Katharina Jakob | Insa Lienemann
Ostfriesland für die Hosentasche
Was Reiseführer verschweigen - Mit einem Vorwort von Klaus-Peter Wolf
FISCHER E-Books
Katharina Jakob kommt vom Bodensee und lebt seit 1988 in Hamburg. Sie ist ein großer Fan von Ostfriesland – auch dank guter ostfriesischer Freunde. Sie studierte Journalistik und Musikwissenschaft, wurde Redakteurin und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin.
Insa Lienemann führt neben ihrer Arbeit als Autorin vor allem ein erfolgreiches Familienunternehmen: Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern wohnt die gebürtige Ostfriesin (1977) nach einigen Jahren in Hamburg heute wieder im Herzen Ostfrieslands.
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»Tied is all us'n.«
(Die Zeit gehört uns. Bedeutet: Es ist nicht schlimm zu warten.
Lebensweisheit aus ostfriesischen Arztpraxen)
Coverabbildung: Shutterstock
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403374-7
ostfriesischer Gruß
Ostfriesland ist Krimiland. Fast nirgendwo sonst auf der Welt gibt es prozentual zur Bevölkerung so viele Kriminalschriftsteller wie in Ostfriesland. Und einige von ihnen sind wirklich gut. Um wenigstens ein paar zu nennen: Christiane Franke, Regine Kölpin, Manfred C. Schmidt und Peter Gerdes.
Der Krimi made in Deutschland trat von hier aus seinen Siegeszug an. Hansjörg Martin schrieb 1965 auf Norderney seinen Krimi ›Gefährliche Neugier‹, der vom »Stern« vorabgedruckt wurde und ihn auf Anhieb berühmt machte. Sein zweiter Kriminalroman ›Kein Schnaps für Tamara‹ wurde in Norden verfilmt, und noch heute gibt es legendäre Aufführungen im Kino.
Alle zwei Jahre im November finden die Ostfriesischen Krimitage statt. Kriminalschriftsteller kommen aus dem ganzen Land an die Küste und lesen an ungewöhnlichen Orten, z.B. in der Museumseisenbahn auf der Fahrt von Norden über Hage nach Dornum. Nie sah ich einen Schaffner mit mehr Leidenschaft Fahrkarten abknipsen als dort.
Krimilesungen gibt es auch in der Polizeiinspektion, im Gericht und natürlich auf Schiffen. Aber hier heißt es früh buchen! Veranstaltungen während der Ostfriesischen Krimitage sind rasch ausverkauft.
In den Ferien – wenn die Touristen die Insel mit dem Fahrrad entdecken – gibt es auf Langeoog immer wieder Lesungen von beliebten Kriminalschriftstellern.
In Norden und Norddeich gibt es regelmäßige Stadtführungen zu den Schauplätzen meiner literarischen Verbrechen. Die kostenlose App Ostfriesenkrimi-Guide führt Leser zu den Kultstätten ostfriesischer Mordserien. In Leer darf man auf keinen Fall versäumen, die Krimibuchhandlung »Tatort Taraxacum« zu besuchen. Hier gibt es regelmäßig Lesungen, und der Koch im Restaurant ist kriminell gut.
Warum ist ausgerechnet Ostfriesland Schauplatz vieler literarischer Verbrechen? Warum zieht die Region Krimiautoren an?
Vielleicht hat das alles etwas mit der Geschichte Ostfrieslands zu tun. Hier gibt es den Wechsel der Gezeiten, und die Küste ist für viele ein mystischer Ort. Der Deich zieht eine klare Trennungslinie. Hier bist du in Sicherheit. Dahinter wartet das Abenteuer, möglicherweise aber auch der Tod auf dich.
Viele Ostfriesen waren früher Strandräuber. Nicht, dass sie kriminell waren, nein, das nicht. Es waren arme Fischer und Kleinbauern, die sich herrenlose Dinge aneigneten, die die Wellen an den Strand spülten. Dieses Strandgut sicherte vielen die Existenz. Wenn irgendwo ein Schiff unterging, kam bei einigen Freude auf, und wo die Männer selbst zur See fuhren, wussten sie, dass bald herrenlose Kisten angespült werden.
Das Strandrecht sah vor, dass, wenn die Besatzung umgekommen war, alles, was die Wellen anspülten, dem Strandgänger gehörte. Das führte in einigen Regionen leider dazu, dass falsche Leuchtfeuer gelegt wurden, um Schiffe in Seenot zu bringen. Die Mannschaft wurde dann nicht gerettet, sondern musste ersaufen, damit die Aneignung der Waren rechtens wurde.
