Marina Keegan
Das Gegenteil von Einsamkeit
Stories und Essays
Aus dem Amerikanischen
von Brigitte Jakobeit
FISCHER E-Books
Marina Keegan (1989-2012) war Autorin, Journalistin, Aktivistin und Schauspielerin. Ihre Abschlussrede in Yale ›Das Gegenteil von Einsamkeit‹ wurde zur Internetsensation. Sie erhielt bereits als Studentin zahlreiche Literaturpreise und ihr Buch wurde hochgelobt und ein Bestseller. www.theoppositeofloneliness.com
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, erhalten Sie unter www.fischerverlage.de
Ein Teil dieses Buches sind Stories. Namen, Personen, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie der Autorin und sind Teil der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit Ereignissen oder Orten, realen Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig. Andere Teile dieses Buches sind Essays. Einige Namen und Charaktereigenschaften wurden geändert.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Opposite of loneliness« by Scibner, a division of Simon & Schuster, Inc., New York
© 2014 by Tracy and Kevin Keegan
Für die deutschsprachige Ausgabe
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung:Nicole Lang, Darmstadt
Coverabbildung: nach einer Idee von Janet Hansen, mit freundlicher Genehmigung der Familie Keegan
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403333-4
Polysyndeton ist der Gebrauch von mehreren Konjunktionen: »A und B und C« statt »A, B und C«.
Anapher ist die Wiederholung eines Wortes oder mehrerer Wörter zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze.
Sheffield-Sterling-Strathcona Hall ist ein Gebäude in Yale, das Dekan-Büros und einen großen Vorlesungssaal beherbergt.
Campus der Lanman-Wright Hall, eines Studentenwohnheims für Erstsemester.
Jährlich stattfindende Tanzparty, bei der Studenten im ersten Semester ihren Zimmerkollegen ein Date vermitteln, was nicht selten zu unpassenden Paarungen und spontanen alkoholbeeinflussten Affären führt.
Ähnlich wilde alkoholgesteuerte Tanzparty für Studenten vor dem Abschluss in Yale.
The Study ist ein Hotel auf dem Campus der Yale University in New Haven.
Gewählte Studentenvertretung.
Dwight Hall ist die Dachorganisation für sämtliche Nonprofit- und Serviceleistungen auf dem Campus. Kleine Gruppen, die z.B. Tierschutz, freiwillige Mitarbeit bei Suppenküchen oder Spendensammeln für wohltätige Zwecke betreiben, werden finanziell und ideell von Dwight Hall unterstützt.
»Ich lebe für die Liebe, und der Rest ergibt sich von selbst«, waren Marinas Worte bei der Abschlussfeier, als wir sie das letzte Mal sahen. Das Gegenteil von Einsamkeit ist der Liebe gewidmet. Wir hoffen, dass Marinas Botschaft die Leser dazu anregt, Möglichkeiten zu erkennen und etwas in der Welt zu bewegen.
Tracy und Kevin Keegan
Willst du schon gehen?
Nein, ich wünsche mir viel Zeit, um mich in alles zu verlieben …
Und ich weine, weil alles so schön ist und so kurz.
– Marina Keegan, aus dem Gedicht Vergangenes
Am 10. November 2010 sah ich Marina Keegan zum ersten Mal. Ich hatte den Autor Mark Helprin bei einem Master’s Tea in Yale zu Gast, bei dem er sagte, es sei heutzutage fast unmöglich, als Schriftsteller den Durchbruch zu schaffen.
Eine Studentin stand auf. Dünn. Schön. Langes, rötlich braunes Haar. Lange Beine. Schamlos kurzer Rock. Nimbus wütender Energie. Sie fragte Helprin, ob das sein Ernst sei. Im Raum hielten alle die Luft an. Genau das hatten alle gedacht, aber niemand war mutig (oder unverfroren) genug gewesen, es auszusprechen.
Am selben Abend erhielt ich eine E-Mail von marina.keegan@yale.edu:
Hallo! Ich glaube nicht, dass Sie mich kennen, aber ich war die Studentin, die heute die Frage gestellt hat … Ich fand es traurig, von einem berühmten Schriftsteller zu hören, dass die Branche im Sterben liegt und wir lieber etwas anderes machen sollen. Vielleicht hatte ich einfach erwartet, dass er uns, die den Tod der Literatur aufhalten wollen, etwas mehr ermutigt.
»Den Tod der Literatur aufhalten«: Marina meinte das zugleich selbstironisch (hätte sie den Satz laut gesagt, dann übertrieben, mit vielen bedeutungsschwangeren Pausen und überbetonten Konsonanten, um die Überspitzung zu zeigen) und 100 Prozent ernst.
Ein paar Wochen später bewarb sie sich für meinen Kurs zum Schreiben aus der Ich-Perspektive. Ihre Bewerbung begann so:
Vor ungefähr drei Jahren fing ich eine Liste an. Sie begann in einem marmorierten Notizbuch, hat sich aber seitdem in den Wänden meines Wortprozessors fortgesetzt. Interessante Sachen. So nenne ich sie. Ich gebe zu, sie ist eine richtige Sucht geworden. Ich erweitere sie im Unterricht, in der Bibliothek, vor dem Schlafengehen und im Zug. Sie enthält alles von Beschreibungen der Handbewegungen eines Kellners über die Augen eines Taxifahrers bis hin zu seltsamen persönlichen Erlebnissen oder gelungene Formulierungen. Inzwischen sind es 32 einzeilig beschriebene Seiten mit interessanten Sachen aus meinem Leben.
