Thomas Buergenthal
Ein Glückskind
Wie ich als kleiner Junge Auschwitz überlebte und ein neues Leben fand
Aus dem Amerikanischen von Susanne Röckel
FISCHER E-Books
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Eine glückliche Kindheit hätte es werden können, doch dann kamen die Deutschen: Die Familie wird verhaftet und ins Ghetto gesperrt. Es folgen die Deportation nach Auschwitz, der berüchtigte »Todesmarsch« 1944 und das Konzentrationslager Sachsenhausen. Nach einer wahren Odyssee wurde Buergenthal später Richter am Internationalen Gerichtshof von Den Haag. Lange nachdem er 2007 seine Erinnerungen veröffentlichte, bekam er Einsicht in neue Dokumente, die es ihm nun ermöglichen, die Geschichte seiner Familie endlich zu vervollständigen.
Historische Anmerkungen:
Marion Neiss,
Zentrum für Antisemitismusforschung
der Technischen Universität Berlin
Sämtliche Abbildungen stammen aus dem Privatbesitz Thomas Buergenthals
Karte: Peter Palm, Berlin
Erschienen bei FISCHER Taschenbuch
Frankfurt am Main, März 2015
Erweiterte Neuausgabe
© 2007 Thomas Buergenthal
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2007
Alle Rechte vorbehalten
Satz:
Druck und Bindung:
Printed in Germany
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ISBN 978-3-10-403358-7
Odd Nansens dreibändiges Tagebuch Fra Dag til Dag wurde zuerst 1947 in Norwegen publiziert. Zwei gekürzte englischsprachige Versionen des Buches kamen 1949 in den Vereinigten Staaten (From Day to Day) und in Großbritannien (Day after Day) heraus. Eine noch wesentlich kürzere deutsche Übersetzung des Buches (Von Tag zu Tag) erschien ebenfalls 1949.
Tommy. En sannferdig fortelling fortalt av Odd Nansen, Oslo, 1970.
Tommy ist auf Englisch nie erschienen. Nachdem ich die Übersetzung des Buches gelesen hatte, beschloss ich, mich nicht um eine Publikation zu bemühen, denn ohne eine substanzielle Überarbeitung hätte ich es nicht aus der Hand geben können.
Im Andenken an meine Eltern Mundek und Gerda Buergenthal,
deren Liebe, Charakterstärke und Integrität
dieses Buch inspiriert haben
Dieses Buch hätte wahrscheinlich schon vor vielen Jahren geschrieben werden sollen, als mir die Ereignisse, die ich beschreibe, noch frisch im Gedächtnis waren. Doch mein anderes Leben ist dazwischengekommen – das Leben, das ich seit meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten 1951 führe; ein Leben, angefüllt mit erzieherischen, beruflichen und familiären Verantwortlichkeiten, das wenig Zeit für die Vergangenheit gelassen hat. Es kann auch sein, dass ich, ohne mir darüber bewusst zu werden, den Abstand von über einem halben Jahrhundert brauchte, um mein früheres Leben aufzuschreiben, weil dieser Abstand mir erlaubte, auf eine objektivere Weise zu erzählen, ohne allzu sehr auf Details einzugehen, die für meine Geschichte nicht wirklich wesentlich sind. Es ist für mich trotzdem wichtig, sie zu erzählen, denn ihre Wirkung auf den Menschen, der ich geworden bin, hält an.
Natürlich wusste ich immer, dass ich meine Geschichte eines Tages erzählen würde. Ich musste sie meinen Kindern und dann meinen Enkeln erzählen. Ich bin davon überzeugt, dass es für sie wichtig ist zu wissen, wie es war, während des Holocaust Kind zu sein und die Konzentrationslager zu überleben. Meine Kinder hatten Bruchstücke meiner Geschichte zu Hause am Esstisch und bei Familientreffen gehört, aber es war nie die ganze Geschichte. Schließlich ist es nichts, was sich eignet, bei solchen Gelegenheiten erzählt zu werden. Doch es ist eine Geschichte, die erzählt und weitergegeben werden muss, besonders in einer Familie, die während des Holocaust praktisch ausgelöscht wurde. Nur so kann die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft für unsere Familie wiederhergestellt werden. Zum Beispiel gelang es mir nie wirklich, meinen Kindern genau und ausführlich zu schildern, wie meine Eltern sich während des Krieges verhielten und welche Charakterstärke sie an den Tag legten, zu einer Zeit, in der andere unter ähnlichen Umständen ihren moralischen Kompass verloren. Die Geschichte ihrer Tapferkeit und Integrität bereichert die Geschichte unserer Familie, und sie darf nicht mit mir begraben werden.
Ich hatte auch den Wunsch, meine Geschichte einem größeren Publikum zu präsentieren. Nicht weil ich glaubte, dass mein frühes Leben im größeren Maßstab der Dinge besonders bemerkenswert gewesen wäre, sondern weil ich seit langem die Meinung hege, dass der Holocaust nicht gänzlich begriffen werden kann, wenn wir ihn nicht mit den Augen derer betrachten, die ihn durchlebten. Den Holocaust zahlenmäßig zu erfassen – sechs Millionen –, wie es gewöhnlich geschieht, ist eine unbeabsichtigte Entmenschlichung der Opfer und trivialisiert die zutiefst menschliche Tragödie, mit der wir es zu tun haben. Die Zahlen verwandeln die Opfer in eine austauschbare Masse namenloser, seelenloser Körper, statt sie als die Individuen sichtbar zu machen, die sie waren. Jeder von uns, der den Holocaust durchlebte, hat eine persönliche Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, nicht zuletzt deshalb, weil sie der Erfahrung ein menschliches Gesicht verleiht. Wie alle Tragödien brachte der Holocaust seine Helden und Schurken hervor, normale Menschen, die niemals ihre Menschlichkeit verloren, und andere, die, um sich selbst zu retten oder nur wegen eines Stückchen Brots, dabei halfen, ihre Mitmenschen in die Gaskammern zu schicken. Dies ist auch die Geschichte einiger Deutscher, die mitten im Gemetzel ihre Menschlichkeit nicht aufgaben.
