer die Väter in Geist und Wahrheit anbeten werden, denn solche Anbeter wünscht der Vater zu haben.«
Sie suchen ihn zu töten. Er hält ihnen vor: »Hat euch nicht Moses das Gesetz gegeben? Und keiner von euch erfüllt das Gesetz.«
Es konnte nicht ausbleiben, daß sie ihn von sich taten. Die Wahrheit in seinem Überschwang reizte sie – wegen dieser Wahrheit, nicht wegen des Überschwangs wurden sie getrieben, ihn von sich zu tun. Das jüdische Schicksal war schon lange eingeleitet. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch Jesus erlag.
Jesus, der Erneuerer, den man abwies, das war das eine Geschehen nach der Bibelzeit. Das andere, woran er zerbrach, war der Talmud. Mit dem Talmud richtete man sich auf die »Gegebenheiten« ein. Man trat auf den »Boden der Tatsachen«.
Es war wichtig, zu achten, daß das Volk nicht in der Verbannung auseinanderfloß. Aber es ist sicher, man verstand schon damals, im babylonischen Reich, nicht mehr gut, was man war und was man wollte. Der alte babylonische Talmud zeigt schon den schrecklichen Weg, den man gehen wird, eingehüllt in zehntausend Vorschriften, scharf abgesondert von den andern Völkern, aber willenlos auf dieser Erde: Volk-Nichtvolk. Der alte Glaube hat einen Sinn und eine Funktion: Jehova ging dem Volk voran. Hier aber triumphiert die duckmäuserische Stubenhockerei, die Gelehrsamkeit. Es ist der Sturz aus dem lebendigen Glauben des Volkes in die Theologie. Es war eine Religion, die in den muffigen Stuben und auf dem Umweg über das Gehirn und über die Zeremonien ihre Hauptkraft verlor. Kein Vorwurf gegen die Männer, die sich so bemühten, aber wir stellen fest.
Wir stellen auch etwas anderes fest. Als Kyros, der Perserkönig, ihnen den Rückzug nach Palästina freigab, nicht lange nach dem Fall Judas, zogen keineswegs alle weg. Viele waren in Babylonien ansässig, offenbar gut ansässig. Siehe da. Sie zogen vor zu bleiben. Sie legten theologisch die Überlieferung fest, bestellten den Boden und trieben ihre Geschäfte. Man kann es als Erschlaffung bezeichnen. Man könnte auf den Gedanken kommen: sie waren unstaatlich, unpolitisch und waren froh, daß andere für sie die Regierung führten. Und dies ist das eine daran. Aber es kamen doch noch später die großartigen Freiheitskämpfe. Nein, hier in Babylonien, so kurze Zeit nach dem ersten Unglück, zeigten sich die ersten Symptome der jüdischen Erkrankung, als Folge des Verlustes einer staatlichen Achse: die Auflösung in Familien und die Religion rettet, aber man entartet pfäffisch und privat. Man hat noch das bloße Dasein, so lebt man und ernährt sich. Man betet und arbeitet, sonst läßt man mit sich tun. Das Wort »morgen in Jerusalem« stellt sich ein. Man spricht es täglich aus. Es ist eine Angelegenheit des Mundes und Wunsches, aber es beschäftigt nicht die Köpfe und stählt nicht die Muskeln. Statt des Staates sind die kleinen unzähligen Lebensgemeinschaften der Familie da. Die Registrierung des Sittengesetzes und der Zeremonie nimmt einen guten Fortgang.
Der Sieg des Talmud: die Muskellähmung, die Willenslähmung ist da! Man weicht aus dem Schlachtfeld der Völker und Staaten. Man bläst zum Rückzug. Zum Frieden –.
Man blieb stecken in dieser Dauerform Volk-Nichtvolk, Übervolk. Man geriet nach der Auflösung in Familien in die Überwinterungsform eines vertriebenen Volkes und – kam nicht mehr heraus! Der schreckliche Messiasglaube, ein Glaube der äußersten Verzweiflung, der völligen Hoffnungslosigkeit, wurde geboren: der Messias wird kommen, und das wird das Ende der Verbannung sein. Und damit geriet man ins Beten. Man geriet ins Warten, auf einer falschen Ebene, auf der religiösen. Ein Volk à la disposition.