In meinem Kurs, den sie im Frühjahr ihres vorletzten Jahres belegt hatte, bediente sie sich der interessanten Sachen auf diesen zweiunddreißig Seiten für eine Reihe von Arbeiten, die ihre Kommilitonen in schriftlichen Kritiken mit beeindruckten Adjektiven schmückten: schön, lebendig, leuchtend, visuell, frisch, direkt, gefühlvoll, fesselnd, wachrüttelnd, präzise, zuversichtlich, ehrlich, erstaunlich. (Drei Texte im Buch sind in diesem Kurs entstanden. Andere stammen aus Schreibkursen in Yale, geleitet von John Crowley und Cathy Shufro; einige aus Studentenzeitschriften; und drei – »Gepäckausgabe«, »Sklerotherapie« und »Ich töte für Geld« – schrieb Marina in ihrem vorletzten und letzten Jahr an der Buckingham Browne & Nichols School in Kursen unter der Leitung von Harry Thomas und Brian Staveley.)
Viele meiner Studenten klingen wie Vierzigjährige. Sie sind wortgewandt, orientieren sich aber an Vorbildern, ihre Stimmen sind gedämpft vom Wunsch, ihr aktuelles Alter und ihre eigenen Erfahrungen zu überspringen, weil sie beides für trivial halten, und produzieren dann Arbeiten von erwachsener Geschliffenheit, ohne über Los zu gehen. Marina war einundzwanzig und klang wie einundzwanzig: eine gescheite Einundzwanzigjährige, eine Einundzwanzigjährige, die sich in der englischen Sprache auskannte, eine Einundzwanzigjährige, die begriff, dass es wenig bessere Themen gibt, als jung, unsicher, blauäugig, frustriert und zuversichtlich zu sein. Wenn sie ihre Arbeit an unserem Seminartisch vorlas, prusteten wir vor Lachen, dann wechselte die Stimmung in Sekundenschnelle und uns brach das Herz.
Ich bitte meine Studenten immer, ihrer Abschlussarbeit eine Liste mit »Persönlichen Schwächen« beizufügen – Punkte, an denen sie bei ihrem künftigen Schreiben arbeiten möchten. Marina listete folgende auf:
Zu viele Polysyndeta[1]. Achtung!
Nicht mit Anaphern[2] übertreiben.
Hüte dich vor seltsamen Redewendungen und ihren Präpositionen.
Hüte dich vor Vergleichen.
Überschriften müssen gut sein! Nicht erst in letzter Minute auswählen! Vermeide Alliteration!
Achte darauf, dass modifizierende Wörter sinnvoll sind.
Bei der Darstellung allgemeiner Ideen mehr konkrete Beispiele einbauen.
Nicht vergessen, das Dokument vor dem Abgeben mit Hilfe der Rechtschreibprüfung auf Homophone wie »it’s« und »its« zu überprüfen.
Nicht zu viele Adverbien in einem Satz verwenden.
Bilder müssen stimmig sein. Du kannst dich nicht »wie ein Löffel aufrollen«.
Ungewöhnliche Formulierungen funktionieren besser am Ende eines Absatzes.
Ich lege ein Ei, ich legte ein Ei, ich habe ein Ei gelegt. Ich liege, ich lag, ich habe gelegen.
Entscheide dich klar für ein Thema.
Achte auf einheitliche Zeiten.
Verwende nicht zwei Präpositionen hintereinander.
Klebe nicht zu sehr an Dingen. Es hat nur eine Minute gedauert, diesen Satz zu schreiben!
ES GEHT IMMER (NOCH) BESSER!
Auf ihren hohen posthumen Podesten verliert man die Toten leicht aus den Augen. Trauer, Achtung und die homogenisierende Wirkkraft der Bewunderung verwischen die Einzelheiten, glätten die Dellen, schleifen scharfe Kanten. Marina war geistreich, freundlich und idealistisch; ich hoffe, ich vergesse nie, dass sie auch wütend, gereizt und provokant war. Ein bisschen wild. Mehr als ein bisschen nonkonformistisch. Wenn man es geruhsam haben wollte, war Marina nicht die Richtige. Als wir uns zu einer einstündigen Sitzung trafen, um ihre erste Seminararbeit gemeinsam zu redigieren, schafften wir dreieinhalb Zeilen. Sie wehrte sich gegen meine Vorschläge, weil sie nicht wie ich klingen wollte; sie wollte ihren eigenen Ton. Im Unterricht hatte sie feste Ansichten über Autoren, die wir lasen. Sie hasste Lucy Grealy, obwohl die meisten ihrer Kommilitonen sie liebten, und sie liebte Joyce Maynard, obwohl die meisten ihrer Kommilitonen sie hassten. Sie bewunderte und beneidete andere talentierte junge Schriftsteller. Als ich die beispielhaften Arbeiten zweier Studentinnen aus einem früheren Kurs verschickte, schrieb sie: »AHHHH ALICE’ AUFSATZ IST SO GUT OH MEIN GOTT … ELISAS IST AUCH SO GUT! Meine Güte. Nein, ich lass mich nicht entmutigen …« Sie verlor oft ihre Schlüssel und ihr Handy, manchmal tagelang, manchmal in ihrer Tasche, einem geräumigen tintenfleckigen Monstrum (bei einem Menschen wie Marina hätte man eine Tasche mit Reißverschluss erwartet, doch wie in allem war Offenheit ihr Markenzeichen); sie neigte zu Prokrastination und den unvermeidlich darauf folgenden durchgebüffelten Nächten; sie war frustriert von Abgabeterminen, Formalitäten, begriffsstutzigen Politikern, der Kluft zwischen Theorie und Praxis, der Angewohnheit ihrer Mitbewohnerin, mit einem Messer Brot abzuschneiden und es dann ins Nutella-Glas zu stippen, und ihrer eigenen Neigung zu Vergesslichkeit, alles Dinge, die in E-Mails und SMS den Universalfluch »GAH!« nach sich zogen.