Für mich ist die Geschichte jedes einzelnen Überlebenden eine wertvolle Ergänzung der allgemeinen Geschichte des Holocaust. Die Lebensberichte der Individuen vertiefen unser Verständnis jenes katastrophalen Ereignisses, das nicht nur die europäischen Juden als solche vernichtete, sondern auch ihre einzigartige Kultur und ihren Charakter. Deshalb habe ich versucht, meine Geschichte vom Standpunkt des Kindes aus zu erzählen, das ich war und an das ich mich erinnere, nicht aus der Perspektive eines alten Mannes, der über jenes Leben nachdenkt. Meine Geschichte sollte ihren Charakter als ein von der damaligen Zeit geprägtes, persönliches Zeugnis eines kindlichen Überlebenden des Holocaust nicht verlieren.
Dieses Buch enthält meine Erinnerungen an Ereignisse, die über sechs Jahrzehnte zurückliegen. Die Zeit und das Alter spielen dem Gedächtnis so manchen Streich; sicher ist das auch diesen Erinnerungen anzumerken: Namen von Menschen, die erwähnt werden, fehlen oder sind ungenau wiedergegeben; Dinge geraten durcheinander; Ereignisse fanden früher oder später statt als berichtet. Da ich dieses Buch nicht früher schrieb, konnte ich diejenigen, die mit mir in den Lagern waren, nicht mehr befragen und meine Erinnerungen an bestimmte Geschehnisse mit den ihren vergleichen, und das bedaure ich sehr. Natürlich bedaure ich am meisten, dass ich viele Einzelheiten nicht mehr mit meiner Mutter erörtern konnte. Und trotz aller Mühe fand ich es manchmal schwierig, wenn nicht unmöglich – besonders in den ersten zwei Kapiteln des Buches –, klar zwischen den Ereignissen zu unterscheiden, deren Zeuge ich wurde, und anderen, von denen meine Eltern mir erzählten oder von denen ich erfuhr, wenn ich ihren Gesprächen zuhörte. Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass diese Ereignisse mir beim Schreiben deutlich vor Augen standen, so klar wie jede Erfahrung aus erster Hand.
Die Kapitel dieses Buches folgen chronologisch aufeinander, aber die Zeitenfolge der Episoden innerhalb der Kapitel folgt nicht unbedingt dieser Ordnung. Nach so vielen Jahren kann ich mich an einzelne Geschehnisse oft sehr deutlich erinnern, aber ich weiß nicht unbedingt, wann genau sie stattfanden. Für das Kind, das ich war, hatten Datum und Zeit keine Bedeutung. Wenn ich mir heute diese Ära meines Lebens ins Gedächtnis rufe, wird mir klar, dass ich nicht in Begriffen von Tagen, Monaten oder selbst Jahren dachte, wie ich es heute tun würde. Ich wuchs in den Lagern auf, ich kannte kein anderes Leben, und mein einziges Ziel war, am Leben zu bleiben, von einer Stunde auf die andere, von einem Tag auf den anderen. Das war die Verfassung, in der ich mich befand. Ich maß die Zeit einzig in den Kategorien der Stunden, die wir bis zu unserer nächsten Mahlzeit noch zu warten hatten, oder der Tage, die uns blieben, bevor Dr. Mengele höchstwahrscheinlich eine weitere seiner tödlichen Selektionen durchführte. Deshalb hatte ich beispielsweise zu Anfang der Niederschrift dieses Buches keine Ahnung, wann ich 1944 in Auschwitz ankam. Das erfuhr ich erst, als ich die Archive dort zu Rate zog. Aus dem Internet erfuhr ich das Datum meiner Befreiung, das Eintreffen der russischen Armee in Sachsenhausen, und das der Liquidierung des Ghettos von Kielce. Die Recherchen für das Buch beschränkten sich auf solche Dinge; alles andere, was ich erzähle, basiert auf meinen eigenen Erinnerungen.
Hätte ich dieses Buch Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschrieben, als ich einen ersten Versuch machte, einen Teil meiner Geschichte zu erzählen, und einen Bericht des Todesmarsches von Auschwitz in einer universitären Literaturzeitschrift veröffentlichte, hätten die Ereignisse, die ich in dieser Autobiographie schildere, vielleicht den Anstrich einer größeren Unmittelbarkeit. Zu jener Zeit, unbelastet von der abmildernden Wirkung, die die vergehende Zeit auf das Gedächtnis ausübt, besonders hinsichtlich schmerzlicher Inhalte, konnte ich mich noch deutlich an meine Todesangst erinnern, die Erfahrung des Hungers, das Gefühl von Verlust und Unsicherheit, das mich bei der Trennung von meinen Eltern überwältigte, und meine Reaktionen auf die Gräuel, die ich miterlebte. Die Zeit und das Leben, das ich seit dem Holocaust führte, haben jene Gefühle und Eindrücke gedämpft. Als Autor dieses Buches bedaure ich das, denn sicher wäre der Leser an diesem Teil der Geschichte ebenfalls interessiert. Doch ich bin davon überzeugt, dass ich, hätte ich jene Gefühle und Eindrücke all die Jahre mit mir herumgetragen, kaum ohne tiefgreifende seelische Verwundungen über meine Holocaust-Vergangenheit hinweggekommen wäre. Vielleicht ist es meine Rettung gewesen, dass die Erinnerungen im Lauf der Zeit verblassten.
Meine Erfahrung des Holocaust hatte sehr wesentliche Auswirkungen darauf, wie ich mich als Mensch entwickelte, auf mein Leben als Professor für Völkerrecht, auf Menschenrechte spezialisierter Jurist und internationaler Richter. Vielleicht liegt es auf der Hand, dass meine Vergangenheit mich zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht hinzog, ob mir das damals klar war oder nicht. Jedenfalls befähigte sie mich dazu, ein besserer Anwalt der Menschenrechte zu sein, und sei es nur deshalb, weil ich in der Lage war, nicht nur intellektuell, sondern gefühlsmäßig zu verstehen, was es bedeutet, ein Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu sein. Ich konnte diese Dinge tief in mir selbst spüren.
Der Leser mag sich fragen, warum dieses Buch mit meiner Ankunft in den USA endet. Ich wählte dieses Ereignis, weil es der natürliche Schlusspunkt der Geschichte war, die ich mit solcher Dringlichkeit zu erzählen wünschte. Es war die Geschichte meines ersten Lebens; mein zweites Leben begann, als mein Schiff am 4. Dezember 1951 in den Hafen von New York einlief.