1860, nach schweren Schiffsunglücken an der Nordseeküste, wurde in Emden ein Verein zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet, aus dem die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) hervorging. Heute sind sechzig Rettungseinheiten im Einsatz. Die Rettungsflotte zählt zu den leistungsfähigsten der Welt. Der Verein feiert gerade sein hundertfünfzigstes Jubiläum.
Die Nachfahren der Strandräuber sind ehrenamtliche Helfer geworden. Doch noch immer lieben sie Geschichten, die von Recht und Unrecht handeln – eben Kriminalromane.
Geradezu ein Mekka für Ostfriesenkrimi-Fans auf literarischer Spurensuche ist das Café ten Cate, wo der (fiktive) Chef der ostfriesischen Polizei, Ubbo Heide, seine berühmten Marzipan-Seehunde kauft, die ihm helfen, wenn bei komplizierten Fällen seine Magensäure zu blubbern beginnt. Und hier steht tatsächlich Monika Tapper, die Freundin der Kommissarin Ann Kathrin Klaasen, hinter der Ladentheke. Und auch den Konditor Jörg Tapper gibt es wirklich. Hier im Café sitzen manchmal Autoren und schreiben (ich selbst auch sehr gerne). Und natürlich spielt das Café ten Cate in meinen Krimis eine wichtige Rolle.
Juist nennt sich Krimi-Insel, und Norden-Norddeich hat sich zur Krimi-Küste erklärt.
Direkt um die Ecke, knapp hundert Schritte weiter, liegt das Stadthotel Smutje.
Welcher Krimifan will nicht mal dort Deichlamm gegessen haben, wo Ann Kathrin Klaasen, die Galionsfigur der ostfriesischen Polizei, und ihr Mann, Kommissar Frank Weller, ein- und ausgehen? Am besten genießt man hier einen Ostfriesentee, der natürlich in einer edlen Porzellantasse auf einem Unterteller mit Kluntje und Sahne serviert wird. Dazu Krintstuut, Weißbrot mit Rosinen und Butter darauf.
Warum man den Tee ausschließlich in edlem Geschirr bekommt? Nun, alles andere würde gegen die Religion der Ostfriesen verstoßen. Tee ohne feines Porzellan? Das wäre nun wirklich ein Verbrechen.
Klaus-Peter Wolf
Das Land der Ostfriesen ist flach und karg. Glaubt man. Und der ostfriesische Menschenschlag ist wortkarg, verschroben und einfältig. Das gehört zum Grundwissen jedes Utwärtigen (Fremden) – und ist ein echter Ostfriesenwitz.
Denn abseits der bekannten Pfade ist das Küstenland enorm vielfältig und manchmal geradezu verwunschen. Und was seine wortkargen Bewohner betrifft: Sie befinden sich überaus oft in Feierlaune, fallen gern bei ihren Nachbarn ein und nötigen sie zu einer Party. Verschroben? Nein, bloß unbeugsam in ihrem Freigeist, an dem sich die Obrigkeit stets die Zähne ausgebissen hat. Einfältig? Ist nur der Besucher, der nicht mitbekommt, wie erbarmungslos ihn ein Ostfriese verschaukelt.
Wenn Sie das Land der Ostfriesen besuchen, machen Sie es seinen Bewohnern nach: Verlieren Sie keine unnötigen Worte. Nehmen Sie sich Zeit, und schauen Sie genau hin. Sie werden mehr entdecken, als Sie ahnen.
Katharina Jakob und Insa Lienemann
Nicht in Ostfriesland. Derzeit erlebt die Region einen Aufschwung, im einstigen Armenhaus der Republik sind Arbeitsplätze keine Mangelware mehr. Man muss also nicht auswandern wie anno 1847, um anderswo sein Glück zu machen. Trotzdem bleibt der Ostfriese bei diesen Aussichten gelassen, denn er kennt so ein Auf und Ab gut. In seiner Heimat war das nie anders. Einst bitterarme Warftenbewohner mauserten sich zu wohlhabenden Bauern, die ihren Reichtum im Lauf der Jahrhunderte wieder einbüßten. Frisch eingedeichtes Land holte sich die See zurück, und alles begann wieder von vorn. Ostfriesen haben es gelernt, mit den Elementen und dem einzig Stetigen zu leben, das es auf der Welt gibt: der Veränderung.