Im Sommer zwischen ihrem ersten und letzten Jahr lief alles so gut für Marina, dass sie nur selten GAH sagen musste. Früher hatte sie ihr Zimmer mit Titelbildern des New Yorker tapeziert; jetzt machte sie dort ein Praktikum in der Literaturredaktion, durchforstete den Manuskripthaufen nach verborgenen Edelsteinen und schrieb auf dem Buchblog. Eines ihrer Stücke wurde für eine inszenierte Lesung bei einem wichtigen Theaterfestival ausgewählt, und sie schrieb den Großteil eines anderen, auf das sie, wie sie es formulierte, »jeden Tag 3 Stunden (keine Ausrede) verwandte«.
In diesem Sommer fand Marina außerdem Zeit, ihren Freunden und Lehrern zu schreiben. Nachdem sie gerade einen Text gelesen hatte, in dem ich die Ausreden erwähnte, mit welchen der Dichter Samuel Taylor Coleridge, ein unverbesserlicher Prokrastinierer, seiner säumigen Korrespondenz Vorschub leistete, begann sie eine E-Mail:
Entschuldigen Sie meine verzögerte Antwort! Tatsache ist, dass ich krank wurde, nachdem ich bei schlechtem Wetter übertrieben kurze Kniehosen trug – ganz zu schweigen von meinen Zahnschmerzen, Schlaflosigkeit, Gicht, Husten, Furunkel, entzündeten Augen, geschwollenen Hoden und rasender Epistolophobie.
Und beendete sie:
Und vor allem, seien Sie mit sich im Reinen und mir doppelt gewogen, meine teure Professorin, die ich Sie erwartungsvoll grüße als,
Ihre geneigte Studentin
(Im Nachtrag zu einer späteren E-Mail erklärte sie: »Seit ich die Coleridge-Briefe gelesen habe, verfolgen mich solche Unterschriftsfloskeln. Sie sind einfach so GUT. Zum Beispiel die kurze Verzögerung mit dem Komma vor dem Zeilenbruch. Einfach herrlich. COLERIDGE! Ich danke dir.«)
Aber sie freute sich, ans College zurückzugehen:
Ich merke, wie sehr ich Yale liebe. Da ich erstmals seit einiger Zeit die Minuten vor dem Einschlafen mit Gedanken an die Zukunft verbringe, betrachte ich Yale schon mit einer Art vorzeitiger Nostalgie. ICH MÖCHTE JEDEN KURS IM VERZEICHNIS BESUCHEN. ICH MÖCHTE JEDES GEBÄUDE KENNENLERNEN. ICH MÖCHTE ZEIT MIT ALLEN MEINEN FREUNDEN VERBRINGEN.
Das tat sie weitgehend und raste mit geschärften Sinnen durch ihr letztes Jahr, sammelte Preise, arbeitete als Harold Blooms wissenschaftliche Hilfskraft, spielte in zwei Theaterstücken und schrieb ein drittes, diente als Präsidentin der Yale College Democrats, war Mitorganisatorin von Occupy Yale, fuhr jeden Donnerstag mit dem Zug nach New York, um ein Praktikum bei der Paris Review zu absolvieren, besorgte sich beim New Yorker einen Job nach dem Examen, schrieb in jeder freien Minute und verliebte sich. Als ein Freund, der im Vorjahr sein Studium beendet hatte, sie um die Erlaubnis bat, seinen Studenten in Peru ein paar ihrer Arbeiten zeigen zu dürfen, antwortete sie: »Ja zu allem!«
Fünf Tage, nachdem Marina ihren Abschluss mit magna cum laude gemacht hatte, bekam ich von einer meiner Studentinnen eine E-Mail:
Anne, entschuldigen Sie die späte Störung, aber es ist etwas Schreckliches passiert, und ich weiß nicht, ob Sie es schon gehört haben – bitte rufen Sie mich an.
