Alain de Botton
Die Nachrichten
Eine Gebrauchsanweisung
Aus dem Englischen von Barbara von Bechtolsheim
FISCHER E-Books
Alain de Botton, 1969 in der Schweiz geboren, lebt in London. Kosmopolit und phantasievoller Flaneur der Kultur- und Geistesgeschichte, arbeitet er an einer Philosophie unseres Alltagslebens, das er in all seinen Aspekten untersuchte: ›Versuch über die Liebe‹, ›Wie Proust Ihr Leben verändern kann‹, ›Trost der Philosophie‹, ›Kunst des Reisens‹ und ›Freuden und Mühen der Arbeit‹ heißen seine Bücher. Daneben gründete er in London die »School of Life« und »Living Architecture«. Seine Bücher und Fernsehserien wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Européen de L'Essai »Charles Veillon«.
www.alaindebotton.com
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Die Nachrichten sind überall – ständig versuchen wir den Überblick zu behalten, aber kontrollieren sie nicht längst uns? CNN, FAZ, New York Times, Spiegel und Zeit haben in der heutigen Gesellschaft eine beinahe unangreifbare Stellung, die wir selten in Frage stellen. Nach seiner Untersuchung über die Religionen greift sich Alain de Botton in seinem neuen Buch 25 Nachrichtenmeldungen heraus – von einem Flugzeugabsturz zu einem Mordfall, von einem Celebrity-Interview zu einer politischen Skandalgeschichte – und unterwirft sie einer kritischen Überprüfung.
Alain de Botton hat eine Gebrauchsanweisung für die Nachrichten in einer nachrichtenversessenen Welt geschrieben. Damit wir aus den Nachrichten größeren Nutzen ziehen, versucht er eine Dosis Unaufgeregtheit, Gelassenheit und Klugheit in eine Situation zu bringen, die von der ständigen Aufregung lebt.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Sybille Dörfler
Coverabbildung: Sam Edwards / OJO Images / Getty Images19719
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
›The News: A User's Manual‹ bei Hamish Hamilton, London.
© 2014 by Alain de Botton
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403337-2
Lew Tolstoi: Anna Karenina, neu übersetzt von Rosemarie Tietze, Hanser, München 2009, S. 554.
Gustave Flaubert: Madame Bovary, dt. von Caroline Vollmann, Haffmanns bei Zweitausendeins, Leipzig 2008, S. 125.
Gustave Flaubert: »Wörterbuch der Gemeinplätze«, in: ders.: »Bouvard und Pécuchet und Wörterbuch der Gemeinplätze«, Neu übersetzt von Caroline Vollmann, S. Fischer, Frankfurt am Main 2009, S. 353–401.
George Eliot: The Natural History of German Life (1856), in: dies., Selected Essays, Poems, and Other Writings, Penguin, London 1990, S. 110.
George Eliot, ebd.
John Hanning Speke: Die Entdeckung der Nilquellen (1864), Ed. Ost, Berlin 1995, Bd. 1, S. 361ff.
William Carlos Williams: »Asphodele, jene grüne Blume«, deutsch von Joachim Sartorius, in: ders.: Liebesgedichte, ausgewählt von Michael Krüger, Insel Verlag, Frankfurt 2008.
Henry D. Thoreau, Walden oder Hüttenleben im Walde, aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger, Manesse, Zürich 1988, S. 141f.
Für meine Mutter
Eine Gebrauchsanweisung wird nicht mitgeliefert, weil sie das Normalste, Einfachste, Selbstverständlichste und Unauffälligste von der Welt sein sollen, wie Atmen oder Blinzeln.
Nach einer Pause, meist nicht länger als eine Nacht (oft viel weniger; wenn wir besonders unruhig sind, schaffen wir es nicht einmal zehn oder fünfzehn Minuten), unterbrechen wir, was wir gerade tun, um die neuesten Nachrichten mitzubekommen. Wir halten unser Leben in der Erwartung an, eine weitere Dosis wichtiger Informationen über alle bedeutenden Erfolge, Katastrophen, Verbrechen, Epidemien und Liebeskomplikationen zu erhalten, die der Menschheit irgendwo auf dem Planeten zugestoßen sind, seit wir das letzte Mal nachgeschaut haben.
Im Folgenden soll diese universale und vertraute Gewohnheit als noch viel eigenartiger und gefährlicher dargestellt werden als üblicherweise.