Der Priester gewann die Oberhand. Der Ritus, die Zeremonien müssen eine ungeheure Bedeutung für den Zusammenhalt bekommen. Das tapfere Volk läßt in seinem Freiheitswillen, in seinem Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit nicht nach, aber jetzt nehmen sich seiner Sache nicht Politiker und aktive Zivilisten, sondern Priester an. Das geschieht bei manchen unterdrückten Völkern. Aber hier wird es gefährlich. Gar zuviel Priestertum ist ungesund. Bei dem jüdischen Volk kommt es – muß es kommen – zu dem Unglücklichsten von der Welt: zur Alleinherrschaft des Priestertums, zum Pfaffenregiment, und zur faktischen Meinung, man exekutiere eine Religion. Als hätte es kein kriegerisches Volk Israel und keinen König David und Salomo gegeben. Sie beziehen eine Notstellung, und die Notstellung frißt sie auf.
Es charakterisiert sie, daß sie fromm sind, beten und – warten. Daß die Pfaffen bei ihnen groß werden, daß jeder einzelne, jeder erwachsene Mann Priester wird. Bloß Priester. Das ist nun der hoffnungslose Dauerzustand, die schrecklich jämmerliche Dauerform. Denn so sind sie noch jetzt. Aus dem tapfersten Volk stammend, Nachkommen der freiesten und stolzesten, trotzigsten Männer – man sehe sie sich jetzt im Osten an, in Polen, [in der] Ukraine oder in New York. Das ist Dauerform? Das ist verewigter Zusammenbruch! Sie leben in Schmutz, im äußersten Elend, sie werden verachtet und gehaßt. Herrlich ist es, wie bei ihnen echtes Wissen, Geist, Gelehrsamkeit gefeiert wird, gewiß nicht der Boxer. Aber –. Ein Bettler- und Hundevolk mußten sie werden. Sie haben es teuer bezahlt, in die Dauerform gegangen zu sein. Was ist schuld? Ich will nichts gegen die Priester sagen, die »Lehre« blieb ja das letzte Zentrum, aber sie sind auch anzusprechen. Sie sind mit schuld an der Verpfaffung des Volkes und darum an diesem Zusammenbruch. Sie hätten die Klügsten sein müssen und hätten wissen müssen, worum es ging. Statt dessen haben sie geweint und weinen gelehrt, haben gelullt und gewiegt, und morgen kommt der Messias, morgen in Jerusalem, jeden Tag gebetet – und wo bleibt die Lehre des Ziels, wo bleibt der Blick für den wirklichen Zustand des Volkes? Die Jehovareligion ist trotz dieses Gottes eine Diesseitsreligion. Man muß fragen: wie konnten sie so gefährlich jenseitig und lähmend zukünftig, tödlich zukünftig lehren, und wer erlaubte ihnen so zu lehren? Wer stand hinter ihnen? Was trieb sie so zu lehren?
Ich nenne drei Ursachen für den verewigten Zusammenbruch und das Verharren in der zwischenstaatlichen Kümmerform Volk-Nichtvolk: theokratische Anlage des alten Staats, Wirken der Priester und Wirken des Besitzes.