Marinas Freund hatte sie vom Brunch bei ihrer Großmutter in der Nähe von Boston zum Ferienhaus ihrer Familie auf Cape Cod gefahren, um den fünfundfünfzigsten Geburtstag ihres Vaters zu feiern. Ihre Eltern warteten mit Hummer und, weil Marina unter Zöliakie litt und Weizen nicht verdauen konnte, einem selbstgemachten glutenfreien Erdbeerkuchen. Ihr Freund, der weder schnell fuhr noch trank, schlief am Steuer ein. Das Auto fuhr gegen eine Leitplanke und überschlug sich zweimal. Marina starb. Ihr Freund blieb unverletzt.
Marinas Eltern luden ihn am nächsten Tag in ihr Haus ein und nahmen sich seiner an. Sie baten die Polizei schriftlich, den Unfall nicht als fahrlässige Tötung zu behandeln, weil »es Marina das Herz brechen würde, wenn sie wüsste, dass ihr Freund noch mehr leiden muss, als er es ohnehin schon tut«. Als er vor Gericht erschien, begleiteten ihn die Keegans. Das Verfahren wurde eingestellt.
Ich hatte noch nie so viele junge Menschen weinen sehen wie bei Marinas Gedenkgottesdienst – sie weinten nicht nur, sondern zitterten so sehr, dass ich befürchtete, ihre Rippen würden brechen.
Nach einer Woche hatten mehr als eine Million Menschen »Das Gegenteil von Einsamkeit« gelesen, einen Aufsatz, der in der Abschlussausgabe der Yale Daily News erschienen war. »Wir sind so jung. Wir sind so jung«, hatte Marina geschrieben. »Wir sind zweiundzwanzig Jahre alt. Wir haben so viel Zeit.«
Wenn ein junger Mensch stirbt, liegt ein Großteil der Tragödie in seinem Versprechen: was er geschaffen hätte. Doch Marina hinterließ, was sie bereits geschaffen hatte: ein schriftstellerisches Werk, weit mehr, als zwischen diese Buchdeckel passen würde. Als ich mit ihren Eltern und Freunden ihre Texte zusammentrug, um die aktuellste Fassung jeder Geschichte und jeden Essays zu finden, war uns klar, dass sie nichts in genau dieser Form hätte veröffentlichen wollen. Sie war eine fanatische Feilerin, die umschrieb und umschrieb und umschrieb, selbst wenn alle anderen fanden, etwas sei fertig. (ES GEHT IMMER (NOCH) BESSER.) Natürlich konnten wir ihr Buch nicht umschreiben, das hätte nur sie gekonnt. Trotzdem klingen diese neun Geschichten und neun Essays, sooft ich sie auch lese, immer nach ihr, und ich möchte kein Wort ändern.
Marina würde nicht wollen, dass man sich an sie erinnert, weil sie tot ist. Sie würde wollen, dass man sich an sie erinnert, weil sie gut ist.
Ich habe sehr viele junge Autoren aufgeben sehen, weil sie nicht damit umgehen konnten, dass ihr Beruf sie wiederholt scheitern ließ. Sie hatten Talent, aber ihnen fehlte es an Entschlossenheit und Belastbarkeit. Marina besaß alles drei, und darum bin ich sicher, sie hätte sich bewährt.
Einmal schrieb sie mir an dem Abend, als die Geheimgesellschaften in Yale – Senior Social-Clubs, darunter Skull and Bones, Scroll and Key und Book and Snake, die sich in fensterlosen Gebäuden treffen, der Gruft – ihre neuen Mitglieder ernannten. Sie hatte man nicht vorgeschlagen. »Ich bin gerade in unserem WaO-Raum«, schrieb sie. (»WaO« war die Abkürzung für unseren Schreibkurs: Writing about Oneself. Autobiographisches Schreiben. Marina meinte im Scherz, dass die Studenten im nächsten Jahr sich zum Autobiographischen Trinken treffen sollten.)
Letztlich haben mich die Geheimgesellschaften betrogen, deshalb habe ich mir vorgenommen, die 12 Stunden in der Woche dem Schreiben eines Romans zu widmen. (Heute ist Wahlnacht.) Wenn ich bereit gewesen wäre, so viel Zeit in einer Gruft zu quasseln, sollte ich auch bereit sein, sie dem Schreiben zu widmen! 6–12 Sonntage und Donnerstage. Ich könnte ihn BOOK and BOOK nennen. :)
Sie überließ sich ihrer Enttäuschung keine zwei Stunden, dann machte sie weiter. Wäre sie bei Book and Snake aufgenommen worden, gäbe es dieses Buch nicht.
Nach Marinas Tod erzählte mir ihr Vater von einer Segelregatta, an der sie mit vierzehn teilgenommen hatte. Für das Rennen – in Wellfleet Harbor, am äußeren Ende von Cape Cod – waren nur 14-Fuß-Dingis, sogenannte Laser, zugelassen. Die jugendlichen Segler, fünfzehn und jünger, sollten gleichzeitig mit den Erwachsenen starten. Marina hoffte auf einen ruhigen Tag. Sie dachte, sie könnte alle schlagen, auch die Erwachsenen, weil sie eine geschickte Seglerin war und unter fünfzig Kilo wog. Ein schwerer Segler verlangsamt ein Boot ebenso wie ein schwerer Jockey ein Rennpferd.
Doch es war kein ruhiger Tag. Es herrschten 40-Knoten-Winde und knapp ein Meter hoher Wellengang. Noch vor dem Start des Rennens stieg die gesamte Jugendliga zusammen mit allen Frauen aus – nur Marina nicht.