Januar 1945. In den offenen Waggons gab es wenig Schutz gegen Kälte, Wind und Schnee, den charakteristischen Erscheinungsformen eines harten osteuropäischen Winters. Auf dem Weg von Auschwitz in Polen zum Konzentrationslager Sachsenhausen in Deutschland durchquerten wir die Tschechoslowakei. Als unser Zug sich einer Brücke näherte, sah ich Leute, die uns von oben zuwinkten, und plötzlich regneten Brotlaibe auf uns herab. Als wir eine weitere Brücke passierten, kamen wieder Brote von oben. Außer Schnee hatte ich nichts gegessen, seit wir, den heranrückenden sowjetischen Truppen nur um wenige Tage voraus, Auschwitz verlassen und nach einem dreitägigen Gewaltmarsch den Zug bestiegen hatten. Das Brot rettete wahrscheinlich nicht nur mir, sondern auch vielen anderen das Leben, die sich mit mir auf diesem Transport befanden. Als Todestransport von Auschwitz sollte er in die Geschichte eingehen.
Es kam mir damals nicht in den Sinn, zwischen den von der Brücke regnenden Broten und der Tschechoslowakei, dem Land meiner Geburt, eine Verbindung herzustellen. Das geschah erst Jahre nach dem Krieg, immer dann, wenn ich eine Geburtsurkunde vorlegen musste. Da ich keine besaß, verlangte man eine eidesstattliche Versicherung von mir, die »auf Treu und Glauben« bestätigte, dass ich am 11. Mai 1934 in Lubochna, Tschechoslowakei, geboren wurde. Wenn ich eines dieser Dokumente unterschrieb, kehrte unweigerlich die Erinnerung an jene Brücken zurück.
Erst nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei gelang es mir endlich, meine Geburtsurkunde zu bekommen. Sie war die Bestätigung meiner vielen eidesstattlichen Versicherungen, und sie weckte in mir und meiner Frau Peggy den Wunsch, Lubochna zu besuchen; Peggy war neugierig auf meinen Geburtsort, und ich wollte mich jenem Stück Erde auch innerlich wieder nähern, wo ich zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte.
Lubochna ist ein kleiner Ferienort in den Bergen der Niederen Tatra in der heutigen Slowakei. Von Bratislava, der Hauptstadt, aus ging die Fahrt kurvenreich einige Stunden an zahlreichen Bächen und Flüssen entlang. Ohne es geplant zu haben, erreichten wir Lubochna im Mai 1991 fast auf den Tag genau siebenundfünfzig Jahre nach dem Tag meiner Geburt. Ein herrlicher, sonniger Tag begrüßte uns, als wir in den kleinen Ort hineinfuhren, der von freundlichen, sanft ansteigenden Bergen umschlossen wird, wie sie für die Niedere Tatra charakteristisch sind, im Gegensatz zu den schrofferen Hängen der Hohen Tatra.
Jetzt verstand ich, warum mein Vater davon geträumt hatte, eines Tages nach Lubochna zurückkehren zu können, und warum auch meine Mutter so gern hier gelebt hatte. Es schien ein so idyllischer Flecken zu sein. Als Peggy und ich den Ort durchwanderten, in der Hoffnung, das Gebäude zu finden, das einst das Hotel meiner Eltern gewesen war, wurde mir bewusst, dass mich bis auf jenes amtliche Stück Papier, in dem der Name Lubochna neben meinem Namen stand, nichts mehr mit dem kleinen Städtchen verband. Das Hotel haben wir nicht gefunden – später erfuhr ich, dass es irgendwann in den sechziger Jahren abgerissen worden war. Wenn mein Besuch mir auch bestätigte, dass Lubochna tatsächlich so schön war, wie meine Eltern erzählt hatten, so musste ich mir nun doch mit großer Traurigkeit eingestehen, dass dieser Ort für meine Familie und mich nicht mehr darstellte als eine historische Fußnote in einer Geschichte, die hier mit der Freude über die Geburt eines Kindes begonnen hatte, bald aber eine ganz andere Wendung nahm.
Kurz vor dem Machtantritt Hitlers im Jahr 1933 war mein Vater, Mundek Buergenthal, aus Deutschland nach Lubochna übergesiedelt. Zusammen mit seinem Freund Erich Godal, einem Karikaturisten und Gegner der Nationalsozialisten, der für eine große Berliner Tageszeitung arbeitete, hatte er beschlossen, ein kleines Hotel in Lubochna zu eröffnen, da Godal dort ein Haus besaß. Die politische Situation in Deutschland wurde für Juden und für Leute, die gegen Hitler und die Ideologie der Nazis waren, von Tag zu Tag gefährlicher. Mein Vater und Godal glaubten aber offenbar, dass die Begeisterung der Deutschen für Hitler in ein paar Jahren abflauen würde und sie dann wieder nach Berlin zurückkehren könnten. Bis dahin, so stellten sie sich vor, wären sie nicht allzu weit von Deutschland weg, könnten dadurch aus nächster Nähe die Ereignisse verfolgen und anderen Freunden, die womöglich gezwungen wären, das Land schnell zu verlassen, für einige Zeit Zuflucht gewähren.
Mein Vater war 1901 in Galizien geboren worden, einem Gebiet in Polen, das vor dem Ersten Weltkrieg zum habsburgischen Österreich-Ungarn gehört hatte. Deutsch und Polnisch waren die Sprachen, die in der Grundschule und auch größtenteils in den weiterführenden Schulen gesprochen wurden. Die Eltern meines Vaters lebten in einem Dorf, das einem reichen polnischen Großgrundbesitzer gehörte. Dessen ausgedehnte Besitzungen wurden von meinem Großvater väterlicherseits verwaltet – für einen Juden in dieser Zeit und in diesem Teil der Welt eine durchaus ungewöhnliche Beschäftigung. Der polnische Grundbesitzer war in der österreichischen Armee der Kommandeur meines Großvaters gewesen, und nach dem Ende des aktiven Militärdienstes, als beide wieder ins Privatleben zurückkehrten, hatte er ihn in seine Dienste genommen. Nach und nach wurde mein Großvater der Verwalter all seiner vielen Höfe und Ländereien.
»Villa Godal«, das Hotel der Familie Buergenthal in Lubochna (Abbildungen aus dem Hotelprospekt).