Die Medien legen es darauf an, uns das angeblich Ungewöhnlichste und Wichtigste aus aller Welt aufzutischen: Schneefall in den Tropen; ein außereheliches Kind des Präsidenten; miteinander verwachsene Zwillinge. Doch durch dieses explizite Interesse für das Abnorme vermeiden es die Nachrichten gekonnt, den Blick auf sich selbst und auf die vorherrschende Rolle zu lenken, die sie in unserem Leben mittlerweile einnehmen. Eine Schlagzeile wie ›Die halbe Menschheit täglich von den Nachrichten fasziniert‹ können wir von Organisationen, die sich ansonsten dem Außergewöhnlichen und Bemerkenswerten, dem Korrupten und Schockierenden widmen, nicht erwarten.
Gesellschaften werden modern, wie der Philosoph Hegel meinte, wenn die Nachrichten die Religion als wesentliche Quelle der Orientierung und als Prüfstein der Autorität ablösen. In den entwickelten Wirtschaftsgesellschaften üben die Medien heute eine mindestens so starke Macht aus wie früher der Glaube. Die Berichterstattung taktet den traditionellen Tagesablauf mit unheimlicher Genauigkeit: Das Frühstück hat sich ins Morgenmagazin verwandelt, das Abendessen ist identisch mit der Tagesschau. Aber die Nachrichten gehorchen nicht nur einem quasireligiösen Stundenplan. Man soll ihnen mit denselben ehrerbietigen Erwartungen begegnen wie früher der Religion. Auch hier erhoffen wir uns Erkenntnisse über Gut und Böse, möchten dem Leiden auf den Grund gehen und die sich entfaltende Logik des Seins verstehen. Und auch hier könnten wir uns, wenn wir unsere Teilnahme an den Ritualen verweigern, der Häresie schuldig machen.
Die Medien verbergen ihre eigenen Wirkmechanismen und lassen sich schwer hinterfragen. Sie sprechen ganz natürlich und ohne Betonung, ohne je Bezug auf ihre eigene voreingenommene Perspektive zu nehmen. Sie vertuschen, dass sie nicht nur über die Welt berichten, sondern vielmehr ständig damit zugange sind, in unseren Köpfen einen neuen Planeten zu erschaffen, der unverkennbar zu ihren eigenen Prioritäten passt.
Von Kindesbeinen an lernen wir, die Macht der Bilder und Worte zu würdigen. Man geht mit uns ins Museum und lehrt uns feierlich, dass bestimmte Bilder längst verstorbener Künstler unsere Sichtweise prägen. Wir lernen Gedichte und Geschichten kennen, die unser Leben verändern.
Doch über die uns stündlich von den Nachrichten gebotenen Worte und Bilder klärt man uns erstaunlicherweise eher selten auf. Wir sollen es wichtiger finden, die Handlung von Othello zu verstehen, als die Titelseite der New York Post zu entschlüsseln. Eher erfahren wir, wie Matisse mit Farben umging, als dass man uns die Wirkung der Glamourfotos in der Daily Mail erklärt. Wir sollen uns keine Gedanken darüber machen, wie unsere Meinung beeinflusst wird, wenn wir uns in die Bild-Zeitung oder in das Promi-Magazin OK!, in die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Hokkaido Shimbun, die Tehran Times oder die Sun vertiefen. Man lehrt uns nicht, die große Kunst der Nachrichtenmärkte zu analysieren, die unseren Realitätssinn ebenso beeinflussen wie den Zustand dessen, was wir – ohne transzendentale Assoziationen – als unsere Seele bezeichnen können.
Trotz des ganzen Geredes von Bildung versäumen es die modernen Gesellschaften, die bei weitem einflussreichsten Mittel zu kontrollieren, von denen ihre Bevölkerung lernt. Unabhängig davon, was in unseren Klassenzimmern passiert, erfolgt die mächtigste und dauerhafteste Art der Bildung über den Äther und auf unseren Bildschirmen. Nachdem wir die ersten zwanzig Lebensjahre in sorgsam behüteten Klassenzimmern zugebracht haben, werden wir dann den Rest des Lebens von neuen Instanzen bevormundet, die einen ungleich größeren Einfluss auf uns haben als jede akademische Institution. Wenn unsere formale Schulbildung abgeschlossen ist, werden die Nachrichten zu unseren Lehrern. Sie sind die unangefochten wichtigste Macht, die den Ton unseres öffentlichen Lebens angibt und unser Bild von der Gesellschaft jenseits unserer eigenen vier Wände prägt. Sie sind die Schöpfer politischer und gesellschaftlicher Realität. Wie Revolutionäre genau wissen: Will man die Mentalität eines Landes ändern, macht man sich nicht auf zu den Kunstsammlungen, zum Bildungsministerium oder zu den berühmten Schriftstellern; man fährt mit den Panzern direkt zum Nervenzentrum der Politik, den Chefetagen der Medien.