Bei solchem Wetter ist Leichtigkeit kein Vorteil. Besonders wenn das Boot gegen den Wind fährt, lässt es sich kaum stabil halten. Marina kenterte häufiger, als ihre Eltern zählen konnten. Jedes Mal, wenn das Boot zur Seite kippte, fiel sie ins Wasser. Sie musste den Bug in den Wind drehen, auf das Schwert klettern und sich draufstellen, während sie sich an der Bordwand festhielt. Weit nach hinten gelehnt, musste sie kräftig genug ziehen, um das sieben Quadratmeter große nasse Segel aus dem Wasser zu hieven, dann zurück ins Boot klettern, die Segel neu einstellen – und das alles bei heulendem Wind und Wellen, die auf und über sie hereinbrachen.
Marinas ursprüngliches Ziel war gewesen zu gewinnen. Ihr neues Ziel war, ans Ziel zu gelangen. Mehrere Männer gaben auf, aber sie fuhr weiter. Bei gutem Wetter hätte sie das Rennen in fünfzehn Minuten beendet. Sie brauchte fast eine Stunde. Unter ungläubigem Applaus fuhr sie als Vorletzte ins Ziel. Sie war klatschnass, ihr Haar troff, und ihre Hände waren vom Umklammern der Leinen blutig.
Ein paar Stunden nachdem man Marina gesagt hatte, als Schriftsteller den Durchbruch zu schaffen sei heutzutage fast unmöglich, kam sie zu spät zu einem Treffen ihrer Spoken-word-Gruppe. Ein Freund von ihr erinnert sich, dass ihr Gesicht gerötet war und ihre Augen scharfen, nassen Steinen glichen.
»Ich habe beschlossen, Schriftstellerin zu werden«, sagte sie. »Und zwar eine richtige. Mit Haut und Haar.«
– Anne Fadiman
12. November 2013
Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, könnte ich sagen, genau das will ich im Leben. Ich bin sehr dankbar dafür, es in Yale gefunden zu haben, und fürchte mich davor, es zu verlieren, wenn wir morgen nach der Abschlussfeier aufwachen und diesen Ort verlassen.
Es ist nicht ganz Liebe und nicht ganz Gemeinschaft; es ist einfach dieses Gefühl, dass da Leute sind, eine ganze Menge Leute, die alle an einem Strang ziehen. Die auf deiner Seite sind. Wenn die Rechnung bezahlt ist und du noch am Tisch bleibst. Wenn es vier Uhr nachts ist und niemand ins Bett geht. Der Abend mit der Gitarre. Der Abend mit dem Filmriss. All das, was wir zusammen erlebt und gesehen haben, worüber wir gelacht haben, was uns bewegt hat. Die Hüte.
Yale besteht aus vielen kleinen Kreisen, die wir um uns ziehen. A-capella-Gruppen, Sportteams, Verbindungen, Gesellschaften, Clubs. Lauter kleine Gruppen, die uns das Gefühl von Liebe, Sicherheit und Zugehörigkeit geben, selbst in den einsamsten Nächten, wenn wir nach Hause an unsere Computer stolpern – allein, müde, wach. Das alles haben wir nächstes Jahr nicht mehr. Wir wohnen nicht mehr Tür an Tür mit unseren Freunden. Wir kriegen nicht mehr dauernd Gruppen-SMS.
Das macht mir Angst. Dieses Netz zu verlieren macht mir mehr Angst, als nicht den richtigen Job, die richtige Stadt, den richtigen Mann zu finden. Dieses schwer fassbare, undefinierbare Gegenteil von Einsamkeit. Dieses Gefühl, das ich im Augenblick empfinde.
Aber eins wollen wir klarstellen: Die besten Jahre unseres Lebens liegen nicht hinter uns. Sie gehören uns und werden sich fortsetzen, während wir erwachsen werden und nach New York ziehen oder weg von New York und wünschten, wir würden oder würden nicht in New York leben. Ich will auch mit dreißig noch auf Partys gehen. Ich will auch noch Spaß haben, wenn ich alt bin. Jede Vorstellung von den BESTEN Jahren entspringt Klischees wie »hätte gesollt …«, »hätte ich bloß …«, »ich wünschte, ich hätte …«.
Natürlich ist manches auf unserer To-do-Liste übrig geblieben: die zu lesenden Bücher, der Junge auf der anderen Seite des Flurs. Wir selbst sind unsere härtesten Kritiker, und es ist leicht, sich selbst zu enttäuschen. Weil wir zu lange schlafen. Prokrastinieren. Abkürzungen nehmen. Mehr als einmal habe ich auf mein Highschool-Ich zurückgeblickt und mir gedacht: Wie habe ich das damals nur alles geschafft? Unsere heimlichen Unsicherheiten folgen uns und werden uns immer folgen.
Die Sache ist nur die, dass wir alle so sind. Niemand wacht dann auf, wenn er es möchte. Niemand hat alle Bücher gelesen (außer vielleicht die Verrückten, die Preise gewinnen …). Wir haben so unmöglich hohe Ansprüche und werden den perfekten Vorstellungen von unserem künftigen Ich wahrscheinlich nie gerecht. Aber ich glaube, das ist in Ordnung.