Die nächste höhere Schule, die mein Vater besuchen konnte, befand sich in einer ziemlich weit entfernten Stadt. In unserer Familie erzählte man sich gern, dass mein Vater, um zu dieser Schule zu gelangen, eine Zeitlang bei einem Bahnwärter einquartiert wurde, der einen Bahnübergang ganz in der Nähe dieser Stadt überwachte. Da es dort in der Umgebung keinen Bahnhof gab, veranlasste der Bahnwärter morgens und nachmittags den Lokführer mit seiner Fahne, langsamer zu fahren, damit mein Vater auf- beziehungsweise abspringen konnte. Später wurden andere, weniger abenteuerliche Vereinbarungen getroffen, damit er die Schule besuchen konnte.
Nach dem Abitur und dem kurzen Militärdienst in der polnischen Armee während des Russisch-Polnischen Kriegs, der 1919 begann, schrieb sich mein Vater in der Juristischen Fakultät der Universität von Krakau ein. Doch schon vor dem Ende seines Studiums verließ er Polen und zog nach Berlin. Dort wohnte auch seine ältere Schwester, die mit einem bekannten Berliner Modeschöpfer verheiratet war. Mein Vater bekam eine Stelle bei einer jüdischen Privatbank. Er stieg schnell auf und wurde schon als relativ junger Mann Abteilungsleiter, weil er sich beim Investitionsmanagement seiner Bank als äußerst geschickt erwies. Durch seine Position und durch die sozialen Kontakte seines Schwagers hatte er Kontakt zu vielen Schriftstellern, Journalisten und Schauspielern, die damals zur kulturellen Vielfalt Berlins beitrugen. Der Aufstieg Hitlers und die nicht enden wollenden Angriffe seiner Anhänger auf Juden und antifaschistische Intellektuelle, von denen viele zu den Freunden meines Vaters zählten, bewogen den jungen Bankbeamten schließlich dazu, Deutschland zu verlassen und sich in Lubochna niederzulassen.
Meine Mutter, Gerda Silbergleit, kam 1933 in das Hotel meines Vaters. Sie stammte aus der Universitätsstadt Göttingen, wo ihre Eltern ein Schuhgeschäft betrieben. Kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag – sie wurde 1912 geboren – hatten ihre Eltern sie nach Lubochna geschickt, in der Hoffnung, dass ein Ferienaufenthalt in der Tschechoslowakei ihr helfen würde, einen nichtjüdischen Verehrer zu vergessen, der sie hatte heiraten wollen. Außerdem hielten sie es für ratsam, dass ihre Tochter eine Weile die Stadt verließ, in der Juden – und ganz besonders junge jüdische Frauen – auf der Straße ständig von organisierten Nazijugendlichen belästigt wurden. Das Leben in Göttingen war für sie zunehmend mit Unannehmlichkeiten verbunden.
Die Eltern meiner Mutter hatten mit dem Hotel ausgemacht, dass man sie an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze abholte. Statt seinen Fahrer zu schicken, entschloss sich mein Vater, selbst zur Grenze zu fahren. Er ließ die junge Frau zunächst aber in dem Glauben, der Hotelchauffeur zu sein. Als sie beim Abendessen an den Tisch des Hoteleigners gesetzt wurde und der sich als der Fahrer entpuppte, geriet sie in Verlegenheit, denn während der Fahrt hatte sie sich intensiv nach Herrn Buergenthal erkundigt. Ihre Mutter hatte ihn ihr nämlich als einen sehr begehrenswerten Junggesellen geschildert. Jahre später, wenn meine Mutter wieder einmal diese Geschichte erzählte, fragte ich mich, ob ihr Aufenthalt in Lubochna von ihren Eltern mit dem Hintergedanken einer möglichen Heirat mit meinem Vater arrangiert worden war und, falls es solch einen Plan gab, mein Vater eingeweiht worden war oder nicht. Das Hotel war meinen Großeltern von einem Freund empfohlen worden, der meinen Vater ebenfalls gut kannte. Sollte das purer Zufall gewesen sein? Wie es sich tatsächlich verhielt, bekam ich nie heraus, aber ich konnte mich des Eindrucks nie erwehren, dass ich nicht die ganze Wahrheit darüber erfahren hatte. Für meine Mutter war es nie etwas anderes gewesen als Liebe auf den ersten Blick, und damit gab sie sich zufrieden.
Gerda und Mundek Buergenthal (1933).
Drei Tage nachdem sie sich an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze kennengelernt hatten, waren meine Eltern verlobt. Einige Wochen später heirateten sie; allerdings erst nachdem zuerst mein Großvater mütterlicherseits, Paul Silbergleit, und dann meine Großmutter, Rosa Silbergleit, geborene Blum, nach Lubochna gereist waren, um sich über den Bräutigam ihr Urteil zu bilden. Offenbar überraschte sie die Schnelligkeit, mit der die Verlobung gefeiert worden war, und auch die Hochzeit fand mit einer gewissen Hast statt, aber es war 1933, und für verliebte Kapriolen blieb wenig Zeit. Elf Monate später kam ich zur Welt.
1939 waren wir schon auf der Flucht, mit nur wenigen Schritten Abstand zu den Deutschen; ein ganzes Land, so schien es, hatte einer kleinen, dreiköpfigen Familie den Krieg erklärt, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie Juden waren.
Wenn ich mein Gedächtnis nach Erinnerungsspuren meines kurzen Lebens in Lubochna absuche, fällt es mir schwer, zwischen dem zu unterscheiden, was meine Eltern mir erzählten, und dem, woran ich mich tatsächlich erinnere. Vermutlich habe ich vieles von dem, was ich als eigene Erinnerung an jene Zeit betrachte, später von meinem Vater oder von meiner Mutter gehört. Meine Mutter erzählte häufig, dass ich ihr im Alter von drei oder vier Jahren als Dolmetscher diente, wenn sie in den Städten der Tschechoslowakei ihre Einkäufe tätigte. Sie sprach nur Deutsch, während die Ladenbesitzer meistens nur Slowakisch verstanden; ich aber kannte mich offenbar mit beiden Sprachen aus. Wenn wir alle drei zu Hause waren, sprachen wir Deutsch, und Slowakisch muss ich von meinen tschechoslowakischen Kindermädchen gelernt haben.
Thomas Buergenthal im Alter von drei Jahren in Lubochna (1937).