Die Theokratie im alten Staat und die zeremonielle Entartung. Schon in ihrer Grundschrift, die noch in der Frühzeit vor über zwei Jahrtausenden festgelegt wurde – welche sonderbare Sorgfalt in der Notierung der Vorschriften über das Opfer, das Stiftszelt! Welche Fülle von Gaben sollen die Frommen für den Gottesdienst bringen, Gold, Silber, Kupfer, blauen Purpur und roten Purpur, Karmesin, Byssus und Ziegenhaare, Öl, Gewürze, Onyx, Edelsteine. Welche pedantische Genauigkeit in den Anforderungen für die innere Zeltdecke, die zehn Teppiche, und dann die Cherubimgestalten, achtundzwanzig Ellen lang und vier breit jeder Teppich, je fünf Teppiche aneinandergeheftet, an einen Teil der Teppiche fünfzig purpurblaue Schleifen, ebensoviel an den andern, fünfzig goldene Spangen zum Zusammenfügen. Dann kamen genaueste Vorschriften über die Bretter, die Lade aus Akazienholz, dritthalb Ellen lang, anderthalb Ellen breit, anderthalb Ellen hoch, innen und außen mit reinem Gold überzogen, einen Deckel aus reinem Gold, zwei Cherubim aus Gold, und dann die Einzelheiten vom Tisch, Leuchter, Vorhang, Räucheraltar, Opferaltar, vom Vorhof, lange, lange Anweisungen. Dann erst die Befehle für die Priestergewänder, Brustschild, Schulterkleid, Oberkleid, Leibrock, Kopfbund, Gürtel, die Ketten an dem Brustschild aus reinem Gold, das Stirnblech aus Gold mit der Inschrift, der Leibrock aus Byssus.
Was ist das für eine Genauigkeit? Wir erkennen sie. Das ist Theokratie und eine besondere Stufe der Theokratie: der Übergang in die selbstherrliche Priesterwirtschaft, die Ausbeutung der Religion durch eine besondere Herrenklasse. Und das geschah nicht erst jetzt, im babylonischen Exil, das reicht weit zurück in die Königszeit. Vorbereitet war das schon – ich sage nicht bei der Geburt, aber bei der Festlegung, Konstituierung des Volks und Staats: man war Volk Jahwes und zur Heiligkeit verpflichtet, in der Art der auf dem Berge Horeb gegebenen Anweisungen dieses Gottes. Da war es vorbereitet, es brauchte nicht so zu kommen, aber es kam zum Zurücktreten der religiös-sittlichen Gesetze und zum Pfaffenregiment, zum Dalai-Lamatum, zur selbstgenügsamen, das Leben nicht durchflutenden, sondern aussaugenden und austrocknenden Kirche. So ist das Militär erst Schutz eines Volkes und hebt sein Bewußtsein, dann macht sich das Organ zum Herrn über den Organismus, und die Sklaverei beginnt.
Wenn man dies von der Kultur und [den] Zermonien liest, so weiß man, hier hat sich ein hochentwickelter priesterlicher Beamtenapparat eingerichtet, dem Zeremonie und Ritus ungeheuer viel, bei einem bedrückten Volke auffallend viel bedeutet. Hier wächst ein Parasit. Diese Kleidungs- und Ausstattungsanweisungen halten sie für so wichtig, daß sie sie – Gott selber in den Mund legen, nach den elementaren, sehr knappen Sätzen der zehn Gebote und Regeln für das gesellschaftliche Verhalten. Hier überwuchert schon in der staatshistorischen Zeit, die Geistlichkeit mit dem zwangshaft starren Willen zur Äußerlichkeit und zu Formalien, hier ist schon – Kirche!
Es ist von der ganzen Realität der Juden zu sprechen; wie war ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage draußen, im Exil? Sprechen wir es gleich aus: Exil war schon bald nach der Vertreibung vielen nicht mehr Exil! Die bis heute bestehende Schwierigkeit »Volk-Nichtvolk« hat sofort neben sich die andere Schwierigkeit und Realität »Exil-Heimat«. Schon damals. Es wäre nötig, um einen klaren Einblick in die Zustände zu bekommen, zuverlässiges Material über Volk, Gesellschaft und Priesterwesen zu haben. Wir haben hauptsächlich die Bücher der Bibel, von Gelehrten und theologischen Agitatoren geschrieben. Ihnen liegt mehr an ihrer Predigt als an der Geschichte. Aber einiges sehen wir doch.
Die Judäer, die Verbannten, wurden in Babylon mit besonderer Milde behandelt, dem Chaldäerkönig lag am Wohlstand und Glanz seines Reiches. Familienbestände blieben bestehen, die edlen Geschlechter hielten zusammen, hatten sogar ihre alten Halbsklaven, die Salomosklaven.