Wir sind so jung. Wir sind so jung. Wir sind zweiundzwanzig Jahre alt. Wir haben noch so viel Zeit. Manchmal, wenn wir allein nach einer Party daliegen oder unsere Bücher zusammenpacken, wenn wir aufgeben und ausgehen, schleicht sich so ein Gefühl in unser kollektives Bewusstsein, dass es irgendwie zu spät ist. Dass uns andere irgendwie voraus sind. Vollkommener, spezialisierter sind. Mehr auf dem Weg, irgendwie die Welt zu retten, etwas zu schaffen, zu erfinden oder zu verbessern. Dass es schon zu spät ist, noch mal ganz von vorne anzufangen, und wir uns damit abfinden müssen, ab morgen geradeaus durchs Leben zu gehen.
Als wir nach Yale kamen, herrschte dieser Geist von Möglichkeit. Diese immense, undefinierbare potentielle Energie – und es kommt einem schnell so vor, als ob sie einem entglitten wäre. Wir hatten uns nie entscheiden müssen, und plötzlich mussten wir es. Einige von uns haben sich festgelegt. Einige von uns wissen genau, was sie wollen, und sind auf dem Weg dorthin: Sie studieren schon Medizin, arbeiten in der perfekten NGO, sind in der Forschung tätig. Euch sage ich: Herzlichen Glückwunsch, aber ihr kotzt mich an.
Die meisten von uns dagegen sind etwas verloren in diesem Meer der Wissenschaften. Nicht ganz sicher, auf welchem Weg wir uns befinden und ob wir ihn hätten gehen sollen. Wenn ich doch nur Biologie studiert hätte … wenn ich im ersten Semester doch nur Journalismus gewählt hätte … wenn ich mich doch nur für dieses oder jenes beworben hätte …
Wir dürfen nicht vergessen, dass uns immer noch alles offensteht. Wir können es uns anders überlegen. Von vorn anfangen. Ein Masterstudium machen oder es mit dem Schreiben probieren. Die Vorstellung, dass es für etwas zu spät ist, erscheint mir komisch. Zum Totlachen. Wir sind mit dem College fertig. Wir sind so jung. Wir können, wir dürfen dieses Gefühl der Möglichkeit nicht verlieren, denn letztlich ist es alles, was wir haben.
Mitten in einer Freitagnacht, im Winter meines ersten Semesters, war ich gerade völlig durch den Wind, als meine Freunde mich anriefen. Ich sollte sie im Est Est Est treffen, einem italienischen Restaurant. Wie benommen stapfte ich Richtung SSS[3], dem vermutlich am weitesten entfernten Haus auf dem Campus. Seltsamerweise fragte ich mich erst vor der Tür, warum meine Freunde eigentlich im Verwaltungsgebäude von Yale feierten. Taten sie natürlich auch nicht. Aber da es kalt war und mein Ausweis irgendwie funktionierte, ging ich hinein, um mein Handy in der Tasche zu suchen. Es war still, das alte Holz knarrte, der Schnee vor den Buntglasfenstern war kaum sichtbar. Ich blickte hoch. In diesem gigantischen Raum, in dem ich mich befand. Einem Raum, in dem Tausende vor mir gesessen hatten. Und allein in der Nacht, inmitten eines Sturms in New Haven, fühlte ich mich erstaunlicherweise unglaublich sicher.
Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit, aber wenn es eins gäbe, würde ich sagen, genau so fühle ich mich in Yale. Genau so fühle ich mich jetzt. Hier. Bei euch allen. Verliebt, beeindruckt, demütig, ängstlich. Und das dürfen wir nicht verlieren.
Wir vom Abschlussjahr 2012 ziehen alle an einem Strang. Bewegen wir etwas in der Welt.
Die Mitte des Universums ist heute Abend, ist hier. Und alles davor sind verlorene Kosten.
– Marina Keegan, aus dem Gedicht Vergangenes
Wir waren in der Phase, wo wir uns nicht ernst in die Augen sehen konnten, aus Angst, das könnte bedeuten, wir wären zu involviert. Wir benutzten Euphemismen wie »Du fehlst mir« und »Ich mag dich« und lächelten immer, wenn sich unsere Nasen zu nahe kamen. Ich übernachtete zwei-, dreimal in der Woche bei ihm und lernte seine Eltern bei einem peinlichen Brunch in Burlington kennen. Viel Zeit wurde bewusst romantisch verbracht: Wir machten Sushi, gingen irgendwohin, warteten zu lange mit dem Beantworten von SMS. Ich war hin- und hergerissen und fragte mich, ob ich Songs auf seine Playlist hinzufügen und endlich aufhören sollte, mich auf Leute einzulassen, die ich nur zu 80 Prozent gut fand, und mal eine Zeitlang allein sein sollte. (Um die Bücher zu lesen, die ich peinlicherweise nicht gelesen hatte.) (Um meine Mutter anzurufen.) Das Dumme ist nur, ich werde gerne gemocht, und viele meiner Freunde waren mit dem Studium fertig und irgendwohin gezogen. Ich hatte daran gedacht, die Sache zu beenden, aber meine Zimmerkollegin Charlotte riet mir ab. Brian sah gut aus, rauchte genauso viel wie ich, und manchmal wachte ich morgens mit einem Lächeln im Gesicht auf, weil er mir das Gefühl von Geborgenheit gab.