Thomas Buergenthal mit seinen Eltern (Mai 1937).
Nur an einen Tag Ende 1938 oder Anfang 1939 erinnere ich mich deutlich: als meine Eltern mir sagten, dass wir unser Hotel verlassen müssten. In höchster Eile begannen sie, unsere Sachen zusammenzupacken. Jahre später wurde mir berichtet, dass die Hlinka-Garde, eine faschistische Miliz, die damals aus Nazideutschland unterstützt wurde, eine einstweilige Verfügung vorgelegt hatte, die eine ihrer Organisationen als Eigner des Hotels auswies. (Meine Eltern hatten einige Jahre zuvor Erich Godals Anteile an dem Hotel erworben.) Es gab keine Möglichkeit, die Konfiszierung unseres Hotels rechtlich anzufechten. Zu dieser Zeit beherrschten die Hlinka-Garde und ihre Anhänger die Gerichte, und sie drohten, uns des Landes zu verweisen, wenn wir uns gegen die Übernahme des Hotels stellten und Lubochna nicht unverzüglich verließen.
Daher konnten wir nur einige Koffer mitnehmen und mussten alles andere, einschließlich des Hotels selbst, den neuen »Besitzern« überlassen. Aber ich bestand darauf, dass mein Auto mit uns kam! Es war ein kleines rotes Auto mit Pedalen. Es wurde mir gesagt, dass ich es jetzt nicht mitnehmen könne, dass wir aber bald wieder zurück wären und es bis dahin auf mich warten würde. Dieses Auto hatte ich von all meinen Sachen am liebsten. Ich muss gespürt haben, dass ich es nicht wiedersehen würde, denn ich lief in die Abstellkammer, um nach ihm zu suchen. Und da war es, auf den Hinterrädern gegen einen Pfosten gelehnt, umgeben von Schachteln und Koffern. Es sah so traurig aus, wie ich mich fühlte. Wenn ich heute daran denke, habe ich mein kleines rotes Auto noch immer lebhaft vor Augen.
Das rote Auto – Thomas’ Lieblingsspielzeug (1937).
Nachdem wir Lubochna verlassen hatten, lebten wir eine Zeit lang in Zilina, ebenfalls in der Tschechoslowakei. Zuerst wohnten wir bei Freunden, die das Grand Hotel in der Stadt besaßen. Ich erinnere mich an den Namen des Hotels, weil es mir sehr viel Spaß machte, mit einem der Türsteher am Haupteingang zu stehen und, wie es damals Brauch war, den Vorübergehenden »Grand Hotel!« zuzurufen. Nicht selten blieben die Leute stehen, um mit mir zu sprechen und mir manchmal sogar zu meiner größten Freude eine kleine Münze zuzuwerfen.
Vom Hotel zogen wir in eine kleine Wohnung in Zilina um. Hier waren meine Mutter und ich oft allein. Mein Vater hatte Arbeit als Handelsvertreter einer Firma für medizinische Instrumente gefunden und verbrachte viel Zeit damit, in verschiedenen Teilen des Landes Kunden zu besuchen. Offenbar hatten meine Eltern den größten Teil ihrer Ersparnisse und die Mitgift, die meine Mutter von ihren Eltern erhalten hatte, dazu benutzt, das Hotel zu erweitern und ihren früheren Partner auszuzahlen; jetzt war ihr Geld verbraucht. Mit dem Hotel hatten sie auch das Einkommen, von dem sie gelebt hatten, verloren.
Familie Buergenthal in Zilina (1939).
Als wir in Lubochna lebten, hatte meine Mutter nie kochen müssen. Das Kochen wurde von der Köchin besorgt, eine gewaltige, furchteinflößende tschechoslowakische Matrone, die meinem Vater in unmissverständlichen Worten mitteilte, dass seine junge Frau in ihrer Küche nicht erwünscht sei. Jetzt, in Zilina, war alles anders, und ich stellte bald fest, dass meine Mutter keine besonders gute Köchin war. Einmal briet sie ein Huhn, ohne es vorher richtig auszunehmen. Als mein Vater anfing zu essen, hatte er plötzlich den Mund voller Maiskörner, den Überresten der letzten Mahlzeit des Hühnchens. Natürlich spuckte er sie aus, und es kam zu einem Riesenkrach, in dessen Verlauf mein Vater rief: »Ich hab gedacht, sie hätten dir in diesem Mädchenpensionat in Göttingen etwas beigebracht!« Sie ging ihrerseits zum Angriff über und erinnerte ihn an irgendein längst vergessenes Ereignis, an dem er angeblich schuld war. Und als er antwortete, dass das nichts damit zu tun habe, dass sie nicht kochen konnte, warf sie ihm vor, ihr auszuweichen. Mir wurde bald klar, dass sie solche Auseinandersetzungen immer gewinnen würde, während er am Ende immer nur dasaß und ungläubig den Kopf schüttelte. Manchmal, wenn sie irgendetwas getan hatte, was mein Vater nicht wissen sollte, machte sie mich zu ihrem heimlichen Komplizen. Als sie zum Beispiel einmal merkte, dass der Putzlappen, nach dem sie gesucht hatte, in den Topf gefallen war, in dem sie zufällig gerade eine Suppe kochte, ließ sie mich schwören, den Mund zu halten, und versicherte mir: »Bestimmt wird Papa nichts davon merken, wenn wir ihm nichts sagen!«
Eines Tages, als mein Vater verreist war, kam die Polizei zu uns in die Wohnung und befahl meiner Mutter, unsere Sachen zu packen. Im Lauf der nächsten Stunde sollten wir bereit sein mitzukommen. Es wurde uns gesagt, dass man uns als Juden und unerwünschte Ausländer des Landes verweise. Der energisch erhobene Einwand meiner Mutter, dass wir nicht ohne meinen Vater gehen könnten, fruchtete nicht. Man brachte uns zur Polizeistation. Das Gebäude und der Hof waren schon voll mit anderen Ausländern. Meine Mutter erkannte einige unserer Freunde unter den Wartenden. Die Leute saßen auf ihren Koffern, Kinder weinten, und ich spürte, dass alle Angst hatten, genau wie ich.