Da sehen wir nun den Propheten Ezechiel, wie er seine Stimme gegen die Edlen und Reichen erhebt, die sich eine behagliche Existenz im Exil schaffen und hart gegen ihre Halbsklaven verfahren. Siehe da: er mußte schon hier kämpfen gegen die, die – nicht mehr zurückkehren wollen, schon jetzt, im dreißigsten Jahr seit dem letzten Jubeljahr vor der Verbannung. Priester vom Hause Jakob hatten Bücher mitgebracht, das Fünfbuch Moses, die Leviten, Psalmdichter hatten Lob- und Klagelieder, es gab auch Prophetenjünger. Das wäre nun eine starke Macht gewesen, ein geschlagenes verbanntes Volk zu erhalten, und die äußeren Umstände waren günstig, und sie wurden noch günstiger, judäische Jünglinge wurden Höflinge, Günstlinge der Könige, der judäische König Jojachin wurde nach siebenunddreißigjähriger Kerkerhaft frei, kam an den Hof, nahm einen höheren Sitz als andere Fürsten ein. Und es wurde auch das Schrifttum im Exil gepflegt, Buß- und Sündenpsalmen gedichtet. Trauernde aus Zion gingen herum, man begeisterte sich für Jerusalem. Aber – die Reichen, so sagt der Geschichtsschreiber, hatten im chaldäischen Weltreich Gelegenheit, »ihre Kräfte zu entfalten«. Sie reisten, wurden noch reicher, nahmen die Landessitten an und wollten schließlich Babylonier sein. Und blieben im Lande, als nach neunundvierzig Jahren, mit dem Perserkönig Kyros, im Frühjahr 557 vor Christi das Exil – hätte zu Ende sein können. Die Handelsherren, Grundbesitzer und viele Schriftkundige blieben. 42360 Männer, Frauen, Kinder zogen nach Jerusalem, nachdem Kyros gesagt hatte: »Wer unter euch seines Volkes ist, mit dem sei der Herr, sein Gott, und er ziehe hinauf.« Da haben wir nun, vor über zwei Jahrtausenden, bald nach der Vertreibung die Zweiteilung von heute, das Nichtvolk, in Babylonien und bald in der ganzen Welt, und dies Volk, nein, man muß einfach sagen: die zionistische Bewegung. Hinter ihnen lag ein zerrissenes Staatswesen, blutige Kriege, Niederlagen. Jetzt war – zwar kein Staat, aber Friede, leidlicher Schutz, Ruhe. Mögen sich die andern Völker die Köpfe zerschlagen. Das hatten sie hinter sich.
Als das alte Volk wanderte, trieb es Viehzucht und lebte davon. Solange die Judäer Land und Staat besaßen, waren sie ein ackerbauendes Volk, das auch, nicht hauptsächlich, Handel trieb. Nach Verlust von Land und Staat drehte sich das Verhältnis um, sie bauten noch wenig den Acker, die wirtschaftlichen Hauptkräfte wurden gezwungen, sich auf den Handel zu werfen. Die Griechen scheinen später darin ihre Lehrmeister gewesen zu sein.
Der Besitz und besonders der Handelsbesitz hat nicht viel mit Staaten im Sinn. Sein Vaterland muß größer sein. Staatliche Grenzen sind Hindernisse. So denkt das heute und hat das vor zwei Jahrtausenden gedacht. Und was tun die Priester? Sie hatten Kirche und wollten weiter Kirche, obwohl immer wieder die Propheten wetterten, die eiserne Institution konnte sich das gefallen lassen. Die Priester gingen konsequent den alten Weg weiter, jetzt wurde die Bahn ganz für sie frei, jetzt gab es, bis auf Intervalle, nur sie. Sie waren ganz der Meinung der Reichen und Vornehmen. Und überdies, da gibt es nichts zu denken. Was tun die Priester, vor Jahrtausenden und heute? Wes Brot ich eß, des Lied ich sing. Das Brot ist eine furchtbare und korrumpierende Macht. Wir fragen: was taten bei den staatenlosen Juden die Priester, wessen Gedanken sprachen sie aus, wessen Geschichte betrieben sie? Die des Volkes? Was nannte sich hier »Volk«?