Warum brauchen wir, das Publikum, ständig die neuesten Nachrichten? Angst ist da ein wichtiger Faktor. Schon nach kurzer Zeit ohne Nachrichten mehrt sich unsere Beklemmung. Wir wissen, was alles passieren kann und wie schnell: Die Treibstoffleitung einer A380 kann kaputtgehen und das Flugzeug brennend ins Meer stürzen, ein Virus einer afrikanischen Fledermaus kann die Grenzen der Spezies überspringen und die Ventilatoren eines voll-besetzten japanischen Nahverkehrszuges verseuchen, Investoren können Währungsturbulenzen herbeiführen, und schließlich kann ein ganz normal wirkender Vater seine beiden prächtigen kleinen Kinder grausam zu Tode bringen.
In der unmittelbaren Nachbarschaft mag Stabilität und Frieden herrschen. Im Garten schwingen die Zweige eines Pflaumenbaums in der Mittagsbrise, und auf den Bücherregalen im Wohnzimmer sammelt sich allmählich Staub an. Aber wir wissen genau, dass diese Heiterkeit nicht den chaotischen und grausamen Grundfesten des Seins entspricht, und deshalb kommt sie uns dann irgendwann immer bedrohlicher vor. Insgeheim wissen wir um die Möglichkeit einer Katastrophe, und aus dieser leise pochenden Angst richten wir unsere Smartphones auf den nächsten Funkkontakt aus und warten auf die Schlagzeilen. Es ist eine Variante der Beklemmung, die unsere entfernten Vorfahren kurz vor dem Morgengrauen empfunden haben müssen, als sie sich die bange Frage stellten, ob die Sonne wieder am Firmament aufgehen würde.
Trotz allem ist hier auch ein gewisses Vergnügen im Spiel. Die Nachrichten, gleich wie schrecklich sie sein mögen und vielleicht gerade, wenn sie am schlimmsten sind, entlasten uns von dem bedrückenden Gefühl, auf uns selbst zurückgeworfen zu leben, immer wieder unseren eigenen Möglichkeiten gerecht werden zu müssen und darum zu ringen, ein paar Menschen in unserem engeren Umkreis davon zu überzeugen, unsere Ideen und Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Die Nachrichten verfolgen heißt, eine Muschel ans Ohr zu halten und gebannt dem Rauschen der Menschheit zu lauschen. Es kann eine willkommene Ablenkung von unseren Sorgen sein, von so viel schwerwiegenderen und belastenderen Problemen zu erfahren, so dass diese größeren Belange unsere eigenen selbstreferentiellen Nöte und Zweifel überlagern. Eine Hungersnot, eine überflutete Stadt, ein frei herumlaufender Serienmörder, die Abdankung einer Regierung, die ökonomische Vorhersage der Armutsentwicklung fürs nächste Jahr: Solch äußere Unruhe eignet sich perfekt, um uns innerlich zur Ruhe zu bringen.
Heute informieren uns die Nachrichten über einen Mann, der am Lenkrad seines Wagens einschlief – nachdem er abends lange aufgeblieben war, um im Internet Ehebruch zu begehen –, von einer Brücke stürzte und in einen Wohnwagen krachte, wodurch er eine fünfköpfige Familie in den Tod riss. Ein anderer Artikel handelt von einer gutaussehenden, begabten Studentin, die nach einer Party spurlos verschwand und fünf Tage später zerstückelt im Kofferraum eines Taxis gefunden wurde. Eine dritte Nachricht berichtet in allen Einzelheiten über die Affäre einer Tennislehrerin mit ihrem dreizehnjährigen Schüler. So offenkundig verrückt solche Nachrichten auch klingen, laden sie uns doch ein, uns vergleichsweise gesund und glücklich zu fühlen. Wir können uns von ihnen abwenden und Erleichterung über unsere berechenbaren Routinen empfinden, weil wir unsere ausgefalleneren Wünsche doch immer wieder erfolgreich bezähmt und uns so gut beherrscht haben, dass wir noch nie einen Kollegen vergiftet oder einen Verwandten unter der Veranda beigesetzt haben.