Wer hierherkommt, kann sich also jede Menge Seelenruhe abschauen. Und dabei lernen, dass man manchmal nur ein Wort braucht, um einen ganzen Satz zu sagen. »Moin« etwa. Anderswo hieße das vielleicht: »Guten Morgen, ist das Wetter nicht toll heute? Haben Sie noch einen schönen Tag.« »Moin« bedeutet all dies. Es ist ein Gruß und verwandt mit »mooi«, dem Begriff für »gut« und »schön«. Deshalb sagt man »Moin« morgens, mittags, abends und nachts. Mehr braucht es nicht. Dennoch achtet der Ostfriese auf Nuancen. Wie Sie gleich noch sehen werden.
Die Sache mit dem Bindestrich ist wichtig. Zumindest wichtig zu wissen, denn Ostfriesland und Ost-Friesland sind nicht identisch. Ostfriesland selbst ist das mehr als 3000 quadratkilometergroße Gebiet, das sich auf die Landkreise Aurich, Leer und Wittmund sowie die kreisfreie Stadt Emden beschränkt, hinzu kommen noch die Ostfriesischen Inseln. Das ist Ostfriesland. Ost-Friesland hingegen ist eine Erweiterung dieser Region um die Stadt Wilhelmshaven und den Landkreis Friesland. Manchmal zählen Touristiker bei der »Ferienregion Ostfriesland« auch noch Teile des Ammerlandes und des Emslandes hinzu. Die netteste Umschreibung des gesamten ost-friesischen Gebiets lautet »ostfriesische Halbinsel«. Diesen Begriff haben wir immer dann benutzt, wenn wir über Ostfrieslands Grenzen hinaus geschrieben haben.
Selbst sprachlich gibt es einen Unterschied: Ostfriesland hat seine Betonung auf der zweiten Silbe – Ostfriesland –, während man Ost-Friesland auf der ersten Silbe betont.
Weil sowohl der Landkreis Friesland als auch die Stadt Wilhelmshaven zum Oldenburger Land gehören. Oldenburger und Ostfriesen verband eine über die Jahrhunderte gepflegte innige Abneigung. Auch die Emsländer und die Ostfriesen waren einander nicht eben grün. Und dass die Ammerländer den Ostfriesenwitz in die Welt gesetzt haben, ist ebenfalls eine Sache, die der Ostfriese im Sündenregister notiert hat. Kurz, mit den Nachbarn hüben und drüben machte man sich nicht so gern gemein.
In heutigen Tagen wird mit den Ressentiments von einst meist humorvoll umgegangen, es gibt längst Kooperationen zwischen den Regionen. Doch die sportlichen Wettkämpfe, etwa beim Boßeln, haben bis heute Derby-Charakter. Als Ostfriese gegen einen Oldenburger zu gewinnen, ist noch immer das Salz in der Suppe jedes Teilnehmers.
Wenn sich ein Gast nicht blamieren will, kennt er also die Sache mit dem Bindestrich und verkündet nicht lauthals, dass er »auch schon öfter im Urlaub in Ostfriesland war«, wenn er die Stadt Jever besucht hat. Denn die liegt – genau – im Oldenburgischen. (Übrigens: Jever wird mit Vogel-Vau ausgesprochen, also wie »Je-fer«.)
Geographisches Gebiet: Ostfriesland liegt in Deutschlands äußerstem Nordwesten. Im Norden grenzt es an die Nordsee, im Westen an den Dollart und an die Niederlande. Zu Ostfriesland gehören die Landkreise Aurich, Leer und Wittmund sowie die kreisfreie Stadt Emden und die Ostfriesischen Inseln Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog und Spiekeroog. Wangerooge wird zwar auch zu den Ostfriesischen Inseln gezählt, gehört aber zum Oldenburger Land.
Fläche: rund 3000 Quadratkilometer (exakt: 3144,26 km2)
Einwohner: rund 460000. Ostfriesland ist eine dünn besiedelte Region (zum Vergleich: In Berlin leben etwa 3,4 Millionen Menschen auf knapp 892 Quadratkilometer Fläche).
Größte Stadt: Emden (Einwohnerzahl: 49551, Stand 2013, Statistisches Bundesamt). Aurich wird dagegen als heimliche Hauptstadt Ostfrieslands bezeichnet, da es lange Zeit Verwaltungssitz der jeweiligen Obrigkeit war (Einwohnerzahl: 40559). Leer ist einer der wichtigsten Reederei-Standorte Deutschlands (Einwohnerzahl: 33892).
Wichtigste Branchen: Tourismus, Landwirtschaft (vor allem Milchwirtschaft), maritime Wirtschaft (Reedereien, Werften), Automobilbau und erneuerbare Energien (Windkraft)
Parteienlandschaft: Ostfriesland ist traditionelles SPD-Land (während das katholisch geprägte Emsland der CDU zugeneigt ist).