Als wir die Polizeistation betraten, verlangte meine Mutter kurz und präzise auf Deutsch, mit dem Polizeichef oder einem verantwortlichen Beamten zu sprechen. Sie schlug ordentlich Krach und wedelte eindrucksvoll mit einem in Leder gebundenen Dokument mit vielen Stempeln. Nach ein paar Minuten wurden wir in ein Büro geführt. Ein korpulenter, nicht sehr freundlicher Mann in Uniform fragte in einschüchterndem Ton, was der ganze Aufruhr solle und was sie sich überhaupt einbilde. Meine Mutter, die mir in diesem Augenblick sehr groß vorkam, obwohl sie kaum einen Meter zweiundfünfzig maß, knallte ihre Urkunde auf den Schreibtisch des Mannes und schnauzte ihn an: »Wir sind Deutsche!« Sie zeigte auf das Papier, das sie ihren Pass nannte, und fuhr im gleichen Ton fort: »So gehen Sie mit Ihren angeblichen Verbündeten um! Es ist unerhört, dass wir behandelt werden wie Verbrecher!« Sie verlangte, sofort zum deutschen Konsul gebracht zu werden, wo sie sich wegen der skandalösen Behandlung beschweren werde, und warnte den Polizeibeamten: Er und seine Vorgesetzten würden bald merken, dass sich deutsche Behörden so etwas nicht gefallen ließen. Sie würden den größten Ärger bekommen, weil sie Deutsche, die friedlich in der Tschechoslowakei lebten, auf solch ungeheuerliche Weise belästigten. »Warten Sie nur ab, was passiert, wenn mein Mann zurückkommt und uns nicht zu Hause findet!«
Nachdem er sich flüsternd mit einem anderen Mann beraten und den angeblichen Pass noch mehrmals hin und her gewendet hatte, lächelte uns der Beamte unvermittelt an, stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Er fasste meine Mutter bei der Hand und begann, sich in gebrochenem Deutsch überschwänglich bei ihr zu entschuldigen. Das Ganze sei ein großer Fehler; selbstverständlich deportierten sie keine in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen, nur ausländische Juden und andere unerwünschte Elemente, die von vornherein keine Einreiseerlaubnis hätten erhalten sollen. Noch einmal schüttelte er meiner Mutter die Hand, grüßte militärisch und befahl einem Streifenpolizisten, uns nach Hause zu begleiten.
Jahre später erfuhr ich, dass der »Pass« meiner Mutter in Wahrheit ein ähnlich aussehender deutscher Führerschein war. Ihr deutscher Pass war konfisziert worden, als sie versucht hatte, ihn verlängern zu lassen, denn wie anderen im Ausland lebenden Juden hatte man ihr offenbar schon die deutsche Nationalität aberkannt. Bis heute frage ich mich, was sie getan hätte, wenn der Polizeibeamte in der Lage gewesen wäre, das Papier zu lesen, und ihren Bluff durchschaut hätte.
Und immer wieder staune ich über die Klugheit, den Mut und Einfallsreichtum meiner Mutter, Charakterzüge, die sie später noch viele Male und unter noch schwierigeren Bedingungen unter Beweis stellen musste. Aus welchen Quellen schöpfte diese behütete, nicht besonders gebildete junge Frau aus einem wohlhabenden, bürgerlichen Elternhaus, wenn sie es fast verwegen, unerhört listig und gerissen mit jenen aufnahm, die ihr eigenes Leben und das ihrer Familie bedrohten? Wie gelang es ihr, diese Leute richtig einzuschätzen, ihre Schwächen zu erkennen und sie für sich auszunutzen? Als Kind war ich der Meinung, es sei nur natürlich, dass meine Mutter immer wusste, was zu tun war. Doch im Lauf der Jahre wurde mir dieses außergewöhnliche Gespür zutiefst rätselhaft, nicht nur deshalb, weil meine Mutter es zu wiederholten Malen schaffte, der Mordmaschinerie der Nazis ein Schnippchen zu schlagen, sondern auch, weil ihr diese Erfolge scheinbar aus dem Moment heraus gelangen und sie mit der Rasanz eines professionellen Zauberers zu Werke ging. Woher stammten ihre Zauberkräfte? Ich habe es versucht, doch bis jetzt habe ich die intellektuelle und emotionale Ursache dieser besonderen Gabe meiner Mutter nicht ausfindig machen können. Ich weiß nur, dass sie sie besaß.
Als wir die Polizeistation verlassen hatten und wieder zu Hause waren, rief meine Mutter aus: »Diesmal haben wir Glück gehabt!« Aber dann fügte sie hinzu: »Sie kommen sicher zurück«, und durchsuchte die Wohnung nach der Pistole meines Vaters. Er hatte sie in Lubochna gekauft, um Füchse und andere Tiere zu verscheuchen, die manchmal versuchten, in den Hühnerstall hinter dem Werkzeugschuppen des Hotels zu gelangen. Als sie die Waffe gefunden hatte, sagte sie mir, dass wir sie unauffällig wegwerfen müssten, damit die Polizei sie nicht fand, wenn sie das nächste Mal käme. Mit spitzen Fingern ließ sie sie in eine Papiertüte gleiten und verbot mir, sie anzufassen. Am nächsten Tag gingen wir zum Fluss und warfen die Pistole von einer der Brücken aus ins Wasser. Ich verstand nicht ganz, was vorging, fühlte mich aber sehr erwachsen, weil ich bei dieser höchst geheimen Aktion mitmachen durfte. Als mein Vater zurückkam, war er sehr böse, als er erfuhr, dass meine Mutter seine Waffe weggeworfen hatte, aber ändern konnte er nichts mehr daran.
Einige Tage darauf kamen meine Eltern zu dem Schluss, dass die Tschechoslowakei uns nicht mehr genug Sicherheit bot und dass die Zeit gekommen war, das Land zu verlassen. Sie erwarteten, dass sich die Verfolgung von Juden, besonders ausländischer Juden, in der Tschechoslowakei bald noch intensivieren würde. Zudem fürchtete mein Vater, dass er auf einer Fahndungsliste der Gestapo stand, und wenn die Polizei zurückkam, konnte er verhaftet und an die Deutschen ausgeliefert werden. Aber wohin konnten wir gehen? Diese Frage hörte ich meine Eltern immer wieder im Flüsterton erörtern, gewöhnlich nachts, wenn ich im Bett lag und sie glaubten, ich schliefe. Schließlich entschieden sie sich für Polen. Ihrer Meinung nach war Polen das einzige Land, für das wir eine Einreiseerlaubnis erhalten konnten. Und dort würde es meinem Vater auch gelingen, die Visa zu erhalten, die ihm von den britischen Behörden in der Tschechoslowakei versprochen worden waren. Mit diesen Visa konnten wir dann als politische Flüchtlinge nach England weiterreisen.