Lahm und müde war das Volk, aber doch nicht so lahm! Die Reichen fanden die Situation nicht schlecht, für sich. Da ließen die Priester beten: »Morgen in Jerusalem«, und hatten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: für die Reichen die staatenlose Existenz, für sich die Kirche. Für die anderen: das Gebet.
Sie waren früher ein Volk. Sie wurden jetzt Treibholz der Geschichte.
Marxisten wissen bekanntlich vieles, einiges sogar richtig. Nach Stalin sind die Juden keine »Nation«, denn es fehle ihnen das Territorium, sondern eine »Nationalität«. Womit wir nicht viel anfangen können. Wodurch nun haben sie sich, nach dem Marxismus, die Nationalität erhalten? Durch ihre spezifische soziale Funktion, nämlich den Handel. Der Vorbeter des Marxismus, nämlich Marx selber, fand den »weltlichen Grund« des Judentums in seiner sozialen Funktion, im Handel. »Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen, aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden. – Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.« Lassen wir hier die vom Selbsthaß eingegebene Formulierung, den Irrtum der Einzelfunktion des Handels, die bei einem Wirtschaftler verblüffende Gleichsetzung von Handel und Schacher, die Flachheit vom »weltlichen Grund« eines Volks –, so bleibt richtig der entscheidende Einfluß wirtschaftlicher Faktoren, der Macht des Besitzes auf die Entwicklung.
Die besitzende Schicht – sie mögen es haben, woher sie wollen – hatte die Oberhand, bestimmte die Geschicke, die Priesterschaft schloß sich ihr an. Verzweiflung und Widerwillen gegen die ganze staatliche Misere, das gab den Bund, der das »Volk« begrub, so daß man sich auf die »Religion« zurückzog und die Unentschiedenheit Volk-Nichtvolk schuf.
Besitz und Priesterschaft! Man kann von Verrat sprechen. Wir nennen aber diese Dinge nicht nur der Vergangenheit wegen. Das Schlechte, Gefährliche, Gefahrdrohende soll wissen, daß wir ihm auf der Spur sind und daß wir ihm bald nicht mehr mit bloßen Worten, sondern mit allen verfügbaren Waffen entgegentreten werden. Wir sehen, wie es gekommen ist. So war das Pfaffenregiment eingeleitet. So kam die Zweideutigkeit zur Welt: Volk, Nicht-Volk, Über-Volk. Die Dinge sind nicht geheimnisvoll. Man soll sie nur grade ansehen.
Die Herrschaft des Klerus und die klerikale Einpuppung des Judentums ist da. Denn sie puppen sich jetzt ein, die Geistlichkeit gibt das Gespinnst, aber es folgt keine Entwicklung, sondern die Erstickung und Verkümmerung, Übergang und Untergang in eine Kümmerform. Im Mittelalter hatte die Geistlichkeit große Macht, aber sie mußte den Kaiser über oder neben sich dulden. Die weltliche Macht tritt zurück bei den Juden, einmal in Alexandrien gibt es das Ethnarchat, sonst unterwirft man sich dem Klerus. Das gesamte weltliche Leben spielt sich nebenbei ab, es liefert bloß die Subsistenzmittel für das eigentliche, das geistliche. Denn das Geistliche ist nunmehr das eigentlich Jüdische, und nur dieses. Ausschließlich aus der Theologie kommt die Bestimmung darüber, was jüdisch ist und was nicht. Es gibt Reichtümer und Machtstellen bei Juden, aber das lebt so hin, in den Blutsgemeinschaften der Familie, will nur leben, erhebt keine weltlichen Ansprüche, hat keinen politischen Willen. Sie »bewahren« ihren Glauben und treiben Geschäfte. Sie besitzen Gott. Sie werden Besitzer eines garantiert echten Gottes. Sie weiden sich an dem Besitztum. Bewahren sie übrigens den Glauben? Mit Beten? Ihr Glaube ist ein Diesseitsglaube, sie bewahren auch ihren Glauben nicht, sie verkümmern ihn ins Kultische. Damit ist die äußere und innere Verkrüppelung eingeleitet, und nimmt ihren Fortgang. Sie lesen nun Bücher, sie preisen die Herrlichkeit des »Lernens«. Sie werden ein Volk der Leser und Tüftler.