Was machen diese ganzen Nachrichten nun im Laufe der Zeit mit uns? Was bleibt von den Monaten, gar Jahren, die wir ihnen insgesamt widmen? Wo sind all die Aufregungen und Ängste geblieben: über das vermisste Kind, das Etatdefizit und den untreuen General? Inwiefern haben diese Neuigkeiten dazu beigetragen, uns Weisheit zu lehren, statt nur vage und nicht wirklich erhellende Erkenntnisse zu hinterlassen, wie beispielsweise, dass China im Aufwind ist und Zentralafrika korrupt und dass unser Bildungswesen reformiert werden muss?
Nur weil unser Gehirn so großzügig funktioniert, beharren wir nicht auf solchen Fragen. Wir haben die Vorstellung, es wäre nicht in Ordnung, einfach abzuschalten. Es ist schwer, eine Gewohnheit aufzugeben, die wir bereits in jungen Jahren angenommen haben, als wir mit übergeschlagenen Beinen in der Schule saßen und höflich der Autoritätsperson lauschten, während sie uns erzählte, was sie für wichtig hielt.
Die Frage, warum die Nachrichten eine Rolle spielen, setzt voraus, dass es sich lohnt, sie bewusster zu konsumieren. Dieses Buch ist eine Bestandsaufnahme, eine Phänomenologie einiger Begegnungen mit den Nachrichten. Es ist um Nachrichtenzitate gebaut, die aus unterschiedlichen Quellen ausgewählt und absichtlich genauer analysiert wurden, als ihre Schöpfer dies ahnten, immer in der Annahme, dass diese Zitate es wert sind, genauso wie Gedichtzeilen oder philosophische Abhandlungen untersucht zu werden.
Die Definition von Nachrichten wird bewusst vage gehalten. Auch wenn es offensichtliche Unterschiede zwischen Mediengesellschaften gibt, so finden sich doch hinreichende Ähnlichkeiten, damit man von einem Weichbild ausgehen kann, zu dem sich die herkömmlichen Machtbereiche der Nachrichten – Radio, Fernsehen, Online- und Printmedien –, die entgegengesetzten Ideologien von rechts und links sowie die Kategorien von intellektuell und anspruchslos verwischen.
Unser Vorhaben hat einen utopischen Aspekt. Es stellt nicht nur die Frage nach den Nachrichten von heute; es prüft auch die Vorstellung, was eines Tages aus ihnen werden könnte. Von idealen Nachrichtenorganisationen zu träumen bedeutet keineswegs, gegenüber derzeitigen ökonomischen und sozialen Bedingungen der Medien gleichgültig zu sein; vielmehr basiert das Projekt auf dem Wunsch, aus einer Flut von pessimistischen Annahmen auszubrechen, mit denen wir uns nur allzu leicht abfinden.
Moderne Gesellschaften entwickeln erst allmählich ein Verständnis dafür, welche Nachrichten sie brauchen, um erfolgreich zu sein. Lange waren die Nachrichten so schwer zu erfassen und so kostspielig zu verbreiten, dass sich ihr Einfluss auf unser Innenleben unweigerlich in Grenzen hielt. Inzwischen aber können wir ihnen fast nirgendwo auf dem Planeten entkommen. Sie warten in der Frühe auf uns, wenn wir aus unruhigem Schlaf erwachen; sie folgen uns an Bord von Flugzeugen, die zwischen den Kontinenten unterwegs sind; sie warten darauf, unsere Aufmerksamkeit zu bannen, wenn die Kinder im Bett sind.
Den Nachrichtenrummel haben wir zutiefst verinnerlicht. Was für eine Leistung ist inzwischen ein Moment der Ruhe, was für ein kleines Wunder, einschlafen oder uns in Ruhe mit einem Freund unterhalten zu können – und was für eine mönchische Disziplin erfordert es, uns vom Mahlstrom der Nachrichten abzuwenden und einen Tag lang nur dem Regen und unseren eigenen Gedanken zu lauschen.
Vielleicht brauchen wir Hilfe, um damit umzugehen zu lernen, was die Nachrichten uns antun: mit dem Neid und dem Schrecken, mit der Aufregung und der Frustration; mit allem, was man uns vermittelt hat und wovon wir gelegentlich ahnen, dass wir es besser nie erfahren hätten.
Daher eine kleine Gebrauchsanweisung, die in Kürze und zu unserem eigenen Wohl eine allzu normal und harmlos gewordene Gewohnheit aufbrechen soll.