Im März starb er. Ich machte mir gerade eine Thaisuppe in der Mikrowelle, als mich sein bester Freund anrief und fragte, ob ich wisse, in welchem Krankenhaus er liegt.
»Wer?«, fragte ich.
»Brian«, sagte er. »Weißt du es denn nicht?«
Ich war im letzten Studienjahr und besuchte ein Seminar, in dem wir Gedichte von John Keats lasen. Es gibt da so ein berühmtes von ihm, »Ode auf eine griechische Urne«, in dem die beiden Liebenden sich fast küssen, mit erstarrten Gesichtern unter einem Baum. Die Tragödie, sagte die Professorin, läge im ewigen Stillstand. Die Frau ist immer da, aber sie küssen sich nicht; trotzdem fand ich das Ganze ziemlich romantisch. Am schönsten war es für mich nämlich immer, bevor wir nach Hause gingen – und genau das hatte ich ironischerweise jetzt.
Ich sah zu, wie die brummende Mikrowelle eierige Kreise zog, aber ich holte die Suppe nie raus. Wahrscheinlich machte das jemand anderes. Charlotte vielleicht oder eine meiner Freundinnen, die in Gruppen vorbeikamen und mir in Anlehnung an erwachsenes Verhalten Essen anboten und meine Beziehung zu entziffern versuchten. Ich versuchte das ebenfalls. Als ich über Weihnachten in Austin war, hatte ich mit einem Mann namens Otto rumgemacht, Brian und ich hatten unsere Spielchen nie ganz aufgegeben. Wir hatten natürlich ein Verhältnis, waren aber nicht verbunden.
»Was ist denn jetzt mit euch?«, schrien die Leute über die Musik, wenn er einen Drink holen ging, und ich erklärte, dass es da nichts zu erklären gab.
»Wir gehen zusammen aus«, sagte ich lächelnd. »Wir gehen gern zusammen aus.«
In gewisser Weise waren wir vermutlich stolz auf unsere Uneindeutigkeit. Als wäre die Mühsal des Ganzen unter unserer Würde. Insgeheim waren die Pausen in unserer Korrespondenz natürlich ebenso kalkuliert wie unsere Gleichgültigkeit – und wir warteten auf die trunkenen Momente, in denen wir vielleicht ein »Hey« rausließen, Pause: »Ich mag dich.«
»Geht es dir gut?«, fragten sie jetzt. Flüsterten es beinahe, als wäre ich zerbrechlich. Am ersten Abend saßen wir herum und nippten an eigenartigen Drinks, ein Freund legte einen Song auf und stellte ihn dann ab. Ich würde gern sagen, dass ich erschüttert war und mich in einem Zustand unartikulierter Verwirrung befand, aber ich merkte, dass ich durchaus Fragen beantworten konnte.
»Sie waren nicht fest zusammen«, flüsterte Sarah Sam zu, und ich lächelte milde, um ihnen zu zeigen, dass ich es gehört hatte und es in Ordnung war.
Aber ich stellte sehr schnell fest, dass ich unterschätzt hatte, wie sehr ich ihn mochte. Nicht ihn vielleicht, aber die Tatsache, dass ich jemanden am anderen Ende einer unsichtbaren Leitung hatte. Jemanden, den ich auf dem Laufenden hielt und umgekehrt, jemanden, dem ich eine komische Entdeckung erzählen konnte, den ich mir vorstellte, während ich in einem einsamen Keller tanzte, und zu dem ich schließlich zurückkehren konnte, wenn die Musik vorbei war. Brians Tod war das klarste und entsetzlichste Beispiel meiner unheimlichen Obsession für das Unerreichbare. Lebendig war sein größter Fehler höchstwahrscheinlich gewesen, dass er mich mochte. Tot waren seine Tugenden offenkundiger.
Aber ich bin nicht fair. Tatsache ist, dass ich ein seltsames und deutliches Loch spürte, das knapp hinter meiner Lunge wuchs. Da war ein Mensch, dessen Augen, Hals und Penis ich in der Nacht zuvor geküsst hatte, und diesen Menschen gab es nicht mehr. Das zweite Klischee war, dass ich es nicht ganz begreifen konnte. Trotzdem überraschte ich mich selbst, als ich an diesem Abend, sobald meine Freunde gegangen waren, allein weinte und das Gesicht fest in mein Kissen presste.
Als ich Lauren Cleaver zum ersten Mal sah, spielte sie Ukulele und sang in einem Keller, der von Lichterketten aus roten Plastikpaprikas erhellt war. Ich erinnere mich noch an zwei Beobachtungen während der zwanzig Minuten, in denen meine Freunde und ich dem Konzert beiwohnten und Bier tranken: erstens, dass ich ihr Outfit wollte (geblümte Overall-Shorts und eine grobe Leinenjacke), und zweitens, dass sie dünner war als ich, eine Eigenschaft, die sie augenblicklich weniger liebenswert machte. Sie war hübsch, abgesehen von einer sehr großen Nase, und ich hatte sie schon auf dem Campus gesehen, Fahrrad fahrend auf der Pear Street oder rauchend vor der Bibliothek. Sie hatte die seltene Gabe, still und gleichzeitig beliebt zu sein, eine Mischung, die auf jüngere, modische Mädchen einschüchternd wirkte und rätselhaft auf ältere, selbstsichere Jungs. Wir bewegten uns in unterschiedlichen Kreisen, und ich dachte erst wieder an dem Morgen an sie, nachdem ich Brian zum ersten Mal geküsst hatte, mit dem sie zwei Jahre und neun Monate lang fest und unzertrennlich zusammen war.