Bald waren wir auf dem Weg nach Polen. Allerdings kamen wir zunächst nicht sehr weit, denn wir blieben im Niemandsland zwischen Polen und der Tschechoslowakei stecken. Dieser Grenzstreifen maß ungefähr fünfzig Meter von Grenzposten zu Grenzposten. Dazwischen gab es eine ungepflasterte Straße, die durch einen Acker führte. An jeder Seite der Straße lag ein tiefer Abzugsgraben. Der polnische Grenzposten war an einem Ende der Straße, der tschechoslowakische am anderen. Wenn wir zur polnischen Seite der Grenze kamen, befahlen uns die polnischen Grenzwächter, auf die tschechoslowakische Seite zurückzukehren. Die Tschechoslowaken verboten uns aber die Wiedereinreise. Und so ging es tagelang hin und her. Mir schien diese Straße viel länger, als sie wahrscheinlich war, weil wir so oft von einem Ende zum anderen entlangwanderten; wir schleppten unsere Koffer hin und her, während die Grenzwächter hinter uns herschrien, wir sollten ja nicht wagen, noch einmal bei ihnen aufzutauchen.
Wir müssen staatenlos gewesen sein und keine gültigen Reisedokumente besessen haben. Irgendwann muss mein Vater seine polnische Staatsbürgerschaft verloren haben, wahrscheinlich, weil er die deutsche angenommen hatte, die er wiederum – nicht anders als meine Mutter – verloren hatte, als die Nazis den im Ausland lebenden Juden die Staatsbürgerschaft aberkannten. Als Staatenlose im Niemandsland hatten wir weder das Recht, nach Polen einzureisen, noch in die Tschechoslowakei zurückzukehren. Jeden Tag und jede Nacht wartete mein Vater auf die Wachablösung auf der polnischen Seite der Grenze. Sobald er neue Gesichter sah, ließ er uns zum Grenzwächterhaus marschieren und bat darum, eingelassen zu werden, denn er sei Pole. Doch da ihm die nötigen Papiere fehlten, die das beweisen konnten, befahlen uns die Grenzsoldaten, auf die tschechoslowakische Seite zurückzukehren. So gingen wir Tag und Nacht immer hin und zurück. Wir schliefen auf dem Acker neben der Straße zwischen den Grenzposten oder in einem der Gräben. Hin und wieder erlaubte man uns, auf einer Seite in der Wachstube zu schlafen. Wir froren die meiste Zeit, aber hungern mussten wir nicht, denn es kamen tschechoslowakische oder polnische Bauern, die uns Brot und Wurst verkauften. Aber das war alles. Ich war müde und begriff nicht, warum uns niemand erlaubte, die Grenze zu überqueren.
Etwa eine Woche nach unserer Ankunft an der Grenze, an einem Tag, als uns wieder einmal von den Polen befohlen worden war, auf die tschechoslowakische Seite zurückzukehren, und wir unsere Habseligkeiten auf der Straße entlangschleppten, kamen schwerbewaffnete deutsche Soldaten auf uns zu. Offenbar hatten die Deutschen in der Zwischenzeit die Tschechoslowakei besetzt, und so kam es, dass wir nun genau den Leuten in die Hände fielen, denen wir zu entkommen versucht hatten. Ich spürte, dass meine Eltern große Angst hatten. Einer der Deutschen, allem Anschein nach der Befehlshaber, wollte wissen, wer wir seien und was wir mitten im Niemandsland zu suchen hätten. Mein Vater, der auf einmal sehr schlecht deutsch sprach, erwiderte, dass wir Polen seien und schon über eine Woche hier seien, weil die Polen uns nicht in unser Land zurückkehren ließen. »Das werden wir schon sehen«, knurrte der deutsche Offizier. Mit diesen Worten rief er zwei seiner Soldaten herbei und befahl ihnen, unsere Koffer zu nehmen. Ich dachte, dass sie uns als Nächstes irgendetwas Schreckliches antun würden, weil meine Mutter auf einmal ganz fest meine Hand hielt und mir bedeutete, kein Wort zu sagen. Doch die deutschen Soldaten begleiteten uns lediglich zur polnischen Grenze. Als wir dort ankamen, befahlen sie den polnischen Grenzwächtern, uns durchzulassen. »Diese Leute hier sind Polen!«, schrie einer der Soldaten. »Ich befehle Ihnen, sie einreisen zu lassen. Und ich rate Ihnen, sie nicht wieder zurückzuschicken. Sie werden sich noch wundern! Von jetzt an wird alles anders!« Mein Vater übersetzte, was der Deutsche sagte, und die Polen nickten gehorsam.
So gelangten wir nach Polen. Es muss im März 1939 gewesen sein, denn zu diesem Zeitpunkt marschierten die Deutschen in die Tschechoslowakei ein. Ich war fast fünf Jahre alt.
An die ersten Tage, nachdem uns der Grenzübertritt endlich erlaubt worden war, habe ich keine Erinnerung. Wir müssen in einer Pension gewesen sein oder für kurze Zeit ein Zimmer gemietet haben, und ich habe wahrscheinlich die meiste Zeit geschlafen. Was mir dann in den Sinn kommt, ist das Bild von uns dreien, wie wir auf einem von einem Pferd gezogenen Heuwagen sitzen, die Koffer an einer Seite aufeinandergetürmt. Auf dem Kutschbock saß ein alter Mann mit einem langen weißen Bart. Er trug einen schwarzen Hut und sprach mit meinem Vater in einer Sprache, die deutsch klang, die ich aber kaum verstehen konnte. Es waren die ersten jiddischen Worte, die ich je hörte, und der Kutscher war der erste chassidische Jude, den ich je sah. Ich höre ihn noch »Schu« sagen, was mich damals ziemlich verwirrte, denn da ich das Wort mit dem deutschen »Schuh« identifizierte, ergab seine Rede keinen Sinn für mich. Erst viel später, als ich von meinen Spielkameraden im Ghetto von Kielce Jiddisch lernte, wurde mir klar, dass der Kutscher scho gesagt haben musste, was »Stunde« bedeutet; er hatte meinem Vater mitgeteilt, dass es etwa eine Stunde dauern würde, bis wir unser Ziel erreichten.