Landessprache: Ostfriesisches Platt (Variante des Niederdeutschen)
Religionszugehörigkeit: mehrheitlich protestantisch, in einigen Gemeinden evangelisch-reformiert. Die römisch-katholische Kirche befindet sich stark in der Minderheit (etwa sieben Prozent der Ostfriesen); in Emden steht die erste ostfriesische Moschee, die Eyüp-Sultan-Moschee; Juden gibt es nur noch wenige in Ostfriesland, sie gehören zur jüdischen Gemeinde in Oldenburg (derzeit 314 Mitglieder).
Fremde Herren: Die Ostfriesen waren jahrhundertelang ihre eigenen Herren. Doch irgendwann ging diese Ära zu Ende, und die Zeit der Fremdherrschaft begann:
1744: Carl Edzard, der letzte ostfriesische Cirksena-Fürst, stirbt kinderlos. Preußenkönig Friedrich der Große übernimmt die Herrschaft über Ostfriesland.
1807–13: Preußen unterliegt Napoleon, Ostfriesland fällt erst unter niederländische, dann unter französische Herrschaft, geht 1813 wieder an Preußen zurück.
1815: Preußen tritt Ostfriesland an das Königreich Hannover ab.
1866: Ostfriesland wird erneut preußisch.
1946: Nach dem Zweiten Weltkrieg gehört Ostfriesland zum Bundesland Niedersachsen.
Unverzichtbare ostfriesische Lektüre: der Ostfreesland-Kalender, auch »Kalender für Jedermann« genannt. Ihn gibt es seit 1914. Er ist ein Lese- und Nachschlagewerk zugleich. Außer Geschichten, Gedichten und historischen Beiträgen finden sich darin auch die Hochwasserzeiten, ein Trächtigkeitskalender und etwa 2000 Adressen aller möglichen Vereine und Behörden.
Das Wichtigste ist schnell gesagt: In Ostfriesland ist alles anders als im Rest der Republik, denn die Bewohner kochen in fast jeder Hinsicht ihr eigenes Süppchen. Sie trinken zehnmal mehr Tee als im übrigen Land. Sie geben ihren Kindern Namen, die man sonst nirgends hört, sie pflegen besondere Sportarten, haben einen eigenen Äquator und lassen sich von ihren persönlichen Heilkundigen behandeln – den legendären Knochenbrechern –, die sie oft lieber aufsuchen als Ärzte. Sie hatten früher eine ganz eigene Sprache, die inzwischen ausgestorben ist: das osterlauwerssche Friesisch. Nicht zu verwechseln mit dem Platt, das heute in der Region gesprochen wird und das ein Auswärtiger genauso wenig versteht. Ja, sie hatten bis 2013 sogar ein eigenes ostfriesisches Facebook namens Morphex, das aber inzwischen seinen Dienst eingestellt hat. Kurz: Die Ostfriesen sind ein sehr eigenes Volk.
Das hat historische Gründe, und die wiederum haben viel mit der abgelegenen Position der ostfriesischen Halbinsel zu tun. Sie drängt sich an den äußersten nordwestlichen Rand Deutschlands. In früheren Zeiten waren die Bewohner vollauf damit beschäftigt, ihren Platz auf dieser Scholle zu behaupten: Von der einen Seite rollte das Meer heran, das ihnen immer wieder das Land wegspülte, zur anderen Seite, zum Binnenland hin, lagen die Moore. Und die mussten erst mal trockengelegt werden, wollte man überhaupt Grund unter die Füße bekommen. Die Region war also alles andere als lieblich. Hier kam auch kein Fremder vorbei, um sich mal die Gegend anzusehen. All das formte den ostfriesischen Menschenschlag, wie Wasser Kieselsteine poliert. Nur dass der Ostfriese sich seine Kanten bewahrt hat.
Weil er hart dafür gekämpft hat, dass sein Land auch Land bleibt, hat er wenig Sinn für Smalltalk. Dabei ist er durchaus gesellig: Zum Feiern muss ihn keiner überreden. Gern taucht er bei seinen Nachbarn auf, um sie zu einem Umtrunk zu bewegen. Mit Wind und Wetter kommt er bestens klar, Windmacher auf zwei Beinen sind ihm allerdings ein Gräuel. Wer sich vor einem Ostfriesen dicke machen will, wird alle Facetten ostfriesischer Geringschätzung zu spüren bekommen. Im besten Fall wird er zur Zielscheibe gnadenloser Hänseleien. Ein Gast ist also gut beraten, sich zurückhaltend und höflich zu benehmen.