Ich hatte noch nie mit einer Exfreundin zu tun gehabt, und mir gefiel das nicht. Adam und ich waren die jeweils Ersten füreinander gewesen, und seit unserer Trennung hatte ich immer nur ein paar Monate dauernde Beziehungen gehabt. Wenn ich eins von mir sagen kann, dann, dass ich selbstkritisch bin (bis an die Grenze zur Neurose), und mir ist klar, dass ein Großteil meines Selbstwertgefühls von der Aufmerksamkeit einer Reihe blasierter Studenten an der University of Vermont abhängt. Das Dumme ist, dass ich es gut verstehe, sie zu reizen: Ich bin witzig und ein Ass im Verfassen von SMS. Außerdem ziehe ich mich gut an, oder versuche es zumindest, und mache mich auf eine Art über Jungs lustig, die als Ich mag dich rüberkommt. Vielleicht ist das weniger ein Problem als eine Krücke, aber ich habe die kranke Phantasie, ich wäre produktiver, wenn ich nicht so attraktiv wäre. Könnte endlich ein paar Bilder fertigmalen oder mich für irgendwelche Stipendien bewerben. Jedenfalls waren Lauren Cleaver und ich keine Freunde, weil Lauren Cleaver und ich das alles gemeinsam hatten. Das, und Brian.
Seine Eltern kamen am Morgen nach dem Unfall an, und seine Mitbewohner schrieben Mails an ein paar Leute, die ihrer Meinung nach vielleicht vorbeikommen wollten. Ich wollte hingehen und fand auch, dass ich hingehen musste, deshalb zog ich eine schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover an und fragte Charlotte, ob sie mir ihre schwarzen Stiefel leihen würde.
»Die passen dir nicht«, sagte sie. »Außerdem brauchst du keine schwarzen Schuhe.«
Ich war mir nicht sicher. Und hatte ein schlechtes Gewissen auf dem siebenminütigen Weg zu seinem Haus, weil ich überlegt hatte, meine roten Ballerinas anzuziehen. Wahrscheinlich hätte ich zu solchen Gedanken nicht fähig sein dürfen, und ich kam mir wie ein Alien vor. Im Grunde geht mir das oft so, in vielen Situationen. Dass ich etwas fühlen sollte, es aber nicht tue. Mein Vater zog mich früher beim Essen des Öfteren mit der Bemerkung auf, die »kalte Claire« hätte die Zugluft mitgebracht. Ich hatte drei ältere Schwestern, alle schön, und ich war immer weniger emotional als sie, lächelte nicht so schnell. Ich weiß noch, dass es mir als Kind unglaublich schwerfiel, Geschenke zu öffnen, weil ich die notwendige theatralische Freude zu anstrengend fand. Meine Schwestern ärgerten mich ewig, weil ich in der fünften Klasse ein Geschenk von meiner Großmutter geöffnet und erklärt hatte: »Das hab ich schon.«
Es war kalt für März, daher ging ich schnell. Brauner Schnee klebte noch an den Straßenrändern, und die Kiefern neigten sich wie graue Wände und hingen unter der gelben Weihnachtsbeleuchtung durch. Wenn ich bei Brian schlief, rief ich ihn meistens bei einem bestimmten Stoppschild an und stimmte sein Erscheinen an der Tür mit meiner Ankunft ab, damit ich nicht warten musste. »Ich bin da«, sagte ich, eine Straße entfernt, und dann kam er runter und ließ mich rein. Diesmal klopfte ich.
William kam an die Tür. Zimmerkollege und reiches Söhnchen aus Los Angeles. Wir waren nie richtige Freunde, nur gelegentliche Mitbewohner, aber wir umarmten uns ungeschickt, und er fragte, wie es mir ginge.
»Gut«, sagte ich spontan. Aber er merkte, dass es nicht stimmte.
Wir gingen nach oben, und ich hatte sofort das Gefühl, dass ich besser nicht da wäre. Es waren weniger, als ich erwartet hatte: Brians Eltern, zwei mir unbekannte Erwachsene und fünf, sechs seiner engsten Freunde. Sie standen zusammengedrängt in einer Ecke neben einem Teller mit Bagels und einer unberührten Obstschale. Seine Mutter schluchzte tatsächlich in die Seite einer der Frauen, und plötzlich wurde mir alles zu eng. Die ganze Welt war kahl und trüb, und mir fiel nicht das Geringste ein, worauf ich mich freute. Brian war für mich allmählich zu etwas geworden, woran ich am Ende des Tages dachte, wenn alles andere langweilig war. Ich schaute durch die Tür in sein Zimmer und sah das noch ungemachte Bett.