Unsere nächste Station war Warschau. Hier hatte mein Vater Verwandte; er stellte ihnen meine Mutter vor, die sie noch nicht kennengelernt hatten, und wir alle wurden mit großer Herzlichkeit, vielen Küssen, viel Gelächter und riesigen Mengen Essen von ihnen willkommen geheißen. Ich hasste diese Besuche, weil alle Frauen, die wir trafen, mich ständig abküssten und mit Essen vollstopften. Glücklicherweise waren auch immer ein paar Kinder da, mit denen ich mich vor den Erwachsenen zurückziehen und spielen konnte.
Doch die Besuche endeten, als ich mich bei einem meiner Spielkameraden mit Keuchhusten ansteckte. Der Arzt sagte meinen Eltern, dass die Luft am Fluss heilende Kräfte habe, und zu meiner größten Freude folgten meine Eltern unverzüglich seinen Empfehlungen und mieteten eine Kutsche, mit der wir auf einer Brücke über die Weichsel, die Warschau mit dem östlichen Vorort Praga verband, hin und her fuhren. Ich liebte diese täglichen Ausflüge und war sehr traurig, als mein Husten immer mehr nachließ und meine Eltern sich entschlossen, Warschau zu verlassen und nach Kattowitz (Katowice) weiterzureisen.
Im Jahr 1939 war Kattowitz, im südlichen Polen, zu einem Sammelpunkt für deutsche Juden auf der Flucht geworden. Hier meldete man sich beim britischen Konsulat in der Hoffnung, die notwendigen Papiere für die Einreise nach England zu bekommen. In Warschau hatte man meinen Eltern gesagt, dass die britische Behörde in Kattowitz sich um unsere Visa-Anträge kümmern werde; je früher wir dort einträfen, desto früher würden wir nach England abreisen können. Mein Keuchhusten hatte unsere Abfahrt nach Kattowitz verzögert.
Wir bezogen dort eine kleine Wohnung. Unsere erste Nacht in dieser Wohnung werde ich nie vergessen. Kaum hatten meine Eltern das Licht ausgeschaltet, schien das Zimmer, das wir uns teilten, lebendig zu werden. Meine Mutter schrie, sie werde bei lebendigem Leib aufgefressen. Als mein Vater aus dem Bett sprang und das Licht wieder einschaltete, sahen wir, dass die Zimmerwände und unsere Betten mit Wanzen überzogen waren. Sie krabbelten an uns hoch und auf unseren Armen und Beinen entlang. Wahrlich ein beeindruckender Anblick: Im Zimmer mussten Hunderte dieser hässlichen orange gelblichen Käfer sein, deren Biss weh tat und tagelang juckte.
Meine Mutter wollte auf der Stelle ausziehen, aber mein Vater beruhigte sie und erklärte ihr, dass wir uns glücklich schätzen könnten, diese Wohnung zu haben. Als sie zu der Überzeugung gekommen waren, dass wir tatsächlich keine andere Wahl hatten, als hier zu bleiben, starteten meine Eltern einen gründlichen Wanzenvernichtungsfeldzug. Sie fanden ein paar Kerzen und fingen an, die Wanzen von den Wänden zu brennen; sie schüttelten sie aus dem Bettzeug und zertraten sie auf dem Boden. Es gab ein Waschbecken im Zimmer, und meine Mutter ließ Wasser einlaufen und schüttelte darüber die Bettdecken mit den Wanzen aus, um sie zu ertränken. Die verzweifelten Versuche, uns von den Wanzen zu befreien, müssen die ganze Nacht weitergegangen sein. Ich merkte nichts mehr davon, denn ich schlief nach kurzer Zeit ein, ohne zu ahnen, dass in den Jahren, die uns bevorstanden, die Wanzen unser kleinstes Problem sein würden.
Ich hatte viel Spaß in Kattowitz. Die Flüchtlinge lebten dort in ihrer eigenen kleinen Gemeinde. Auch meine Eltern wurden aufgenommen und freundeten sich bald mit anderen Flüchtlingen an. Wie in Deutschland üblich, wurden diese erwachsenen Freunde sofort zu meinen »Onkeln« und »Tanten«. Ich spielte mit ihren Kindern, und sie passten auf mich auf, wenn meine Eltern irgendetwas erledigen mussten und keine Zeit für mich hatten. Gewöhnlich versammelte man sich in einem Café oder im Park. Man spielte Karten, las Zeitungen; es gab eine Menge Gerüchte über den Krieg, der bevorstand, und man machte sich ständig Sorgen. Alle Leute warteten auf ihren »Glückstag«. Und ab und zu gab es eine Feier, viele Küsse und viele Tränen: wenn in Form des langersehnten Visums vom britischen Konsulat irgendjemandes »Glückstag« gekommen war und dieser Jemand nach England fahren konnte. Bald verließen alle, die Visa bekommen hatten, die Stadt, meistens in kleinen Gruppen oder vom Konsulat organisierten Transporten.
Unser »Glückstag« sollte auf sich warten lassen. Ich erinnere mich an die Wartezeit: Für mich gab es ausgelassene Spiele in dem reizenden Park von Kattowitz und Badefreuden in einem nahe liegenden See. Offenbar unterstützte die Jüdische Gemeinde der Stadt notleidende Flüchtlinge; ebenso erhielten wir Hilfe durch verschiedene der Jüdischen Gemeinde nahestehende Privatleute. Ich weiß noch, dass ich eines Tages mit einem sehr netten Mann einkaufen gehen durfte, der sich mit meinen Eltern angefreundet hatte; als ich heimkam, hatte ich viele Spielsachen und war völlig neu eingekleidet, mit einer neuen Hose, einem Hemd und einer Jacke. Er war der Meinung, dass ich in den Kleidern, in denen meine Mutter mich gern sah, zu deutsch aussähe. Von Zeit zu Zeit wurden wir auch von jüdischen Familien zum Abendessen eingeladen; allerdings geschah dies nicht allzu oft und sicher nicht so oft, wie ich mir wünschte, unserem hässlichen Zimmer und unseren kärglichen Mahlzeiten zu entkommen.