Apropos: Es ist nicht höflich, einem Ostfriesen einen Ostfriesenwitz zu erzählen und zu erwarten, dass er herzlich mitlacht. Diese Menschen sind stolz. Sie haben zwar gelernt, gelassen mit der Plage der Landeswitze umzugehen, aber man sollte ihren Langmut nicht überstrapazieren. Mit freundlichem Understatement kann man es dagegen in Ostfriesland weit bringen. Und zwar ziemlich ungestört. Das ist ein großes Plus: Ostfriesen sind recht tolerante Leute. Wer anders leben will, wird in Ruhe gelassen, selbst auf den Dörfern. Soziale Kontrolle wie anderswo gibt es hier wenig. Das liegt vor allem an der tiefen, historischen und allumfassenden Liebe des Ostfriesen zur Freiheit.
Jahrhundertelang hat er allem getrotzt, was ihn regieren wollte, und seine eigenen Oberhäupter durchgesetzt. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff, Ex-Landesvater von Niedersachsen und bekennender Ostfriesland-Fan, sprach immer wieder von der 800-jährigen Freiheitsgeschichte der Ostfriesen. Es war ihm während seiner Amtszeiten nicht entgangen, dass der politische Einfluss von Brüssel, Berlin oder Hannover auf das Küstenvolk auffallend gering ist. Doch diese Liebe zur Freiheit kann manchmal auch paradox sein: Ostfriesen wohnen nicht gern zur Miete, da wäre man ja abhängig von einem Vermieter. Sie haben lieber ein eigenes Haus, auch wenn das bedeutet, ein Leben lang im Joch des Kreditzahlers zu stecken.
Indem man zum einen offen ist für die raue Schönheit des Landes, denn die Ostfriesen sind zutiefst heimatverbunden. Sie freuen sich, wenn der Gast nicht gleich zur Küste durchfährt, sondern auch Augen hat für den Rest der Region. Zum anderen, indem man sich niemandem aufdrängt oder zum Plaudern bewegen will, sondern diskret und gelassen bleibt. Und wer es dann noch hinkriegt, über Witze auf seine Kosten zu lachen, hat den Respekt seines ostfriesischen Gegenübers gewonnen. Wenn nicht sogar einen Freund.
Und sie haben alles, was ein freier Staat braucht: eine eigene Flagge, Wappen und eine Hymne. Folgerichtig spricht auch die Ostfriesische Botschaft (ja, die gibt es tatsächlich) vom Freistaat Ostfriesland.
Ostfriesland hat nicht nur ein Wappen, sondern gleich zwei. Das eine, das man häufiger sieht, wurde um 1625 von einem Abkömmling der ostfriesischen Grafenfamilie Cirksena geschaffen. Es stellt so etwas wie eine Collage aus den Wappen der wichtigsten ostfriesischen Häuptlingsfamilien dar. Ostfriesland war viele Jahrhunderte lang das Land freier Bauern, die sich ihre Vertreter selbst wählten. Aus den Familien dieser Volksvertreter entstanden später ostfriesische Häuptlingsdynastien, noch später Grafengeschlechter.
Neben den Symbolen trägt dieses Wappen die ostfriesischen Landesfarben Schwarz, Rot und Blau. Über all dem steht ein seltsamer Spruch: Eala Frya Fresena.
Das bedeutet so viel wie: Seid gegrüßt, freie Friesen! Oder auch: Erhebt euch, freie Friesen! Diese Worte stehen für die historische »Friesische Freiheit«, das verbriefte Recht des Küstenvolks früherer Zeiten, sein eigener Herr zu sein. Ostfrieslandgäste werden Eala Frya Fresena überall in der Region entdecken können, in Souvenirshops, auf Autoaufklebern, ja sogar auf Schildern an den beiden Autobahnen A28 und A31.
Warum aber zwei Wappen? Dem liegt kein Streit rivalisierender Herrscherhäuser zugrunde, sondern eine ostfriesische Besonderheit: die »Ostfriesische Landschaft«. Mit Geographie hat sie rein gar nichts zu tun. Die Ostfriesische Landschaft war eine Ständevertretung im Mittelalter und verfocht die Belange der ostfriesischen Bevölkerung (in Gestalt der Stände Ritter, Bürger und Bauern) gegenüber dem jeweiligen Landesherrn. Im Jahr 1678
Das Wappen der Ostfriesischen Landschaft zeigt in seiner Mitte einen Baum auf rotem Grund, daneben einen Mann in Rüstung: ein Hinweis auf den Upstalsboom, den einstigen Treffpunkt der ostfriesischen Volksvertreter.