Was lernen sie? Die Bibel und den Talmud. Was steht in der Bibel?
Von den Kämpfen und dem Untergang eines tapferen Volkes. Was steht im Talmud? Allerhand, was die Sicherung des Volkslebens anlangt. Was machen sie damit? Sie sichern das Volksleben so, wie es ist – sonst lassen sie den Hasen laufen. Sie lesen und lesen, sie beten und beten, sie weinen und weinen. Und im übrigen treiben sie Handwerk, Gewerbe, bebauen auch, wo es geht, den Acker, den Weinberg, handeln. Man folgt den Gesetzen des Landes, in dem man lebt, denn das eigentliche Leben ist hier nicht.
Wo ist es denn? Im Buch, in der Erinnerung. Was steht denn im Buch, wessen erinnert man sich denn? Der Kämpfe und des Untergangs eines tapferen Volkes. Was tut man da? Man liest und erinnert sich. Weiter nichts? Ja, man lebt. Wie? Nach den Gesetzen des Landes. O Fälschung, Entstellung und Selbstbetrug! Logik, Logik! Und sie mußten wirklich ein besonders rationales, logisches Volk werden. Denn sie brauchten immens viel Logik, um sich die einfachsten Tatsachen zu verschleiern. Schauerlich dieser Riß zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Denken und Leben. Warum hat man aber nicht den Mut, ihn zu sehen? Es ist ein ähnlicher Riß wie bei den veruntertanten Deutschen, nur war das Innere und Äußere bei denen auf zwei Volksschichten verteilt, die Feudalität handelte und lebte, das Volk durfte denken. Bei den Juden, wir haben es gesehen, legte den Grund zu der Spaltung nach dem staatlichen Zusammenbruch der Besitz im Bund mit dem Klerus. Sie hatten auch später nichts gegen den Riß einzuwenden. Ihre Interessen waren gesichert. Die Interessen des Volkes hatten sie nicht.
»Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, und an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer.« (Hosea)
»Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen dran. – Tue nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder.« (Amos)
So hat »man« die Weltlichkeit aufgegeben. Von anderem abgesehen führte die Abstinenz von der Weltlichkeit zu einer paradoxen Erscheinung: Die Juden hatten eine diesseitige Religion, ihre Religion war für die Praxis des Lebens. Jetzt wird daraus ein Absonderungskultus und Erinnerungs-, Pietätskult, eine Art Ahnenkult. Da sie immer hoffen und harren, ist ihr Reich nicht von dieser Welt. Und so werden sie die echtesten Christen. Die Christen zum Ausgleich haben eine Jenseitsreligion und wenden große Mühe an, sie in Einklang zu bringen mit ihren Staaten, Kriegen, Gerichten. Sie bringen es fertig, sogar einer Jenseitsreligion einen kolossalen Machtapparat zu bauen, die Kirche. Ins Kultische umgekehrt schattet bei den staaten- und landlosen Juden die kraftvolle Diesseitsreligion hin. Sie ist nicht funktion[s]los geworden: sie erinnert noch, sie gibt Tradition, hält die Menschen zusammen – immer für morgen, für morgen. Inzwischen ist das Heute mit schrecklicher Wahrheit, Forderung und Realität da, was sagt das jüdische Diesseits zu den verderbenden, zerfallenden Massen? Morgen.
Sie haben die Weltlichkeit verloren. So treiben sie unter den Völkern hin.
»Meine Schafe irren auf allen Hügeln und hohen Bergen umher. Über das ganze Land sind meine Schafe zerstreut, und niemand fragt nach ihnen, und niemand sucht sie auf. Weil meine Herde dem Raub hingegeben wird, weil meine Schafe allen Tieren des Feldes zum Raub werden, weil mein Hirte nicht nach meinen Schafen fragt, weil mein Hirte nur sich weidet – darum will ich an den Hirten und werde meine Herde aus seinen Händen fordern.« (Ezechiel)